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1. Reigando

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Sechzig Männer habe ich getötet, als ich ein junger Mann war. Heisst es. Sechzig Samurai, alle mit guten Katanas bewaffnet und in den Kampfkünsten trefflich geübt, während ich nur mit einem selbst geschnitzten Holzschwert zu fechten pflegte. Ich, Miyamoto Musashi, der herrenlose Samurai, der als umherziehender Ronin die besten Kämpfer im Reich der aufgehenden Sonne zum Zweikampf forderte und sie im Lauf der Jahre alle schlug. Heisst es.

Was ist Wahrheit? Das, was sich viele Menschen so lange erzählen, bis es allgemein als wahr anerkannt ist? Oder das, was sich ein Einzelner ausdenkt und so lange weitergibt, bis er es selber glaubt?

Wahrheit ist ein Schattenwesen, körperlos, nicht zu fassen und wandelbar. Ohne das Licht der Erkenntnis gibt es keine Wahrheit – aber die Wahrheit ist nicht das Licht der Erkenntnis, sondern die Schattenspur seiner Flammen.

Erkenntnis. Dem Sitzenden wird sie zuteil, nicht dem Eilenden, nicht dem Drängenden, nicht dem Wollenden. Ich sitze.

Ein alter, kranker Mann in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahr, der sich vor dem Treiben der Welt in die Höhle Reigando bei der Stadt Kumamoto zurückgezogen hat. Hier verbringe ich stille Tage, blicke über die bewaldeten Hügel und versenke mich tief in mein Inneres, wie es Buddha gelehrt hat.

Manchmal esse ich einen kleinen Happen, den mir alle zwei, drei Tage ein Mönch vom nahen Kloster heraufbringt. Mehr brauche ich nicht. Den Durst lösche ich aus der kühlen und klaren Quelle, die ein paar Schritte neben meiner Höhle einer moosigen Spalte entspringt und sich in ein natürliches kleines Becken im Fels ergiesst.

Ich sitze. Sitze und lasse mein ganzes Leben an mir vorüberziehen. Und streife im Angesicht meines baldigen Todes endlich die grosse Lüge ab, die die Wahrheit über meine Person verstellte. Jene, die nach mir kommen, sollen die Wahrheit erfahren, sollen Wort für Wort lesen, dass ich nicht der war, den man aus mir gemacht hat und der ich zu sein vorgab. Ich war mitnichten ein grosser Schwertmeister. Ich war kein Ronin auf heiliger Kampfwanderschaft. Ich habe keine sechzig Samurai getötet. Nur einen – und mich dazu. Denn ist nicht der tot, der nicht ist, der er ist?

Deshalb schreibe ich die Geschichte meiner grossen Lüge auf, in Tusche und mit sorgfältigen Pinselstrichen, die mir als Kalligraf und Kunstmaler noch immer leicht aus der alten Hand fliessen.

Eine milde Sonne wärmt das Land im Monat Yatsuki des Jahres Kigen 2305. Nach der Rechnung der Jesuitenpriester, die noch vor dreissig, vierzig Jahren vielerorts auf unseren Inseln die abendländische Religion des Kirisuto verkündeten, ist es das Jahr 1645.

Über Nacht haben sich die Kirschblüten geöffnet.

Kirschblüten!

Zum letzten Mal ist es mir vergönnt, mein Auge an dieser Pracht zu weiden. Zum letzten Mal, denn ich fühle den Tod nahen. Bald wird der Lebensatem aus meinem Leib weichen, und Buddha Amida wird mein Selbst gnädig ins Land der Glückseligkeit geleiten.

Noch einmal die Kirschblüte sehen! Noch einmal dieses Naturwunder bestaunen und den Göttern des neuen Werdens danken! Ein Tanka fliegt mir zu, ein frischgeborenes Wortgebilde als kleiner und flüchtiger Gruss des Windes zum Frühlingsbeginn:

Wie mein Auge lacht!

Kirschblüten an den Zweigen

weiter als das Meer.

Freude und nichts als Freude

nistet nun in jedem Baum.

Aber bei diesen Zeilen soll der Pinsel nicht verweilen. Ich habe anderes aufzuschreiben und muss mich beeilen. Wie lange bleibt mir noch? Werde ich die Blüte der Bauernrose noch erleben? Oder gar das Zirpen der Grillen in lauen Sommernächten? Wohl kaum. Die Zeit drängt. Ich tauche den Pinsel ein und beginne mit der Niederschrift der grossen Lüge, die sich in Wahrheit auflösen möge.

So hört denn.

Schwertmeister

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