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Zweites Kapitel

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Wann gliche das Unsere jemals etwas anderem? Sie hatten viele Schwestern, Mister Bit, und haben diese alle geliebt und fragen mich, ob ich meine einzige Schwester auch geliebt habe. Sie war fünf Jahre älter als ich. Ich liebte sie nicht wie euer Lord Byron die seine, Mister Bit. Ich vermochte nicht einmal, aus einer Tasse zu trinken, die sie benutzt, mit keinem Löffel zu essen, mit dem sie gegessen, geschweige denn von anderen.

Ich muß sehr benommen gewesen sein, als ich eines Tages, der ich sonst ablehnte, in den Familien meiner Freunde je etwas zu mir zu nehmen, zögernd beflissen in ein Butterbrot biß, das mir ein Mädchen hinhielt, das mir bis dahin unbekannt gewesen. Ich war zur Geburtstagsfeier bei meinem Schulfreund Muggi Wimp eingeladen. Er hatte zwei hübsche Schwestern, hübscher als meine, glaube ich, aber dieses Mädchen mit der dicken Stulle war mir fremd, und ich biß hinein, obwohl keine Butter, sondern Margarine drauf war und dazu rohes Beefsteakhack mit Zwiebeln, was ich bislang nicht kannte und zu Hause auch schaudernd abgelehnt hätte.

Aber hier überwältigte mich etwas, ohne daß sich ein Widerstand in mir regte. Ich war verwandelt unter den aufmerksam mich musternden grauen Augen dieses Mädchens, das Telke hieß und aus Altona zu Besuch war.

Eine Kusine, sagte mein Schulfreund.

Sie sah überdies einem Engelpaar ähnlich; mein Vater hatte es für eine Kirchenorgel geschnitzt, für irgendwo in Holstein, wo man keinen richtigen Bildhauer bezahlen konnte, ich weiß den kleinen Ort nicht mehr, und der Pastor lehnte dann ab; die Engel, behauptete er, seien zu weltlich geraten im Gesichtsausdruck und ohne Flügel. Die Flügel waren aber auf dem Transport abhanden gekommen, und so gelangten die beiden flügellos an uns zurück. Sie zierten bald darauf eine der damals noch gängigen Karussellorgeln.

Ob die sich dort wohl gefühlt haben? Mister Bit, wenn Engel allgemeiner Auffassung nach nicht nur zum Lobsingen, sondern zu Schutz und Wächteramt auserlesen sind, so waren sie bestimmt in ihrer Anstellung bei einem ambulanten Gewerbe notwendiger als auf der Empore einer Dorfgemeinde. Mein Vater hatte damals noch die sichere Hand, die ihm nach seinem Unfall nicht mehr so gehorchte. Nie wieder ist ihm solche Lieblichkeit gelungen.

Und diese Telke sah aus, als sei einer dieser Engel lebendig geworden, und der Eindruck schwand auch kaum, als sie die blutig belegte Schnitte leicht schmatzend vertilgte und noch eine weitere zu sich nahm, diesmal, ohne mich zu beteiligen oder mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen.

Meine Mutter war übrigens keineswegs erbaut von meiner Bekanntschaft mit gerade diesem Spielgefährten und seiner Familie, die auf der Gegenseite unserer Straße in einer sogenannten Terrasse hauste. Man mußte durch das untertunnelte Mietshaus wie durch ein geteertes Ausflußrohr, wo es immer nach Wasserlassen und Katzendreck roch, und auch dahinter roch es selten besser auf dem Kopfpflaster und aus den grauen Kellereingängen.

Darüber gab es hinter grauen kahlen Mauern billige Wohnungen, durch enge Treppenschluchten erreichbar. Hier war in den Gründerjahren nach 1870 auf übermäßigen Gewinn gebaut worden, der sich aber verrechnete, weil aus diesen Grüften keine Mieten von Belang zu pressen waren. Und Muggi Wimps Vater war nun Nachtkellner mit viel Kindern und starkem Eigenverbrauch an Alkohol, da war jeder Groschen wie eine Mark. Aber Muggi hatte denselben Schulweg, daher unsere nähere Bekanntschaft.

Er war in allem ein braver Junge, ging später freiwillig zu den Lüneburger Dragonern und wurde schließlich Polizeioffizier in seiner und meiner Vaterstadt. An jenem Beefsteakbrotabend wurde übrigens sein Geburtstag gefeiert. Ich hatte ihm drei Bleisoldaten und eine Kanone aus Eigenbestand geschenkt.

Aber den Abend kamen wir zu keiner Kriegshandlung mit Erbsen als Granaten. Seine Schwestern veranstalteten Pfänderspiele. Manchmal schon hatte ich hier dicke Luft erlebt, wenn sein Vater verkatert und fettbäuchig in Hemd und Hose dasaß, das übermäßig genossene Bier ausschwitzend und mit Rülpsern jonglierend wie Rastelli mit den Bällen. Und jählings unsere Schlachtordnung vom Tische fegte.

Jetzt waren wir unter uns. Denn die Mutter hatte einen Posten als Garderobenfrau angenommen. Das Pfänderspiel ging so vor sich: Emmy, die Älteste, tänzelte vor der Stuhlreihe, auf der wir saßen, hin und her und trällerte: Ich bin die Frau von Hechtlepecht, hab’ lauter schöne Sachen, Samt, Seide, Rips, Kattun. Was woll’n Sie davon haben?

Dann kniete sie der Reihe nach vor jeden, und jeder mußte sagen, was er haben wollte. Sagte einer zum Beispiel Rips, dann kam er gelinder davon als jener, der Samt oder Seide verlangte. Denn je nach Kostbarkeit wurde ihm an den Beinen gekitzelt unter dem perfiden Hinweis: Lache nicht, spreche nicht/zeig mir deine Zähne nicht! – Das konnte natürlich keiner auf die Dauer einhalten und mußte dann ein Pfand ’rausrücken, irgendwas aus seiner Tasche oder eine Haarschleife, einen Gürtel, einen Bleistiftstummel, die dünne Geldbörse, ein Taschentuch oder sogar einen Schuh. Emmy tat das alles in ein Körbchen. Ich kam ziemlich zuletzt dran und hatte schon erspitzt, bei der Wahl von Kattun am glimpflichsten davonzukommen, hielt aber dennoch nicht lange durch unter den gewitzten Emmy-Fingern. Mußte also ein Pfand geben. Ich durchstöberte meine Taschen und fand nichts Rechtes außer einer kleinen Meerschnecke, die ich als Amulett bei mir trug und die noch von Willy Molten stammte, der jetzt als Bootsmann fuhr. Ich gab sie nur zögernd aus der Hand. Emmy, noch kniend, betrachtete sie verkniffenen Auges. Dann zischte sie vergnügt: So einer bist du? So was tragen doch nur die Chinesen bei sich, um ... Hier stockte sie und errötete. Aber da vollendete Telke mit feierlich getiefter Stimme: um es besser zu können.

Ihr Lachen, Mister Bit, vereinigte sich mit dem Gelächter, das damals über mich herfiel. Ich war vierzehn und ziemlich ahnungslos, was da gemeint sei. Es schwante mir nur so eben, es müsse etwas Anrüchiges, aber hinwieder auch mächtig Kitzliges sein. Und dann sagte dieser Engel Telke auch noch: Und jetzt ist er so rot wie ein Insche.

Als nun alle dran gewesen waren, wurde Muggi bestimmt, anzugeben, was mit den Pfandgebern zu geschehen habe. Sodenn mußte er vor einem Stuhl hinknien und, die Hände vorm Gesicht, seinen Kopf darauflegen. Sein Entscheid mußte wie durch die Göttin Justitia ohne Ansehen der Person erfolgen. Und Emmy nahm eins nach dem andern die Pfänder aus dem Korb, wobei sie jedesmal fragte: Tickticktack, was soll der tun, dem dies Pfand gehört?

Worauf Muggi aus einer üblichen Liste zu wählen hatte zwischen Ofenanbeten, drei Fragen hinter der Tür, Gedichtaufsagen, Liedsingen und Kuß im Dunkeln. Als Emmy nun mein Pfandstück als allerletztes emporhob, konnte sie sich ein gelindes Gnickern nicht verbeißen, und in einem öffentlichen Rechtsfalle hätte man wohl von Befangenheit und Einflußnahme sprechen dürfen. Ihr Bruder, mein Freund, verfügte denn auch, wie sie erwarten mochte: Kuß im Dunkeln. Und da derartiges nicht solo zu tätigen ist, setzte er hinzu: mit Telke.

Na schön, mir war nicht ganz gut und dennoch, wer kennt das nicht, dieses unmündige Gefühl, schwebend süß und bedrohlich, was man viel später ein Befinden etwa zwischen Zahnarzt und Brautbett nennen möchte.

Die beflissen grienende Runde beschloß, Telke und mich zur Ausführung in die Besenkammer zu sperren. Da war es stockdunkel und roch abscheulich nach nassen Feudeln und Stiefelwichse. Was nun? Ich wagte mich nicht zu rühren. Und Telke hielt sich von mir ab. Ich hörte, wie die Gesellschaft draußen vor der Tür sich drängte und die Ohren daranlegte. Da denn wagte ich, eine Hand auszustrecken, aber ich ertastete nur einen glitschig feuchten Lappen, und ein Leuwagen oder Schrubber fiel um, was außerhalb ein zufriedenes Gekicher auslöste.

Dann hörte ich Telke flüstern: Faß mir bloß nicht untern Rock, heute ist freitag, ich krieg erst morgen reine Wäsche.

Und dann wurde die Tür aufgerissen, und wir konnten heraus und wurden begierig gemustert, und man wünschte sichtlich, daß etwas Besonderes geschehen sei, und es war doch nichts geschehen, nicht mal der befohlene Kuß. Und wir lachten beide laut mit, weil alle lachten, als Emmy fast mütterlich fragte: Seid ihr nun glücklich?

Und sie tanzten um uns herum, und wir hampelten mit, trotz aller Ahnungen noch unbeschwert. Wir waren alle erst um die vierzehn. Und wenn ich bekenne, ich ging dann plötzlich fremd und wie in Eis gegossen davon, kaum ein Gutenacht! herauswürgend, mitten im nächsten Spiel, das da hieß: Eine blanke Dose, was liegt darin verborgen? Drei junge Herren, drei junge Damen ... wird man mir’s als überempfindlich anrechnen.

Gut denn, ich hab’ wie fast jeder später das Geeignete nachgeholt, um hinreichend abgebrüht zu werden. Das nennt man dann Lebenskunst.

Weint

Kindheit

in dir nach,

nimm’s so gelinde,

als sei ein Enkel zu hätscheln.

An einem regnerischen Sonntagabend, als ich von der Abendandacht kam, wo ich in St. Katharinen bis zur Konfirmation im Chor mitwirkte – meine Mutter hatte es so gewollt – da traf ich Telke. Sie stand im Eingang des Torwegs in jener Haltung, die dem Orgelengel in behutsamer Windung die Fähigkeit zu verleihen schien, sich sachte in den Himmel hinauf zu schrauben, auch ohne Flügel. Als ich unschlüssig vor unserer Haustür stehenblieb, kam sie herüber, nicht so schwebend, wie ich hätte meinen mögen, sondern mehr wie leicht hin und her geweht. Ich wollte grad absegeln, erklärte sie, und bloß noch den Guß abwarten. Aber es regnet gar nicht mehr.

Gehst du zu Fuß nach Altona? fragte ich, bereit, sie bis nach Skagen zu begleiten.

Ich fahre mit der Pferdebahn, bis zur Haltestelle kannst du mich längsbringen.

Wir gingen ein Stück Hafen entlang. Bei Blohm & Voss wurde wild gehämmert. Die Nietenwärmer machen sogar sonntags Überstunden, sagte ich schließlich.

Sie erfaßte meinen Arm: Die arbeiten für Ballin, der bezahlt das Tempo.

Die bauen die »Deutschland«, mein Vater weiß den Taufnamen im voraus, erklärte ich.

Telke lachte spitzfindig: Ballin ist ein Jude, der und »Deutschland« und taufen! Weißt du, was die bauen? Ein Panzerschiff, das schenkt er Kaiser Wilhelm, und dann geht’s los. Gegen England.

Warum denn das? fragte ich besorgt.

Weil das ... Sie dachte eine Weile nach, blieb unter einer Laterne stehn, nahm ihre Pomponmütze ab und schüttelte ihr rosablondes Haar: Das ist so ähnlich wie mit dem Kuß im Dunkeln. Alle lauern darauf, daß was passiert. Und dann passiert nichts. Und schließlich ... doch.

Und indem sie das »doch!« mit einem Mützenklaps gegen meine Schulter betonte, lief sie davon, hin und her wehend, gespiegelt in den nassen Platten des Trottoirs.

War’s

gestern,

war’s vor Ewigkeit?

Am Ponton entlang

sprachen wir ins trübe Wasser.

Von Muggi erfuhr ich, wo sie wohnte. Lange getraute ich mich nicht, hatte auch wenig Zeit, war inzwischen konfirmiert und arbeitete nun, von keiner Schulaufgabe mehr behindert, in meines Vaters Werkstatt. Eines Samstags stand ich hinter der Ecke der Planke, um die herum ihre Hausnummer nicht weit weg lag. Ich sah sie mit andern Kindern Abo Bibo spielen. An die Mauer war mit Kreide ein eingeteiltes Feld gezeichnet. In den Abteilungen stand dem Alphabet nach Abo, Bibo, Citronenjett, Dodenkopp, Eierliesch kräftig hingeschrieben, hinunter bis Sirupskringel. Und jedes Kind hatte einen Namen aus dieser Reihe erhalten.

Telke nun nahm einen Ball und warf ihn aus zehn Schritt Entfernung gegen die Mauer und rief: Poppensnut!

Denn in das Feld mit P hatte der Ball getroffen. Alle Kinder und auch sie rannten davon bis auf jenes, das den Namen Poppensnut bekommen hatte. Es ergriff den Ball, jagte hinter den andern her und mußte eines zu treffen suchen, das dann hinwieder gegen die Mauer zu werfen hatte. So ging es ein ums andere Mal. Dann hörte man aus einem Fenster schrill hervortönen: Erna, Mieke, raufkommen, Ahmbrot!

Die Kinder liefen auseinander. Und Telke kam geradeswegs an meine Plankenecke. Hab’ dich da längst gesehn, Bojer, sagte sie.

Es klang sonderbar herausfordernd. Ich wußte nichts darauf zu sagen. Sie erfaßte meinen Arm wie schon einmal, und mir war damals schon gewesen, als binde sie mich mit Strick und Kette, so war’s diesmal nicht minder. Sie blickte sich um in der hereinsickernden Dämmerung. Und sagte dann hart, als entgegne sie einem Widerspruch: Komm!

Ein paar Schritte weiter stieß sie eine Brettertür auf, zog mich hinein und schloß mit einem Riegel. Es war ein Abstellplatz für leere Kisten und Fässer, dazwischen wuchs spärlich Gras und Franzosenkraut. Und nun plärrte sie mit einer zephirsäuselnden Stimmlage einen der Hinterhof-Kinderreigen: Trauer über Trauer, hab’ verloren meinen Ring ... Der ländlich Holsteiner Beiklang darin war mir schon von den beiden anderen Begegnungen her als höchst beunruhigende Musik in meine Träume geflossen. Und dann zog sie das Stück Kreide aus ihrer Schürze, sagte auch, sie habe es aus dem Wandtafelkasten in der Schule, und dann schrieb sie mit sehr deutlichen Buchstaben an die Planke: K ..., P ..., D ..., Schw ... ist der beste Rosenkranz.

Ich starrte erschrocken darauf hin. Und dann zeichnete sie auch noch, indem sie die Lippen verkniff und die Brauen zusammenzog, ungeschickt daneben, was gemeint war. Danach sagte sie mit einem himmlischen Lächeln: Das ist die Rache.

Die Rache? stotterte ich benommen: Was hab’ ich dir denn getan?

Lächerlich! Du doch nicht! Ihre Stimme war nun wie matte Seide. Ich raffte mein Bewußtsein zusammen: Muggi sagt, du bist katholisch.

Eben darum! erwiderte sie und wickelte Silber in die Seide ihres Tonfalls.

Dann mußt du diesen Schweinkram doch beichten. Sie kam dicht an mich heran und flüsterte wie Westwind: Ich hab’ dem Pfarrer hinter seinem Gitter im Beichtstuhl gesagt, als er mit unanständigen Fragen nicht aufhörte: Ja, ich hab’ mit der Hand dran gespielt bei mir. Und dann hat er gefragt, ob ich das mit Lust getan hab’. Und dann hab’ ich geantwortet: Ja, es hat süß gekitzelt. Und dann ist er böse geworden und hat mir aufgegeben, täglich zwanzig Rosenkränze zu beten. Du hast keine Ahnung, wieviel das ist, und das hab’ ich Hugo erzählt, der ist hier vom Krämer nebenan, und da hat er mir den Vers gesagt, und den hab’ ich hier angeschrieben.

Sie blickte mich durch das halbe Dunkel hellfeucht an wie der Himmel im Frühling, wenn es von See her weht. Und sie legte mir einen Arm um den Nacken und küßte mich und nahm meine Hand und führte sie, und mir wirbelte alles durcheinander, der Platz und die Dampferschreie vom Hafen und das freche Mädchen und das Lied, das wir zu den Trauungen sangen und das ein Lieblingslied meiner Mutter war: So nimm denn meine Hände ... Unser Kantor hatte uns erzählt, daß die Dichterin dieser Verse dieser Tage gestorben war, eine arme alte fromme Lehrerin mit Julie als Vornamen. Den Nachnamen hatte ich nicht behalten. Wir sanken auf ein paar Kisten hin. Es krachte und rumpelte, aber Telke ließ sich nicht stören. Für mich war es das erste Mal.

Sie hauchte mich an: Stell dich doch nicht so dumm! Da nahm ich mich zusammen. Es ist in diesen Dingen ja mehr Natur im Menschen, als es klarer Verstand zuwege bringt. Sie nicken, Mister Bit. Es ist überall dasselbe.

Draußen ging der Laternenanzünder vorbei. Man hörte, wie er mit seiner langen Hakenstange den Gashahn aufdrehte. Pff! sagte es; das Licht ging an. Telke hielt mir den Mund zu, weil ich in diesem Augenblick laut hätte losbrüllen mögen, ich wußte nicht mehr, wie mir war. Der Mann schlurfte aber schon weiter, indes über die Plankenkante die Mauer erleuchtet war, uns aber der Schatten ziemlich einhüllte. Ich erkannte das Engelsgesicht unter mir. Es sah mich ruhig an. So ist das, sagte sie mit einem kleinen Seufzernachhall: Nun weißt du es. Und jetzt gib mir dein Taschentuch.

Sie ließ mich an der Planke zurück. Ich sah sie davonwehen auf ihren langen dünnen Beinen, für die der Rock zu kurz geworden war, als die Kürze noch nicht zur Mode rechnete. Telke. Ihre Eltern waren früh vom Lande in die Stadt gelangt. Der Vater war das, was man ungelernt werden konnte, Hafenarbeiter, ihre Brüder fuhren alle zur See. Was ist aus ihr geworden? Wo bleibt solche Freimütigkeit?

Nein, Mister Bit, es endet nicht immer im Asyl für flüchtigen Matrosenbedarf. Ich traf meine Exerzitin nach Jahren erst wieder, da war sie Stewardeß auf der Aquitania, noch immer hübsch und sehr zurückhaltend und resolut bei unverwelkt liebreichem Sprechklang. Sie erkannte mich nicht gleich, ich hatte mich mehr verändert als sie, war füllig und bärtig, sie hatte in meiner Kabine auch nichts verloren, ersah dann meinen Namen in der Passageliste, wie sie zugab. Wir erwähnten beide nichts von unserer frühen Begegnung. Sie kam mit einem Tablett Tee den Gang entlang, als ich gerade die Klinke zur Offiziersmesse niederdrücken wollte. Da sagte sie sanft und klar: Für Passagiere verboten, Herr Toppendrall.

Tatsächlich war ich verwirrt und hatte die erste beste Tür gewählt, obwohl ich dort nichts zu suchen hatte. Und mußte über mich selber lachen, faßte mich und sagte so souverän, wie ich meinte, es mir gestatten zu dürfen: Ganz recht, Fräulein Telke. Es gibt Gelegenheiten, die das Übertreten von Geboten sicherlich entschuldigen. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mich rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht haben.

Sie nickte, sie lächelte. Sie war kaum gealtert. Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, sagte sie: Sie haben sich damals wohl geschämt und sind nicht wiedergekommen. Da hab’ ich mir gemerkt, was ich nachher auf meine Offenheit zur Antwort gekriegt: Mein ist die Rache, spricht der Herr. Und hab’ es mir für mich ausgelegt. Und hab’ mir meine Freunde ausgesucht, ohne das Gewissen geistlicher Herren nochmals zu belasten. Und hab’ mich nicht gebunden, wenn die Sklaverei der Ehe in Aussicht stand. Nein. Ich hab’ einen Sohn, das reicht mir. Und ich lasse ihn studieren. Er wird Arzt. Wir werden eines Tages eine Klinik einrichten, darauf spare ich. Und wo ginge das Sparen besser als an Bord mit den guten Tips der christlichen Seefahrt und mit Obersteward und Zahlmeister in gutem Einvernehmen? Je nach Linie. Und bei dem reichen Kundendienst, wo jeder meint, endlich mal ausschweifen zu können, falls ihn die Seekrankheit verschont, da ist es wie in der Politik. Da macht sich die hinhaltende Verheißung besser bezahlt als das platte Entgegenkommen. – Mag sein, sie hat das nicht alles auf einmal hervorgesprudelt. Sie vermied lange Aufenthalte. Sie galt, wie mir mein Kammersteward sagte, als tüchtig und gewitzt. In zehn Tagen läßt sich schon hier und da ein Wort erhaschen. Ich schlug ihr vor, in New York irgendwo einander zu treffen. Ich würde im Commodore wohnen. Mir war so beklommen wie mit vierzehn. Sie antwortete nicht. Ich sah sie dann auch an Bord nicht, dachte betreten, sie liebt keine übermalten Bilder, und ich betrachtete mich im Spiegel und rasierte mir ärgerlich den Bart herunter.

Sie fragen: Was dann? Mister Bit. Es kommt immer darauf an, was drübergemalt wird. Das war auch Telkes Meinung, als sie ins Commodore kam. Und sie lachte darüber am Morgen danach und wehte zurück an Bord.

Da stand ich wieder allein. Was war’s denn? Hatte ich mich nicht längst innerst anderweitig verankert? Aber Rischa – Rischa? Davon bald mehr, Mister Bit. Rischa schien mir damals ins Unwahrscheinliche entrückt. So war’s denn aus Verzweiflung geschehen, war Trotz, Vereinsamung, Flucht und auch so etwas wohl wie Wiedergutmachung oder Ergänzung, ein reifer Apfel statt eines grünen und alles in allem ein vollkommener Genuß.

Nach Jahren bekam ich eine Karte aus Vancouver, hübsche Ansicht drauf, modernes weißes Gebäude in schönstem Parkgefilde. Quer drüber hin geschrieben in der steilen Art ihrer Buchstaben, die sich seit der Planke nicht geändert hatten, nichts als: Es ist gelungen! Telke. Weiter nichts. Auch auf meinen Glückwunsch und längeren Brief nichts mehr.

Kürzlich las ich im Wartezimmer von Dr. Möllby in einer medizinischen Zeitschrift den Namen ihres Sohnes. Er schrieb da über die anscheinend gelungene Züchtung von Getreidesorten, die den dringlichen farbigen Bevölkerungsstau unkomplizierter erreichen würden als jede sonstige Maßnahme. Wird das mehr nützen als die übliche Massenvernichtung?

Ich sah mich um, sie schacherten wie je

begierig nur auf Mehrung ihrer Konten,

und lieferten die Waffen Übersee

bar gegen Scheck zugleich an alle Fronten.

Ich fürchte, Mister Bit, aber was kratzt es mich, Sie werden einwenden, Ihre verkappten Lieferungen ändern nichts an der Aussicht, für den weißen Mann so oder so eines Tages von der gelben Welle überspült zu werden. Unser Willem zwo hatte doch schon mal die Vision, und wie hat man ihn deswegen veruzt. Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter! Es ist mißlich, Parolen auszugeben, ohne zu erläutern, was genau gemeint ist. Aber gerade das ist Sinn und Wirkung der Parolen? Was waren denn die heiligsten Güter Europas? Worauf beruhte denn die Vorherrschaft des weißen Mannes? Worauf denn war der Hohenzoller so selbstsicher stolz? Auf seine schimmernde Wehr? Auf seine Industrie? Auf sein Christentum? Auf seine Flotte? Oder gar auf sein Geistesleben? Er kam nicht weit damit. Selbst England nicht. Und alle übrigen machten die gleiche Erfahrung oder werden sie machen, ganz gleich, welchen Parolen sie sich ausliefern. Sprechen Sie nicht von weißer Kultur, Mister Bit. Die farbige war in mancher Hinsicht unserer weit überlegen. Und hätten die neuen Machthaber des Ostens sich besser von westlichen Errungenschaften abschirmen können, hätten wir ein erneutes Rokoko und jene nicht unsern Jugendstil und was danach kam. Und jeder bliebe in seinen Grenzen. So aber übernehmen jene anderen unsere schlechtesten Eigenschaften, nämlich die Mordlust und die Angst, was beides sich zu den Erfindungen der Rüstungsindustrie verdichtet. Sie gingen bei uns in die Lehre wie Hermann der Cherusker bei den Römern. Sie wurden von Abnehmern zu Übernehmern und wurden zu Unternehmern auf gleicher schiefer Ebene.

Was bleibt eines Tages von der Flickenkiste Europa übrig, ehe noch die Stoffreste sich zu einem gemeinsamen Narrenkleid oder Totenhemd hätten zusammensteppen lassen? Ein paar weiße Flitter im Ostwind, die noch ein paar Spiralen drehn, ehe sie von den farbig heranrollenden Brandungen verschluckt werden.

Ganz recht, Mister Bit, spülen wir solche trüben Ahnungen mit einer Rotsponwelle hinunter. Koordinieren wir unsere Entwicklungshilfe mit der günstigen Abstoßung unseres Schrotts an Kriegsmaterial und mit den rührenden Bemühungen des Roten Kreuzes, dann haben immer alle etwas zu tun, und wir werden unsere schwellenden Läger an Milchpulver und Medikamenten und Textilien und unsere Ärzte und Krankenschwestern an den Mann bringen und einen goldenen Stuhl im Himmel erben. Zum Wohl denn!

Sie weichen aus, Mister Bit. Auf die rosablonde Haarwelle Telkes anzustoßen erweckt nochmals, was lieber schlafen sollte. Erwähnte ich die Yvette Guilbert? Ich sah sie in der Moulin Rouge, so, wie der Zwerg Toulouse-Lautrec sie gemalt hat, wie auf den alten Steindruckplakaten, kraß grün zu rotem Haar und langen schwarzen Handschuhen. Sie hatte einen Deutschen namens Schiller geheiratet, ohne sich dadurch ins Klassische zu verirren. Ich hörte sie das berühmte Muttermörderlied vortragen: C’était une fois un pauvre gas ..., darin es dann heißt: Und hast du mich lieb, so bringe zur Stund / das Herz deiner Mutter für meinen Hund!... Ich vermochte diesem armen Burschen die blöde Willfährigkeit so fürchterlich nachzuempfinden, daß ich fast erstickte und von dem Saaldiener aus dem Kabarett geführt wurde. Es ist nicht freundlich eingerichtet, daß der Mensch auch aus Liebe zu jeder Schandtat fähig ist. Der Mann, der jene grausige Ballade verfaßte, paßt sonst nicht schlecht in unsern Streifen, meine ich. Kennen Sie seinen Gedichtband La mer? Oder sein Bühnenstück Le Flibustier? – Ich auch nicht. Aber Telke hatte diese Bücher an Bord, auch eines über bizarre Todesarten. Ein greiser Herr sei mal mitgefahren, der habe die Bücher dagelassen und habe ausgesehen wie Joseph Conrad, den habe sie auch gekannt, der sei auch mal mitgereist, habe aber keine Bücher verschenkt, sei viel zu berühmt gewesen; aber der Franzose, wie hieß er noch, Jean Richepin, der fühlte sich vergessen; darum also. O ling long laire, o ling long la ...

Vergessen zu Unrecht, möchte ich anfügen, Mister Bit. Zu Recht aber hat er seine Bücher einer Stewardeß geschenkt, die bis dahin wenig mehr als Zeitungen gelesen hatte. Er besaß den Spürsinn für Aufgeschlossenheit, er erwischte den Spalt Licht, die Tür tat sich ihm eine Handbreit auf, und er reichte ihr eine Widmung hinein; sie zeigte es mir mit dem Lächeln eines Eisvogels: Flamme d’amour glacial, eine hin und her huschende Eisflamme der Liebe. So war sie. Und gab seinen Namen eisgekühlt weiter, so vermoderte er nicht ganz. Ihr habe er erzählt, er sei für seine erste Veröffentlichung, für nichts als ein paar offenherzige Bettlergedichte, monatelang eingesperrt gewesen. Warum? Weil er so ehrlich war, wie heute jeder Teenager sein darf. Damals nannte man es schamlos. Zwanzig Jahre nach seinem Fiasko versuchten der Kölner Playboy Albert Langen im Verein mit dem dänischen Defraudanten Gretor und dem genialen Zeichner Thomas Theodor Heine in Richepins geschlagene Bresche einzusteigen mit ihrer illustrierten Wochenschrift à la Gil Blas, dem Simplicissimus, und machten gleich ihm deswegen hin und wieder Bekanntschaft mit den schwedischen Gardinen. Der nie ausgestorbene Picaro, der Landstreicher und Landstörzer, hatte sich von Spanien rund um die westliche Welt geheckt, Grimmelshausen, Verlaine, Richepin und so weiter, und heute als irrlichternder Widerschein in den Gammlern und Hippies. Es ist immer nur um ein Haar, wie weit es mit uns kommen kann.

Was man liebt oder haßt,

alles hat seine Weile,

das Etmal und die Meile,

die Eile und die Rast.

Es ist alles dein Gast.

Aber die Liebe

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