Читать книгу Brich nicht die Schweigepflicht: Dr. Walldorf - Ein Landarzt aus Leidenschaft Band 1 - Hans-Jürgen Raben - Страница 6
1. Kapitel
ОглавлениеDoktor Alwin Walldorf blickte zufrieden aus dem Fenster seines Sprechzimmers auf die Hauptstraße des kleinen Städtchens Bolzenhagen, in dem er vor fast fünfzehn Jahren seine Praxis eröffnet hatte. Er fühlte sich hier wohl, im Brandenburgischen, eine halbe Stunde Autofahrt von Berlin entfernt. Dort hatte er studiert und seine Jahre als Assistenzarzt verbracht, ehe er den Entschluss gefasst hatte, in seinen Geburtsort zurückzukehren. Ein alter Schulfreund hatte ihn angerufen und informiert, dass eine gut eingeführte Praxis zu verkaufen sei, nachdem deren Besitzer mit weit über siebzig Jahren in den Ruhestand gegangen war. Er hatte nicht lange überlegt.
Der Anrufer von damals war immer noch sein bester Freund. Heute war er Bürgermeister der Stadt.
Noch eine Viertelstunde, dann war die Sprechzeit vorbei, und soweit er gesehen hatte, saßen keine weiteren Patienten im Wartezimmer.
Doktor Walldorf war eine beeindruckende Gestalt, groß, mit breiten Schultern und stämmigen Beinen. Sein volles dunkles Haar war an den Schläfen ergraut, doch seine Augen blitzten immer noch wach und musterten neugierig die Welt um ihn herum. Mit seinen achtundfünfzig Jahren fühlte er sich jung genug, noch jahrelang für das medizinische Wohlergehen der Bolzenhagener zu sorgen.
Er war nicht allein dafür verantwortlich. Seine Sprechstundenhilfe Roswitha Schäfer war von Anfang an dabei. Sie kannte die Patienten ebenso gut wie er selbst, vielleicht sogar noch besser. Sie war zwar nicht immer bester Laune und trug dann einen mürrischen Gesichtsausdruck zur Schau, was jedoch oft daran lag, dass ihr missratener Sohn – wie ihn der Doktor insgeheim nannte – wieder mal irgendwo unangenehm aufgefallen war.
Und dann war da noch Susanne, seine medizinisch-technische Assistentin. Susanne Schrader war eine junge Frau von fünfundzwanzig Jahren, gut ausgebildet und bei den Patienten beliebt. Sie fand auf Anhieb die richtige Vene für die Blutentnahme und konnte hervorragend mit Kindern umgehen und ihnen die Angst vor der Behandlung nehmen. Was Walldorf manchmal ärgerte, war ihre große Klappe. Sie war im Berliner Wedding in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und hatte ihren Weg trotz vieler Widerstände gemeistert. Nur die oft schnippischen Bemerkungen waren geblieben.
Die Zeiger der großen Wanduhr über der Tür zum benachbarten Behandlungsraum schienen sich heute mit äußerster Langsamkeit zu bewegen. Auch wenn es nur noch wenige Minuten bis zum Ende der Sprechstunde waren – sein angeborenes Pflichtgefühl zwang Doktor Walldorf auf seinen Platz.
Er freute sich auf den Rest des Tages. Gleich anschließend würde er zur außerordentlichen Sitzung des Stadtrates gehen. Nur ein einziger Punkt stand auf der Tagesordnung: die Finanzierung zusätzlicher Sozialwohnungen, die dringend gebraucht wurden.
Es gab eine Zeit, als immer mehr junge Menschen aus Bolzenhagen abwanderten, da sie sich in der benachbarten Metropole bessere Perspektiven erhofften. Heute jedoch, im Zeichen immer schneller steigender Mieten in den großen Städten, versuchten viele Menschen, billigeren Wohnraum im Umland zu finden.
Doktor Walldorf hatte keine Zweifel, dass der Stadtrat entsprechende Beschlüsse fassen würde. Danach, und darauf freute er sich besonders, würde er mit dem Bürgermeister und dem Apotheker im Ratskeller eine gute Flasche Wein leeren, und sie würden vielleicht ein paar Runden Skat spielen.
Seine Frau würde ihn heute Abend nicht vermissen. Einmal im Monat traf sich das Damenkränzchen, wie sie es nannte. Die Frauen des Bürgermeisters und des Apothekers, die Inhaberin einer Kunstgalerie am Markt sowie die Besitzerin eines Friseursalons bildeten die Stammbesatzung der Runde. Gelegentlich wurden andere Gäste eingeladen, wenn es einen aktuellen Anlass dafür gab.
Das Kränzchen diente nicht nur dem Austausch von allerlei Klatschgeschichten oder Neuigkeiten von allgemeinem Interesse, sondern auch der Hilfe für Menschen, die aus irgendeinem Grund in Not geraten waren. Die Damen kümmerten sich um Behördengänge, Gespräche mit Banken oder Versicherungen, Beschaffung von Wohnraum und ähnlichen Dingen. Außerdem beschäftigten sie sich mit neu erschienen Büchern, die sie lasen und anschließend darüber diskutierten.
Doktor Walldorf wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als er ein Poltern aus dem Nebenraum hörte und eine Sekunde später das Geplärre eines Kindes vernahm. Seufzend erhob er sich aus seinem Stuhl und öffnete die Tür seines Sprechzimmers.
„Was ist das denn hier für ein Geschrei?“, brummte er und steckte seinen Kopf durch die Türöffnung. Er sah Schwester Susanne, wie sie redlich bemüht war, einen Roller den Händen eines etwa sechsjährigen Jungen zu entreißen.
„Herrgott, nun lass das Ding endlich los. Ich kann dir sonst nicht helfen, ich muss mir doch deine Wunde anschauen.“ Der Junge war auf den Armen seines Vaters in die Praxis getragen worden und umklammerte seinen Roller, als ob sein Leben davon abhinge. Dicke Tränen rannen über seine Wangen und aus seiner Nase lief der Schnodder, den er ab und zu hochzog.
„Tim ist böse mit dem Roller gestürzt und genau mit seinem Knie auf einen spitzen Stein gefallen. Ich habe mir die Wunde angeschaut, aber so wie es aussieht, muss das sicher genäht werden“, sagte der besorgte Vater und schaute Susanne hilflos an. Doktor Walldorf kam auf den Jungen zu und strich ihm über den Kopf.
„Na kleiner Mann, was machst du denn für Sachen? Gib mir mal deinen Roller und dann schaue ich mir deine Verletzung an, ok?“
„Aber den Roller nicht der Frau geben“, schniefte Tim und schielte zu Susanne hinüber.
„Mädchen dürfen unsere Roller nicht anfassen. Das haben wir in unserer Jungenclique so abgesprochen. Schließlich dürfen wir ja auch nicht mit deren Fahrrädern fahren“, schob er trotzig hinterher. Doktor Walldorf musste sich ein Lachen verkneifen und legte ein wichtiges Gesicht auf.
„Na klar, wir Männer verstehen uns“, nickte er und nahm ihm den Roller aus den Händen. Der Vater trug seinen Sohn zur Behandlungsliege und setzte den kleinen Kerl vorsichtig ab. Susanne schaute zur Uhr und rollte leicht mit den Augen. Pünktlich Feierabend machen wird wohl nicht drin sein, dachte sie und runzelte die Stirn. Heute war sowieso nicht ihr Tag. Sie hatte schlechte Laune, war unausgeschlafen und sogar eine Viertelstunde zu spät zur Arbeit gekommen, weil sie verschlafen hatte. Die Sprechstundenhilfe Roswitha Schäfer, die hinter dem Empfangstresen saß, schaute mit grimmiger Miene demonstrativ auf die große Uhr, die im Sprechzimmer hing und schüttelte den Kopf.
„Du wolltest doch nicht schon gehen?“, grummelte sie und schaute Susanne strafend an.
„Dir auch einen schönen Feierabend“, antwortete Susanne giftig und zog ihre Jacke wieder aus. Sie legte ihre Handtasche unter den Tresen, zog sich ihren weißen Kittel über und ging ohne ein weiteres Wort in den Nebenraum.
Sie ärgerte sich immer noch über ihr Zuspätkommen am Morgen. Schuld daran war nur ihr Freund, denn sie hatte am Vorabend einen handfesten Streit mit Stefan gehabt. Die Diskussionen zogen sich bis tief in die Nacht hinein und hatten zur Folge, dass sie vergessen hatte, den Wecker zu stellen. Stefan war auf dem Standpunkt, eine Frau müsse den kompletten Haushalt schmeißen, also Wäsche waschen, einkaufen, putzen und kochen, denn schließlich hätte das seine Mutter auch so gemacht.
Susanne sah das völlig anders. Sie warf ihm vor, ein verzogener Bengel zu sein und dass es ihm nicht schaden könnte, im Haushalt auch mal mit anzupacken. Denn schließlich ging sie – genau wie er – in Vollzeit arbeiten und da hätte sie sehr wohl Anspruch auf etwas Unterstützung. Eigentlich bestand zwischen den beiden die Absprache, nie ohne Versöhnung nebeneinander einzuschlafen. Doch diesmal hielt sich Susanne nicht dran. Sie war so wütend auf Stefan, dass sie seine Hand, die sich spät nachts unter ihre Bettdecke schob, zurückwies.
Heute war Susanne bereits etwas milder gestimmt und nahm sich vor, am Abend Stefans Lieblingsgericht zu kochen: Königsberger Klopse. Sie wollte einen erneuten Versuch starten, die Hausarbeit unter ihnen etwas aufzuteilen. Ihr würde es ja schon genügen, wenn er ab und an den Staubsauger schwingen, den Müll hinunterbringen und ihr beim Wocheneinkauf behilflich sein würde. Mehr erwartete sie ja auch nicht.
Doktor Alwin Walldorf betrachtete sich indessen die Wunde am Knie. Er säuberte sie mit etwas Jod und sprach beruhigend auf den Jungen ein. Dieser biss tapfer die Zähne zusammen, und als die Jodtinktur an die offene Wunde kam, gab er keinen Ton von sich. Die Wunde sah schlimmer aus, als sie wirklich war. Der Doktor nahm ein Klammerpflaster aus der Schublade, riss es aus der sterilen Verpackung und klebte es auf die offene Stelle.
„Bitte entfernen Sie das Pflaster nicht von allein, es wird nach ein paar Tagen von selbst abfallen. Und Baden ist auch erst nach acht bis zehn Tagen möglich“, wies er den Vater an und wuschelte Tim durch das Haar.
„Und du mein Freund, du bist ein richtiger Held, das kannst du deinen Jungs in deiner Clique erzählen. Nicht einen Pieps hast du von dir gegeben, während ich dich verarztet habe.“
Der Vater half Tim von der Liege und wollte ihn wieder auf den Arm nehmen, doch der Knirps lehnte ab und schüttelte den Kopf. „Ich bin doch kein Baby mehr, Papa. Ich kann alleine laufen“, rief er, schnappte sich seinen Roller, der an der Wand lehnte, und humpelte zum Ausgang. Der Vater bedankte sich bei dem Doktor, nickte Susanne freundlich zu und wünschte einen schönen Feierabend.
„So meine Damen, Feierabend“, rief Doktor Walldorf und knöpfte seinen Kittel auf. Er ging zurück in sein Sprechzimmer, schüttelte den Kittel ordentlich aus und hängte ihn an den verchromten Garderobenständer. Er rückte sein kariertes Hemd zurecht, streifte sich sein Jackett über und ging zurück zum Empfangstresen.
Roswitha Schäfer und Susanne waren bereit zum Gehen, und gemeinsam verließen sie die Praxis. Roswitha wünschte einen „schönen Feierabend, bis morgen“ und trippelte mit ihren kurzen Beinen in Richtung Bushaltestelle. Susanne hingegen lief zum Parkplatz und schloss ihr ›Muckelchen‹ auf. Sie hatte ihren kleinen roten Wagen ›Muckelchen‹ getauft, worüber Stefan sich immer wieder amüsierte.
„Wie kann man denn seinem Wagen einen Namen geben?“, lästerte er. „Das ist doch kein Haus- oder Kuscheltier.“
Doch Susanne liebte diesen kleinen Wagen über alles und war mächtig stolz darauf, ihn ihr Eigen zu nennen. Sie beharrte auf der Meinung, dass er mehr war als nur ein Auto, und deswegen hatte der Wagen auch einen Namen verdient. Sie winkte Doktor Walldorf zum Abschied zu und stieg ein. Sie hatte noch ein paar Besorgungen zu erledigen, um Stefans Königsberger Klopse wie bei Muttern zu kochen.
Mit einer Einkaufstasche beladen stieg sie die Treppen in den dritten Stock hinauf. Sie stellte die Tasche vor der Tür ab und kramte in der Handtasche nach ihrem Wohnungsschlüssel, als die Eingangstür wie von Geisterhand geöffnet wurde. Stefan stand im Türrahmen und grinste sie breit an.
„Was machst du denn schon hier?“, fragte Susanne völlig verdattert.
„Na das ist ja eine nette Begrüßung“, lachte er und öffnete weit die Tür. „So kommen Sie doch herein, meine Hübsche.“ Er machte eine einladende Handbewegung, nahm die Einkaufstasche vom Boden und trug sie in die Küche. „Heute war nicht viel los im Büro, ich habe mir den Rest des Tages freigenommen.“
Susanne zog ihre Jacke aus und hängte sie in die Flurgarderobe. Die Wohnzimmertür stand offen und ihr Blick fiel auf den Esszimmertisch. Dort stand ein riesengroßer Strauß mit roten Rosen. Daneben lag ein Paket, nett verpackt in Geschenkpapier mit einer Schleife oben drauf. Sie ging auf den Tisch zu und blieb unsicher stehen. Plötzlich umfassten Stefans Hände ihre Taille und sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken.
„Du hattest recht, mein Schatz. Es tut mir leid, wie ich mich gestern verhalten habe. Ich habe uns ein Geschenk gemacht, und ich gelobe mich zu bessern. Verzeihst du mir?“
Susanne war gerührt von Stefans Worten, und ihre Wut auf ihn verflog. Sie drehte sich zu ihm, schloss ihre Augen und suchte seinen Mund. Nach einem langen innigen Kuss lösten sie sich wieder voneinander und gemeinsam packten sie das Geschenk aus. Zwei Kochschürzen, eine mit einem sexy Frauenmotiv, die andere als männliches Pendant. Sie banden sich gegenseitig die Schürzen um, kicherten dabei wie zwei Teenager und fingen an, gemeinsam Königsberger Klopse zu kochen.