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Kapitel III.

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Wenige Tage später erhielt die Familie Berger bereits ein amtliches Schreiben des Referats Jugendhilfe. Danach waren sie berechtigt, „das Kind Thorsten Jäger, geb. am 2.11.1970, am Wochenende und zu festgelegten Beurlaubungen im Haushalt zu haben.“

Die schnelle Genehmigung überraschte. Sie erinnerte Georg im ersten Augenblick an das Verhalten der Heimleiterin, eine dringliche Bitte der potenziellen Pflegeltern zu ignorieren. Helga gab ihm einen Kuss und meinte, es könnte auch ein Zeichen besonderen Zutrauens des Amtes in ihre dafür erforderliche Eignung sein. Beide waren sich hingegen noch nicht sicher, ob die wenigen Stunden in Bad Freienwalde ausreichten, um Thorsten über ein Wochenende nach Berlin zu holen.

Am nächsten Abend kündigte der Wetterdienst einige hochsommerliche Tage an. Malte fragte sofort, ob sie nach Schmöckwitz fahren könnten oder wieder nach Freienwalde fahren müssten. Als seine Eltern nicht gleich antworteten, schlug er plötzlich vor: „Oder beides, erst zu dem Heim und dann zusammen mit diesem Thorsten nach Schmöckwitz.“

Das entschied. Georg rief im Kinderheim an und bat, für Thorsten vorsorglich zusammenzupacken, was er für eine Übernachtung benötigen würde.

Alles schien hochsommerlich gestimmt, nicht nur das Wetter und der fröhlich schnatternde Malte, selbst der Zweitaktmotor des Wartburg schien den Tag zu genießen. Ungewohnt leise surrte er über die Chaussee.

Als der Wartburg vor dem Hilde-Coppi-Heim hielt, stand Thorsten bereits, mit einem kleinen Rucksack versehen, auf dem Podest vor der Eingangstür.

„Ich konnte ihn nicht länger zurückhalten“, erklärte Frau Schultes, die für ihn zuständige Betreuerin. „So sehr freut er sich!“

Auf der Rückfahrt hörten, die vorn sitzenden Erwachsenen, vor allem die Stimme ihres Sohnes, der seinem neuen Spielkameraden ausführlich erklärte, wo in Schmöckwitz die kleine Sommerwohnung liegt, wie man über eine hohe Brücke zu einem breiten Badestrand kommt, wo ein Schiff am Ufer eines großen Sees liegt und in Wirklichkeit ein tolles Restaurant ist.

Georg blickte hin und wieder zur Seite. Helga lächelte zufrieden. Mehr als einmal deutete sie mit einer Kopfbewegung auf die hinten sitzenden Knaben. Dann nickte er. Beide waren froh und einer Meinung.

Hinter Blumberg ging es auf die Autobahn. Die beiden Jungen hielten für einen Moment den Atem an, als Georg den Wagen auf die erlaubte Höchstgeschwindigkeit beschleunigte. Jedes Mal, wenn ein anderes Fahrzeug überholt wurde, jubelten sie. Erst, als sie bei Erkner das breite Betonband verließen, kehrte etwas Ruhe ein.

Zwischen Erkner und Neuzittau freuten sich Helga und Georg über den romantisch gewundenen Flusslauf der Spree. Malte nahm an ihrer Naturliebe nur mäßigen Anteil. Dafür staunte er in Wernsdorf zusammen mit Thorsten über die großen Schleusen des Oder-Spree-Kanals. Als das Auto dann die Schmöckwitzer Brücke erreichte, rief Malte, nach links auf das gegenüber liegende Ufer weisend: „Da drüben, da wohnen wir heute ... und hier links, hier gehen wir baden!“

Malte bestand darauf, auch auf dem lang gestreckten Wassergrundstück der Erklärer zu sein. Die Sommerwohnung, in einem schmalen Seitengebäude, bestand aus drei Räumen, vorn eine Wohnküche, anschließend zwei Zimmer, das hintere war jetzt für die Jungen bestimmt, das vordere für die Eltern.

In der Mitte des lang gestreckten Grundstücks führte ein schmaler Weg hinab zum Ufer. Dort konnte man am Ende eines hölzernen Stegs eine kurze Leiter erreichen, die den Abstieg, in hier sogleich tieferes Wasser, ermöglichte. Weil Malte nur wenig, Thorsten aber gar nicht schwimmen konnte, wurden die Jungen mit allem Nachdruck verpflichtet, nicht allein zum Ufer zu laufen. Den anderen Sommergästen und dem Besitzer des an der Straße gelegenen Wohnhauses stellten Bergers den plötzlich schweigsam gewordenen Thorsten als Maltes Gast vor. Mehr schien vorerst nicht erforderlich.

Um unvermeidlicher Neugier zu entgehen, liefen Helga und Georg mit den Jungen schon bald über die Straßenbrücke und suchten sich auf der Liegewiese oberhalb der Badestelle einen Platz, dicht am Ufer. Natürlich wollten die Burschen sofort ins Wasser. Georg folgte den übermütig schreienden Knaben und warf ihnen einen Ball zu. Malte erklärte seinen Vater zum Torwart und warf auf ein imaginäres Tor. Thorsten war sofort an seiner Seite. Beide zwangen den gutmütig mitspielenden Georg nun zu kühnen Sprüngen. Nach einer Weile erlahmte Maltes Interesse an diesem Spiel. Er gewährte Thorsten großmütig eine ausgeglichene Bilanz der erzielten Treffer und verkündete, nunmehr Hunger zu haben. Dem stimmte Thorsten sofort und lautstark zu.

„Wer zuerst angezogen ist!“ rief Malte herausfordernd und hatte danach alle Mühe, mit dem offenbar darin geübten Thorsten gleichzuziehen. Helga und Georg rafften die Badesachen zusammen. Bis zur Brücke liefen sie gemeinsam, dann trug Vater Georg die Utensilien zurück in die Sommerwohnung, während Mutter Helga mit den Jungen weiter zum Ufer des Seddin-Sees ging.

Das Schiffsrestaurant, vom Ufer aus durch eine gangwayähnliche Brücke zu erreichen, war Maltes liebstes Ausflugsziel. Er stürmte sofort hinauf.

Thorsten zögerte einen Augenblick. Er glaubte, das Ufer verlassen zu müssen. Als Helga seine Unsicherheit erkannte und ihn fragend ansah, erklärte er: „Ick ... auf so ’nem Wackelding ...“ Er schüttelte den Kopf und griff nach ihrer Hand.

„Schau mal nach da unten! Das Schiff schwimmt gar nicht mehr. Es liegt schon auf festem Grund.“ Sie musste Thorsten ein wenig näher an die Stegbrücke ziehen. Dann aber kam Malte auf die Gangway zurück und rief: „Da wird grade ein Tisch frei!“

Nun ließ Thorsten Helgas Hand los und rannte zu dem heftig winkenden Malte.

Es stimmte. Von dem Tisch aus hatten sie einen freien Blick auf den See mit seinem lebhaften Schiffsverkehr. Segel- und Motorboote, Ausflugsschiffe und sogar ein langer Schleppzug waren zu beobachten. Malte liebte diese freie Sicht seit dem ersten Besuch an Bord und fing auch sofort an, Thorsten auf alle Attraktionen aufmerksam zu machen. Sie saßen natürlich auf den Außenplätzen, doch dann wurde vor allem Thorsten abgelenkt, als eine Serviererin die Speisekarte auf den Tisch gelegt hatte.

Helga las vor. Thorsten lauschte gespannt, was angeboten wurde. Er rief „Ja!“, als es hieß: „Spaghetti mit Tomatensoße?“

„Für mich auch,“ erklärte Malte und ergänzte: „und ’ne Brause ... bitte!“

„Die ooch!“ nickte Thorsten sofort.

Für Helga gab es noch eine Rinderroulade, dem gerade eintreffenden Georg blieb nur übrig, sich ein reichliches Bauernfrühstück zu bestellen.

Es stellte sich schnell heraus, wie gut es war, dass die vorsorgende Hausfrau immer ein Päckchen Papiertaschentücher bei sich trug. Die Tomatensoße hing oft an pendelnden Spaghettibündeln und wurde in einem beachtlichen Umkreis umhergeschleudert.

Malte zeigte plötzlich auf sein emsig stopfendes Gegenüber, dessen Gesicht mit roter Soße verziert war. Grienend rief er: „Der sieht aus ...!“

„Du ooch!“ entgegnete Thorsten.

Helga lachte. „Ihr seht einander ähnlich.“ Sie reichte ein frisches Taschentuch über den Tisch, damit Georg seinem Sohn das Gesicht abwischen konnte, während sie sich um Thorsten bemühte.

Um die Schlemmerei vollständig zu machen, durften sich die Knaben noch spezielle Eisbecher bestellen.

„Ham Se ooch det Jrüne?“ fragte Thorsten, und als die Serviererin fragend in die Runde schaute, erklärte Malte: „Er meint Waldmeister.“

Wieder auf dem Wassergrundstück mussten sich die Knaben im hinteren Zimmer auf den Campingbetten zur Mittagsruhe ausstrecken. Wenn sie es schafften, eine Stunde absolute Ruhe zu halten, so wurde ihnen versprochen, würde man mit ihnen nach dem Kaffeetrinken im Schlauchboot um die Halbinsel Altschmöckwitz herum paddeln. Thorsten versprach es sofort, wollte aber zuvor nochmals 'uffs Klo' gehen.

Bergers mussten nicht lange warten, bis das Flüstern im Nebenzimmer verstummte. Vom Baden und der reichlichen Mahlzeit waren beide Jungen müde genug, um sich und den Erwachsenen etwas Ruhe zu gönnen.

Helga und Georg gingen vor die Tür. Sie zogen eine erste Bilanz. Ihr Wagnis schien sich gelohnt zu haben. Thorsten erwies sich als ein etwas schlichter, aber doch anpassungsbereiter Bursche, in seiner Art allerdings recht egoistisch. Das mochte daran liegen, dass er ein Heimkind war. Enttäuschend fanden sie seinen engen Kreis des Wissens und seine offenbar auf alles materielle begrenzten Interessen. Auch sein Wortschatz ließ zu wünschen übrig. Das würde sie für den Fall der Fälle in der Zukunft vor große Aufgaben stellen.

„Würde er ..., oder wird er?“ Helga sah ihren Mann forschend an. Aus einem mütterlichen Impuls heraus neigte sie dazu, diese Herausforderung anzunehmen.

„Kann ich noch nicht sagen. Wir kennen ihn erst zwei halbe Tage.“

„Na gut, noch haben wir ja Zeit.“ Ihr genügte es in diesem Moment, dass er sich einer solchen Aufgabe nicht von vornherein verschloss.

Die Stunde war um. Im hinteren Zimmer wurde wieder geflüstert. Helga erlöste die Jungen und lief mit ihnen ans Ufer, wo Georg bereits ein großes, silberig glänzendes Schlauchboot von der Flanke eines Schuppens genommen hatte und es am Bootssteg ins Wasser setzte.

Das Einsteigen in das Wassergefährt klappte ohne Probleme. Jeder Erwachsene hatte nun einen Jungen vor sich zu sitzen. Georg konnte nach dem Paddel greifen und das Schlauchboot vom Steg weg und näher an die Fahrrinne der Fahrgastschiffe lenken. Von den vorbeirauschenden Motorbooten kamen immer wieder hohe Wellen auf sie zu, die er, so gut es ging, durch Drehen des Bootes in die Längsachse zu parieren suchte. Manchmal schaukelte es so heftig, dass die Jungen in einer Mischung aus Furcht und Spaß laut aufschrieen. Erst als sie weit genug um die Halbinsel herum gefahren waren, konnten sie von den Bugwellen fremder Boote nicht mehr erreicht werden. Sie glitten gemächlich an Seerosen, Schilf und Binsen entlang.

Malte kannte die gelben und die weißen Seerosen, er wusste auch, warum es die dicken Schilfkolben gab. Für Thorsten war alles neu. Als man Blesshühner, Wildenten und sogar Haubentaucher sehen konnte und ihn zuerst danach befragte, meinte er nur summarisch: „Det sind Viecher ...“

Malte mochte vor allem die Haubentaucher, weil sie oft unvermittelt unter Wasser verschwanden und meist weit entfernt wieder auftauchten. Er war eifrig bemüht, sie als Erster zu entdecken. Thorsten ließ sich auf das Spiel ein, sein Interesse erlahmte jedoch schnell. Er wirkte plötzlich müde und ließ sich rückwärts an seine vertraute Beschützerin sinken.

Georg nahm es als Zeichen, zügig zurückzufahren. Er lenkte das Schlauchboot möglichst dicht am Ufer der Halbinsel entlang, um hohen Wellen zu entgehen. Dabei kam ihm zugute, dass gerade ein Schleppdampfer mit mehreren Lastkähnen flussabwärts auf die Schmöckwitzer Brücke zusteuerte. Die sonst mit dröhnenden Motoren dahinjagenden Sportboote mussten nun ihre Geschwindigkeit drosseln.

Die Zeit bis zum Abendbrot verging für Georg und die Jungen mit Vorlesen aus bunten Kinderbüchern. Helga bereitete schon die Betten für die Knaben vor.

Dass frische Luft hungrig macht, erwies sich erneut beim Abendessen in der schmalen Küche der Sommerwohnung. Man saß vor der mit dunklem Holz halbhoch verkleideten Wand um einen Tisch, der fast die ganze Breite des Raumes benötigte. Einen Herd gab es nicht, nur eine elektrische Kochplatte und einen Wasserkocher, aber für die wenigen wirklich sommerlichen Wochenenden wurde das seit je als ausreichend empfunden.

Auch wenn am Tage ausgiebig gebadet worden war, musste vor dem Zubettgehen eine gründliche Reinigung erfolgen. So waren es Helga und ihre Familie gewöhnt. In der Sommerwohnung wurde dafür stets eine große Schüssel mit handwarmem Wasser auf einen Hocker gestellt und eine Badematte davor gelegt. So erklärte sie es auch ihrem kleinen Gast, der sich, wie Malte, nun völlig zu entkleiden hatte. Thorsten legte seine Kleidung ordentlich auf den Stuhl, auf dem er zuvor gesessen hatte, während Malte alles wild durcheinander über eine Stuhllehne warf.

Georg ärgerte sich erneut über die unbekümmerte Schlampigkeit Maltes und wies seinen Sohn auf die vorbildliche Ordnung bei Thorstens Kleidung hin. Für Malte war das Anlass zu einer nicht ernst gemeinten Schubserei. Thorsten wehrte sich und stieß Malte von Mal zu Mal kräftiger zurück.

„Aufhören!“ rief Helga, doch Malte war verbissen in das Gerangel. Er wollte dem nächsten Stoß Thorstens ausweichen und taumelte derart ungeschickt zurück, dass er rückwärts gegen die Konsole stieß, auf der das Wasser im Kocher bereits zu sprudeln begonnen hatte. Der Kocher kippte nach vorn und das siedende Wasser ergoss sich über seinen nackten Rücken.

Noch nie hatte man in der Sommeridylle so grelle Schmerzensschreie gehört.

„Malte ...!!!“ Fassungsloses Entsetzen ließ Helga Stimme brüchig klingen. Sie beugte sich vor, um seinen verbrühten Rücken zu sehen, doch er wand sich vor Schmerzen. Sein Oberkörper schien sich aufzubäumen.

Im ersten Moment war auch Georg vor Schreck wie erstarrt, dann rief er: „Gibt’s hier Verbandszeug?“

Herr Neusche, der Besitzer des Grundstücks, eilte herbei. Als erfahrenes Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr erfasste er, was geschehen war und rief Helga zu: „Ein nasses Handtuch auf den Rücken und sofort ins Krankenhaus!“ Nach einem Moment des Nachdenkens fügte er mit aller Entschiedenheit hinzu: „Ich fahre mit!“

Georg rannte sofort zur Straße. Herr Neusche griff sich eines der bereitliegenden Tücher und drückte es in die auf dem Hocker stehende Schüssel. „Halten Sie den Jungen!“ rief er Helga zu und legte das Tuch auf den grellroten Rücken des Kindes. Der ließ sich auf die Arme seiner Mutter sinken. Seine Schreie gingen in ein hilfloses Schluchzen über.

Herr Neusche bat seine herbeigeeilte Frau, sich um den stumm und verängstigt dastehenden Thorsten zu kümmern, dann folgte er Helga, die bereits, den nackten Malte auf ihren Unterarmen, hinauf zur Straße lief.

Georg hatte schon die Türen des Autos aufgerissen. Er nahm Helga behutsam den Jungen ab, ließ sie im Fond einsteigen und reichte ihr dann das aufstöhnende Kind.

Herr Neusche setzte sich auf den Beifahrersitz und riet Georg: „Am besten: Scheinwerfer an und volle Pulle!“

Mit höchstmöglicher Geschwindigkeit, voll aufgeblendeten Scheinwerfern und wiederholten Hupsignalen rasten sie auf der langen Chaussee nach Grünau. Herr Neusche dirigierte sie über Spindlersfeld nach Köpenick und wusste als Mitglied der Feuerwehr auch, wo bei dem Krankenhaus die Auffahrt zur Notaufnahme lag.

Malte weinte und schrie immer wieder vor Schmerz. Helga strich ihm über den Kopf und sucht nach Worten, die sie dem Jungen sagen konnte. Ihr war, als ob sie ersticken müsste. Ihr Herz raste, tat ihr weh, mühsam gelang es ihr endlich, gegen den lastenden Druck auf ihrer Brust etwas Atem zu schöpfen. Im Innersten fühlte sie sich schuldig. Sie war doch unendlich leichtsinnig gewesen, seit Langem schon, den Wasserkocher ungesichert auf der Konsole stehen zu lassen.

Kurz bevor sie das Krankenhaus erreichten, hörte sie Malte aufschluchzend fragen: „Muss ich jetzt sterben?“

„Aber nein!“ Es schrie aus Helga in tiefstem Erschrecken. Es durfte nicht sein, dass sie erneut ein Kind verlor! Was hatte sie auf sich genommen, um mit Malte und Georg endlich in einer glücklichen Familie zu leben. Wenn Malte dieses Unglück nicht überleben würde, wäre ihr eigenes Leben sinnlos geworden. Nein, nein, es durfte nicht sein!

Vor der Notaufnahme wurden sie bereits erwartet. Frau Neusche hatte das Krankenhaus informiert. Ein kräftiger Pfleger hob Malte von Helgas Schoß und bettete ihn bäuchlings auf eine fahrbare Liege.

Ein Arzt kam hinzu, begrüßte Herrn Neusche mit einem knappen Kopfnicken und ordnete an: „Gleich in den OP!“ und zu Helga, die sich aus dem Auto quälte: „Wie ist es geschehen?“ Er lief mit ihr eilig dem immer wieder aufschreienden Kind hinterher, hörte konzentriert zu, fragte dann knapp nach dem Alter Maltes und eventuellen allergischen und anderen Unverträglichkeiten. Abschließend erklärte er ihr und dem ihnen hinterhergeeilten Georg: „Sie dürfen hier warten!“

Wie betäubt abwartend blieben beide vor der Tür zum Operationsbereich stehen. Georg zog Helga an sich.

„Das Auto muss jetzt aber von der Auffahrt weg!“ Eine Krankenschwester von der Aufnahme kam heran. „Und außerdem brauchen wir einige Angaben von Ihnen.“

Georg nickte, löste sich mit einer liebevollen Geste aus der Umarmung. „Bin gleich wieder da.“ Er eilte ins Freie.

Helga folgte der Krankenschwester, die ihr bedeutete, vom Gang aus vor ein Schiebefenster zu treten. Sie konnte ihren Sozialversicherungsausweis nicht vorweisen. Sie bat um etwas Geduld. „Mein Mann hat bestimmt seine Papiere bei sich.“

Es stimmte. Georg konnte alle gewünschten Daten nennen. Dann blieb auch ihm nichts weiter übrig als Geduld zu haben.

Nach einer Zeitspanne, die Helga unendlich lang erschienen war, kam der Oberarzt zu ihnen. „Ihr Junge hat Verbrühungen zweiten und dritten Grades. Wir haben unter Narkose die zerstörten Hautpartien abgetragen, um die tieferen Schichten mit einem Panthenol-Schaum erreichen zu können. Natürlich wird er stationär aufgenommen.“

„Ich möchte bei ihm bleiben, bis er aus der Narkose erwacht“, bat Helga.

„Ihr Sohn wird über Nacht auf unserer Wachstation bleiben, da darf nur unser Fachpersonal hinein. Und außerdem, Frau Berger, wenn Sie mir die Anmerkung erlauben, wäre es auch für den Jungen besser, wenn Sie es ihm gleichtäten und die Nacht zum Sammeln neuer Kräfte nutzten.“

Die Rückfahrt nach Schmöckwitz verlief erst in tiefem Schweigen, dann gelang es dem hilfsbereiten Herrn Neusche, die bedrückt schweigenden Eltern mit praktischen Fragen aus ihrer seelischen Schreckstarre zu lösen. Das Besuchskind könnte bis morgen bei ihnen im Vorderhaus bleiben. Sie hätten dann etwas Ruhe miteinander. Und ob der Junge den Sonntag über dableiben solle?

„Nein!“ Georg entschied es spontan. „Ich bringe ihn wieder zurück, allein ... Helga“, mit einer fragenden Geste wandte er sich halb zu ihr um, „du wirst sicher im Krankenhaus bei Malte sein wollen.“

„Aber ja.“ Mehr sagte sie nicht.

Helga und Georg fanden lange keinen Schlaf. Auf ihnen lastete die Überzeugung, an dem Unglück schuld zu sein. Leichtfertigkeit, mangelnde Aufsicht, falsch organisierter Ablauf! Der verfluchte Wasserkocher, die Konsole, der enge Raum ...

Helga weinte sich voller Verzweiflung in einen Erschöpfungsschlaf, Georg litt unversehens unter Atemnot, schlich hinaus, ging ans Ufer und setzte sich auf den wulstigen Rand des Schlauchbootes. Was hatten sie hier am Nachmittag mit den Knaben geübt, wollten sicher sein, dass nichts Arges passiert. Da hatten sie an mögliche Gefahren gedacht. Warum am Abend nicht? Er fand keine Antwort.

Am Sonntagmorgen ging Georg zu Neusches, um Thorsten abzuholen.

„Wo is’n der Junge?“ fragte Thorsten noch halb verschlafen. Er hatte das Ausmaß des abendlichen Unglücks nicht begriffen, konnte es auch nicht erfassen.

„Malte muss leider im Krankenhaus bleiben. Noch lange. Und dich bring ich jetzt zu Frau Schultes zurück.“

Erschrocken rief er: „Schooon?“ Er war nicht bereit, mit in die Sommerwohnung zu gehen, um seine Sachen in den kleinen Rucksack zu packen. Bockig setzte er sich vor Neusches Wohnung auf eine Treppenstufe.

Georg hatte weder die Zeit noch die Nerven, um Thorsten die Situation begreiflich zu machen. Er ließ ihn sitzen, lief in den Seitenflügel und packte in fliegender Eile zusammen, was ihm mitgegeben worden war. Dann ging er, den Rucksack in der Hand, wieder ins große Wohnhaus, wo Frau Neusche geduldig versuchte, mit Thorsten über das Geschehene zu sprechen.

„So, und jetzt bedanken wir uns beide bei Frau Neusche für ihre Hilfe.“ Georg reichte Frau Neusche die Hand. „Wir bringen zuerst meine Frau ins Krankenhaus und fahren dann gleich weiter.“ Und zu dem Jungen gebeugt: „So, Thorsten, jetzt bist du dran, danke zu sagen.“ Georg musste den unbeweglich Sitzenden von der Treppenstufe hochziehen.

Der Junge stand nun mit gesenktem Kopf da. Erst als Georg ihn mahnend anstieß, gab er Frau Neusche die Hand, sagte „Tschüs!“, drehte sich gleich wieder um und ging ins Freie.

Georg nahm vor dem Haus Thorstens Hand und zog ihn mit sich auf die Straße. Erst als der Knabe sah, dass Helga bereits neben dem Auto stand, lief er zu ihr. Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, bis er sicher war, im Auto hinten neben ihr zu sitzen.

Vor dem Haupteingang zum Krankenhaus Köpenick gab es an diesem Morgen Platz genug, um mit dem Auto dort zu halten. Als Helga ausstieg, wollte Thorsten mit ihr gehen. Sie mussten ihm klarmachen, dass es nicht möglich war. Dennoch blieb er ganz dicht neben ihr stehen.

Georg umarmte seine Frau und flüsterte ihr zu: „In zwei Stunden bin ich wieder hier, spätestens.“ Dann aktivierte er die sogenannte Kindersicherung an den beiden hinteren Türen seines Wartburg, packte Thorsten, setzte ihn wieder auf die hintere Sitzbank und schlug die Türen ins Schloss.

„Fahrt vorsichtig!“ mahnte Helga. „Ein Unglück ist schon mehr als genug!“

Georg nickte ihr zu, stieg ein und fuhr sofort los. Ihn würgte es in der Kehle. Thorsten saß da, hielt seinen Rucksack auf dem Schoß und starrte nach vorn auf die Straße, sagte kein Wort.

Über den gestrigen Tag und sein unseliges Ende mochte Georg nicht mit ihm reden. Es fiel ihm aber auch schwer, jetzt über Belanglosigkeiten zu plaudern, also schaltete er das Radio an und ließ Musik eine akustische Decke über alles Ungesagte legen.

Voller Furcht, Malte könnte doch schwerer geschädigt worden sein, als es die Ärzte am gestrigen Abend auf ihre zurückhaltende Art übermittelt hatten, erkundigte sich Helga bei der Anmeldung des Krankenhauses, auf welcher Station sich ihr Sohn nach überstandener Operation befinden würde.

Es war die Chirurgie und nicht die Intensivstation, doch auch dort hatte man den Jungen in ein Einzelzimmer gelegt.

„Damit ihn in seinem Wärmebett nichts ablenkt und zu unbedachten Bewegungen verleitet“, sagte der Stationsarzt, während er Helga zu dem Zimmer führte. „Er muss noch eine längere Zeit auf dem Bauch liegen. Das ist für ein Kind seines Alters gewiss nicht leicht, aber bis sich auf seinem Rücken die Haut erneuert hat und belastbar geworden ist, können Wochen vergehen. Sie werden verstehen, dass wir eine entsprechende Medikation für unerlässlich gehalten haben.“

In dem normal großen Krankenzimmer wirkte das eine freistehende Bett seltsam verloren. Helga sah zuerst nur ein hohes, halbrundes Gewölbe über der Liegefläche. Sie stockte für einen Moment, musste erst Atem schöpfen, um das schmerzhaft pochende Herz zu beruhigen, dann zog es sie mit aller Kraft dicht an das Kopfende des Bettes heran.

Malte schien zu schlafen. Er lag bäuchlings nackt auf einer wattierten Unterlage, das Gesicht dem Fenster zugewandt.

Helga hockte sich neben das Kopfende des Bettes und sprach ihn mit verhaltener Stimme an: „Malte ... - Malte mein Kind!"

Sie musste Geduld haben, ihn mehrfach leise und mit viel Zärtlichkeit in der Stimme rufen, bis er ein wenig die Augen öffnete und sich der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht zeigte. Das Lächeln schien an seinen Mundwinkeln zu verweilen, auch nachdem sich die Augen wieder geschlossen hatten.

Am Hilde-Coppi-Heim musste Georg klingeln und mit Thorsten auf dem kleinen Podest warten, bis aufgeschlossen wurde. Zu ihrem Glück war es Frau Schultes. Georg nannte ihr den Grund der frühen Rückkehr. Die Erzieherin hob vor Schreck abwehrend die Hände, dann nahm sie Thorsten den Rucksack ab. „Alles klar. Das geht hier seinen Gang. Gute Besserung wünsche ich für ihren Jungen.“

Nun erst schaute Thorsten unsicher zu Georg hinauf. Fast furchtsam fragte er: „Kommta wieda?“

Georg musste tief Luft holen, zögerte, war sich nicht sicher.

Frau Schultes verstand, wie schwer es fallen musste, sich jetzt festzulegen. Um ihrem Schützling die Hoffnung zu lassen, sagte sie: „Weißt du, Thorsten, erst muss doch dein Freund Malte wieder gesund werden.“

Auf der Fahrt zurück nach Berlin trieben die Sorge um Malte und eine wachsende Ungeduld Georg an, mit seinem Wartburg langsamere Fahrzeuge im Stil eines Rallyefahrers zu überholen.

Vor dem Krankenhaus Köpenick musste er erst eine Parklücke finden, ehe er zum Hauptgebäude eilen konnte. Mit der Auskunft: „Ihre Frau ist bestimmt noch auf der Station“, lief er in die zweite Etage hinauf und erhielt dies von der Stationsschwester bestätigt. Sie führte ihn den Gang entlang und antwortete auf seine dringlichen Fragen mit Formulierungen, wie Helga sie vom Stationsarzt gehört hatte.

Als Georg leise die Tür öffnete, blickte Helga auf und sah ihm mit einem Ausdruck geduldiger Hilflosigkeit an. Er kam dicht an das Bett heran und betrachtete wie sie das Gesicht des entspannt ruhenden Sohnes. Da er Malte nicht berühren durfte, weil ihm ein mögliches Erschrecken gefährlich werden könnte, zog er Helga zu sich hoch und umarmte sie schweigend. Lange blieben sie so stehen, sahen hinab auf den schlafenden Jungen und stützten einander.

Es dauerte Wochen, bis Helga und Georg ihren Malte aus dem Krankenhaus heimgebracht bekamen, weitere Wochen, bis er nicht mehr unter einem von Decken umhüllten Gewölbe auf dem Bauch liegen musste. Sie haben nicht gezählt, wie viele Sprühdosen mit hautpflegendem Panthenol-Schaum über Maltes Rücken entleert wurden.

Im Krankenhaus hatten Medikamente seine Schmerzen gedämpft, daheim sollten Helga und Georg versuchen, dies durch liebevolle Pflege zu schaffen, unterstützt vom Kinderfernsehen, von Langspielplatten und Bilderbüchern. Da war es gut, dass Georg seine Dramaturgen-Arbeit weitgehend zuhause erledigen konnte. An den Tagen, an denen er zu Besprechungen fahren oder bei Proben anwesend sein musste, machte es Helga möglich, daheim zu sein.

Endlich konnten die Ärzte den aufatmenden Eltern versichern, auf dem Rücken ihres Sohnes bilde sich über dem Bindegewebe eine neue Epidermis, eine Oberhaut, man dürfe sogar darauf hoffen, dass nicht einmal Narben zurückbleiben.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

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