Читать книгу Was ist analytische Philosophie? - Hans-Johann Glock - Страница 17
4. Die Wende zur Sprache
ОглавлениеFrege und Russell hatten die formale Logik revolutioniert und zugleich ihre philosophische Wirkmächtigkeit demonstriert. Gleichzeitig hatten sie aber das Wesen der Logik im Dunkeln gelassen. So sah es zumindest Ludwig Wittgenstein, ein Österreicher, der 1911 nach Cambridge kam, zu Beginn als Russells Student, aber schon bald als gleichwertiger Diskussionspartner und gnadenloser Kritiker. Damals gab es vier Auffassungen vom Wesen der Logik. Nach Mill sind logische Aussagen besonders gut untermauerte induktive Verallgemeinerungen. Dem Psychologismus zufolge beschreiben die logischen Wahrheiten oder »Gesetze des Denkens«, wie Menschen (im Großen und Ganzen) denken – ihre fundamentalen geistigen Operationen –, und sie werden bestimmt durch die Natur des menschlichen Geistes. Gegen diese Positionen wandten Platonisten wie Frege ein, dass logische Wahrheiten objektiv und notwendig seien und dass diese Merkmale nur durch die Annahme erklärt werden könnten, dass ihr Gegenstand – die logischen Gegenstände und Gedanken – abstrakte Entitäten sind, die ein »drittes Reich« jenseits von Raum und Zeit bewohnen. Russell schließlich vertrat die Auffassung, dass die Sätze der Logik Wahrheiten von größter Allgemeinheit über die allgemeinsten Wesenszüge der Realität seien, Wesenszüge, zu denen wir durch Abstraktion von nicht-logischen Sätzen Zugang haben. »Platon liebt Sokrates« ergibt die logische Form »xΦy« und damit einen Satz wie »Etwas steht in irgendeiner Beziehung zu etwas«.
Wittgensteins Tractatus (1922) distanziert sich von allen vier Alternativen. Die Sätze der Logik wie »(p v ~p)« sind ihm zufolge weder induktive Verallgemeinerungen noch Beschreibungen, wie Menschen denken, oder einer platonischen Hinterwelt oder der durchgängisten Wesenszüge der Wirklichkeit. Sie sind vielmehr leere »Tautologien«. Sie sagen nichts, da sie empirische Sätze so miteinander verbinden, dass alle Tatsacheninformationen »herausgekürzt« werden. Der Satz »Es regnet« sagt etwas – Wahres oder Falsches – über das Wetter aus. Das Gleiche gilt für »Es regnet nicht«. Der Satz »Entweder regnet es oder es regnet nicht« aber tut dies nicht. Die Notwendigkeit von Tautologien spiegelt lediglich die Tatsache wider, dass diese keine Behauptungen aufstellen, deren Wahrheitswert davon abhängt, wie es sich wirklich verhält. Ebenso wie logische Sätze keine Aussagen über eine besondere Wirklichkeit sind, so sind auch die logischen Konstanten (Satzjunktoren und Quantoren) keine Bezeichnungen eigentümlicher logischer Entitäten, wie Frege und Russell angenommen hatten. Sie bringen vielmehr wahrheitsfunktionale Operationen zum Ausdruck, durch die komplexe Sätze aus einfacheren Sätzen gebildet werden.
Wittgenstein zufolge verdanken sich alle logischen Relationen zwischen Sätzen der Komplexität molekularer Sätze, der Tatsache, dass sie aus »atomaren« oder »elementaren Sätzen« gebildet werden, und zwar ausschließlich mittels wahrheitsfunktionaler Operationen. Aus demselben Grund können alle sinnvollen Sätze in logisch voneinander unabhängige Elementarsätze analysiert werden. Die einfachsten Bestandteile solche Sätze sind »nicht analysierbare« Namen (die einfachsten Bestandteile der Sprache). Diese Namen haben als ihre Bedeutung, d.h. sie stehen für, unzerstörbare »Gegenstände« (die einfachsten Bestandteile der Wirklichkeit). Ein ähnlicher Typ eines solchen logischen Atomismus wurde von Russell entwickelt. Darüber hinaus teilte Wittgenstein Russells Überzeugung (1900: 8; 1914: Kap. 2; 1918: 108), dass Philosophie identisch sei mit der logischen Analyse von Sätzen in ihre Grundbestandteile und dass dadurch zugleich die Bausteine der Wirklichkeit aufgezeigt würden.
Während Russell von der empiristischen Vorstellung geleitet wurde, dass diese Bestandteile der Wirklichkeit Gegenstände sein sollten, mit denen man durch die Sinne »bekannt« (acquainted) ist, verfolgte Wittgenstein ein kantisches Projekt. Ihm ging es nicht in erster Linie darum, die genaue Natur dieser Gegenstände aufzuzeigen, sondern darum, zu zeigen, dass sie existieren müssen, wenn wir in der Lage sind, die Wirklichkeit darzustellen. In Anknüpfung an Kants Bestreben, die Grenzen zwischen berechtigter Überlegung und unberechtigter Spekulation zu ziehen, ist es das erklärte Ziel des Tractatus, »dem Denken eine Grenze zu ziehen«. Gleichzeitig gab Wittgenstein der kantischen Erzählung eine sprachliche Wendung. Die Sprache ist nicht nur eine sekundäre Manifestation von etwas Nichtsprachlichem. Denn Gedanken sind weder geistige Vorgänge noch abstrakte Entitäten, sondern selbst Sätze, Satzzeichen, die auf die Wirklichkeit projiziert werden. Gedanken können vollständig in der Sprache ausgedrückt werden, und die Philosophie kann die Grenzen des Denkens aufzeigen, indem sie die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks des Denkens aufzeigt. Diese Grenzen können allerdings nicht durch Gedanken gezogen werden, die von etwas auf beiden Seiten dieser Grenzen handeln, da diese Gedanken per definitionem von etwas handeln würden, was sich nicht denken lässt. Die Grenzen des Denkens können nur »in der Sprache« gezogen werden (1922: Vorwort), nämlich indem man zeigt, dass bestimmte Zeichenverbindungen sinnlos sind, wie etwa im Falle von »A-Dur ist scharf«.
In Wittgensteins Augen ist der von Frege und Russell entwickelte logische Kalkül keine ideale Sprache, welche die angeblichen Mängel der natürlichen Sprachen vermeidet, sondern eine ideale Notation, welche die logische Struktur aufweist, die unter ihrer missverständlichen Oberfläche allen natürlichen Sprachen gemeinsam sein muss. Wittgenstein versucht, die Bedingungen sprachlicher Darstellung durch die sogenannte »Bildtheorie« zu erfassen. Das Wesen des Satzes – »die allgemeine Satzform« – besteht darin, zu sagen, wie es sich verhält. Die logische Struktur der Sprache ist identisch mit der metaphysischen Struktur der Wirklichkeit, da sie die strukturellen Eigenschaften umfasst, die Sprache und Wirklichkeit gemeinsam sein müssen, damit Erstere die Letztere abbilden kann. Elementarsätze sind Bilder bzw. Modelle, die einen »Sachverhalt«, eine mögliche Verbindung von Gegenständen, abbilden. Dafür müssen ihre Bestandteile diese Gegenstände vertreten, und sie müssen dieselbe »logische Form« haben wie der abgebildete Sachverhalt. Ein Elementarsatz ist genau dann wahr, wenn dieser Sachverhalt besteht, d.h., wenn die benannten Gegenstände tatsächlich so miteinander verbunden sind, wie der Satz dies sagt.
Elementarsätze haben dadurch Sinn, dass sie einen möglichen Sachverhalt abbilden, und logische Sätze sind »sinnlos«, da sie nichts aussagen. Die Äußerungen der Metaphysiker hingegen sind »unsinnig«, da sie versuchen, etwas zu sagen, was nicht anders sein könnte, z.B. dass die Klasse der Löwen kein Löwe ist. Aber jeder Versuch, von etwas Unsinnigem zu reden, und sei es, um es auszuschließen, ist selbst unsinnig. Denn mit einem sinnvollen Satz können wir nicht von etwas Unlogischem reden, wie etwa davon, dass die Klasse der Löwen ein Löwe ist. Was solche »Scheinsätze« zu sagen versuchen, wird durch richtig analysierte empirische Sätze gezeigt. Tatsächlich werden auch die Behauptungen des Tractatus selbst am Ende als unsinnig verurteilt. Indem sie das Wesen der Darstellung aufzeigen, leiten sie einen zum korrekten logischen Standpunkt hin. Sobald dieser aber erreicht ist, muss man die Leiter wegwerfen, die man zuvor emporgestiegen ist. Die Philosophie kann keine »Lehre« sein, da es keine sinnvollen philosophischen Sätze gibt. Sie ist vielmehr eine Tätigkeit, eine »Kritik der Sprache« mit den Mitteln der logischen Analyse. Positiv formuliert erläutert sie die sinnvollen Sätze der Wissenschaft und deckt die Unsinnigkeit metaphysischer Aussagen auf (1922: 4.0031, 4.112, 6.53–6.54).
Mit sympathischer Bescheidenheit glaubte Wittgenstein, der Tractatus habe die fundamentalen Probleme der Philosophie gelöst, und verfolgte dieses Thema nach dessen Veröffentlichung nicht weiter. Unterdessen waren die logischen Positivisten des Wiener Kreises auf das Buch aufmerksam geworden. Die logischen Positivisten wollten einen »widerspruchsfreien Empirismus« entwickeln. Sie stimmten den britischen Empiristen sowie Ernst Mach zu, dass alles menschliche Wissen auf Erfahrung beruhe, versuchten diese Position aber auf überzeugendere Weise zu verteidigen, nämlich mithilfe der modernen Logik, was sie durch die Bezeichnung »logischer Empirismus« betonten. Inspiriert von Frege, Russell und Wittgenstein, machten sie von der logischen statt von der psychologischen Analyse Gebrauch, um die Elemente der Erfahrung, der Wirklichkeit und der Sprache aufzuzeigen (Carnap u.a. 1929: 8). Auf den Tractatus beriefen sie sich auch bei ihrem Versuch, die logischen und mathematischen Sätze verständlich zu machen, ohne diese auf induktive Verallgemeinerungen zu reduzieren (Mill), dem Platonismus zu verfallen (Frege) oder synthetische Wahrheiten a priori zuzugeben (Kant). Die Logik und die Mathematik, so räumten sie ein, sind notwendig und a priori; sie liefern jedoch keine Erkenntnisse über die Welt. Denn alle apriorischen Wahrheiten sind analytischer Natur, d.h., sie sind wahr aufgrund der Bedeutung der Wörter, aus denen sie bestehen. Logische Wahrheiten sind Tautologien, die allein aufgrund der Bedeutung der logischen Konstanten wahr sind, und analytische Wahrheiten können auf Tautologien zurückgeführt werden, indem man Synonyme durch Synonyme ersetzt. So kann
(8) Alle Junggesellen sind unverheiratet
zu
(8) Alle unverheirateten Männer sind unverheiratet
umgeformt werden, und damit zu einer Tautologie der Form »8x((Fx & Gx) → Gx)«. Weit davon entfernt, das Wesen der Wirklichkeit oder die Struktur der reinen Vernunft widerzuspiegeln, sind notwendige Aussagen wahr aufgrund der Konventionen, die unseren Wortgebrauch bestimmen (Carnap u.a. 1929: 8–10, 13; Blumberg und Feigl 1931; Ayer 1936: 21–24, Kap. 4).
Heutzutage sind die logischen Positivisten vor allem für ihren Verifikationismus bekannt, die Ansicht, dass die Bedeutung eines Satzes die Methode seiner Verifikation ist (»das Prinzip der Verifikation«) und nur diejenigen Sätze »kognitive Bedeutung« besitzen, die verifiziert oder falsifiziert werden können (das verifikationistische »Sinnkriterium«). Auf der Grundlage dieses Kriteriums verurteilten sie die Metaphysik als sinnlos, da sie weder a posteriori ist wie die empirische Wissenschaft noch analytisch wie die Logik und die Mathematik. Metaphysische Äußerungen sind leer: Sie machen weder Aussagen über Tatsachen, die letztlich durch Sinneserfahrung verifiziert werden können, noch explizieren sie die Bedeutung von Wörtern und Sätzen.
Legitime Philosophie reduziert sich auf das, was Rudolf Carnap »Wissenschaftslogik« nennt (1934: 203). Ihre Aufgabe ist die logische Sprachanalyse ausschließlich solcher Sätze, die, streng genommen, sinnvoll sind, nämlich die der Wissenschaft. Carnap brachte diese sprachliche Wende dadurch zum Abschluss, dass er die philosophischen Probleme und Sätze von der traditionellen »materialen Redeweise« – die Natur oder das Wesen von Gegenständen betreffend – in die »formale Redeweise« – sprachliche Ausdrücke, ihre Syntax und Semantik betreffend – umformulierte.
Die logischen Positivisten übernahmen die analytischen Methoden des logischen Atomismus, verwarfen jedoch die (unterschiedlichen) metaphysischen Begründungen, die Russell und Wittgenstein für diese vorgebracht hatten. Von Letzterem ererbten sie die Wende zur Sprache, von Ersterem den Ehrgeiz, die Wahrheit des Empirismus mit den Mitteln der reduktiven Analyse zu beweisen. Sie waren der »Einheit der Wissenschaft« verpflichtet, der Vorstellung, dass alle wissenschaftlichen Disziplinen, einschließlich der Sozialwissenschaften, in einem einzigen System vereint werden können, deren Grundlage die Physik ist. Die theoretischen Begriffe der Wissenschaft werden durch ein primitiveres Beobachtungsvokabular definiert, was es ermöglicht, alle sinnvollen Sätze auf Sätze über das, was in der Erfahrung »gegeben« ist, zurückzuführen.
Die sogenannten »Protokollsätze« oder »Beobachtungssätze« führten zu der ersten größeren Aufspaltung innerhalb der positivistischen Bewegung. Den von Schlick angeführten »Phänomenalisten« zufolge handeln diese Sätze von subjektiven Sinneserfahrungen, nach Auffassung der von Neurath und später von Carnap angeführten »Physikalisten« handeln sie von physikalischen Objekten und nicht von geistigen Episoden. Die physikalistische Option wird der Tatsache gerecht, dass die Gegenstände der Wissenschaft intersubjektiv zugänglich sein müssen. Der hierfür zu entrichtende Preis ist aber, dass sogar jene Sätze, welche die empirischen Grundlagen der Wissenschaft bilden, fallibel sind, eine Ansicht, die auch von Karl Popper, der dem Wiener Kreis nahestand, befürwortet wurde.
Eine weitere Kontroverse ergab sich hinsichtlich der Stellung der Philosophie gegenüber der Wissenschaft. Alle logischen Positivisten waren der Ansicht, die Philosophie solle die Strenge und den kooperativen Geist der formalen und empirischen Wissenschaften nachahmen. Aber während Schlick und Carnap an einem qualitativen Unterschied zwischen der empirischen Untersuchung der Wirklichkeit und der philosophischen Analyse der Sätze und Methoden der Wissenschaft festhielten, nahm Neurath einen naturalistischen Standpunkt ein, demzufolge die Philosophie selbst in einer vereinheitlichten physikalistischen Wissenschaft aufgeht.
Carnap war anfangs beeindruckt gewesen von Wittgensteins scharfer Kritik an jeglichen Versuchen, über die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit zu sprechen, und er hatte deshalb die Analyse der Sprache auf die logische Syntax, die innersprachlichen Regeln für die Verbindung von Zeichen, beschränkt. Im Jahr 1935 aber veröffentlichte Alfred Tarski einen bahnbrechenden Aufsatz, der den zentralen semantischen Begriff der Wahrheit auf eine Weise definierte, die die semantischen Paradoxien (wie das des Lügners) umging. Dies überzeugte Carnap, die Beschränkung auf die Syntax aufzugeben; seine anschließenden Versuche, semantische Begriffe zu explizieren, insbesondere mithilfe der Vorstellung der möglichen Welten (1956), hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf die analytische Sprachphilosophie.
Unter Druck geriet auch der Verifikationismus. Das Prinzip der Verifikation wurde von Vertretern der Begriffsanalyse angegriffen, die darauf hinwiesen, dass sprachliche Bedeutung nicht nur Deklarativsätzen zukommt, die wahr oder falsch sein und deshalb verifiziert oder falsifiziert werden können, sondern zum Beispiel auch Interrogativ-, Imperativ- und Performativsätzen. Als Reaktion darauf beschränkten die Positivisten das Prinzip der Verifikation auf das, was sie »kognitive« Bedeutung nannten, im Gegensatz etwa zur emotiven Bedeutung (Carnap 1963, 45; vgl. Stroll 2000, 84–86).
Dieses Zugeständnis beraubt allerdings das Verifikationsprinzip seiner semantischen Rolle, außer es kann gezeigt werden, dass auch Aussagen, die nicht deklarativ sind, einen wahrheitsfähigen und deshalb verifizierbaren Bestandteil haben. Die verifikationistische Kritik der Metaphysik ist dadurch nicht bedroht, da die Metaphysik beansprucht, Beschreibungen der Wirklichkeit mit kognitivem Inhalt zu liefern. Von traditionellen Philosophen wurde jedoch der Einwand vorgebracht, dass das Bedeutungskriterium sich selbst widerlege, da es weder empirisch noch analytisch und deshalb nach seinem eigenen Maßstab sinnlos sei (Ewing 1937). Und logische Positivisten wie Hempel (1950) erkannten, dass das Kriterium entweder zu streng ist, wenn es Sätze ausschließt, die Teil der Wissenschaft sind (»Alle Quasare sind radioaktiv« kann nicht schlüssig verifiziert werden, und »Einige Quasare sind nicht radioaktiv« kann nicht schlüssig falsifiziert werden), oder zu liberal, wenn es metaphysische Aussagen wie »Nur das Absolute ist vollkommen« zulässt.