Читать книгу Project Mercury - Hans Müncheberg - Страница 5
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ОглавлениеDie DC-8-Düsenmaschine der Pan American hatte die volle Flughöhe erreicht. Tief unten lagen die schneeigen Wolkenbänke. Der Himmel sah hier oben in fast zehn Kilometer Höhe dunkelviolett aus. Lediglich zum Horizont hin hellte er sich auf, wurde dunkelblau, hellblau und verschwamm schließlich in blass blauem Dunst. Die Sonne stand hoch, grellweiß am Firmament.
Das fühlbare Vibrieren der Maschine beim Aufstieg war verschwunden, ruhig lag der große Vogel in der Luft. Nur das leichte Pfeifen und Zischen der vier Düsenaggregate und die unter dem Flugzeug dahinziehenden Wolkenbänke verrieten die hohe Geschwindigkeit des Fluges.
Dr. Lawrence Gilbert drückte mit der rechten Hand auf den Verstellknopf des gepolsterten Sitzes. Die hohe Lehne kippte langsam nach hinten. Mit einem leichten Klicken rastete der Haltemechanismus ein: Gilbert lag bequem, den Kopf zur Seite geneigt, und sah aus dem kleinen Bordfenster. Das gleißende Sonnenlicht wurde von den Wolken zurückgeworfen und stach in die Augen.
Wenige Stunden noch, dachte er, und dann werde ich Betty wiedersehen. Betty, Scott und Dave, den kleinen Kerl. Wie alt mochte er jetzt sein? Gilbert rechnete nach. Vor fast zwei Jahren, als die Familie Sharper nach Langley zog, war Dave sieben Jahre. Jetzt musste er also neun sein, oder wurde er es gerade in diesen Tagen? Zu dumm, dass man sich solche Daten nicht in einen Kalender schrieb. Der kleine Kerl würde sich bestimmt freuen, wenn ihm sein Onkel Lawrence gratulierte. Aber so war das eben. Man wurde immer wieder vom Trubel der Ereignisse mitgerissen.
Zehn Tage waren seit dem Besuch der beiden Männer von der NASA vergangen, zehn ereignisreiche Tage. Die Erweiterung der Produktion brachte zusätzliche Arbeit. Durch die besonderen Anforderungen der NASA-Testreihe machten sich einige konstruktive Modifikationen rotwendig. Außerdem hatte es noch ernsthafte Auseinandersetzungen mit Bradley gegeben. Chefdirektor Webster musste, trotz Gilberts Bitte, vorläufig noch nichts zu unternehmen, bei seinen Verhandlungen mit dem Verwaltungsrat der Convair etwas von einem möglichen befristeten Ausscheiden des Atlas-Konstrukteurs angedeutet haben. Der Verwaltungsrat hatte sich sofort an die Leitung der Astronautics-Werke gewandt, und Bradley hatte ihn zu sich zitiert. Der technische Direktor war verärgert, weil die ersten Gespräche sozusagen hinter seinem Rücken geführt worden waren. Obwohl Gilbert nachdrücklich versichert hatte, die Angelegenheit sei längst noch nicht spruchreif, machte sich Bradley stark und ließ keinen Zweifel, dass er nicht daran dächte, Gilbert für ein Jahr zur NASA gehen zu lassen. Bradley pochte auf den langfristigen Vertrag und deckte Gilbert derart mit neuen Aufgaben ein, dass es ihm nur mit Mühe gelang, sich diese zwei Tage für einen Besuch in Langley frei zu machen.
Gilberts Gedanken nahmen nun eine andere Richtung. Sie eilten ihm voran, nach Langley. Seltsam, immer wenn er wusste, dass er mit Betty zusammentreffen würde, überkam ihn ein beklemmendes Gefühl. Und das regte ihn wieder auf. Schließlich waren inzwischen zehn Jahre vergangen, seit vor ihm die Frage stand, ob er nicht Miss Betty Wilkins heiraten sollte. Er wehrte sich gegen das Gefühl, damals falsch entschieden zu haben, als Betty zu ihm kam und es von seinem Rat abhängig machen wollte, ob sie Scotts Heiratsantrag annahm oder nicht. Gilbert atmete tief. Verdammte Erinnerung! Was hätte er denn damals tun sollen? Scott Sharper war sein bester Freund. Sie kannten sich seit der gemeinsamen Studienzeit an der Universität von Michigan. Scott, der um fünf Jahre Jüngere, war ihm in einem Seminar aufgefallen, als er einen sehr verwegenen und völlig utopischen Plan zum Bau einer fliegenden Startbasis für Jagdflugzeuge entwickelte. Sie waren zuerst in einen heftigen Streit über die realen Chancen eines solchen Projektes geraten, dann hatten sie auf einmal beide laut aufgelacht und beschlossen, gemeinsam die Luftherrschaft über ganz Amerika zu erobern. Scott war ihm nicht mehr von der Seite gewichen und hatte offen erklärt, von einem solchen Experten könne man so viel profitieren, dass es Wahnsinn wäre, die Möglichkeit nicht zu nutzen.
Gilbert absolvierte bereits ein zweites Studium auf höherer Ebene. Er wollte den Dr.-Ing. (Master of Science) erwerben, während Scott schon bald feststellte, er wäre zufrieden, wenn er wenigstens den untersten akademischen Grad erreichte. Das war eine durchaus reale Selbsteinschätzung, denn Scott zeigte genauso wenig Hang zur trockenen Theorie, wie er Leidenschaft im Ausdenken immer phantastischer anmutender Projekte bewies. Dass er die Prüfungen bestand, verdankte er zumeist der Hilfe seines Freundes Lawrence. Als durch den Überfall auf Pearl Harbour, der Krieg mit Japan ausbrach, meldete er sich freiwillig zur Air Force. Gilbert konnte sich noch genau daran erinnern, wie die sehr bald folgende Einberufung für den unternehmungslustigen Scott direkt eine Erlösung bedeutete. Die Universität gestattete ihm eine Sonderprüfung und sprach ihm danach den untersten akademischen Grad zu. Scott war völlig zufrieden damit und veranstaltete eine turbulente Abschiedsfeier. Kurze Zeit später machte auch Gilbert sein Diplom als Dr.-Ing. und trat unmittelbar darauf bei der Convair Division ein, die durch eine Arbeit auf ihn aufmerksam geworden war, die Gilbert noch während des Studiums erfolgreich zum Patent angemeldet hatte. Es war eine Abhandlung über thermodynamische Probleme eines besonders leistungsstarken Düsenantriebs. Die sprunghaft ansteigenden Rüstungsaufträge veranlassten die großen Konzerne, ihre Forschungsabteilungen zu erweitern. Es war eine Zeit, in der junge Talente echte Chancen bekamen. Gilbert machte seinen Weg. Es war ein steiler Aufstieg, der ihn bei Kriegsende bereits als Leiter einer der wichtigsten Konstruktionsabteilungen sah. Er hatte Erfolge gebracht und Ansehen gewonnen. Sein Wort galt etwas bei der Convair Division. So war es ihm auch möglich gewesen, für seinen Freund Scott etwas zu tun, als er 1948 aus dem besetzten Deutschland für einen langen Urlaub zurückkam und sich in seinem puritanischen Elternhaus nicht sehr wohl fühlte. Gilbert lud ihn zu sich nach San Diego ein.
Wenige Tage, bevor er wieder abreiste, gestand Scott dem Freund, er hätte sich in Miss Betty Wilkins sterblich verliebt. Scotts begeisterte Schilderung des Mädchens hatte Gilbert erschreckt. Er mochte Betty auch gut leiden. Allerdings ahnte er damals noch nicht, dass sie immer nur dann zu Partys ging, wenn sie wusste, dass auch Gilbert da war. Das hatte er erst später erfahren, als Betty Wilkins schon Mrs. Sharper war. Auf eine solche Party hatte er einst seinen Freund, den vielfach dekorierten Jagdflieger Scott Sharper, mitgenommen. Kein Wunder, dass die junge Betty Wilkins auf einen Flirt mit dem schneidigen Piloten einging. Gilbert hatte das Mädchen zwar immer höflich, aber nie besonders herzlich behandelt, denn meist waren seine Gedanken auch auf den Partys bei irgendwelchen technischen Problemen. Man kannte das schon an ihm. Er hatte sich also selber zuzuschreiben, was dann geschah.
Der langgestreckte Leib der DC-8 neigte sich der Erde zu. Ein leichter Druck legte sich auf die Trommelfelle der Ohren. Der Zeiger des Höhenmessers an der vorderen Kabinenwand wanderte langsam, aber stetig dem Nullpunkt zu. Gilbert sah hinaus. Wolkenfetzen huschten am Fenster vorbei. Plötzlich tauchte Fort Worth auf. Gilbert konnte sich nicht verhehlen, dass ihn diese Stadt nicht besonders reizte. Er war felsenfest davon überzeugt, in Langley, am Ziel seiner Reise, würde es anders sein.
Langley war eine mittelgroße Stadt im Bundesstaat Virginia. Hier lag das Trainingscamp für Amerikas erste Raumpiloten.
Am Rande der Stadt, auf dem Gelände eines ehemaligen Militärflugplatzes, befanden sich die verschiedenartigsten Anlagen. Einem Uneingeweihten wäre es nahezu unmöglich gewesen, die Bedeutung und den Zweck all der Bauten zu erkennen. So spezialisiert ist der Ausbildungsweg eines Astronauten.
Während Dr. Lawrence Gilbert, den Flugplatz von Langley verließ und in ein Taxi stieg, hatte das Camp schon anderen, hohen Besuch. Eine Gruppe Air-Force-Offiziere, darunter auch der Stützpunktkommandant von Cape Canaveral, war zu Gast bei der NASA in Langley. Besonders General Kingsberry zeigte sich sehr interessiert, als die Militärs vom wissenschaftlichen Ausbildungsleiter des Camps, Mr. Harcroft, durch das Gelände geführt wurden.
"Nach welchen Gesichtspunkten sind denn eigentlich die zukünftigen Astronauten ausgewählt worden?" wollte er wissen.
"Es waren im Wesentlichen fünf Bedingungen, die jeder Kandidat erfüllen musste: eine ausgezeichnete gesundheitliche Kondition, gute Nerven und seelische Ausgeglichenheit, reiche Flugerfahrung als Pilot im Überschallbereich, gute Allgemeinbildung und einige Spezialkenntnisse mit mindestens dem untersten akademischen Grad, schließlich die freiwillige Meldung zu diesem Beruf."
Ein Drei-Sterne-General bemerkte skeptisch: "Sie wollen doch nicht etwa behaupten, Astronaut wäre ein Beruf?"
Harcroft wandte sich dem General zu. "Doch! Wenn auch alle sieben Männer, die wir hier ausbilden, von den Streitkräften kommen, so sind sie doch nicht abkommandiert und damit gleichsam auf Sonderposten. Sie sind bei uns angestellt und erhalten hier die für ihren Beruf notwendige Spezialausbildung. Dass es erst sieben Männer sind, ändert gar nichts daran. Eines Tages wird der Beruf des Astronauten so selbstverständlich sein wie heute der des Piloten."
"Dann würde ich diese erste Gruppe hier mit Testpiloten vergleichen." Lester Kingsberry hatte mit dieser Bemerkung durchaus Recht. Auch Harcroft bestätigte das.
Die Gäste hatten bereits die meisten Abteilungen gesehen: die Temperaturkammer, in der die Piloten extremer Hitze und Kälte ausgesetzt werden konnten, den Unterdruckraum, der die Luftleere und damit die Drucklosigkeit des Weltraums nachahmte, die Isolierkammer, in der die Raumpiloten oft viele Tage zubrachten, völlig abgeschnitten von jeder Verbindung, jedem Kontakt, jedem Licht und Geräusch der Außenwelt, ohne zu wissen, wann man sie aus der Abgeschlossenheit befreite. Auch den Vibrationsstuhl hatte man besichtigt. Auf ihm übten die künftigen Raumfahrer, sich an die Erschütterungen während des Raketenstarts und des Fluges zu gewöhnen. Es gab den Schwerelosigkeitssimulator, eine komplizierte Apparatur. Sie war so konstruiert, dass jede Bewegung des Astronauten eine entsprechende Gegenbewegung des Gerätes auslöste. Eine beliebige Lageveränderung des Körpers bewirkte eine genau entgegengesetzte Reaktion des Gerätes. So konnte geübt werden, wie später einmal, im Ernstfall, die Raumkapsel gesteuert werden musste. Das Flugprogramm sah vor, dass der Astronaut die Lage seiner Pilotenkabine selbst zu stabilisieren und auch vor dem Wiedereintauchen in die Atmosphäre eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad zu vollführen hatte.
Nun standen alle am Rande des großen Schwimmbeckens. "Unser Spezialbassin ist so eingerichtet, dass ein Mensch mit einer normalen Tauchsportausrüstung in ungefähr zwei Meter Tiere schweben kann. Es herrscht dort ein vollkommener Druckausgleich. Wenn er nun die Taucherbrille völlig abdunkelt, dann ist ihm jede übliche Möglichkeit zur Raumorientierung genommen. Wir hatten bei den Auswahlprüfungen unter den vielen Bewerbern einige, die hier im Bassin kapitulierten. Sie gerieten urplötzlich in einen panikartigen Zustand, weil es ihnen nicht mehr gelang, die Wasseroberfläche ausfindig zu machen. Sie glaubten verloren zu sein. Wir mussten den Versuch dann sofort abbrechen."
Es war ein interessanter Anblick, hier einige der künftigen Raumfahrer zu beobachten. Sie schwebten wirklich in allen nur möglichen Lagen einige Meter unter der Wasseroberfläche. Jede Schwimmbewegung, die mit etwas Kraft ausgeführt wurde, hatte eine vollständige Orts- und Lageveränderung zur Folge.
Der Ausbildungsleiter dieser Abteilung ließ die Männer auf einen Wink Harcrofts planmäßige Übungen ausführen, die den hohen Grad an Körperbeherrschung und Orientierungsfähigkeit zeigten.
Kurz nach vierzehn Uhr traf Dr. Gilbert im Trainingscamp der NASA ein. Der Direktor dieser Astronautenschule, Mr. Harry Gamble, hatte ihn erwartet. Gamble war von Webster über Dr. Gilberts Besuch informiert worden.
Bei der herzlichen Begrüßung erklärte Gamble, das Camp habe schon hohen Besuch, aber seiner Meinung nach sei Dr. Gilberts Besuch der wertvollere.
Gilbert protestierte. "Urteilen Sie nicht vorschnell. Ich halte mich viel eher für einen wissbegierigen Außenseiter."
"Mister Webster hat uns angedeutet, dass wir dafür zu sorgen hätten, aus Ihnen einen NASA-Matador zu machen", entgegnete Gamble.
So war das Eis gebrochen. Die Männer einigten sich über das Programm der nächsten Stunden. Gamble schlug vor, erst die Außenanlagen zu besichtigen, da dort zur Zeit noch einige interessante Übungen zu beobachten wären, und anschließend zu Dr. Ward, dem Chefarzt, zu gehen. Sie fuhren in einem offenen Wagen quer durch das Gelände. Bald lagen die großen Gebäudekomplexe hinter ihnen. Der Fahrer, ein munterer Bursche, steuerte auf einen bunkerartigen Bau zu. Gilbert erkannte, dass neben dem niedrigen Zementwürfel eine kilometerlange schnurgerade Gleitbahn begann. Darauf stand ein eigenartiges Gefährt, einer Pilotenkanzel ähnelnd, die auf Schlittenkufen montiert wurde. Hinter der Kanzel waren ganze Bündel von Feststoffraketen angebracht.
Gruppen von Technikern arbeiteten an dem Apparat. Eine Sirene heulte.
"Wir haben Glück. Ein paar Minuten später, und wir hätten auf schnellstem Wege umkehren müssen."
Der Wagen hielt vor dem niedrigen Kommandobunker. Gamble und Gilbert stiegen aus. Die Zeit reichte gerade noch, um den Raketenschlitten von nahem zu betrachten und dem im Raumanzug unter dem Schutzhelm kaum erkennbaren Astronauten zuzuwinken. Dann begaben sie sich in den Schutzraum.
Der Leitstand war schmucklos, zweckbestimmt eingerichtet. Dicke Scheiben aus Panzerglas erlaubten, einen Blick auf die ganze Gleitbahn zu werfen.
Gamble erläuterte den Zweck dieses Versuches: "In der großen Zentrifuge von Johnsville können wir zwar innerhalb eines längeren Zeitraums hohe Fliehkräfte erzeugen, die denen einer über zehnfachen Erdbeschleunigung entsprechen. Hier haben wir jedoch die Möglichkeit, das schnelle Ansteigen der Beschleunigung zu trainieren. Der Pilot hat während der Fahrt des Raketenschlittens eine Reihe von Aufgaben zu erfüllen und am Ende, auf ein bestimmtes Signal hin, den Sprengmechanismus auszulösen, der seinen Sitz nach oben hinausschleudert. Pilot und Sitz kommen dann an Fallschirmen herunter, und zwar in ein ausreichend großes Wasserbecken. So üben wir auch die spätere Landung."
"Und falls der Mechanismus nicht ausgelöst wird oder versagt?"
"Dann ist noch ausreichender Bremsweg für den Raketenschlitten vorhanden."
Wieder heulte die Sirene. Zehnmal in kurzen Intervallen. Nun zählte ein Techniker die letzten Sekunden vor der Zündung der Raketen aus: "Zehn ~ neun - acht - sieben - sechs - fünf - vier - drei - zwei - eins - Zündung!"
Ein Druck auf einen Knopf und im selben Moment war der Schlitten draußen in schwarzen Rauch gehüllt. Er schoss nach Bruchteilen einer Sekunde mit immer größer werdender Geschwindigkeit davon, aus der Wolke heraus, auf der Gleitbahn entlang, einen feurigen Schweif hinter sich herziehend. Zehn, zwanzig Sekunden vergingen.
"Jetzt hat er rund fünfhundert Stundenkilometer drauf", sagte Gamble, "passen Sie auf, schauen Sie lieber hier auf den Bildschirm."
Gilbert löste den Blick vom Sehschlitz und konnte nun auf dem Bildschirm gut erkennbar den weiteren Weg des Piloten verfolgen.
"Geben Sie Signal bei neunhundertfünfzig Metern." Das war die Stimme des Versuchsleiters. Gilbert stand völlig im Bann des außergewöhnlichen Geschehens. Der Bildschirm zeigte, wie plötzlich der Pilotensitz aus dem dahinjagenden Gefährt herausgeschleudert wurde, dreißig, ja fünfzig Meter hoch, wie sich eine menschliche Gestalt von der dunklen Masse löste, wie sich Fallschirme entfalteten und den Sturz in das Wasserbecken buchstäblich im letzten Moment auf eine erträgliche Geschwindigkeit abbremsen konnten.
"Gelandet!" Der Techniker sagte dieses eine Wort, nüchtern, unbeteiligt. Für ihn war das eine alltägliche Angelegenheit.
Gilbert war zu sehr beeindruckt, als dass er gleich über das Gesehene sprechen konnte. Ja, er war sogar erschrocken über die Härte, über den Grad des Risikos bei einem solchen Trainingsprogramm. Natürlich, der Raketenschlitten konnte stetig gebremst werden, und die Fallschirmtechnik war seit einiger Zeit bis an die Grenze der absoluten Sicherheit vervollkommnet - aber änderte das etwas an der fast übermenschlichen Belastung des lebenden Organismus?
Diese Gedanken brachte Dr. Gilbert zum Ausdruck, als er mit Gamble wieder im Wagen saß. Gamble betonte, dass er diese Überlegungen völlig verständlich fände, und setzte dann hinzu: "Die physische Belastung ist sehr groß, zugegeben. Aber wir alle machen uns wohl noch nicht die richtige Vorstellung davon, was der menschliche Körper ertragen kann. Vielleicht sprechen Sie nachher mit Dr. Ward darüber. Er ist kompetenter, Ihnen diese Fragen zu beantworten, als ich."
Es war bereits sechzehn Uhr, als Gamble und Gilbert bei Dr. Ward eintraten. Gilbert glaubte in eine moderne medizinische Klinik mit allen nur denkbaren Untersuchungsgeräten zu kommen.
Gamble machte die beiden Wissenschaftler miteinander bekannt und erläuterte kurz das von Gilbert aufgeworfene Problem.
Dr. Ward bat seine Gäste in einen wohnlicher eingerichteten Nebenraum. Während Gilbert und Gamble Platz nahmen, begann er, seine Brille voller Andacht putzend, auf und ab zu gehen. Nach einer Weile sagte er: "Sie haben recht, verehrter Dr. Gilbert, der Mensch und die Technik, ihr Verhältnis zueinander, das ist die Kernfrage unserer Arbeit. Ich möchte die Frage einmal so formulieren: Wird es dem Menschen gelingen, sich der Entwicklung der Technik anzupassen - oder wird er an ihr zerbrechen?"
Gilbert war sofort dabei. Diese Probleme berührten ihn zutiefst. Temperamentvoll warf er ein: "Verzeihen Sie, aber diese Formulierung steht doch auf dem Kopf! Es sollte besser heißen: Wird es uns gelingen, die Technik den menschlichen Lebensbedingungen anzupassen - also, sie zum Freund des Menschen zu machen, oder dulden wir, dass uns die Technik feindlich wird? Ganz kurz gesagt: Wer beherrscht wen - der Mensch die Technik oder die Technik den Menschen?"
Dr. Ward unterbrach seine Wanderschaft und blieb vor Gilbert stehen. Mit einem freundlich überlegenen Lächeln bemerkte er: "Theoretisch haben Sie vollkommen recht, verehrter Doktor. Ich verstehe auch, dass gerade Sie so reden. Ihre Maxime ist nichts weiter als der Versuch, die eigene Beteiligung an der entstandenen schwierigen Lage auszugleichen, zu kompensieren."
"Jetzt soll ich wohl auch noch schuld daran sein?" Gilbert sprang auf.
Dr. Ward blickte prüfend durch die blankgeputzte Brille. "Nur objektiv! Eine persönliche Schuld will ich Ihnen gar nicht unterstellen."
"Was. heißt - nur objektiv?" Gilbert war nicht zufrieden mit der Antwort.
"Das soll heißen, dass Sie, verehrter Dr. Gilbert, der Konstrukteur der Atlas sind." Dr. Ward setzte sich die Brille auf und sah Gilbert gespannt an, der schwieg einige Sekunden verblüfft und schaute unsicher forschend zu Gamble.
"Ich verstehe, was Dr. Ward meint." Gamble war auch aufgestanden und trat neben Gilbert. "Unsere ganze Arbeit hier wird schließlich durch die Bedingungen bestimmt, die unter anderem aus den technischen Daten der Redstone und der Atlas resultieren. Schubkraft und Beschleunigung, Vibration, Aufheizung durch Reibungswärme und so weiter."
Gilbert sah beide Männer prüfend an. Verbarg sich dahinter eine vielleicht berechtigte Kritik an der Atlas als Trägerrakete für die bemannte Raumkapsel? War es nur ein freundschaftliches Wortgefecht? Trotz allem, die Bemerkungen waren berechtigt. Unter diesem Gesichtspunkt hatte er die Eignung seiner Konstruktion noch gar nicht überprüft.
"Zugegeben", begann er vorsichtig, "da sind Schwierigkeiten. Ich nehme die objektive Mitschuld an. Aber schließlich haben wir die Atlas einmal für einen anderen Zweck konzipiert und nicht als Treibladung für einen Astronauten."
"Aber das wissen wir ja!" Dr. Ward packte Gilbert bei den Schultern. "Verzeihen Sie uns diese kleine Exkursion. Außerdem kann ich Sie vollauf beruhigen. Die Werte der Atlas sind, obwohl es die stärkere Rakete ist, für den bemannten Flug günstiger als die der Redstone. Die Belastungen können von den Piloten ohne Schäden für ihre Gesundheit ertragen werden. Natürlich kann nicht jeder Mann von der Straße Raumflieger werden - heute noch nicht. Später vielleicht, wenn Sie, lieber Dr. Gilbert, die entsprechenden Raketen konstruiert haben. Heute müssen die Astronauten gründlich trainiert werden, psychisch und physisch. Und wir tun alles, um den Piloten absolute Sicherheit auf den Flug mitzugeben."
"Allerdings nur, was die Person des Piloten betrifft. Die Sicherheit des Fluges selbst liegt dafür in Ihren Händen." Gamble setzte sich wieder.
Dr. Ward trat zu einem hohen Wandregal und entnahm ihm einige Hefter und Papierrollen. "Darf ich Ihnen einige Leistungscharakteristiken unserer Piloten unter den vorgetäuschten Bedingungen eines Raumfluges zeigen?"
Die nächste halbe Stunde brachte für Gilbert interessante Einblicke in das Gebiet der Raumfahrtmedizin, für Dr. Ward neue Aspekte in der Betrachtung technischer Probleme und für Mr. Gamble das seltene Erlebnis, zwei hervorragende Fachleute einen menschlich guten Kontakt gewinnen zu sehen.
Als Dr. Ward in seinen Abschiedsworten die Hoffnung auf eine spätere gemeinsame Arbeit aussprach, gestand Gilbert erstmalig, wie sehr auch ihn eine solche Aufgabe reizte.
Gamble hörte das nur allzu gern und lud Gilbert zu einem Imbiss ein, bei dem er ihn mit den Militärs bekannt machen wollte. Als er Gilberts versteckte Abwehr spürte, sagte. er: "Bitte, Doktor, seien Sie kein Spielverderber. Es hat sich nun einmal herumgesprochen, dass der Konstrukteur der Atlas im Lande ist. Außerdem haben Sie dabei gleich die Gelegenheit, den Air-Force-Stützpunktkommandanten von Cape Canaveral kennenzulernen: General Lester Kingsberry. Sie haben bestimmt schon von ihm gehört."
"Flüchtig." Gilbert hatte etwas gegen solche Begegnungen, die fast den Charakter eines Meetings bekamen. Er fand es überflüssig, sich mit Leuten unterhalten zu müssen, die ihn nicht persönlich interessierten. Die Anwesenheit General Kingsberrys allerdings erweckte sein Interesse. Er nutzte den Weg, um sich von Gamble über die Person des Generals informieren zu lassen.
Inzwischen hatte auch die von Mr. Harcroft begleitete Besuchergruppe den Rundgang durch die Übungsanlagen beendet und begab sich zu dem großen Speiseraum des Camps. Kingsberry ging neben Harcroft. Eine Frage lag ihm schon lange am Herzen. Nun konnte er sie loswerden: "Sagen Sie bitte, Mr. Harcroft, woran liegt das: Sie haben hier in Langley alle Trainingseinrichtungen beisammen, bis auf eine. Warum steht eigentlich die große Zentrifuge für die Beschleunigungsversuche in Johnsville und nicht hier? Das ist doch unrationell!"
"Nun, sie wurde dort schon vor Jahren für Forschungsarbeiten gebraucht. Natürlich, jetzt brauchten wir sie hier. Das Ding ist aber ziemlich groß und auch sehr teuer. Dort demontieren und hier aufbauen, war nicht möglich, Außerdem wird sie dort auch noch für andere Aufgaben benötigt. Und extra für uns hier eine neue zu bauen, ist wieder nicht rentabel."
Sie betraten den Speiseraum. In der Mitte war eine große Tafel gedeckt. Einige Astronauten waren schon anwesend, um den Gästen noch spezielle Fragen beantworten zu können.
"Hallo, Scott Sharper, alter Junge!" Kingsberry ging mit schnellen Schritten auf einen der Männer zu.
"Hallo, General."
Kingsberry wandte sich den anderen Offizieren und Generalen zu. "Darf ich Ihnen einen alten Kriegskameraden vorstellen? Captain Scott Sharper, erfolgreicher Jagdflieger, war in Okinawa dabei, in Nordafrika und auch in Korea. Ich darf behaupten, er war der beste Flieger in der 12. Luftflotte."
Sharper war den meisten namentlich bekannt. Auch die anderen Astronauten wurden gleich mit ins Gespräch gezogen.
Kingsberry bestand darauf, neben Scott Sharper zu sitzen, und begann mit ihm Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse auszutauschen. Mitten im Satz unterbrach er sich und fragte: "Sagen Sie, Scott, warum haben wir Sie heute nicht irgendwo beim Training gesehen?"
"Weil ich erst vor einer Stunde aus Johnsville zurückgekommen bin, vom Karussellfahren."
"Interessant, erzählen Sie mir davon!" Kingsberry lehnte sich erwartungsvoll zurück.
Doch Scott kam nicht dazu, einen Bericht zu geben.
Gamble und Dr. Gilbert traten an die Tafel. Die Gespräche verstummten plötzlich, als Gamble mit erhobener Stimme sagte. "Meine Herren, darf ich Sie mit einem Mann bekannt machen, der uns allen ...." Weiter kam Gamble nicht, denn Scott Sharper sprang überrascht auf. "Lawrence Gilbert!" Er eilte auf seinen alten Freund zu und packte ihn herzlich bei den Schultern: "Lawrence, alter Junge, wie kommst du denn auf einmal hierher?"
"Mit dem Jetliner aus San Diego und jetzt eben mit Mister Gamble zu Fuß."
Gilbert strahlte über die gelungene Überraschung.
Scott, der sich während des Trainings immer wieder durch seine schnelle Reaktionsfähigkeit auszeichnete, brauchte jetzt einige Sekunden, bis er sich gefasst hatte. Dann schoss er aber sofort eine Serie gezielter Fragen ab. Gilbert wollte geduldig antworten, doch Gamble schlug vor, dazu Platz zu nehmen. Mit einer verbindlichen Geste stellte der Ausbildungsdirektor seine Gäste und seine Mitarbeiter einander vor.
Scott erreichte, dass er zwischen Gilbert und Kingsberry zu sitzen kam, und drängte nun ungeduldig, den Grund des plötzlichen Besuchs zu erfahren.
"Ich habe in der vergangenen Woche ein interessantes Angebot von der NASA bekommen", meinte Gilbert beiläufig.
"Was? Du kommst von der Convair zu uns?"
"Stopp! Ich habe nur von einem Angebot gesprochen. Mein Besuch hier ist rein informativ. Ich habe mich noch nicht entschieden."
"Und worum geht es?"
Gilbert antwortete nicht, sondern sah sich nach Mr. Gamble um, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war. Der nickte ihm beruhigend zu und sagte, da der Präsident auf seiner wöchentlichen Pressekonferenz bereits davon gesprochen habe, sei es wohl kein Geheimnis mehr, dass die NASA vorfristig mit einer neuen Atlas-Testreihe beginnen würde,
"Und dabei sollst du mitmachen?" präzisierte Scott.
Gilbert nickte. "Als technischer Leiter der Versuche."
Bei den anwesenden Astronauten löste diese Aussicht lebhaften Beifall aus, auch viele der Militärs fanden es richtig, dass endlich energischer auf dem Wege zum bemannten Weltraumflug vorangegangen wurde.
Kingsberry blieb unbewegt. Als Scott ihn fragend ansah, bemerkte er trocken: "Wenn ich ehrlich sein soll - das gefällt mir gar nicht. Ich finde es bedenklich, den Konstrukteur unserer ersten einsatzfähigen interkontinentalen Rakete von der Arbeit an neuen, stärkeren Raketen abzuhalten, nur damit er der NASA hilft, endlich rund fünfundsiebzig Kilogramm Mensch in das All zu schießen. Das muss sich ungünstig auf das militärische Kräfteverhältnis auswirken."
Es war auf einmal still in dem großen Raum. Alle sahen Gilbert an, der wohl oder übel auf das Thema eingehen musste. "Das müsste nicht unbedingt so sein. Wir haben die Planungen bei der Convair recht weit vorangetrieben. Die Realisierung hängt dagegen zurück. Ohne praktische Ergebnisse, ohne die Messwerte der Erprobung können wir nicht weiterprojektieren."
Kingsberry hob die Schultern. "Aber Sie können doch erproben, soviel Sie nur wollen. Wenn es an Startrampen fehlt - wir haben auf dem Cape alles für zukünftige Großraketen vorbereitet. Die Anlagen könnten wir der Convair zur Verfügung stellen." Kingsberry sah sich, Zustimmung heischend, in der Runde um. Er wusste natürlich, dass er nicht befugt war, von sich aus solche Angebote zu machen. Auf dem Cape würden sich solche Versuche aber durchführen lassen, das wusste jeder Eingeweihte. Kingsberry sah Gilbert überlegen lächelnd an.
Gilbert blieb ruhig. "Vielen Dank für Ihr großzügiges Angebot. Ich fürchte nur, die Convair könnte davon keinen Gebrauch machen, weil man eine Rakete erst erproben kann, wenn sie gebaut worden ist."
Kingsberry schüttelte ärgerlich den Kopf. "Das verstehe ich nicht. Sie sagen, die Konstruktionsarbeiten sind schon lange beendet - ja, warum bauen Sie dann nicht?"
"Weil das nicht so schnell geht: Weil es immer wieder neue Schwierigkeiten mit der Zulieferindustrie gibt."
Für Kingsberry waren solche Verhältnisse undenkbar. Als Soldat war er gewohnt, schwierigen Situationen durch entsprechende Befehle zu begegnen. "Was heißt hier Schwierigkeiten? Bei der Bedeutung solcher Arbeiten sollten unbegrenzte Mittel zur Verfügung stehen! Man kann doch die Produktion von Raketen nicht mit Maßstäben beurteilen, die vielleicht für Autos oder Kühlschränke gelten! Ich glaube, man müsste die lahme Industrie etwas auf Trab bringen."
"Einverstanden, General", Gilberts Lächeln verstärkte sich, "vielleicht setzen Sie auch im Pentagon durch, dass Heer und Marine auf eigene Raketenwaffen weitgehend verzichten."
"Was soll denn das nun wieder?" Kingsberry fühlte sich nicht ernst genommen und bedauerte schon, das Gespräch begonnen zu haben,
"Wenn die Convair zum Beispiel zur Rocket-Dyne Division geht und neue, stärkere Raketentriebwerke bestellt, dann antworten die, dass ihre Büros und Prüfstände vorläufig ausgelastet sind, denn von Chrysler, North Aviation, Douglas Aircraft, Bristol und den anderen Raketenproduzenten liegen auch schon langfristige, spezielle Aufträge vor. Wir besitzen hier in den Vereinigten Staaten leider den absoluten Weltrekord an unterschiedlichen Entwicklungen für Air Force, Army und Navy. Die Folge ist Verzettelung der Kräfte und Tempoverlust."
Der Mann hat recht, schoss es Kingsberry durch den Kopf. Das ist nicht nur ein guter Fachmann, das ist ein Kerl mit einem klaren Blick für Realitäten. "Doktor, Sie haben mich überzeugt, dass man den anderen Heeresteilen die Lizenzen für eigene Raketen entziehen sollte", versuchte er zu scherzen, "vielleicht mit Ausnahme der Polaris für die Atom-U-Boote."
Kingsberry meinte abschließend noch, er würde sich freuen, wenn beide einmal Gelegenheit hätten, sich in Ruhe über dieses Thema zu unterhalten. Dann kehrte das Gespräch in die üblichen Bahnen zurück.