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Prolog

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Hinterzimmer der Cramerschen Hofapotheke,


Paderborn 1804

Unangenehm stickig war die Luft in dem engen Raum, der als Versuchslaboratorium genutzt wurde. Schwitzend und im Verlangen nach frischer Luft schaute Ludwig sehnsüchtig zum Fenster, das geschlossen bleiben sollte. Fremde Blicke waren unerwünscht. Im Fensterglas spiegelte sich sein Gesicht. An der Wand links daneben hing ein blauer Gehrock seines Freundes. Teilweise wurde dadurch ein Krug auf der Fensterbank verdeckt, in dem sich ein Blumenstrauß aus verschiedenen Getreideähren, Schafgarbe und Mohn befand. Draußen dunkelte es. Derweil ließ der Lichtschein einer Laterne auf einem großen runden Holztisch die überwiegend getrockneten Mohnkolben golden erstrahlen. Einzelne noch grünliche, unreife Mohnkapseln auf ihren blattlosen Stängeln boten dazu einen Kontrast. Einige der kugeligen Kapselfrüchte wiesen kleine Poren auf, aus denen munter winzigkleine stahlblaue Samen rieselten.

Ludwig beobachtete den angehenden Apotheker, der vor ihm am Tisch stand, eine kleine Waage in der einen Hand haltend, während er mit der anderen höchst konzentriert ein Pulver in eine Waagschale gab. Sein Oberkörper warf einen Schatten, der bedrohlich über die rückwärtige Wand huschte. Die zahlreichen Flaschen, Schalen und Mörser mit ihren Stößeln auf dem Regalboden schienen in Bewegung zu geraten.

Links und rechts neben ihm saßen zwei weitere Freunde, die benommen wirkten und sich den Kopf stützten. Er nahm ihre glasigen Blicke wahr. Ein letztes Mal schauten seine Freunde auf und versuchten vergeblich, Worte zu formen. Dem einen drohte ein Becher aus der Hand zu fallen. Etwas von der darin befindlichen Flüssigkeit war bereits verschüttet.

Auch ihm selbst entglitt das Glas, aus dem er – nun schon zum dritten Mal innerhalb kürzester Zeit – ein in Alkohol und Wasser gelöstes Pulver zu sich genommen hatte.

Wieder betrachtete Ludwig den Schlafmohn. Aus einer der unreifen Kapseln tropfte ein milchiger Saft. Er hatte erfahren, dass Mohn zu den ältesten Kulturpflanzen gehörte und schon im alten Griechenland daraus Opium für kultische und medizinische Zwecke gewonnen wurde. Inzwischen wusste er auch, dass die Mohnkapsel das Symbol für Morpheus war, den Gott des Traumes. Aber auch für Nyx, die Göttin der Nacht und für Thanatos, den Gott des Todes stand dieses Symbol.

Zusammen mit dem Apothekergehilfen glaubte er, im Opium etwas Neues entdeckt zu haben. Sie hofften, der Heilkunst ein Mittel zur Verfügung stellen zu können, das Schmerzen stillt und das medizinische Eingriffe für Patienten erträglicher macht. Zahlreiche Experimente hatten sie durchgeführt, auch mit einem Hund. Und nun hatte er sich mit seinen Freunden zu einem Selbstversuch bereit erklärt.

Ludwig war der Jüngste der Anwesenden und schämte sich seiner Ängste, die ihn zu übermannen drohten. Der Fünfzehnjährige vernahm das Stöhnen seiner Freunde. Er spürte heftige Magenschmerzen, gefolgt von einer Neigung zum Erbrechen. Ein dumpfer Schmerz im Kopf. Sein linker Mundwinkel zuckte. Eine Wange fühlte sich taub an. Ein Krampf im Schlund. Der Hals wie verschnürt. Ein Rasseln. Erstickungsnot. Und im Zuge aufkommender Panik kam ihm ein Kaleidoskop merkwürdiger Bilder in den Sinn, die kurz erschienen und sogleich wieder verschwanden, Traumbilder, mal klar und mit deutlichen Konturen, mal diffus, verschwommen, schemenhaft und vage. Erinnerungen und Phantasien, die er jedoch nicht mehr voneinander zu trennen vermochte:

Ein kräftiger, schwindelerregender Wirbel entwickelte einen Sog hinauf in die Lüfte und riss ihn mit sich. Regen peitschte ihm ins Gesicht. Eiskalter Wind pfiff ihm um die Ohren. Seine Augen tränten. Er kniff sie zu. Er wollte nicht sehen, wohin es ihn trieb. Beinahe ergab er sich dieser Kraft, die ihn passiv werden ließ. Widerstandslos. Nahezu willenlos. Er verlor jegliches Zeitgefühl.

Trotz seiner drohenden Selbstaufgabe verspürte er noch ein geringes Maß an Verlangen – den Drang, dass dieser Albtraum ein Ende nehmen möge.

»Mephisto!«, jammerte er.

Dem Flehen folgte ein lang anhaltender Schrei des Schreckens. Todesangst. Dann eine Welle der Erleichterung. Er fühlte, wie er aus der Luftströmung hinauskatapultiert wurde. Er öffnete die Augen, als er das ohrenbetäubende Lachen eines Wahnsinnigen zu vernehmen glaubte. Er erkannte, dass er auf der Kuppe eines Berges angelangt war. Lichtblitze, die für Augenblicke die Dunkelheit zerrissen. Schwarze Abgründe. Aus den engen Schluchten und Spalten kroch grauer Nebel hervor. Hier und da schossen Flammen empor, die Rauchwolken sichtbar machten. Und Gestalten, die in dem vermeintlich undurchdringlichen Dunst verschwanden. Andere zwängten sich aus der Umklammerung des dichten Qualms und jagten auf ihn zu.

»Komm her zu mir!«, lockte ihn eins dieser gesichtslosen Wesen.

»Nein, zu mir, zu mir!«, zischte eine andere Stimme. Ihr Klang war nicht weniger ordinär als die erste. Eine weitere ließ ein Echo hören. Vieltausendfach hallte es wider.

Als er seine Hand nach ihr ausstreckte, veränderte die Erscheinung ihr Aussehen.

Ein haariges Wesen mit funkelnden Augen und boshafter Fratze erinnerte ihn daran, dass er dem Teufel auf den Blocksberg gefolgt war. Ob er es schon vergessen habe, dass er als unzufriedener rastloser Gelehrter einen Pakt mit dem Satan geschlossen und ihm seine Seele versprochen habe, wurde er gefragt. Jetzt dürfe er das Leben in Fülle genießen, wurde ihm zugesichert.

»Hier wird deine Begierde aufs Neue entfacht«, sprach der Verführer. Und mit einem schallenden Gelächter wurde ihm zugerufen: »Genieße es!«

Schon kostete er die Liebschaft mit einer jungen Frau aus. Dann gab er sich nach einem turbulenten Tanz einigen lüsternen Hexen hin.

Im Augenblick seiner höchsten Erregung erschien ihm ein Grobian mit einer markanten Narbe im Gesicht, der von ihm sein Erbe forderte. Nahezu gleichzeitig sprang einer der Xanthippen ein rotes Mäuschen aus dem Mund. Er erbrach. Die Hexe kreischte ihm ins Ohr, dass sein Gretchen ein Kind geboren und es aus lauter Verzweiflung ertränkt habe. Dafür werde sie nun die Verantwortung zu tragen haben. Man werde sie hinrichten.

Vom vollen Mond beschienen trat die junge Frau, die ihn zuerst verwöhnt hatte, erneut in sein Blickfeld. Er beobachtete, wie sie in ihrer ganzen Schönheit den Fluten eines Gewässers entstieg. Sie trug lediglich ein rotes Halstuch. In lasziven Bewegungen bedeckte sie ihre Blöße, indem sie ein türkisfarbenes Gewand anlegte. Jetzt ähnelte sie einer Nixe, wobei sich der Liebreiz ihres Gesichts zu einem Ausdruck heftigsten Seelenschmerzes wandelte. Niedergeschlagenheit. Schwermut. Sie verlor ihre Anmut. Die verzerrten Gesichtszüge ließen unendliche Qualen erahnen.

»Gretchen«, durchfuhr es ihn. »Giulia! Silvana!« Die Namen geisterten durcheinander.

Er erflehte vom Teufel Hilfe. Doch der Satan ließ nur ein triumphierendes Schnauben hören. Schrill erklangen die Worte, die ein Unbehagen in den Ohren erzeugten. Ihm wurde zwar zugesagt, dass man ihn zum Kerker führen werde, befreien müsse er seine Liebste aber selbst. Dann entschwand der Verführer in der Form eines Irrlichts, das kleiner und kleiner wurde und sich am Horizont im Nichts auflöste.

Er drehte sich um und schauderte. Nunmehr wähnte er sich in einer Kerkerzelle einem furchteinflößenden Mann gegenüber. Wieder die ausgeprägte Narbe, die das Gesicht dieses Mannes entstellte.

»Na endlich, Bastard! Wo bleibst du denn«, schalt das Ungeheuer ihn.

»Mephisto?«, fragte er unsicher. »Oder wer bist du wirklich? Was willst du noch von mir? Meine Seele habe ich dir doch schon verkauft!«

»Du kennst mich nicht? Gleichwohl, du weißt, dein Erbe will ich und dein Weib ...«

Wie sein monströses Gegenüber wandte er sich der jungen Frau in ihrem türkisfarbenen Gewand zu.

»Wir müssen fliehen!«, beschwor er sie.

Doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie schien ihm etwas mitteilen zu wollen, was er kaum verstand.

»Ludwig«, formte sie tonlos mit den Lippen, »der Stab wurde über mich gebrochen! Von meiner Schuld kannst du mich nicht loskaufen! Ich muss den letzten Weg alleine gehen. Gib auf dich acht!«

Sie entfernte das Halstuch und ein Mal wurde sichtbar. Ludwig erschrak.

»Sie kann das Haupt auch unterm Arme tragen«, wisperte das Scheusal neben ihm. Die Worte weiteten Ludwigs Augen. Bestürzung. Entsetzen. Grauen. Der Gang zur Richtstätte war also bereits angetreten worden. Der Henker hatte sein Werk vollbracht.

Ludwig verdammte die neben ihm stehende Bestie für ihre Verlockungen und sich selbst dafür, dass er sich durch seine Selbstsucht in die wachsende Abhängigkeit vom Bösen begeben hatte. Noch während er bereute, sich mit den teuflischen Mächten eingelassen zu haben, nahm der Kerker das Bild einer einsamen Waldhöhle an.

Als seine Geliebte um Erlösung bat, erbebten die Wände der Höhle. Gewaltige Tropfsteine lösten sich und bohrten sich in den Körper des Dämons. Die Höhle stürzte ein. Übrig blieben nur noch Dunkelheit und Stille.

Stille.

Da lagen sie nun wie in Morpheus‘ Armen. Gefangen von der Macht des Mohns. – Besorgt blickte der Apothekergehilfe auf seine Freunde. Die Gegenwart nahm auch er nur noch wie in Trance wahr. Übel wurde ihm in der feuchtwarmen Luft. Es wollte ihm nicht gelingen einen klaren Gedanken zu fassen. Aber es war doch jetzt zügiges Handeln gefragt. Er fühlte sich handlungsunfähig und sehr einsam. Ohnmächtig. Er nahm die unerträgliche Stille wahr, die ihn in den Wahnsinn zu treiben drohte. Sie wurde lediglich durch ein leises Knistern durchbrochen: Die Kapseln des Schlafmohns gaben ihre Samen preis.

Die Macht des Mohns

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