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Kapitel II.

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Als Malte fünf Jahre alt wurde, war Reinhard bereits verheiratet. Er hatte nur noch selten Zeit für Malte, der mit beginnender Selbstständigkeit verstärkt nach Freunden und Spielgefährten suchte.

Ihn mit seinen Fragen und Sehnsüchten zu erleben, erinnerte Helga an die Freude, mit der Reinhardt einst die Geburt seines Bruders Arthur begrüßt hatte. Wie konnte es auch anders sein, jedes Kind möchte in Gemeinsamkeit mit Gleichaltrigen aufwachsen.

An einem Abend des Frühjahrs 1975 war sie es dann, die abrupt aufstand und den Fernsehapparat ausschaltete. Zu dem verdutzt abwartenden Georg sagte sie: „Vielleicht sollten wir es doch versuchen.“

„Du meinst ... wegen Malte?“

„Ja.“

„Mit einem Pflegekind?“

„Ja.“

„Gut, dann lass es uns reiflich überlegen.“

Helga hatte bereits alle Möglichkeiten durchdacht. Nun sollte Georg auch aus der Sicht eines Schöffen Detail für Detail kritisch und juristisch prüfen.

Es brauchte mehr als ein abendliches Gespräch, um alles Für und Wider sorgsam abzuwägen, ehe sie einen Brief an das Referat Jugendhilfe beim Rat ihres Berliner Stadtbezirks formulierten.

Eine erste Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Sie wurden um genaue Auskünfte zu ihren persönlichen Verhältnissen gebeten. Danach dauerte es einige Wochen, bis sie auf das Amt gebeten wurden. Ihre Angaben waren vermutlich überprüft worden. Wer wusste schon, welche Stellen dazu noch Stellung zu nehmen hatten.

Die Leiterin des Referats Jugendhilfe, in ein knapp sitzendes Kostüm gezwängt, schien ihre Autorität auch optisch betonen zu wollen. Mit einer Geste verwies sie auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch, wartete, bis Helga und Georg Platz genommen hatten, und blickte abwechselnd auf die vor ihr ausgebreiteten Schriftstücke und die nach Alter und Beruf außergewöhnlichen Antragsteller.

Die sich mit ihrer späten Familienplanung auf dieses Amt bemüht hatten, waren aus dem Blickwinkel der Amtsperson zwar im fortgeschrittenen Alter, doch die Frau wirkte mit ihrem vollen dunklen Haar über den wachen, genau beobachtenden braunen Augen noch erstaunlich jung, während es dem Mann mit bereits schütterem hellen Schopf offensichtlich Mühe machte, gelassen abzuwarten. Er rückte nervös an seiner Brille. Das Gestell schien ihm lästig zu sein.

Die Amtsperson senkte mit einem unmerklichen Kopfschütteln den Blick und blätterte in einem neu angelegten Schnellhefter. Einleitend stellte sie fest: „Ihre polizeilichen Führungszeugnisse habe ich inzwischen zu den Akten genommen, eine Formalie. Alles in Ordnung. Das war auch nicht anders zu erwarten ..., aber, bevor ich zu der von Ihnen erbetenen Vermittlung komme, erlauben Sie mir bitte eine persönliche Frage: Sie haben bereits ein gemeinsames Kind, fünf Jahre, gesund und lebhaft, wie ich der Auskunft des Kindergartens entnommen habe ..., also, wenn Sie sich noch ein Kind wünschen, warum erst jetzt? Wäre nicht Zeit für ein eigenes Geschwisterkind gewesen?“ Sie sah das vor ihrem Schreibtisch sitzende Ehepaar mehr prüfend als fragend an.

Helga Berger fühlte sich durch die Frage, die eine Unterstellung einzuschließen schien, persönlich angegriffen. Sie war nicht auf dieses Amt gekommen, um sich derartigen Anwürfen auszusetzen und wollte mit gebotener Deutlichkeit antworten, doch Georg legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm. Sie wandte sich ihm zu. Er nickte voller Verständnis, zugleich mahnend. Sie holte tief Luft. Das tat sie immer, wenn sie einen spontanen Ärger unterdrücken wollte. Dann sagte sie leise, aber mit fester Stimme: „In unserem Antrag haben wir, denke ich doch, klipp und klar ausgeführt, aus welchen Gründen unser Junge bisher ein Einzelkind bleiben musste ..., und auch, dass wir vermeiden wollen, ihn weiterhin als Einzelkind heranwachsen zu lassen. Eine Gemeinsamkeit mit einem gleichaltrigen Knaben, wäre nicht nur für ihn eine Bereicherung, auch für einen neuen Bruder, der wieder in einer richtigen Familie aufwachsen könnte.“

„Gut, gut ...“ Die Referatsleiterin löste mit einer beschwichtigenden Geste ihre Hände von den vor ihr ausgebreiteten Papieren. „Wir begrüßen es natürlich, wenn sie einem unserer Heimkinder ein neues Zuhause geben wollen.“ Mit besonderer Betonung fügte sie hinzu: „Das ist auch im Sinne unseres sozialpolitischen Programms.“ Sie bemerkte einen kurzen Blickwechsel zwischen den vor ihr Sitzenden, räusperte sich, fand zu einer sachlichen Tonlage zurück und wandte sich dem Manne zu. „Eine rein praktische Frage hätte ich noch. Bei Ihrer sozialen Position darf ich doch davon ausgehen, dass Sie über ein Fahrzeug verfügen?“

Er nickte: „Sie dürfen davon ausgehen.“

„Das dachte ich mir.“ Sie schlug einen weiteren Aktenhefter auf. „Bad Freienwalde liegt ja nicht allzu weit entfernt. Einige Kinder mussten wir im dortigen Hilde-Coppi-Heim unterbringen. Unsere Berliner Heime waren und sind voll ausgelastet.“ Mit angefeuchtetem Zeigefinger blätterte sie einige Seiten um, dann tippte sie auf ein Formular, das mit einem kleinen Passbild versehen war. „Hier, das wäre vom Alter her fast ein Zwillingsbruder für Ihren Sohn, Thorsten Jäger. Ein kleiner Berliner, lebhaft, pfiffig und auch noch nicht zu lange unter Heimaufsicht.“ Sie hob dem Paar das Formblatt entgegen. Beide blickten zuerst auf ein kleines Foto, das ein verschlossenes Gesicht unter kurzen dunklen Haaren zeigte.

Der nahezu abwehrende Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes löste bei Helga Berger die spontane Frage aus: „Und warum musste er ins Heim?“

„Seine Mutter besaß, sagen wir mal, weder die Fähigkeit noch den Willen, sich verantwortungsbewusst um ihr Kind zu kümmern. Aufmerksamen Nachbarn ist das noch rechtzeitig aufgefallen.“

„Und der Vater?“

„Der Vater ... – ja, der war nicht mit ausreichender Sicherheit festzustellen.“

„Also 'h-w-G'?” Aus seiner ehrenamtlichen Schöffentätigkeit kannte Georg die übliche Abkürzung für 'häufig wechselnden Geschlechtsverkehr'.

Die Referatsleiterin nickte unwillig. „Es geht uns um den Jungen. Für ihn sehe ich keine Chance, dass er zu seiner Mutter zurück kann.“

Durch diese Feststellung beunruhigt, beugte sich Helga etwas vor. „Das liegt hoffentlich nicht an dem Jungen?“

„Nein, nein!“ beeilte sich die Referatsleiterin zu betonen. „Der ist vollkommen in Ordnung!“ Als ob sie sich absichern müsse, fügte sie noch hinzu: „Falls es bei ihm irgendwelche Auffälligkeiten geben sollte, würden Sie das dort im Heim erfahren ...“ Sie richtete sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf und sagte abschließend: „Ja, das wäre es für heute, und wenn Sie sich des kleinen Burschen annehmen wollen, würde ich Sie dort anmelden, für das nächste Wochenende ..., oder?“

Helga sah ihren Mann fragend an. Als der zustimmend nickte, klang ihre Antwort wie eine unerlässliche Vorbedingung. „Gut, am Sonnabend, noch am Vormittag, aber wir wollen uns den Jungen zuerst nur ansehen. Wir müssen uns unbeeinflusst ein Bild von ihm machen können. Wie er sich im Kreis der anderen Kinder bewegt, wie er von sich aus mit Erwachsenen spricht und so weiter ..., also für den Jungen noch kein bewusster Kontakt.“

„Kein Problem. Das lässt sich einrichten.“

Ein sonnenhelles Wochenende hatte begonnen, das erste im Juli des Jahres 1975. Es traf sich gut, dass Malte schon seit langem mit Helgas Mutter zu einem Bummel durch den Berliner Tierpark verabredet war. Darauf freute sich der Junge. Er drängte gleich nach dem Frühstück zum Aufbruch und maulte nur, weil ihm noch immer nicht erlaubt wurde, allein zu der nicht weit entfernt wohnenden Oma zu laufen.

Maltes Freude auf die gemeinsamen Stunden mit der Großmutter war auch ihre Freude. Sie wollten nicht mit dem Auto zum Tierpark gebracht werden, denn Malte fuhr am liebsten mit der U-Bahn. Am Eingang der Station „Strausberger Platz“, als sie sich verabschiedeten, wollte Malte erneut wissen, was die Eltern denn so Geheimnisvolles vorhätten.

„Heute Abend wirst du es erfahren.“ Mehr als dieses Versprechen erhielt der Junge nicht. Auch die Oma gab sich unwissend. Dann winkten beide dem Auto gestenreich nach.

Auf der Fernverkehrsstraße bei Werneuchen musste Georg mit dem Wartburg mehr als einmal vor herabgelassenen Schranken Pause machen. Die schnaufenden Lokomotiven und ihre dröhnenden Warnsignale weckten auch bei Helga angenehme Erinnerungen an frühere Urlaubsreisen. Dann aber rollten sie von den märkischen Randhöhen in das breite Flusstal der Oder hinab und nach Bad Freienwalde hinein.

Freundliche Passanten zeigten ihnen in der Stadt den Weg. Es war nicht weit.

Zu beiden Seiten des stattlichen Gebäudes verwehrten gepflegte Hecken den Blick in die Tiefe des Gartens. Man konnte aber lautes Geschrei spielender Kinder hören.

Einige Steinstufen führten zu einem kleinen Podest vor der Haustür. Sie war verschlossen. Helga wich einen Schritt zurück, holte tief Luft und sah Georg fragend an. Er küsste sie auf die nachdenklich gefurchte Stirn, dann drückte er auf den Klingelknopf.

Eine hochgewachsene Frau in dunklem Kostüm öffnete.

„Wir sind die Bergers aus Berlin.“

„Und ich die Heimleiterin“. Sie trat beiseite. Mit einer knappen Handbewegung wies sie auf das Ende eines längeren Ganges. „Sie werden schon erwartet.“

Noch bevor Helga und Georg die Terrasse an der Hofseite des Gebäudes erreicht hatten, wurden sie von der Heimleiterin überholt. Sie rief in den Hof hinunter: „Frau Schultes, schicken Sie mal den Thorsten her!“

„Moment!“ rief Helga erschrocken. „Es war vereinbart, dass wir erst einmal unerkannt ...“

Weiter kam sie nicht. Ein Bürschchen mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen stürmte herauf, lief zu ihr, umschlang sie.

„Sie könnten mit Thorsten ein Stündchen spazieren gehen“, meinte die Heimleiterin zufrieden und mit plötzlich sanfter Stimme.

Georg war empört über die Zwangslage, in die sie gebracht worden waren. Voller Zorn trat er einen Schritt näher an die Heimleiterin heran: „Das ist nicht fair, auf diese Art wollen Sie wohl ...“

Seine Frau unterbrach ihn: „Georg ...!“

Sie sahen sich an. Helga hob mit einer hilflosen Geste die Schultern, blickte dann mit einem wehen Lächeln auf das Kind. Der Junge hob seinen Kopf ein wenig und blickte sie mit ängstlich fragendem Gesicht an. Ihr Mitgefühl ließ ihr keine andere Möglichkeit. Sie nickte und zeigte auf die Ausgangstür. Sofort griff er nach ihrer Hand, dann blickte er erwartungsvoll zu dem wie entwaffnet dastehenden Georg.

„Na dann gehen wir,“ sagte er.

Unfreiwillig zu dritt, liefen sie schweigend die Straße entlang. Der Knabe mühte sich, möglichst schnell voranzukommen. Er hatte noch auf den Stufen des Heims Georgs Hand ergriffen. Nun war es, als ob er die beiden Erwachsenen vom Kinderheim wegziehen wollte. Leicht vorgebeugt, schaute er zuerst nur auf das Pflaster des Gehwegs.

Helga und Georg sahen sich ratlos an. Ihnen war die entstandene Zwangslage in seiner Unausweichlichkeit bewusst geworden.

„Das wird ein Nachspiel haben“, murmelte er verärgert.

Helga erwies sich wieder einmal als weitaus praktischer veranlagt. „Aber jetzt ...? Wohin?“

Auf der letzten Etappe ihrer Herfahrt hatten sie, nicht weit vom Heim, einen kleinen Park gesehen, in dem ein silbern glänzendes Jagdflugzeug so auf einen Sockel montiert war, dass es aussah, als wolle es schräg aufwärts fliegen.

„Wollen wir zu dem Flugzeug gehen?“ fragte Georg den Jungen.

Man sah es dem Knaben an, dass er nicht wusste, wonach er gefragt wurde. Da es aber ein Ziel fern vom Heim war, sagte er nach einiger Überlegung: „Hm ... ja.“

Als er endlich den Kopf hob, erkundigte sich Helga: „Geht Ihr oft in den Park?“

Er blickte hin und her, dann sagte er: „Nöö.“

„Was machst du denn am liebsten?“ wollte sie nun wissen.

„Stulle!“ Diese Antwort kam sofort. Er hatte offenbar statt -machst du‚ magst du- verstanden. Die Esslust, die aus seiner Antwort abzulesen war, ließ die Erwachsenen einen verständnisvollen Blick wechseln. Dann mussten sie über ihre Reaktion lächeln.

„Hast du Freunde ..., hier im Heim?“ fragte Helga, als er wieder still zwischen ihnen voranschritt.

Er schien nachzudenken. Dann hob er die Schultern: „Weeß nich ... “

In dem Stadtpark sahen sie sich den Düsenjäger an. Georg versuchte, das Interesse des Jungen zu wecken, aber er wusste nichts über Flugzeuge, kaum etwas über Autos, nichts von Eisenbahnen und Schiffen. Die Fragen schienen ihn zu ermüden.

Georg konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Er blickte Helga an und schüttelte ablehnend den Kopf.

Ihr tat der Junge leid. Es musste doch nicht seine Schuld sein, wenn er im Wissen so zurückgeblieben war. In einem mütterlichen Impuls fragte sie schließlich: „Wie wär’s mit einem Schokoladeneis?“

Sofort hellte sich das verschlossene Kindergesicht auf. Der Junge nickte heftig und griff wieder nach ihrer Hand. Er wusste zwar nicht, wo es eine Eisdiele gab, aber er zeigte dahin, wo man hohe Häuser sehen konnte.

Sie mussten nicht lange suchen. Der Junge strahlte, als man ihm einen Eisbecher und einen kleinen Löffel reichte. Sobald sie zu dritt einen geeigneten Platz gefunden hatten, war er mit allen Sinnen auf den für ihn offenbar seltenen Genuss konzentriert.

Helga flüsterte ihrem Mann zu: „Siehst du, man muss nur den Schlüssel finden ... “

Auf dem Rückweg kam ihnen eine in Zweierreihe laufende Gruppe von Heimkindern entgegen. Sowie der Junge sie entdeckt hatte, hob er stolz den Kopf, auch der Griff seiner Hände wurde fester.

Als die Kinder an ihnen vorbei waren, hörten sie, wie eines der Kinder sagte: „Nun hat der Thorsten auch eine neue Mutti und einen neuen Vati!“

Die Heimleiterin stand bereits auf dem kleinen Podest vor der Eingangstür. Als Bergers mit dem Jungen zu ihr hinaufstiegen, beugte sie sich etwas vor und fragte den Jungen: „Na? Wie war’s?“

„Schööön ...!“ Es war ein freudiges Stöhnen. Er nickte heftig und blickte dankbar zu Helga auf.

„Gut, gut ... du kannst jetzt wieder auf den Hof gehen.“

Der Knabe machte einige Schritte ins Haus hinein, dann dreht er sich schnell um und schaute das Ehepaar mit großen Augen an. „Kommta wieda?“

Ohne sich mit ihrem Mann zu verständigen, nickte Helga Berger. „Vielleicht schon nächsten Sonntag.“

Der Junge atmete erleichtert auf und schlenderte den Gang entlang zur Hofterrasse.

„Ihre Zusage freut mich“, sagte die Heimleiterin nun. „Sie wurden uns ja vom Referat Jugendhilfe Ihres Stadtbezirks nachdrücklich empfohlen. Falls Sie jetzt noch Fragen haben ...?“ Sie wies einladend ins Innere des Hauses.

„Sehen Sie unsere Zusage dem Jungen gegenüber bitte nicht als bindende Entscheidung an. Das Kind kann nichts dafür, dass Sie unseren dringlichen Wunsch einer ersten unverbindlichen Beobachtung durchkreuzt haben.“ Helga Berger war nicht bereit, einen erlittenen Wortbruch leichthin abzutun. Sie sprach nicht laut, aber mit allem Nachdruck.

„Ach, wissen Sie,“ meinte die Heimleiterin leichthin, „nach unseren Erfahrungen kann das bloße Zuschauen leicht zu falschen Schlüssen führen. Da ist ein direkter Kontakt viel aussagekräftiger.“

„Nichts gegen Ihre Erfahrungen, aber bitte auch nichts gegen unsere Überlegungen.“ Helgas Stimme hatte eine Schärfe erreicht, die Georg alarmierte.

„Wir haben noch Fragen zu diesem Knaben,“ warf er rasch ein. „Er scheint uns in seinem altersgemäßen Wissen und im Spektrum seiner Interessen sehr begrenzt zu sein.“

„Ach, wissen Sie,“ die Heimleiterin breitete ihr Hände zu einer allumfassenden Bewegung aus, „man kann den Entwicklungsstand von Kindern, die aus belasteten Elternhäusern herausgenommen werden mussten, nicht mit dem eines Gleichaltrigen aus einem ...,“ nun mokant betonend, „Intelligenzler-Haushalt vergleichen.“

Helga mochte nicht auf diese unterschwellige Anspielung eingehen. Sie spürte, dass sich Georg nicht mehr lange zurückhalten konnte und fragte knapp und sachlich: „Was hätten Sie zu Thorsten Jäger noch für Hinweise?“

„Nur soviel,“ kam es aus leicht verkniffenem Mund, „der Junge ist völlig gesund und für seine bisherigen Verhältnisse normal entwickelt.“

Schweigend liefen sie zu ihrem Auto, blieben unschlüssig neben ihm stehen. Nein, sie konnten nicht einfach davonfahren. Georg wusste, in bestimmten Situationen brauchte Helga einen guten Kaffee, wenigstens einen Espresso.

In dem Eiscafé, in dem sie mit dem Jungen gesessen hatten, fanden sie ein abseits stehendes Tischchen und konnten ihrem Ärger über das einseitige, offenbar zielgerichtete Vorgehen der Heimleiterin Luft machen. Für Helga war es aber wichtig, ihre Haltung dem Knaben gegenüber nicht davon abhängig zu machen. Der kleine Kerl hatte sich derart über ihr Erscheinen, über den Spaziergang und dort an dem Tisch über das Schokoladeneis gefreut, dass all seine aufgeflammten Hoffnungen in der berlinisch gefärbten Frage „Kommta wieda?“ gebündelt waren.

„Die großen Augen, die er dabei gemacht hat ..., was meinst du, sollen wir es noch einmal mit ihm versuchen?“ Helga blickte ihren Mann fragend an.

„Wenn Malte und er miteinander können – ja.“

„So machen wir es.“ Sie nickte mit einem wehmütigen Lächeln.

Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, die sie so mutig der Heimleiterin geboten hatte.

Wieder in Berlin wurden sie erst von Maltes Großmutter nach ihren Eindrücken befragt. Den Wortbruch durch die Heimleiterin fand auch sie unfair. Dadurch erfuhr der gespannt lauschende Malte endlich, wohin seine Eltern gefahren waren. In ihre Überlegungen, einen Weggefährten für ihn zu finden, fühlte er sich sofort einbezogen. Für ihn ging es um einen festen Spielgefährten und so erklärte er großspurig: „Beim nächsten Mal, in dem Heim dort, wenn ich endlich dabei bin, dann krieg ich schon raus, ob der zu uns passt.“

„Recht hat er“, meinte Helga, „schließlich ist er es, der sich die nächsten Jahre mit diesem Thorsten verstehen müsste.“

Auch am zweiten Julisonntag lagen Berlin und die Straße nach Bad Freienwalde unter einem blauen Sommerhimmel, an dem die typischen Schönwetterwolken schwebten. Malte hatte sich seiner Teilnahme an dieser Fahrt wiederholt mit einer Mischung aus Neugier und Abwehr vergewissert. Nun thronte er hinter den Eltern im Auto und beobachtete durch die weite Öffnung des Schiebedachs die Wolken, die ihm wie kleine Plastiken erschienen. Auch die Erwachsenen sollten entdecken, dass die eine wie ein Elefant aussah, eine andere wie ein Igel. Am meisten hatten sie über eine Lokomotive zu staunen.

Als sie die lange Straße hinab ins weite Flusstal rollten und sich dem Kinderheim näherten, verstummte Malte. Nun zeigte sich, unter welcher Anspannung auch er stand. Da sie nicht unmittelbar vor dem Heim parken wollten, hatten sie mit Malte verabredet, dass der Vater den fremden Jungen allein abholen würde und dann mit ihm zum Auto käme. Außerdem mochte Helga nicht erneut auf die Heimleiterin treffen.

Das Heimkind Thorsten stutzte, als es Georg allein auf der Hofterrasse sah. „Wo is’n die Frau?“

„Sie ist auch da“, beruhigte der ihn. „Sie wartet im Auto auf dich ... und nicht nur sie allein. – Guten Tag erst mal.“ Er reichte ihm die Hand.

„Tach“, sagte er, ergriff Georgs Hand und ließ sie nicht wieder los. Unsicher blickte er sich zu der Erzieherin um, die von der Heimleiterin bei jenem ersten Besuch mit 'Frau Schultes' angesprochen worden war. Als sie nickte, wandte sich Thorsten um und zog Georg mit erstaunlicher Kraft in Richtung Straße.

Sowie er Helga aus dem Auto steigen sah, ließ er los und rannte zu ihr. Sie fing seinen Lauf ab, hob ihn hoch und drehte sich einmal mit ihm um die eigene Achse. Dabei hörte sie ihn zum ersten Mal aufjuchzen.

Malte war gleichfalls ausgestiegen. Er lief zu Georg: „Ich auch!“

Der fand den Wunsch berechtigt. Er hob Malte hoch, schleuderte ihn im Kreis umher. Dann stellte er ihn neben Thorsten auf den Gehweg. „So Ihr beiden. Schaut Euch an ...“ Da sie sich nur stumm anstarrten, schlug er vor: „Hallo, was meint ihr? Gehen wir zuerst ins Eiscafé?“

„Jaaa!“ rief Thorsten, griff nach Helgas Hand und zog sie in die ihm bereits bekannte Richtung.

Malte sagte nichts, nahm mit einem sich absichernden Impuls die Hand seines Vaters. Als Georg ihn fragend ansah, hob er mit einer vagen Geste die Schultern. Dann folgten sie den zügig Vorangehenden.

Im Eiscafé begannen nicht nur die farbigen Kugeln in den blanken Metallkelchen zu schmelzen. Die Jungen hatten sich nacheinander ihre Nascherei selbst auswählen dürfen. Am Tisch war es für die Knaben wichtig herauszufinden, was den Becher des jeweils anderen füllte.

Thorsten hatte sich für das ihm Bekannte entschieden, für Schokoladen-Eis, Malte jedoch für verschiedenfarbiges Frucht-Eis. Während Malte bereits eifrig löffelte, schaute Thorsten immer wieder auf die bunten Kugeln. Endlich raffte er sich zu der Frage auf: „Is’n det Jrüne?“

„Waldmeister“, antwortete Malte. Und da Thorsten wie hypnotisiert auf das Eis starrte, rang er sich zu dem Angebot durch: „Will’ste kosten?“

Heftiges Nicken war die Antwort.

Malte schob seinen Becher ein wenig in dessen Richtung. Sofort stieß Thorsten seinen langen Löffel in Maltes Becher, hob eine ansehnliche Portion grünes Eis heraus und schob es sich in den Mund.

Es dauerte, dann lautete sein Befund: „Hm ... schmeckt ooch jut, det Jrüne, det ... Walmster.“

Malte lachte laut auf: „Walmster!!! – Waldmeister ... der Meister im Walde!“

Nun lachte auch Thorsten: „Meist im Walde.“

„Da habt ihr beide Recht!“ rief Helga und strich ihnen über den Schopf.

Die Jungen hatten ihre Eisbecher schneller geleert, als Helga und Georg ihre hohen Gläser mit Eiskaffee. Weil Malte schon unruhig auf seinem Stuhl umherrutschte, während Thorsten noch dabei war, die letzten Reste aus der Tiefe des Bechers zu kratzen, fragte Helga: „Was machen wir jetzt?“

„Uffräum!“ meinte Thorsten, stieg vom Stuhl, nahm beide Eisbecher und lief zu der Glasplatte, auf der bereits benutztes Geschirr stand.

Überrascht sah Georg seine Frau an. „Das ist doch was.“

Auch Malte hatte bei der Einfahrt in den Ort das Jagdflugzeug auf seinem Sockel entdeckt. Nun zog es ihn in den kleinen Park und er zog seinen Vater mit sich. Helga und Thorsten blieb nichts übrig, als ihnen zu folgen.

Der ausgemusterte Düsenjäger löste bei Malte eine Kette von Fragen aus. Bald versuchte auch Thorsten, es ihm gleich zu tun und auf bestimmte Teile des Flugzeugs zu zeigen. Dabei stießen sie einander an, musterten sich erst kritisch, mussten dann aber lachen.

Später bewarfen sie sich unter den alten Kiefern mit Kienäpfeln, rannten umher und probierten, wer am weitesten springen konnte. Georg musste Schiedsrichter spielen und mit einem Stock die erreichten Weiten markieren. Helga setzte sich mit einem Gefühl tiefer Erleichterung auf eine Parkbank. Ja, so war es richtig. Die Jungen respektierten einander und konnten gelöst miteinander spielen. Bei gelungenen Sprüngen applaudierte sie den eifrigen Sportlern.

Auf dem Eingangspodest des Kinderheims wurden sie bereits von der Heimleiterin erwartet. Sie betrachtete mit sichtbarem Interesse den dicht neben seinem Vater stehenden Malte. Sich leicht zu ihm beugend, erkundigte sie sich: „Na, habt Ihr Euch gut vertragen?“

„Geht so.“ Er blickte zu Thorsten, aber der lehnte sich an Helga und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, was die Heimleiterin tat.

„Und, habt Ihr was zusammen unternommen?“

Malte antwortete entgegen seiner sonstigen Gewohnheit ungewöhnlich knapp: „Auch.“

„Na, Hauptsache, es hat Spaß gemacht.“

Malte sah seinen Vater an. Der zog ihn an sich.

Thorsten, noch Helgas Hand haltend, lehnte sich sofort enger an, sagte aber kein Wort. Erst als die Heimleiterin ihn ansah und ihn mit energischer Geste ins Haus schicken wollte, holte er tief Luft und fragte: „Kommta wieda?“

Als Helga nickte, wandte er sich Malte zu und sagte „Tschüs!“ Dann erst verschwand er in dem langen Gang, ohne sich noch einmal umzudrehen.

„Ich werde also entsprechend nach Berlin berichten,“ erklärte die Heimleiterin, wünschte knapp eine gute Heimfahrt und folgte dem Jungen ins Haus.

Schweigend gingen die drei Berliner zu ihrem Auto. Helga entschied sich spontan, mit Malte hinten einzusteigen. Georg verstand, jetzt ging es ihr um den Jüngsten, also setzte er sich ebenfalls auf die Rückbank. Nun hatten sie Malte zwischen sich – und warteten.

„Also?“ fragte Helga schließlich.

„Naja ..., könnte klappen ...“, lautete die Antwort.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

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