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Deutung der Puzzleteile: Einen Text lesen

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Die Schriften, aus denen das Neue Testament entstanden ist, waren von Beginn an zum Vorlesen gedacht. In der Antike war es unüblich, still für sich allein zu lesen; gelesen wurde vorwiegend laut, damit andere es hören konnten. Mit anderen Worten: Ein Buch wurde erst dann lebendig, wenn es Stimme und Ton bekam. Das entsprach dem eigentlichen Sinn niedergeschriebener Bücher: Die schriftliche Fassung sollte dem Vorleser bei der Erinnerung an das mündlich Vorgetragene helfen.

Bei einer Bevölkerung, von der lediglich zehn bis fünfzehn Prozent lesen und schreiben konnten, war es wichtig, hören zu können, was gelesen wurde. Dem Vorleser kam deshalb nicht nur in der Kirche, sondern in der ganzen Gesellschaft eine wichtige Funktion zu. Die einzige Möglichkeit der Menschen, Informationen zu erhalten, bestand darin, dass jemand auf dem Markt oder in der Kirche laut aus einem Manuskript vorlas.

Aus diesem Grund findet sich das Wort »vorlesen« über dreißig Mal im Neuen Testament. Es wurde stillschweigend vorausgesetzt, dass es lauten Vorlesens bedurfte, wenn Jesus Dinge sagte wie: »Habt ihr nicht gelesen, […] dass Gott am Anfang den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat.« Vorlesen war ein selbstverständlicher und notwendiger Teil der antiken Gesellschaft.

»Bis ich komme, lies wie bisher aus den Heiligen Schriften vor …« (1.Tim 4,13)

So schreibt der alte Apostel Paulus an seinen jungen Mitarbeiter Timotheus. Es ist kein Zufall, dass er das Vorlesen so betont. Aus den Schriften zu lesen war noch wichtiger als zu predigen und zu unterrichten. Nur so konnte die Gemeinde erfahren, was in den Schriften stand. Der Vorleser musste seine Aufgabe daher ernst nehmen. In der Johannesoffenbarung werden sowohl der Vorleser als auch die Zuhörer gepriesen, weil sie das Gelesene in Obhut nehmen:

»Freuen darf sich, wer die prophetischen Worte in diesem Buch anderen vorliest, und freuen dürfen sich alle, die sie hören und beherzigen; denn die Zeit ist nahe, dass alles hier Angekündigte eintrifft.« (Off 1,3)

Dieser Bibelvers schildert die konkrete Situation, in der der Text verwendet wurde: Einer las laut vor, während andere zuhörten. Es gibt eine ergreifende Schilderung eines Gottesdienstes, wie er von Christen Mitte des 2.Jahrhunderts abgehalten wurde. Darin berichtet der christliche Autor Justin der Märtyrer, dass viel Zeit auf das laute Vorlesen verwendet wurde:

»An dem Tag, der der Tag der Sonne genannt wird, versammeln sich alle, ob sie in den Städten oder auf dem Land wohnen. Man liest aus den Erinnerungen der Apostel oder aus den Schriften der Propheten, solange es die Zeit erlaubt. Wenn der Lesende das Vortragen beendet hat, spricht der Vorsteher ein Wort der Ermahnung, worin er uns auffordert, die guten Dinge, die wir gehört haben, zu befolgen.«2

Wie man sieht, verwendeten die Christen sowohl Schriften des Alten als auch des Neuen Testaments, wie die beiden Sammlungen später genannt wurden. Mit »Erinnerungen der Apostel« wurden in der Urkirche für gewöhnlich die vier Evangelien bezeichnet und mit »Schriften der Propheten« die Bücher, die wir als das Alte Testament kennen. Diese Bücher wurden gelesen, »solange es die Zeit zuließ«, anschließend folgte eine kurze Predigt. Sie verwendeten also viel Zeit auf das Wichtigste, das Hören der Schriften. Denn niemand besaß diese Bücher persönlich, und die Wenigsten konnten lesen.

Versuchen wir uns vorzustellen, wie es war, diese Manuskripte zu verstehen. Es kann keine leichte Aufgabe gewesen sein, Vorleser zu sein, weder in der Gesellschaft noch in der Kirche. Die meisten Hilfsmittel, wie man sie in modernen Texten findet, waren in der Antike unbekannt:

Erstens gab es keine Leerzeichen zwischen den einzelnen Wörtern. In einigen Manuskripten ist die Andeutung eines Leerzeichens zu finden, zumindest zwischen den Sätzen. In der Regel bestanden jedoch alle Manuskripte aus kontinuierlicher Schrift, d.h. einem Text komplett ohne Leerzeichen. Wer vorlesen sollte, musste deshalb vorher üben, um zu wissen, wie DIELANGEREIHEVONBUCHSTABENEINGETEILTWERDENMUSSTE.

Nur wer geübt hatte, wusste, wo die einzelnen Wörter anfingen und endeten.

Zweitens bestanden die Texte ausschließlich aus GROSSBUCHSTABEN. Die Kleinschreibung entwickelte sich erst im Mittelalter. Bis dahin hatte der Vorleser nicht die Möglichkeit, anhand großer Anfangsbuchstaben zu wissen, wo ein Satz begann oder was Orts- und Personennamen waren, wie es im heutigen Schriftbild der Fall ist.

Drittens fanden sich in den Texten weder Kapitel- noch Versnummern. Kapitelnummern wurden erst im 13.Jahrhundert eingesetzt, und die heute übliche Einteilung in Verse wurde erst 1551 im griechischen Neuen Testament des französischen Herausgebers Stephanus eingeführt.

Viertens fanden sich in dem Text keine Überschriften. Daher war es nicht so einfach, seinen bevorzugten Text oder überhaupt irgendeinen bestimmten Text zu finden. Das Problem, den Bibeltext des Tages zu finden, wurde gelöst, indem man Lektionare anfertigte, das heißt Textbücher mit ausgewählten Bibeltexten. In diesen Büchern fand sich für jeden Tag oder für jeden Sonntag ein Abschnitt. Über vierzig Prozent aller neutestamentlichen Manuskripte sind solche Lektionare. 2433 wurden bisher gefunden.

Fünftens gab es keine Fußnoten, die dem Leser beim Verständnis der Inhalte halfen, und kaum Querverweise, die auf andere Texte mit gleichem oder ähnlichem Inhalt hinwiesen. In modernen Bibeln gibt es diese reichlich, in der Antike jedoch musste man ohne sie auskommen, abgesehen von den Stellen, wo jemand eine Notiz an den Rand des Manuskripts geschrieben hatte. Anmerkungen dieser Art finden sich in vielen Manuskripten.

Wir werden uns bald einem Manuskript zuwenden, das über viele Notizen am Rand verfügt. Aber zuerst müssen wir eine wichtige Frage hinsichtlich des verwendeten Buchformats stellen: Warum nutzten die Christen keine Buchrollen?

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