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Wie sehen die Puzzleteile aus? Ein Manuskript

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Josef ist müde. Der Schilfstift kratzt über den groben Papyrus. Mehr und mehr neigen sich die kantigen Buchstaben nach rechts, ebenso sein Kopf. Es ist nur noch ganz wenig übrig, dann ist er fertig. Sein Nacken ist steif, seine Augen schmerzen. Das Öl in der Lampe ist fast aufgebraucht. Jetzt gilt es, die letzten Zeilen fertigzukriegen. Erneut taucht er den Schilfstift in das Tintenfass und schreibt die letzten Worte des Buches: »… Ihnen allen verkündete er, wie Gott jetzt seine Herrschaft aufrichtet, und lehrte sie alles über Jesus Christus, den Herrn – frei und offen und völlig ungehindert.« (Apg 28,31)

Endlich kann er den Stift beiseitelegen. Er dehnt den Nacken, beugt den Rücken nach hinten. Es ist das umfangreichste Buch, das er bisher geschrieben hat. Er lässt die Finger über den Stoß Papyrusbögen gleiten. Einhundertzwölf große Bögen sind es geworden. Wie viele Abende hat er an dem Buch gearbeitet? Er hatte aufgehört zu zählen. Alles, woran er denken konnte, war, dass es rechtzeitig fertig werden musste – für den großen Tag, der in einigen Stunden beginnen würde. Genauso wie die anderen Gemeinden im Tal brauchte selbstverständlich auch seine ein großes Buch mit allen vier Evangelien. Am nächsten Tag sollte es geweiht werden.

Dieses Mal hatte er nicht nur eines der heiligen Bücher schreiben sollen, sondern alle vier. Sie sollten in einem großen Papyrusbuch Platz finden. Und nicht nur das: Auch das große Buch über das Tun der Apostel sollte ein Teil davon sein. »Das macht den Menschen so viel Mut«, hatte Vater Anatolios gesagt. »Und wenn wir in unserer jungen Gemeinde etwas brauchen, dann ist es der Mut und die Stärke der Apostel, die hinausgingen und vom Herrn Jesus verkündeten.« Der Alte hatte gelächelt und Josef auf die Schulter geklopft.

»Du darfst nicht vergessen, dass wir nicht viele wie dich haben«, hatte er gesagt. »Jetzt, wo der alte Sabbateus weg ist, bist du der Einzige hier, der lesen und schreiben kann.« Josef wusste, dass die meisten in seiner Kirche kaum mehr als ein paar Zeichen kritzeln konnten, die ihre Namen darstellen sollten. Er selbst hatte jedoch von dem alten Juden eine gründliche Ausbildung in der Kunst des Schreibens erhalten.

Zudem war er mehrere Jahre auf dem Schiff eines phönizischen Kaufmanns die Küste hinauf und hinab gesegelt. Als Schreiber des Kaufmanns hatte er gelernt, sowohl schnell als auch genau zu schreiben. »Acht Fässer Roggen« und »zwölf Säcke Weizen« gehörten zu seinen häufigsten Notizen – das war nicht gerade eine spannende Arbeit gewesen, aber zumindest hatte er von dem alten Phönizier Genauigkeit gelernt.

Ein letztes Mal lässt er den Blick über den Stapel Papyrusbögen gleiten, bevor er die Flamme der Öllampe löscht. In der Tat ist es spannend, diese Bücher beständig neu zu schreiben. Obwohl er mittlerweile weiß, was auf den nächsten Seiten steht, erzeugen die Worte in seinem Mund einen ganz eigenen, süßen Geschmack. Wenn sie unter seinem Schilfstift Form annehmen, weiß er, dass er an etwas Wichtigem teilhat. Noch immer erinnert er sich an das gute Gefühl, das ihn übermannte, als er die Texte im Gottesdienst zum ersten Mal vorlas. Der alte Sabbateus hatte ihn zu sich gebeten, ihm einen Arm um die Schulter gelegt und gesagt: »Meine Augen sind nicht mehr in der Lage, die Zeichen voneinander zu unterscheiden. Fortan musst du die heiligen Schriften lesen.«

Das Letzte, woran Josef vor dem Einschlafen denkt, sind erfreute Gesichter. Endlich soll die Gemeinde ein eigenes Buch mit den heiligen Schriften bekommen. Die anderen Kirchen hatten sich freundlich gezeigt und ihre Bücher ausgeliehen, sodass er von den besten Büchern des Tals hatte abschreiben können. Jetzt ist das große Evangelienbuch fertig, und Josef freut sich darauf, es am nächsten Tag in der Kirche vorzulegen.

Ungefähr so können wir uns die Vorgeschichte eines der ältesten existierenden Manuskripte des Neuen Testaments vorstellen. Das Manuskript wurde in den 1930er-Jahren in Ägypten gefunden. Es bekam den Namen Papyrus 45 und wurde irgendwo im Niltal verfasst. Das große Buch enthält sowohl die vier Evangelien als auch die Apostelgeschichte. Alle 224 Seiten sind mit der gleichen, leicht nach rechts geneigten Handschrift geschrieben. Wie so viele andere frühe Manuskripte wurde das Buch von einem gewöhnlichen Christen niedergeschrieben und nicht von einem Mönch im Kloster. Er oder sie verfügte wahrscheinlich über eine Ausbildung als Schreiber und gebrauchte die Schreibkunst in der täglichen Arbeit; neue Exemplare der heiligen Bücher für die Gemeinde wurden jedoch in der arbeitsfreien Zeit gefertigt.

Der Schreiber ist der anonyme Held der Textgeschichte. In einigen alten Manuskripten finden sich kleine »Seufzer« von ihm oder ihr, eingefügt nach getaner Arbeit. In einem Manuskript aus Armenien beklagt sich der Schreiber über die Kälte: Draußen tobt ein Schneesturm, sodass die Tinte gefriert, die Hände werden taub, und ständig fällt der Stift aus der Hand. In einem anderen Manuskript ist ganz unten auf dem letzten Bogen dieser poetische Vergleich zu lesen: »Wie sich ein Reisender darüber freut, die Heimat zu sehen, so ist das Ende des Buches für jenen, der sich damit abgemüht hat.« Andere Manuskripte enden mit einer Lobpreisung Gottes: »Das Ende des Buches – Gott sei gelobt!«1

Wir bezeichnen die alten Bücher also als Manuskripte. Wofür steht dieses Wort? Es hört sich wie eine Art erster Entwurf eines literarischen Werkes an, eine Kladde, die nach Fertigstellung des Buches beiseitegelegt wird. Man denkt leicht an etwas Unfertiges, etwas Vorläufiges.

Das war in der Antike (im Zeitraum von ca. 700 v.Chr. bis 500 n.Chr.) anders. Zu dieser Zeit gab es keine Druckereien. Alle Bücher mussten zwangsläufig von Hand geschrieben werden. Und sie wurden keineswegs nach dem ersten Lesen beiseitegelegt; sie waren so selten und ihre Herstellung so teuer, dass sie bis zur vollständigen Abnutzung verwendet wurden. Aus diesem Grund sind alle bisher gefundenen Manuskripte in mehr oder weniger starkem Umfang beschädigt.

Das Wort Manuskript stammt aus dem Lateinischen und bedeutet schlicht und einfach »von Hand Geschriebenes«. Manus steht für »Hand« und scriptum bezeichnet »etwas Geschriebenes«.

So verhielt es sich die gesamte Zeit über, bis Johannes Gutenberg (1398–1468) Mitte des 15.Jahrhunderts die Kunst des Buchdrucks erfand. Bis dahin galt: Wollte man ein Buch haben, dann musste es von Hand geschrieben werden. Jedes einzelne Exemplar des Buches musste von Hand geschrieben werden, Wort für Wort, Seite für Seite. Daher wird alles schriftliche Material aus dieser Zeit Manuskript genannt.

Auch die Texte des Neuen Testaments wurden von Beginn an durch Abschrift von Hand verbreitet. Innerhalb kürzester Zeit zirkulierten die Bücher im gesamten Mittelmeerraum. Um das Jahr 300 finden wir den Glauben an Jesus in Gebieten, die heute zu Israel und Palästina, dem Libanon und Syrien, der Türkei und Griechenland, Italien und Deutschland, Frankreich und Spanien, Algerien, Tunesien und Ägypten gehören. Sogar so weit nördlich wie im heutigen Belgien, den Niederlanden und England gab es christliche Glaubensgemeinschaften. Der Glaube an Jesus von Nazareth war dabei, eine Weltreligion zu werden.

Aber wie sah ein Bibeltext in den ersten Jahrhunderten nach Christus aus? Welches Format hatte er? Woraus waren die Bücher gefertigt? Viele dieser Manuskripte sind bis heute erhalten geblieben, einige von ihnen sind in diesem Buch auch mit Foto wiedergegeben. Dabei sind einige Gemeinsamkeiten erkennbar:

Zum einen wurden die ältesten Manuskripte auf Bögen aus Papyrus geschrieben. Papyrus wuchs in Ägypten und wurde von dort aus in den gesamten Mittelmeerraum exportiert. Zur Fertigung der Bögen wurden die Halme der Papyruspflanze, genannt biblos, in dünne Streifen geschnitten. Diese Streifen wurden in zwei Schichten quer übereinandergelegt; dieses Kreuzmuster ist bei allen Papyrusbögen leicht zu erkennen. Dann wurden die beiden Schichten aufeinandergepresst, wobei der Pflanzensaft wie Leim wirkte und die Schichten zusammenklebte. Anschließend wurden die Bögen getrocknet und später in der passenden Größe zugeschnitten. Mit dem Schreiben begann man stets auf der Seite mit den horizontalen Linien, weil diese am leichtesten zu beschreiben war.

Bis etwa 300 n.Chr. war Papyrus das gebräuchlichste Schreibmaterial. Im 4.Jahrhundert übernahm nach und nach Pergament diese Rolle. Dieses wurde aus feiner Tierhaut hergestellt. Dabei war es üblich, sowohl Ziegen- als auch Schafshaut zu verwenden. Das feinste Pergament hingegen wurde aus Kalbshaut gewonnen. Die Stadt Pergamon, die in der Offenbarung des Johannes (2,12) erwähnt ist, war für die Veredelung der Pergamentherstellung bekannt, weswegen das feine Leder nach dieser Stadt benannt wurde. Heute trägt sie den Namen Bergama und gehört zur Türkei.

Die Herstellung war arbeitsintensiv: Um sie geschmeidig zu machen, wurde die Tierhaut zuerst eingeweicht. Anschließend wurde sie in einen Rahmen gespannt, um die Haare auf der Außenseite und das Fett auf der Innenseite zu entfernen. Nachdem sie getrocknet war, wurde die Haut geglättet und in der gewünschten Größe zu Bögen zugeschnitten. Die fertigen Bögen wurden nach Qualität sortiert. Hatte die Haut Löcher oder anderweitige Beschädigungen, wurde sie für weniger wichtige Dokumente verwendet. Das feinste Pergament war äußerst kostbar und wurde nur für große literarische Werke genutzt. Zum Beispiel wurde das prachtvolle Manuskript Codex Sinaiticus auf dem dünnsten und teuersten Kalbslederpergament geschrieben, das es seinerzeit gab.

Im Vergleich zu Pergament ist Papyrus weniger haltbar. Es grenzt an ein Wunder, dass bis heute 135 alte Papyrusmanuskripte mit Texten des Neuen Testaments gefunden wurden, alle in Ägypten. Nur dort war das Klima so trocken, um den Papyrus in verfallenen Ruinen oder vergraben im trockenen Wüstensand zu erhalten. Alle Papyrusmanuskripte, die in anderen Ländern rund um das Mittelmeer existiert haben müssen, sind verloren gegangen. Die wenigen Exemplare, die sich nach den Verfolgungen im 4.Jahrhundert noch dort fanden, hatten gegen das Klima und den Niederschlag keine Chance. Unter dem Sand Ägyptens lagen die Papyrusmanuskripte hingegen wie ein versiegeltes Geschichtsbuch, bereit, um von späteren Generationen geöffnet zu werden. Im 20.Jahrhundert ist das verborgene Geschichtsbuch unter den Sanddünen geöffnet worden. Es bot den Forschern einen schier unglaublichen Einblick in biblische Manuskripte aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Dieses neu geöffnete Geschichtsbuch möchte ich in Pergamente und Papyri präsentieren.

Pergamente und Papyri

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