Читать книгу Brich nicht die Schweigepflicht: Dr. Walldorf - Ein Landarzt aus Leidenschaft Band 1 - Hans-Jürgen Raben - Страница 8

3. Kapitel

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Etwa zur gleichen Zeit betrat Doktor Alwin Walldorf den großen Konferenzraum im ersten Stock des Rathauses. Von hier oben konnte man den kompletten Marktplatz überblicken, der das historische Zentrum von Bolzenhagen bildete. Auch wenn die Kleinstadt nicht unbedingt so aussah, da viele alte Gebäude zu DDR-Zeiten heruntergekommen waren und anschließend abgerissen wurden, so hatte sie doch eine lange Geschichte und konnte auf ein ähnliches Alter zurückblicken wie die nicht weit entfernte Metropole Berlin.

Im neunzehnten Jahrhundert hatte es am Stadtrand eine Kaserne für ein preußisches Grenadierregiment gegeben, ein Grund für den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt. Die Soldaten waren aus dem Stadtbild schon lange verschwunden, und die Kaserne war längst abgerissen worden. Eine blühende Gemeinde war Bolzenhagen immer noch.

Walldorf war wie immer einer der Ersten und suchte sich seinen angestammten Sessel gleich rechts vom Bürgermeister, der am Kopfende seinen Platz hatte. Bevor er sich setzen konnte, ertönte eine bekannte Stimme in seinem Rücken.

„Alwin! Schön, dass du schon da bist. Ich muss kurz mit dir reden.“

Bernhardt Heilmann, Inhaber der Apotheke am Marktplatz, und ein alter Freund des Arztes, kam kurzatmig auf Walldorf zu und schüttelte ihm die Hand.

„Was gibt es denn?“

Heilmann zerrte Walldorf in eine Ecke des Raumes, einige Meter vom Konferenztisch entfernt und damit außer Hörweite der anderen Mitglieder des Rates, die allmählich eintrudelten.

„Wir haben heute den Tagesordnungspunkt über den Bau von neuen Sozialwohnungen“, flüsterte er.

Walldorf nickte. „Ja, ich weiß. Ich lese durchaus die Tagesordnung.“

„Nun, ich habe etwas läuten hören, das mir überhaupt nicht gefällt. Ich habe deswegen schon mit dem Bürgermeister telefoniert, und ich wollte auch dich bitten, entsprechend zu reagieren, wenn der Punkt behandelt wird.“

„Worum geht es denn?“, fragte Walldorf mit ungeduldiger Stimme.

„Werner Stoll, der dicke Schrottplatzbesitzer, der immer am anderen Ende des Tisches sitzt … also der …“

„Ich weiß, wen du meinst. Was ist mit ihm?“

„Er will einen Vorschlag einbringen, dass ein Berliner Bauunternehmer das ganze Projekt übernehmen soll.“

„Ja, und?“, wunderte sich Walldorf. „Soweit ich die ersten Pläne kenne, handelt es sich um ein größeres Projekt mit fast dreißig Wohnungen. Meines Wissens gibt es in Bolzenhagen kein Unternehmen, das für einen solchen Bau geeignet wäre. Wir brauchen in jedem Fall jemand von außerhalb.“ Er unterbrach sich und zog die Stirn kraus. „Andererseits, wenn ich an den dicken Stoll denke, hätte ich grundsätzlich auch Bedenken.“

„Völlig zu Recht“, sagte Heilmann. „Ich habe nämlich gehört, dass dieser Typ aus Berlin eine ziemlich windige Figur sein soll. Er war wegen verschiedener Baumängel schon in viele Prozesse verwickelt und gilt als überteuert. Außerdem ist er ein enger Kumpel unseres Schrottheinis.“

Walldorf wusste, dass Werner Stoll einen großen Schrottplatz am Rande der Stadt besaß. Er war noch nie dort gewesen, hatte aber in der Zeitung gelesen, dass es vor einiger Zeit Probleme mit illegal Beschäftigten gegeben hatte. An einen Fall von Steuerbetrug konnte er sich ebenfalls erinnern. Er hatte sich schon häufiger gefragt, wie Stoll es überhaupt geschafft hatte, in den Stadtrat gewählt zu werden.

„Du nimmst also an, dass sich bei diesem Projekt wieder mal jemand gesundstoßen will, oder?“

„Ganz genau!“

Walldorf grinste. „Dann kann ich ja einige Fragen dazu stellen, wenn es so weit ist.“

Bürgermeister Alfons Winkler betrat den Raum und nickte grüßend nach allen Seiten. Begleitet vom Scharren der Stuhlbeine dauerte es einige Sekunden, bis sich alle gesetzt hatten und der Bürgermeister die Sitzung eröffnen konnte.

Die meisten Punkte wurden schnell und problemlos abgehakt – bis der geplante Wohnungsbau an die Reihe kam. Alwin Walldorf setzte sich gerade und hörte aufmerksam zu.

„Das Projekt dürfte allen bekannt sein“, begann der Bürgermeister. „Die Stadt hat die Grundstücke zur Verfügung gestellt, es gibt einen ersten Entwurf von unserem Bauamt, doch jetzt müssen wir darüber entscheiden, wer die Planung und Ausführung der Bauten übernimmt. Dazu liegt mir ein Antrag vor.“

„Der stammt von mir!“ Werner Stoll beugte sich nach vorn, und alle Blicke richteten sich auf ihn.

„Es wäre alles in einer Hand“, fuhr er fort. „Wir hätten nur einen Vertragspartner, der sich um alles kümmert. Das wäre eine große Entlastung für die zuständige Behörde. Das Unternehmen gilt als sehr zuverlässig und hat einen guten Ruf.“

Doktor Walldorf musterte den Schrotthändler, der am unteren Tischende schräg gegenübersaß. Er wirkte auf ihn wie eine fette Kröte, die dabei war, eine Fliege zu verspeisen. Stoll war nicht groß, hatte seinen übergewichtigen Körper in einen viel zu engen Anzug gezwängt und schwitzte sichtbar. Auf seinem kugelrunden Kopf saß ein dünner Haarkranz. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und wurden zusätzlich von dichten Brauen beschattet. Zwischen den Augen und dem dünnen Mund saß eine knorpelige Nase mit einer großen Warze an der Seite.

Walldorf wusste nichts über Stolls Privatleben, vermutete aber einen zu hohen Blutdruck bei dem über Fünfzigjährigen.

„Über den guten Ruf habe ich aber etwas anderes gehört“, mischte sich der Apotheker ein.

Stoll funkelte ihn wütend an.

„Auch wenn ich in medizinischen Fragen der Schweigepflicht unterliege“, meldete sich Walldorf, „so gilt das natürlich nicht für unsere Tagesordnung. Ich hätte gern gewusst, ob verschiedene Angebote eingeholt wurden, wie es in solchen Fällen üblich ist. Den Einsatz des Kollegen Stoll in allen Ehren, doch es müsste im Umfeld von Berlin doch sicher mehrere geeignete Unternehmen geben, die für ein solches Projekt infrage kämen.“

Einige andere nickten zustimmend, Stoll bewegte lautlos die Lippen und blätterte in seinen Unterlagen. Walldorf grinste innerlich.

Bürgermeister Winkler fühlte sich zum Eingreifen verpflichtet. „Ich muss Herrn Doktor Walldorf recht geben. Wir sollten noch andere Angebote einholen. Ich werde die Baubehörde damit beauftragen.“

Von Stoll kam ein unwilliges Grunzen, doch er wagte es nicht, irgendwelche Einwände zu erheben. Walldorf ahnte, dass die Sache damit noch nicht ausgestanden war.

Als nach dem letzten Punkt der Tagesordnung alle aufstanden und ihre Unterlagen zusammenlegten, ging Stoll dicht an Walldorf vorbei.

„Das war noch nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit“, giftete er leise. „Wir sprechen uns noch.“

Walldorf sah ihn nur verächtlich an.

Bürgermeister Winkler und der Apotheker standen nebeneinander an der Tür und erwarteten ihn.

„Ratskeller?“, fragte Heilmann.

„Logisch. Gehen wir.“

*

An diesem Wochentag waren bisher nur wenige Tische besetzt. Ein Kellner eilte umher und verteilte Reserviert-Schilder auf den Tischen. Für das Abendessen war es noch zu früh.

Ein weiterer Kellner brachte unaufgefordert ein Glas Bier für den Bürgermeister und Weißwein für die beiden anderen Herren. Die drei trafen sich schon lange an den Abenden nach den Sitzungen des Stadtrates. Sie saßen immer am gleichen Tisch und behielten auch ihre Trinkgewohnheiten bei. Nach dem Austausch von Neuigkeiten und den Kommentaren zu den Sitzungen wurden noch ein paar Runden Skat gespielt, und gegen zehn Uhr waren sie wieder zu Hause.

Bürgermeister Winkler nahm einen kräftigen Schluck, während Walldorf nur an seinem Wein nippte. Er trank sehr wenig Alkohol, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in den eigenen vier Wänden. Es hätte auch schlecht ausgesehen, wenn er sich nicht an die eigenen Empfehlungen hielte.

„Ich habe doch gleich gesagt, dass dieser Schrotthändler irgendein krummes Ding drehen will“, sagte Bernhardt Heilmann.

„Wir können nicht verhindern, dass sich sein Kumpel bewirbt, wenn wir eine offizielle Ausschreibung veröffentlichen“, erwiderte Winkler nachdenklich.

„Wir könnten doch ein kleines Hindernis einbauen“, ergänzte Heilmann listig. „Wir könnten doch schreiben, dass lokale Anbieter bevorzugt werden, um die heimische Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen.“

Winkler nickte. „Das ginge.“

Doktor Walldorf räusperte sich. „Gibt es denn in unserer Stadt ein Unternehmen, das ein solches Projekt bewältigen kann?“

„Aber sicher!“, entgegnet Heilmann. „Vor etwa einem Jahr hat sich an der Berliner Straße ein Bauunternehmen niedergelassen. Ich kenne den Besitzer. Er hat schon einige Häuser in der Stadt gebaut.“

„Auch größere?“, fragte Walldorf kritisch.

„Das werden wir sehen. Doch er sollte auf jeden Fall eine Chance haben, sich an der Ausschreibung zu beteiligen. Ich möchte ihn zumindest darauf hinweisen.“

Walldorf grinste. „Du bekommst doch nicht etwa eine Provision?“

Der Apotheker sah empört auf. „Wie kannst du …?“

„War nur ein Scherz. Doch ich stimme dir zu, denn ich kann diesen unangenehmen Herrn Stoll und seine unsauberen Geschäfte auch nicht leiden.“

Bürgermeister Winkler hatte dem Dialog interessiert zugehört. „So machen wir es“, entschied er. Er winkte den Kellner heran und bat um Karten und einen Schreibblock.

Wenige Minuten später war das erste Spiel in vollem Gang, das Doktor Walldorf ganz knapp für sich entschied. Die beiden anderen zählten ihre Punkte zwei Mal, doch an dem Ergebnis war nicht zu rütteln.

„Ich würde zu gern wissen, was du im Skat gefunden hast“, seufzte Heilmann.

Walldorf schob seine Karten zusammen. „Auch dafür gilt die ärztliche Schweigepflicht.“

Sie lachten und stießen mit ihren Gläsern an.

Brich nicht die Schweigepflicht: Dr. Walldorf - Ein Landarzt aus Leidenschaft Band 1

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