Читать книгу Brich nicht die Schweigepflicht: Dr. Walldorf - Ein Landarzt aus Leidenschaft Band 1 - Hans-Jürgen Raben - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеImmer am zweiten Donnerstag eines Monats fand im städtischen Gemeindezentrum ›Haus der Generationen‹ die sogenannte Damenrunde statt. Das Gebäude lag mitten im Zentrum des kleinen Städtchens Bolzenhagen, und war das sogenannte Herzstück dieser Gemeinde.
Der Flachbau umfasste mehrere Bereiche, unter anderem einen Jugendclub, einen Seniorentreff, den dort ansässigen Line-Dance-Club sowie den Skat- und Rommé-Club. Bolzenhagen tat viel für seine Einwohner, und für einen schmalen Obolus konnte man dort die Räumlichkeiten anmieten.
Das Treffen der Damenrunde war stets gut besucht, denn hier erfuhr man Klatsch und Tratsch aus erster Hand. Die 45-jährige Arzt-Ehefrau Silke Walldorf goss den letzten Kaffee von der Kaffeemaschine in die bereitstehenden Thermoskannen, verschloss diese sorgfältig und verteilte sie auf den Tischen. Ihre schlanke Figur steckte in einer dunkelblauen Jeans, und die Ärmel ihrer zart blau-weiß gestreiften Bluse hatte sie leicht hochgekrempelt. An ihren Füßen trug sie weiße Sneakers, und der blonde Bobschnitt umrahmte ihr gebräuntes Gesicht. Mit ihren blauen Augen schaute sie ein letztes Mal auf die Teilnehmerliste und nickte zufrieden. Für das heutige Beisammensein hatte sich wieder eine Vielzahl von Damen angemeldet, um in einer gemütlichen Runde zusammenzusitzen.
Marlies Drechsler, Eigentümerin des Friseursalons ›Marlies’ Haarstübchen‹ betrat, einer Diva gleich, den Raum und stellte schnaufend ihre Handtasche auf einen leeren Stuhl. Eigentlich konnte von einer Handtasche nicht die Rede sein, denn das Ungetüm von Tasche glich eher einer Reisetasche, in der Frau Drechsler alles Mögliche mit sich herumschleppte. Sie pustete sich eine Strähne ihres dauergewellten, schrill rot gefärbten Haares aus der Stirn und ließ ihren mächtigen Körper auf den Nebenstuhl plumpsen.
„Puh, was für ein Stress“, klagte sie und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Der Laden war wieder so voll, ich hatte eine Dauerwelle nach der anderen“, jammerte sie.
Silke Walldorf schaute sie lächelnd an. „Dann wären Sie doch eine halbe Stunde später gekommen, meine Liebe“, sagte sie und verteilte dabei den Kuchen und die Kaffeegedecke auf den Tischen.
„Aber nein, wo denken Sie hin. Dann krieg ich ja nix mit und außerdem …“, flüsterte sie geheimnisvoll, „… habe ich Neuigkeiten.“
Ihr Gesicht drückte eine gewisse Gier aus, diese Nachricht endlich loszuwerden. Man spürte, dass sie kaum an sich halten konnte, nicht schon vorab mit dieser Nachricht herauszuplatzen, doch bis auf Silke Walldorf war noch niemand im Raum.
Zehn Minuten später trudelten auch die anderen Damen ein. Es herrschte ein reges Treiben im ›Haus der Generationen‹. Stühle wurden hin und her gerückt, Kaffeetassen klapperten, und das Geschnatter der Damen erfüllte den Raum mit einer Lautstärke, dass selbst die Musik, die sanft aus einer Musikanlage dudelte, übertönt wurde. Erst als endlich alle saßen und sich mit Kaffee und Kuchen versorgt hatten, kehrte etwas Ruhe ein. Silke Walldorf stand vom Stuhl auf und schlug ihren Kaffeelöffel gegen ihre Tasse.
„Meine Damen, ich möchte Sie auch heute wieder herzlich in unserer Runde willkommen heißen und freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Verbringen wir wieder einen netten Nachmittag miteinander“, begrüßte sie die Anwesenden. „Ladys, was gibt es Neues?“
Frau Drechsler hob ihren kräftigen Arm und schüttelte ihn, sodass die Armreifen, die in großer Zahl an ihrem Handgelenk hingen, klapperten und klingelten.
„Also, ich muss ja mal was loswerden“, platzte sie heraus, ohne abzuwarten, ob nicht vielleicht jemand anderes etwas zu sagen hatte. Sie schaute mit ihren kleinen dunklen Knopfaugen aus ihrem geröteten Gesicht in die Damenrunde und holte tief Luft. „Stellt euch mal vor, es eröffnet nächsten Monat ein Friseurladen in der gleichen Straße, in der mein Geschäft liegt. So ein neumodischer ›Cut and Go‹, mit lauter jungen Hühnern drin. Die Besitzerin hatte mich vor ein paar Tagen im Laden aufgesucht, um sich vorzustellen und hat mir eine Einladung zur Geschäftseröffnung überreicht. Wie sie aussah … also …“
Sie verdrehte theatralisch die Augen und fuhr fort: „Sie hatte einen riesigen Ring im Ohrläppchen, an ihrer Augenbraue baumelte so ein Glitzerstein und ihr rechter Arm war völlig zugeschmiert mit Tattoos.“
Marlies Drechsler machte eine kurze Pause, um Luft zu holen und schaute in die Runde. „So etwas brauchen wir in Bolzenhagen nicht“, schob sie hinterher, „schließlich haben wir hier zwei Friseurläden, der altbackene Laden von Frau Mittmann, neben dem Ärztehaus und meinen Laden.“
Es entstand ein allgemeines Gemurmel unter den Frauen. Die Frau des Apothekers, die 42-jährige Annika Heilmann, beugte sich zu ihrer Sitznachbarin Frau Richter und senkte etwas die Stimme. „Es wurde ja mal Zeit, dass etwas Konkurrenz hierherkommt. Ich muss ständig nach Berlin fahren, um mir meine Haare machen zu lassen. Zu Frau Drechsler kann man ja nun wirklich nicht gehen. Jeder, der aus ihrem Laden kommt, hat ’ne Dauerwelle oder geht dorthin, um waschen und legen zu lassen“, raunte sie.
Frau Jeanette Richter, die die Kunstgalerie am Markt besaß, nickte Annika zustimmend zu und fuhr sich durch ihr kurzes, frech geschnittenes schwarzes Haar.
„Mir geht es genauso“, flüsterte sie verschwörerisch zurück. „Endlich kommt mal etwas Pep hier nach Bolzenhagen.“
Frau Drechsler beobachtete die beiden Damen argwöhnisch und kniff ihre kleinen Augen zusammen, sodass es fast nur noch Schlitze waren, sagte aber keinen Ton. Nachdem sich die erste Unruhe im Kreis der Damen etwas gelegt hatte und Frau Drechsler von einigen Frauen die Bestätigung erhalten hatte, dass sie NIEMALS den Friseur wechseln würden, kamen sie zu anderen Themen.
Zwei Frauen vom Line-Dance Club stellten sich in der Runde kurz vor und erzählten in kurzen Sätzen, dass sie sich jeden Montag in den hiesigen Räumlichkeiten trafen, um in Westernkleidung zu tanzen und noch auf der Suche nach Mitgliedern wären. Ihre Gruppe umfasst eine Anzahl von momentan zwölf Personen, gemischt mit Männern und Frauen, wobei die Anzahl der Frauen etwas höher lag. Der Beitrag der monatlichen Mitgliedschaft läge mit einer Summe von fünfzehn Euro durchaus im erträglichen Rahmen und sie würden es begrüßen, wenn eine der hier anwesenden Damen, gerne in Begleitung ihres Ehemannes oder Lebenspartners, einmal zur Schnupperstunde vorbeischauen würde.
Sie erzählten noch einige lustige Anekdoten aus ihrem Vereinsleben und zum Abschluss verteilten sie einen selbst gedruckten Flyer mit Bildern, Informationen und Kontaktdaten an jede der anwesenden Frauen. Es kehrte in der Runde wieder etwas Ruhe ein und eine blasse, schlanke Frau meldete zu Wort. Sie stellte sich als pensionierte Lehrerin vor und griff ein Thema auf, welches viele, nicht nur in Bolzenhagen, beschäftigte.
Frau Regina Fischer sprach die Situation der neuen Mitbürger mit Migrationshintergrund an. Sie war auf der Suche nach freiwilligen Helfern, die sie bei ihrem Projekt Willkommensinitiative Bolzenhagen unterstützen würden. Am äußeren Stadtrand wurde von der Gemeinde ein ehemaliges Ferienlager, welches schon seit Jahren leer stand, zu einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge umgebaut. Doch leider begann sofort die Hetze rechter Kreise gegen dieses Vorhaben. Dem wollte sie ein sichtbares Zeichen entgegensetzten. Sie wollte einerseits ganz klar gegen die Hetze Stellung beziehen und andererseits die Menschen zusammenbringen, die den Flüchtlingen in ihrer äußerst schwierigen Lage zu helfen bereit waren. Sie wollte etwas bewegen, unabhängig von politischen Ansichten oder Orientierungen; sie wollte sich für eine gelungene Integration und ein friedliches Miteinander einsetzen. Ein allgemeines Gemurmel entstand, als Frau Fischer mit ihrem kleinen Vortrag geendet hatte. Sie stand noch immer hinter ihrem Tisch, und ihre klugen blauen Augen blitzten kampflustig in die Runde.
„Ich glaube, ich verlange nichts Unmögliches, wenn ich Sie hier um ein oder zwei Stunden Ihrer Zeit bitte. Denken Sie bitte immer daran, wie sich diese armen Menschen fühlen, vertrieben aus ihrem eigenen Land, wo Krieg und Armut herrschen, und die ihr komplettes Hab und Gut verloren haben. Es sollen Berührungsängste abgebaut und Hilfestellungen gegeben werden. Sie, die Bewohner von Bolzenhagen, sollten mit gutem Beispiel vorangehen und Herz zeigen, die Flüchtlinge bei ihren ersten Schritten in einem noch fremden Land beraten und begleiten, ihnen helfen, sich mit der deutschen Sprache und Kultur vertraut zu machen.“
Für Sekunden war es mucksmäuschenstill in dem Raum. Die Galeristin Jeanette Richter sprang vom Stuhl auf und fing an, in die Hände zu klatschen. Die Apothekerfrau Annika Heilmann stand ebenfalls auf und stimmte in das Klatschen ein. Plötzlich erhoben sich geschlossen alle Damen von ihren Stühlen, und es brach ein tosender Beifall aus. Frau Regina Fischer nickte mit Tränen in den Augen und schlug ihre Hände über den Kopf zusammen. Mit so viel Zustimmung hatte sie nicht gerechnet.
Silke Walldorf ging auf die pensionierte Lehrerin zu, drückte sie herzlich an sich und bot sofort ihre Hilfe an. Sie erklärte sich bereit, zwei Mal in der Woche am Nachmittag Deutschunterricht zu geben. Eine Vielzahl anderer Damen ging ebenfalls auf Frau Fischer zu und bot ihre Hilfe an. Das Projekt WILLKOBO war geboren.