Читать книгу Zwischen Wunsch und Wirklichkeit - Hans Müncheberg - Страница 4
Kapitel I.
ОглавлениеSie hatten sich erst 1969, beide schon an der Schwelle zu ihrem fünften Jahrzehnt, gefunden, obwohl sie sich schon früh begegnet waren. Damals, vor zwanzig Jahren, hatte Georg in Helga die künftige Frau eines vom Schlosser zum Literaten aufstrebenden Mannes kennengelernt. Selbst noch Student der Pädagogik, war er wegen allzu frecher Verse vom Zentralrat der Staatsjugend zum Begreifen der erwünschten Maßstäbe in die 'Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Schriftsteller' geschickt worden. Unter den Autoren, die nicht nur durch ihr Alter, viel stärker durch Haft und Exil zu beeindruckenden Persönlichkeiten gereift waren, fand er Kontakt zu einem gleichfalls Suchenden, nur wenig älter als er selbst, zu Walter Burgmann. Sie verstanden sich, trafen sich bald auch außerhalb der Arbeitsgemeinschaft – und so begegnete der wegen seiner bereits deutlich ausgeprägten 'Geheimratsecken' als 'Geheimer Rat' verspottete Georg auch der dunkelhaarigen Helga Ladwig mit ihrem feinen Lächeln, von dem man nicht gleich ablesen konnte, ob es milde Nachsicht oder freundliche Zustimmung bedeutete. Was Georg außer ihrem Charme und einer natürlichen Weiblichkeit beeindruckte, war ihre stete Hilfsbereitschaft. So erhielt der mittellose Student naturwissenschaftlicher Fächer, der nicht in der Lage war, sich unerlässliche Hilfsmittel auf dem 'Schwarzen Markt' zu kaufen, von ihr einen edlen Rechenschieber, den sie einst von ihrem Stiefvater, einem Ingenieur, erhalten hatte.
Nach seinem Studium war Georg auf damals nicht seltenen Umwegen zu einem anderen, ihn aber in jeder Weise fordernden Beruf gekommen. Als Dramaturg in einem für alle neuen Medium hatte er auch die Aufgabe, für den noch kleinen Zuschauerkreis experimentierfreudige Autoren zu finden. Bald konnte er den einstigen Schlosser für eine länger währende Zusammenarbeit gewinnen. So blieb auch der Kontakt mit Helga Ladwig erhalten. Sie hieß, wie er nun erfuhr, Helga Burgmann und war Mutter eines Sohnes geworden, der den Namen Reinhard erhalten hatte. Dass sie Walters Ehefrau geworden war, überraschte ihn nicht, es löste aber doch ein wehmütiges Bedauern aus.
Georg verehrte sie weiterhin mit einem Gefühl unvermeidlicher Resignation und war überzeugt, in ihr auch während der folgenden Jahre eine im Zentrum ihrer Familie ruhende glückliche Frau sehen zu können. Das einzige Leid das Helga Burgmann mit aller Härte traf, Georg erfuhr es nur in kargen Andeutungen, war der tragische Verlust ihres zweiten Sohnes. Sie hatte nach seiner Geburt keinen unbezahlten Urlaub nehmen können, denn sie musste sich bei den sporadischen Einkünften Walters auch im materiellen Sinne für die Sicherung des alltäglichen Familienlebens verantwortlich fühlen. So gab sie den zarten Arthur nach dem Ende des damals auf sechs Wochen begrenzten Schwangerschaftsurlaubs in eine Krippe. Rührend war es, wie sich Reinhard, selbst erst vier Jahre alt, um das wenige Wochen alte Brüderchen bemühte. Er bettelte darum, von seiner Mutter zuerst aus dem Kindergarten abgeholt zu werden, damit er mit ihr zusammen den Bruder aus der Krippe nach Hause bringen und dabei den Kinderwagen schieben konnte.
Als Arthur in seinem fünften Lebensmonat an einem nicht aufzuhaltenden Durchfall erkrankte, offenbar durch in der Krippe verabreichte Kost ausgelöst, da bangte Reinhard mit seinen Eltern um das Leben des kleinen Bruders. Die Vergiftung war jedoch so stark, dass alle ärztlichen Bemühungen es nicht vermochten, das gerade erst begonnene Leben zu erhalten.
Die Hilflosigkeit, mit ansehen zu müssen, wie das von ihr ersehnte und umsorgte Kind starb, wurde vor allem für Helga zu einer starken seelischen und auch physischen Belastung. Das waren Tage, lastend wie Jahre schwerster Not. Helgas seelische Schmerzen manifestierten sich in einer nicht mehr zu behebenden Herzkrankheit. Sie musste von nun an starke körperliche Anstrengungen meiden, um den alltäglichen Belastungen gewachsen zu sein.
In den sechziger Jahren hatte sich die familiäre Situation für Helga jedoch immer mehr zugespitzt. Der zum Schriftsteller gewordene Schlosser war nach einem ersten Wurf in selbst zerstörerischer Weise dem Alkohol verfallen. Der sehnlich erhoffte Höhenflug als Schriftsteller wollte ihm nicht weiter gelingen. Auch für das Studio konnte er, nach Anfangserfolgen, bald nicht mehr liefern als sporadische Beiträge zu einer spannend unterhaltenden Sendereihe. Dabei wurde er dann von einer fachspezifisch arbeitenden Dramaturgin betreut, die mit jenen offiziellen Stellen verbunden war, die ihm stets die zu verwendenden Fakten vorgaben. Neben dieser, wie er sagte 'Brotarbeit', versuchte er bald und immer häufiger, sich mit flüchtigen sexuellen Abenteuern eine Bestätigung als potente Persönlichkeit zu verschaffen. Schließlich vergaß er jegliche Rücksicht auf die eigene Familie.
Helga und Georg hatten bei ihren seltenen Begegnungen nicht einmal in Andeutungen über ihre enervierenden Verhältnisse gesprochen. Erst als das unwürdige 'Familienleben' für Helga unerträglich geworden war, suchte sie bei Georg Rat und Hilfe. Sie sah in ihm nicht nur den einstigen Dramaturgen ihres Ehemannes, sie wusste inzwischen, dass er seit vielen Jahren als vertrauenswürdiger Schöffe an einem Berliner Stadtbezirksgericht tätig war. Nun sollte er ihr raten, wie eine Scheidung ohne 'schmutziges Wäschewaschen' zu vollziehen sei. Sie fürchtete, eine öffentliche Debatte um alles in dieser Ehe Erlebte nicht durchstehen zu können.
Georg entdeckte verblüfft in ihren persönlichen Problemen Parallelen zu manchem gerichtlichen Verfahren, an denen er als Beisitzender Richter beteiligt war. Sah er es zunächst als seine Schöffenpflicht an, zu versuchen, auch diese Ehe um des Sohnes willen zu erhalten, musste er bald begreifen, wie sehr, und mit welcher Engelsgeduld sie sich darum bemüht hatte. Mit seinem Verständnis für ihren unumkehrbaren Entschluss wuchs auch die Erkenntnis, dass er in Helga nach all den Jahren doch die Frau sehen konnte, der er sich mit allen Konsequenzen anvertrauen und dauerhaft verbinden wollte.
Sie wusste seit jenen frühen Jahren um seine stille und bleibende Verehrung für sie. Jetzt entdeckte sie in ihm den Mann, der sich nach vielen gescheiterten eigenen Versuchen in allem Ernst und mit aller Konsequenz eine feste Gemeinsamkeit wünschte.
Zunächst taten sich Helga und Georg nur zu gemeinsamen Ausflügen und Konzertbesuchen zusammen. Oft nahm auch ihr Sohn daran teil. Zwischen Georg und dem bald volljährigen Reinhard wuchs mehr und mehr ein vertrauensvolles Verhältnis, ein gegenseitiges Verstehen. Auf indirekte Fragen gaben sie dem jungen Mann zu verstehen, sie seien dem Alter einer Familiengründung wohl schon entwachsen.
In Helgas vierzigstem Lebensjahr meldete sich dann aber, beide überraschend, in ihr erneut werdendes Leben an. Da sie seit dem tragischen Verlust ihres zweiten Kindes an einer Herzkrankheit litt, rieten ihr wohlmeinende Ärzte dringend ab, ein drittes Kind auszutragen. Ein nicht sehr einfühlsamer Mediziner meinte sogar ihr attestieren zu müssen, sie könne doch schon Großmutter sein.
Helga jedoch war bereit, selbst ein ernsthaftes Risiko auf sich zu nehmen. Sie wollte das Kind, wollte endlich in einer neuen und rundum harmonischen Familie leben.
Georg hielt mit aller Liebe und Konsequenz zu ihr. Im März des Jahres 1970 heirateten sie. Einzig ihr Reinhard war Zeuge der amtlichen Zeremonie. Ein halbes Jahr später konnten sie sich über einen gemeinsamen Sohn freuen. So ungewöhnlich wie ihre späte und beglückende Gemeinsamkeit sollte sein Name sein. Sie nannten ihn Malte.
Der neu ins Leben getretene Knabe besaß zur Freude seiner Eltern vom ersten Tag an einen treuen Freund, seinen ins Erwachsenenleben strebenden Halbbruder Reinhard. Sofern es dem jungen Mann seine schulischen, bald auch seine Studienpflichten erlaubten, suchte und fand er Möglichkeiten, mit Malte zu spielen, mit ihm herumzutoben, bald auch, mit dem aufgeweckten Knaben sportliche Übungen zu proben. Doch mehr und mehr wurde ihm der große, ja allzu große Altersunterschied bewusst. Und so war er es auch, der dem überaus munteren Knaben wünschte, dass er nicht auch als Einzelkind aufwachsen sollte. Für Malte wäre es ideal gewesen, zusammen mit einem Zwillingsbruder auf die Welt zu kommen.
Als auch der um eigenständiges Urteilen bemühte Reinhard einsehen musste, dass schon Maltes Weg in diese Welt zu einer Gefahr für das Leben seiner Mutter geworden war, dass folglich von einer weiteren Schwangerschaft nicht die Rede sein durfte, wünschte er Malte, wenn anderes nicht mehr möglich war, für seinen künftigen Weg wenigstens einen brüderlichen Gefährten.
Die Gesetze des Landes machten es möglich, dass sich Helga während Maltes erstem Lebensjahres ganz auf das Kind und ihre neue Familie konzentrieren konnte.
Wenn sie abends an Maltes Bett standen, kam es schon vor, dass Georg an die wiederholten Fragen Reinhards erinnerte. Sollte Malte, wie sein inzwischen erwachsener Bruder, ein Einzelkind bleiben?
Als Malte einjährig in die Kinderkrippe gebracht wurde, war schnell zu erkennen, wie gern er sich mit anderen Kindern zusammentat. Bald wurde von den 'Tanten' in der Krippe festgestellt, dass er stets versuchte, der 'Spielführer' zu sein.
Diese Haltung verstärkte sich, als Malte mit drei Jahren in den Kindergarten kam. Mit seiner lebhaften Fantasie und seinem kaum zu bändigenden Bewegungsdrang forderte er von seinen Eltern immer stärker ein Mitspielen. Er wollte auch daheim der 'Spielführer' sein und akzeptierte kaum die Gründe seiner Eltern, auch andere Aufgaben zu haben. Glückliche Stunden für alle, wenn der immer stärker geforderte Leistungssportler Reinhard sich Zeit für den kleinen Bruder nehmen konnte.