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1.2. Bestreitungen:
Für und wider die Notwendigkeit Gottes

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Wenn Gott im Horizont der Welt nicht mehr nötig ist – was ist dann mit ihm? Ein nicht mehr notwendiger Gott ist kein richtiger Gott mehr – ein Gott, der kein richtiger Gott ist, ist auch nicht wirklich Gott. Was weder richtig noch wirklich ist, ist so gut wie nichts. Und ein Gott, der so gut wie nichts ist, ist so gut wie tot. Folgt man dieser Ableitung, dann kommt damit auch die Theologie an ihr Ende. Ist damit aber alles gesagt, was am Ende der Moderne von Gott gesagt werden kann? Wenn sich die Theologie dieser resignativen Schlussfolgerung nicht anschließen und ihre Frage nach Gott nicht aufgeben will, kommt sie gleichwohl an dem Befund der innerweltlichen Nicht-Notwendigkeit Gottes nicht vorbei. Die Frage nach Gott kann nur im Kontext einer Gott los gewordenen Welt redlich gestellt werden. Außerhalb der religionskritischen Plausibilitäten der Moderne kann sie diese Frage nicht überzeugend angehen.

Die „Gottlosigkeit“ der Moderne und ihr Streben nach Autonomie bedingen einander. Erst in der Verarbeitung dieser Interdependenz ist es möglich, das christliche Reden von Gott wieder denkbar und verantwortbar zu machen. Die Verarbeitung des neuzeitlichen Atheismus und die Formulierung eines christlichen Gottesbegriffs sind somit als zwei zusammengehörende Aufgaben zu begreifen – und zwar (auch) aus explizit theologischen Gründen. Denn Gott kann nicht als Gott gedacht werden, ohne dass zugleich die Welt und ihre geschichtliche „Verfassung“ bedacht wird. Die Verfassung der Welt betrifft aber nicht nur den Gedanken, sondern auch die Wirklichkeit Gottes. Gottes eigene Wirklichkeit wird thematisch, wenn die Realität der Welt – seiner Schöpfung – und ihre geschichtliche Signatur begriffen werden. Deren Eigenart besteht aber nun darin, die Welt ohne Gott zu denken. Gott kann daher auch theologisch nicht ohne eine Welt gedacht werden, die ohne Gott gedacht werden will. Aber welche Theologie ist dazu imstande? Auf keinen Fall jene Theologie, welche die Kraft und Herrlichkeit Gottes behauptet, die liebevolle Nähe Gottes beschwört und sich selbst nicht einzugestehen wagt, dass keine Erfahrung eine solche Rede heute noch stützen kann. Selbst die Frommsten unserer Tage räumen ein, wenn man ihnen erlaubt, ehrlich zu sein, was ihre Glaubensnot ausmacht: dass sie ihren Gottesglauben nur noch als Kontrasthandlung zum Erlebnis seiner Folgenlosigkeit leben können, dass sie Gott bei seinem Wort genommen haben, um am Ende zu erleben, dass er es an ihnen nicht erfüllt hat.

„Wir haben gebetet, und Gott hat nicht geantwortet. Wir haben geschrien, und Er ist stumm geblieben. … Wir hätten Ihm beweisen können, dass unsere Ansprüche bescheiden, daß sie erfüllbar sind, wo Er doch der Allmächtige ist; wir konnten Ihm darlegen, dass die Erfüllung dieser Bitten im eigensten Interesse seiner Ehre in der Welt und seines Reiches ist – wie sollte sonst noch einer glauben können, daß Er der Gott der Gerechtigkeit und der Vater der Erbarmung und der Gott allen Trostes ist, daß Er überhaupt ist? (…) Wir haben gebetet. Aber wir wurden nicht erhört. Wir haben gerufen, aber alles blieb so stumm, daß wir uns schließlich lächerlich mit unserem Geschrei vorgekommen wären, wenn es eben nicht von der Not und der Verzweiflung erpreßt gewesen wäre.“37

Die Erfahrung einer Glaubensnacht bezeugen auch die Tagebücher und Briefe von Mutter Teresa von Kalkutta (1910–1997).38 Ihre Zeugnisse des Erlebens einer inneren Leere, eines Gottvermissens, eines Gottesverlustes stehen im scharfen Kontrast zu dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Bild einer von Gottes Nähe buchstäblich „erfüllten“ Heiligen. Ihr war es möglich, in der Weise der Sehnsucht nach Gott an ihrem Glauben festzuhalten. Doch nicht allen Christen ist dies vergönnt. Viele religiöse Biographien der letzten Jahrzehnte erzählen von einem allmählichen Abgleiten – zunächst als Distanzierung von religiösen Institutionen, dann aber auch als Abwendung von jeglicher geformter Frömmigkeit.39 Die religiöse Grunderfahrung vieler Zeitgenossen ist, keine Erfahrung des Unbedingten, der Transzendenz mehr zu machen. Sie erleben an sich das Schwinden religiöser Gewissheiten – an ihre Stelle tritt nichts Neues und nichts Anderes, sondern buchstäblich: Nichts.

„Ich befinde mich mitten im Prozeß einer Ablösung, die an mir geschieht, ohne dass ich es will. Ich gleite und gleite immer weiter fort, irgendwohin ins Leere, wo niemand mehr ist, auch kein Echo, wenn ich versuche zu rufen. Kaum sind noch die Gestade sichtbar, von denen ich kam; und die Worte, die Namen, die ich einmal hatte, um das Heilige zu benennen, haben sich im Nebel aufgelöst.“40

Vor diesem Nichts kommt jede Theologie an ihr Ende, die das intellektuelle Anspruchsniveau der Neuzeit unterbietet und die Gottesfremdheit der Moderne mit der Gottesvertrautheit des Mittelalters eintauschen will. Eine solche Theologie kennt Gott nur noch als guten alten Bekannten, als jemanden, mit dem sich frühere Generationen ganz gut verstanden haben, woran entsprechende Zeugnisse heute noch erinnern. Einer Gott los gewordenen Zeit setzt sie trotzig oder besserwisserisch, auf jeden Fall aber vollmundig die Überzeugungen einer besseren alten Zeit entgegen. Eine solche Theologie hat Gott in Wahrheit längst hinter sich. Religiöse Gewissheiten, die ihre Behauptungen stärken könnten, besorgt sie sich im Copyshop der Kirchengeschichte. Für alle, die in der Gegenwart nichts mehr von Gottes Nähe spüren, hat sie nur Vorwürfe übrig: Wäre ihr Glaube stärker, ihre Hoffnung unerschütterlicher und ihre Liebe inbrünstiger gewesen, dann stünde es jetzt besser um sie. Dass die Anfechtung des Gottesverlustes umso heftiger erlebt wird, je stärker Glaube, Hoffnung und Liebe ausgeprägt waren,41 will eine solche Theologie nicht wahrhaben. Ebenso wenig kommt ihr in den Sinn, dass die Erschließung der Wirklichkeit Gottes mit der Enteignung überkommener Gottesschablonen beginnen kann.42 Und dass die Erfahrung des Gottesentzuges selbst eine religiöse Erfahrung sein kann43 ist für sie erst recht unvorstellbar.

Die religionskritischen Plausibilitäten der Moderne eröffnen aber auch – wie im Folgenden zu zeigen ist – durchaus die Möglichkeit einer zeit- und adressatengemäßen Rede von Gott. Diese bedingt allerdings die Aufgabe bisheriger Prämissen christlicher Gottesrede, von denen man annahm, dass sie die Plausibilität dieser Rede verbürgen. Vor allem gilt dies für die Prämisse der Notwendigkeit Gottes zur Erklärung innerweltlicher Abläufe und Sachverhalte (inklusive der religiösen Angelegenheiten des modernen Menschen). Diese Prämisse hat die Moderne als überflüssig erwiesen mit der Konsequenz, dass Gott im Horizont der Welt nicht mehr nötig ist, ins Beliebige abgedrängt und überflüssig geworden ist. Ein überflüssiger Gott ist kein wirklicher Gott mehr – ihm fehlt ja das Prädikat der Notwendigkeit.

Wie schwer der Verlust dieses Prädikates wiegt, bezeugt die prominenteste „Vermisstenanzeige“, die von Seiten der Philosophie formuliert wurde. „Wohin ist Gott?“ lässt Fr. NIETZSCHE seinen „tollen Menschen“ fragen44 und bringt damit zum Ausdruck, dass Gott nicht mehr dort ist, wo er als Gott hingehört – nämlich „ganz oben“, um von dort aus erst die Unterscheidung von „oben“ und „unten“ und eine Hierarchie aller Werte zu ermöglichen: als oberster Gesetzgeber oder als höchstes Gut. Wo die Moderne aber an ein Höchstes und Oberstes, an ein Erstes und Grundlegendes stößt, entdeckt sie nichts mehr, was sie „Gott“ nennen könnte oder müsste. Übrig bleibt nur die vage Aussicht, dass es einen anderen ihm gemäßen Platz geben könnte. Lässt sich eine „andere“ Notwendigkeit denken, von der her sich sein Gottsein bestimmt? Da dies offenkundig nicht der Fall ist, kann nur noch auf höchst unbestimmte Weise nach Gott gefragt werden. Dieses Fragen verliert aber jeden konkreten Anhalt und wird selbst etwas Vages. Denn es ist kein Kontext, kein Ort, keine Funktion mehr erkennbar, womit man das Erfragte in Beziehung setzen könnte. Man kann auch nicht mehr sagen, Gott sei abwesend. Ein Abwesender hält sich ja woanders auf und ist durch dieses „Woanders“ bestimmbar. Was aber bestimmungslos und unbestimmbar geworden ist, hat auch kein „Woanders“ mehr. Gott wird ein „nichts“ und „niemand“. Es ist dann nur konsequent, die Suche nach ihm abzubrechen und den lange Zeit Vermissten für tot erklären zu lassen.45

Wenn Gott alle Bestimmungen verliert, die ihn als Gott identifizierbar machen, ist er nicht mehr unterscheidbar von einem „Gott“, der nicht (Gott) ist. Letztlich wird er sogar vom Nichts ununterscheidbar – es ist gleichfalls völlig unbestimmt und unbestimmbar (ebendies macht ja seine „Nichtigkeit“ aus). Wenn Gott nicht mehr vom Verdacht der Nichtigkeit entlastet werden kann, wird jede affirmative Rede von Gott problematisch. Als unproblematisch galt dieses Sprechen so lange, wie es von Gottes Notwendigkeit für die Bewältigung innerweltlicher Sachverhalte als von einer als evident erachteten Prämisse ausgehen konnte, die Gott bestimmbar machte. Von dieser Notwendigkeit her ließen sich Aussagen darüber treffen, „wie“ Gott sei: Die Kontingenz der Welt erwies ihn als „allmächtig“; als Bürge menschlicher Wahrheitssuche musste er „allwissend“ sein; dass das menschliche Streben nach dem Guten nicht ins Leere lief, verdankte es seiner „Allgüte“. Genau diese Voraussetzung hebt die Moderne auf und erweist sie als nicht-notwendig.

Mehr noch: Für die autonome Vernunft ist dies sogar eine falsche Prämisse. Für das Projekt, die Rede von Gott denkerisch, d. h. mit den Mitteln der autonomen Vernunft, zu verantworten, gilt dies aber auch. Daher steht die Theologie nunmehr vor der Herausforderung, in dieser falschen Voraussetzung vernünftigen Denkens auch eine falsche Prämisse theologischen Denkens zu erkennen. Entfällt die Möglichkeit, von Gott sagen zu können, wofür er notwendig sei, gibt es für eine affirmative Gottesrede keinen unmittelbaren Anlass und Ansatz mehr.

Es wäre jedoch ein Kurzschluss, damit das Ende jeglichen theologischen Denkens gekommen zu sehen. Wenn das Wahrheitsmoment der Rede vom „Tod Gottes“ in der Beseitigung einer falschen Prämisse besteht, dann ergibt sich für jede weitere Rede von Gott die Notwendigkeit, unter Absehung der Vorstellung von Gottes Notwendigkeit für Aufgaben, die sich in der Welt dem Menschen stellen, von der Wirklichkeit Gottes zu reden. Es entfällt dann auch die Konsequenz, dass jedes Reden von Gott notwendigerweise affirmativ sein muss.

Der fremde Gott

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