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Patrouillengang im Artois

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Wie ein wilder, aufreizender Traum lag es hinter uns. Irgendwann einmal, als die Sonne glühend heiß brannte und die Felder in gelben Ähren standen, waren wir ausgezogen. Westwärts ging die Fahrt. Wir mussten marschieren und schlugen Schlachten und waren wieder marschiert, durch Tage und Nächte. Wir hatten Siege errungen und den Feind vor uns hergetrieben und glaubten, dass es immer so bleiben würde. Denn uns gehörten Kraft und Mut, hoher Mut, und ein Wille lebte in uns, den wir beseligt als Gnadengeschenk eines Höheren empfanden, der mit uns sein würde alle Zeit.

Dann war das Unbegreifliche geschehen. Nach heißbestandenem Gefecht, schon nahe der feindlichen Hauptstadt Paris, hatten sie uns den Befehl gesandt: Zurück! Da ließ das Wort, das nicht zu uns zu gehören schien, keinen Widerstand zu, so sehr unsere Herzen auch dagegen aufbegehren mochten. Zwar flüsterte die Hoffnung, dass der befohlene Rückzug nur die Einleitung einer neuen Operation bedeute; aber unsere Glieder waren abgehetzt, hatten das letzte hergegeben für das „Vorwärts!“, nun ertrugen sie das andere nur schwer.

Dann endlich war der Rückmarsch zum Stehen gekommen, der unbegreifliche, der uns Tausende von Gefangenen kostete: die Verwundeten in den Lazaretten, die Erschlafften, Todmüden, denen der plötzliche Umschwung den Willen raubte. Von Flandern längs der Somme und Aisne bis zu den Ebenen von Verdun und den steiltrutzigen Bergkämmen der Vogesen zogen wir den grauen Eisengürtel, um den kalten Winter zu überdauern, und harrten in feuchten Gräben sehnsüchtig eines neuen Frühlings, auf dass ein neuer Vormarsch den Sieg uns zurückgeben möchte, den wir fast schon einmal in Händen gehalten hatten.

Und dann geschah’s. Eines Tages war ein Trillern vor dem dürftigen Bretterverschlag, darin wir dicht bei dicht hausten. Wie ein Zauberstab berührte uns der süße Laut. Er drang durch den dichten Nebel von Tabaksqualm und sich verflüchtendem Schweiß; er vertrieb den Dunst aus nassgewordenen Uniformröcken, aus feuchtem Schlamm, der an unseren Stiefeln klebte. Widerlicher Geruch, der uns längst zur Gewohnheit geworden war und den wir kaum mehr spürten, zerrann in süße Wolken. Wie ein Duft von Veilchen, Primeln, Anemonen umgaukelte es uns. Damals, als die erste Lerche dicht unserem Graben sich in die Märzlüfte hob, war es, dass wir für einen Augenblick wieder zu Menschen wurden, wie sie den Frühling durchleben von Jahr zu Jahr.

Aus dem weichen Verharren rettete uns bald der eigene Mut. Nun würde der Befehl zu neuem Vormarsch eintreffen, musste gelingen, was uns das erste Kriegsjahr versagt hatte.

Schon meldeten sich günstige Vorzeichen. Die Division wünschte Gefangene. Wir saßen beisammen und machten unsern Plan. Bei Hébuterne oder Hannescamps, wo wir im Oktober die letzten, blutigen Gefechte mit den Franzosen geführt hatten, an den tiefsten Stellen bis zu einem Kilometer und mehr von unsern vorderen Gräben entfernt, würden wir es versuchen müssen.

Jede Nacht sah uns zu Erkundungen unterwegs. Wir krochen durch das Gewirre der Drähte, der spanischen Reiter, durch Tümpel, die mit Eiswasser bis zum Rande gefüllt waren. Die Kälte biss uns wie mit Zangen. Wir achteten sie nicht, so sehr brannte der Wunsch in uns, die uns günstigen Stellen in der feindlichen Postenaufstellung zu entdecken. Bald auch konnten wir die Kreise enger ziehen. Ein jenseits des französischen Drahtverhaus befindlicher Doppelposten wurde zum Opfer auserkoren. Zwar war es ein schweres Unterfangen, ihn vor den Augen und Ohren seiner Stellungen, selbst tausend Meter von den eigenen Truppen entfernt, abzufangen und einzuschleppen. Aber es musste gewagt werden, und diese Nacht sollte es geschehen. Die Füsiliere waren noch von jenem alten Stamm, der die großen Siegesschlachten geschlagen hatte und die auch jene letzte gewonnen hätten, wenn das uns Unbegreifliche sie nicht plötzlich daran gehindert hätte. Die meisten waren keine Jünglinge mehr, wenigstens nicht der kleine Schneider, der so lustige Geschichten erzählen konnte und ein großer Künstler war, wenn es galt, für Ausgestaltung und Verbesserung des Grabens Neues zu erdenken und zu schaffen. Auch nicht der Tischler aus Berlin-O., der Vater der Unterstände, wie wir ihn getauft hatten, der beste Schütze der Kompanie, mit der Schießschnur ausgezeichnet, der prächtige Mann mit der unerschütterlichen Ruhe, die ihm und uns in schlimmer Lage schon manchen Dienst geleistet hatte. Sie alle in meinem Zuge, die Alten und die Jungen, Männer mit Willen stahlhart und doch einem weichen, fast kindlichen Herzen dabei: jedem Von ihnen sollten wir einen Gedenkstein setzen, dauernder als Erz. Und es ist nur ein Grabstein daraus geworden. Ach nein, nicht einmal ein Stein, nur ein einfaches Holzkreuz in Galizien, als sie alle zusammen in fünf Tagen, beim Siegessturm auf die russischen Stellungen, heldischen Tod starben, der Schneider, der Handwerker, der Westfale, der Ostpreuße, alle. Ich aber lag um diese Zeit fern von ihnen im weißen Lazarettbett und quälte mich in Fieberträumen. Das war nach jener Nacht gekommen:

Wie die Katzen schwangen wir uns von den Schützentritten hinaus in das freie Feld. Die Gewehre trugen wir um den Hals gehängt, das Schloss nach oben gerichtet; der Schlamm durfte es nicht unbrauchbar machen, als wir jetzt uns wie die Indianer auf dem Bauche langsam vorwärts bewegten, „robbten“, wie wir es gelernt hatten. Noch stand der Mond hinter Wolken, aber er konnte jeden Augenblick hervortreten und sein Licht über das schwarze Schlangenband werfen, das sich langsam vorwärts wand; denn das Kriechen ist keine „Schnelläuferbewegung, noch dazu hielten uns Hindernisse aller Art, Wassertümpel, Granattrichter dauernd auf. Endlich schwangen wir uns nass, wie aus dem Bade entstiegen, in den scheinbar verlassenen, französischen Vorpostengraben, den wir heute nicht zum ersten Male betraten. Er sollte der Ausgangspunkt unserer Unternehmung werden.

Denn wohl noch hundert Meter wider unsere Stellungen hinausgeschoben stand der französische Vorposten, den wir auf unseren Erkundungen festgestellt hatten und in dessen Rücken wir uns jetzt befanden. War auch der Plan gewagt genug, von der Front der Franzosen aus die kleine Schlacht gegen unsere eigenen Linien zu schlagen, es gab kein anderes Mittel, um völlig sicher zu gehen und die Flucht der Bedrohten wirksam zu verhindern. Sie waren damals sehr flink, die Herren Franzosen, und jene Posten hatten längst Wind bekommen, von unsern nächtlichen Vorerkundungen aufgeschreckt. Ja, wie gut gar sie unser Vorhaben ahnten, das sollten wir bald spüren.

„Fertig!“ Zischelnd ging der Befehl von Mund zu Mund. Auf den Flügeln die Gewehrträger, in der Mitte ich selbst mit Pistole und Dolch — damals kannte man die Handgranate noch nicht —, so nahmen wir in geräumigem Abstand voneinander den Weg wieder rückwärts, in der gleichen, mühseligen Art, wie wir hierher gelangt waren. Dieses Mal aber ging es geradewegs auf den feindlichen Vorposten zu, der uns nicht mehr entwischen konnte, wie wir glaubten.

Wer einen nächtlichen Patrouillengang zwischen den Kampflinien noch nie erlebte, dieses Hinausgeworfensein in ein unbekanntes Nichts — wer die eisige Nachtluft nicht um die brennende Stirne fühlte, das unheimliche Flüstern des Windes, das zuweilen einen menschlichen Laut vortäuscht— und war doch nur Spuk der aufgeregten Sinne —, wer diese wilde Gier nicht kennt, den andern, den Unbekannten zu packen, zu fangen mit dem Einsatz eigenen Lebens, dessen Wert man vergessen hat, was weiß er von Erregung und Reiz! Wie eine Landschaft der Urwelt umgab uns das nächtliche Land. Die niedrigen Hügel, die einsamen Büsche, die sich zuweilen daraus hervorhoben, sie alle schlummerten im dunklen Geheimnis. Zwischen ihnen bewegte sich der Mensch im Ringen um sein Dasein, das ihm anders nicht gegönnt ist, als dass er es einsetzt, um es zu erhalten. Wie er ist und sein wird in alle Ewigkeit, so waltete er in der stummen Natur seines vornehmsten Amtes.

Wir wanden uns wie die Schlangen vorwärts, schnell jetzt und schneller. War erst die letzte Mulde vor uns überwunden, dann würde das Gesträuch auftauchen, darinnen die Franzosen saßen. Heute sollten sie uns nicht mehr entgehen.

Da klang es plötzlich deutlich durch die Nacht, das eintönige Geräusch, wenn Löffel an Blech schlagen. Es kam uns entgegen, war noch rechts und links über uns hinaus. In solchen Augenblicken begreift der Soldat schnell.

Unwillkürlich zog sich unsere Linie nach der Mitte zusammen. In der Mulde hatte vor ein paar Tagen unsere Artillerie gewütet. Jetzt versanken wir ohne besondere Verabredung lautlos in die mit Schneewasser gefüllten Trichter. Nur die Gewehre ruhten sorgsam gebettet auf ihrem Rand, und unsere Augen brannten begierig voraus nach der Höhe, wo es sich jetzt als eine dunkle Mauer erhob und drohend gegen uns heranschob.

Da war nun kein Zweifel mehr. Die Franzosen hatten ihre Maßnahmen getroffen, um ihren gefährdeten Posten zu schützen, und eine stattliche Anzahl von Schützen pürschte vorsichtig an uns heran, vier gegen einen. Hätte es uns auch trotzdem kaum missfallen, ein Gefecht zu liefern, so war das doch kaum der Zweck unserer Patrouille. Dazu kam, dass wir jeden Augenblick gewärtig sein mussten, auch von rückwärts eine feindliche Kette herannahen zu sehen. Dann aber gute Nacht!

Tolle Gedanken durchliefen uns blitzschnell. Schon kamen die Franzosen immer näher, stiegen die Anhöhe hinab, waren kaum mehr fünfzig Meter von uns entfernt, soweit man bei dem schwachen Licht zu schätzen vermochte. Noch ein paar Schritt weiter, unsere Entdeckung war unvermeidlich. Denn zum Unglück verschwanden jetzt auch die Wolken vor dem Mond, der seine silberne Helle schadenfroh auf uns herab verströmte.

Ich war schon entschlossen und gab den Befehl weiter: „Schießen, wenn ich kommandiere!“ Da versanken die Franzosen vor uns jählings in den Boden.

Bei Gott, sie mussten uns auf der andern Seite vermuten, glaubten gewiß, wir wollten an ihren Posten von der Front her heran! Aber was nun?


Da lauerte die an Zahl uns weit überlegene Meute dicht vor unserer Nase, dass es zunächst kein Vorwärts mehr gab, wollten wir nicht jetzt schon auf Gefangene verzichten. Ich dachte sogar daran, anzugreifen. Jedem unter uns stand wohl danach der Sinn. Vielleicht wäre auch die Hälfte von uns, sogar mit einem Gefangenen, wieder glücklich in den eigenen Linien gelandet. Aber die andere Hälfte? Wir hatten strengen Befehl, selbst nicht einen einzigen Mann in den Händen des Gegners zu lassen. Also mussten wir abwarten.

Jene zwei Stunden der Regungslosigkeit in dem Eis der Granattrichter vergaß ich lange nicht. Es lag wie eine Kettenlast um den Leib, es fraß wie mit Zähnen sich in die Eingeweide. Die Glieder wurden starr und leblos, wie losgelöst von uns selbst.

Endlich kamen die Erkundungsgänger, die ich seitwärts hinausgesandt hatte, unbemerkt von den Franzosen wieder zurück. Einen Ausweg gab es noch. Nach Westen zu war die Mulde noch nicht versperrt. Sollte ich ergebnislos zurückkehren? Auch die drüben konnten das Warten sattkriegen. Ich rechnete auf das Glück, das diesen ganzen Krieg bei uns gewesen war. So harrten wir noch eine dritte und fürchterliche Stunde.

Dann gab ich es auf. Meinen Leib fühlte ich nicht mehr. Wahnsinnige Hitze brannte mir im Hirn. Meine Finger zuckten nach dem Pistolenhahn, um das Zeichen zum Angriff zu geben, aber Pflichtgefühl hielt mich zuletzt davor zurück. Es wäre Wahnsinn gewesen. Ebenso gut hätten wir die feindliche Stellung selbst angreifen können. Brennenden Zorn im Herzen, krochen wir mit äußerster Vorsicht durch die einzige uns verstattete Lücke.

Die gefährliche Loslösung gelang. Und dann taten wir, was nicht in unserm Auftrag lag. Jetzt, wo wir den Rücken durch unsern eigenen Graben wieder gedeckt wussten, wollten wir für unsere Enttäuschung Rache nehmen. Erneut pürschten wir uns an die Franzosen heran. Dann zerriss unsere Salve die Stille der Nacht.

Ein gewaltiges Trappeln entstand drüben, und als wir jetzt vorsichtig vorwärts drückten, fanden wir dort, wo die Franzosen gelegen hatten, keinen einzigen von ihnen mehr. Blutspuren auch zeugten, dass wir getroffen hatten. Aber die Verwundeten waren geborgen worden. Nun gut, es gab noch viele Nächte, und einmal würden wir ans Ziel gelangen.

Am andern Morgen lag ich im hohen Fieber, wähnte, noch immer im Eiswasser zu schwimmen, und es war eine unsagbare Qual. Denn ich vermochte mich nicht zu rühren, und das Wasser stieg höher und höher, bis über den Mund, dass es mich verschlang. Im Feldlazarett erst wachte ich für kurze Minuten auf und erfuhr, dass man mich besinnungslos aus den Linien getragen hatte. Eine schwere Lungenentzündung trieb mich dem Ende entgegen.

So glaubten die Ärzte. Aber eines Tages schlug ich die Augen wieder auf. Das freundliche Gesicht einer Schwester beugte sich über mich. Die Krise war vorüber. Und der erste Brief, den die Füsiliere mir schrieben, alle von der Patrouille hatten ihren Namen darunter gesetzt, brachte die Nachricht: Wir haben ihn!

Was soll ich mich schämen! Ich habe damals heimlich in die Kissen geweint, verzweifelt, dass ich hier untätig liegen musste, während die andern kämpften. Ich habe meinem scheinbaren Unglück geflucht und dem Schicksal Ungerechtigkeit vorgeworfen, dass es mich so kaltstellte. Mit Neid im Herzen verfolgte ich den Siegeszug meines Regiments im Osten, wo man es bald nach meiner Krankheit eingesetzt hatte. Erst viel später erfuhr ich von den Verlusten und dass fast keiner mehr lebte, den ich kannte. Nur ich blieb noch lebendig, dem die Ärzte kopfschüttelnd prophezeiten, dass es mit dem Soldatsein ganz ein Ende haben müsse, wollte ich nicht hoffnungslos siech werden.

Ihr grausamer Spruch rüttelte mich auf. Dass der Krieg noch lange währen würde, wenn auch niemand an drei Jahre noch und mehr glaubte, das ahnte man jetzt. Also würde ich noch wieder dabei sein dürfen. Und schon am Anfang des nächsten Jahres ließ ich Lazarette und Genesungsheime, ob man wollte oder nicht. Das gleiche Schicksal, das, mir unverständlich, mich geschlagen hatte, war weiser als die Ärzte und ich selbst und ließ mich gesünder werden als je zuvor.

So blieb ich bis zum letzten Schusse, bis zu jenem Angriff in der Woevreebene bei Hautecourt am 10. November 1918, bis zu der Waffenstillstandsbotschaft an dem schwarzen Tage des deutschen Frontheeres, dem gewaltigen Kriege getreu.

Damals als das bittere Ende kam, fragte ich mich zum andern Male: „Warum liegst du nicht stumm und erlöst bei den toten Brüdern, wofür lebst du noch?“ Da kam mir die Erinnerung an jene Patrouille vor bald vier Jahren, an meinen Infanteriezug von damals, der zwei Monate darauf, Mann für Mann, in das Maschinengewehrfeuer der Russen geraten war, dass nicht einer mit dem Leben entkam. Aber dass ich noch atmen durfte, das hatte wohl doch seinen Sinn, dass immer noch welche leben, die des Großen Krieges Getreueste waren. Denn um der Brüder heiliges Opfer fruchtbar zu machen, ließ uns das Schicksal in dieser Zeit, die wahrlich des Kampfes nicht entraten kann. Aus Granaten und Grauen brachten wir ein neues Wissen vom Leben heim, das sich das Reich erobert hat, um welches zwei Millionen Brüder auf den Schlachtfeldern der Welt dahinsanken.

Im Hexenkessel der Granaten

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