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1. Sturm über Landsende

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Nach diesen erschütternden Erlebnissen im »Einsamen Posten« setzten sie bedrückt ihren Weg fort. Immer mehr kamen sie zu der Gewissheit, dass die Aufgabe, die sie übernommen hatten, keine war, nach deren Erfüllung, falls sie überhaupt so weit kamen, sie ihr gewohntes Leben fortsetzen konnten. Zu überwältigend waren die Erlebnisse, Entbehrungen, Leiden und Verluste. Vielmehr wurde immer deutlicher, dass der Chrysalkristall eng mit ihrem Schicksal verknüpft war, so wie die »Sphäre« mit dem Schicksal Tjerulfs.

Schweigend und in Gedanken versunken, ritten sie zurück nach Sprotthausen. Nachdem sie die Nacht nach dem Verlassen des Berges in einem ungemütlichen Versteck im Unterholz und noch dazu ohne ihre Zelte verbringen mussten, und die nächste in einer Scheune bei Bauer Merower, sehnten sie sich nach richtigen Betten und einem Bad und vor allem nach einem erholsamen Schlaf. Daher wollten sie die nächsten zwei Nächte in einem Wirtshaus in Sprotthausen verbringen. Trotz des herben Fischgeruches in seiner Umgebung hatten sie sich entschlossen, wieder in den »Verlorenen Anker« einzukehren, falls es dort für sie auch dieses Mal genug Zimmer gab.

Meneas dachte viel über ihre Begegnung mit Angrod nach. Seit ihrem ersten Aufbruch von Everbrück war die Erinnerung an seine Rettung in der Seemark durch den Morain fast verblasst, und falls es noch ein Zusammentreffen mit ihm geben würde, dann hätte er es niemals im »Einsamen Posten« erwartet. Damals war er ihm schon merkwürdig vorgekommen, doch jetzt war ihnen Angrod fast unheimlich geworden, und das hatte noch nicht einmal etwas mit dem unnatürlichen Gesichtsausdruck als Folge der Einnahme von Kräutern zu tun. Den hatte Angrod ja erklärt. Aber dieser Morain schien beunruhigenden Geschäften nachzugehen.

Doch das allein war es auch nicht. Wie schon beim ersten Mal, glaubte Meneas ihn irgendwoher zu kennen. Es gab nur keine Gelegenheit, an die er sich erinnerte. Und obgleich er auf sonderbare Art abweisend war, empfand Meneas eine Vertrautheit mit Angrod, die er nicht erklären konnte.

Tjerulf dagegen kannte ihn besser und sie hatten sich anscheinend schon mehrmals getroffen. Schließlich hatte Angrod die Begegnung zwischen Meneas und Tjerulf eingefädelt. Doch auch Tjerulf war überrascht gewesen, den Morain in dem Berg zu sehen. Angrod hatte ihm wohl nicht allzu viel über sich erzählt. Trotzdem wusste Tjerulf bestimmt einiges mehr über ihn als Meneas selbst, und bei passender Gelegenheit wollte er mit Tjerulf darüber reden.

Meneas´ Gedanken schweiften ab zu den Ereignissen in dem Berg, doch weniger wegen des Verlustes seines Freundes Erest, der ihn genauso schmerzte wie Valea, als vielmehr wegen der furchtbaren Handlungen, die dort von den Ax´lán durchgeführt worden waren. Meneas ging es nicht um die medizinischen Einzelheiten, davon verstand er ohnehin nichts, sondern um die Absicht, die dahinter steckte.

So sehr er sich auch bemühte, sich eine Gesamtübersicht zu verschaffen, es gelang ihm nicht. Er drehte sich immer wieder im Kreis. Die Ax´lán hatten Menschen gezüchtet, das war schlimm genug. Aber aus welchem Grund, und was war aus ihnen geworden? Meneas konnte sich kaum vorstellen, dass es genügend waren, um als Vorfahren der elveranischen Menschheit in Frage zu kommen. Zudem waren ihre Völker zu verschieden. Er seufzte. Das war wohl ein Rätsel, das er nie würde ergründen können.

Und Tjerulf? Vielleicht konnte er ihm helfen. Er war viel älter als sie alle und besaß ungleich mehr Lebenserfahrung. Er hatte die Geschichte der Völker Päridons über viele Lebensalter verfolgt. Außerdem schien er von der ganzen Sache etwas geahnt zu haben, wenn er, Meneas, den Worten zwischen ihm und Angrod richtig verstanden hatte. Aber seit sie den Stützpunkt der Ax´lán verlassen hatten, war sein Freund seltsam in sich gekehrt und hatte nur wenige Worte gesprochen. Seinen Fragen nach diesen Dingen war er stets ausgewichen.

Meneas glaubte, dass ihn die schrecklichen Entdeckungen mehr bestürzt hatten, als alle anderen. Selbst Solvyn, die daran fast zu zerbrechen gedroht hatte, und Valea, die von allen die stärkste Trauer über den Tod Erests durchlitt, waren schon wieder in der Lage, zumindest zu lächeln, wenn es auch zögerlicher und noch lange nicht so häufig vorkam, wie ehedem. Aber sie würden die Erlebnisse überwinden. Bei Tjerulf machte sich Meneas mehr Sorgen. Er hätte nicht gedacht, dass es überhaupt einmal dazu kommen würde, wo er ihm doch stets außerordentlich robust und abgeklärt vorgekommen war. Er musste in dem Stützpunkt ein Erlebnis gehabt haben, von dem keiner außer vielleicht Durhad etwas ahnte. Tjerulf und Durhad ritten seither schweigsam hinter den anderen her.

Meneas wurde durch eine plötzliche Verdunklung des Himmels aus seinen Gedanken gerissen, die genauso schnell wieder verschwand, wie sie aufgetaucht war. Er spürte deutlich einen Luftzug. Es waren die Drachen Ithlor und Kerlon. Sie hatten den Reitertrupp wie erwartet wiedergefunden und sich ein Spaß daraus gemacht, sie im Tiefflug zu erschrecken. Aber sie hatten freundlicherweise auf ihre gefürchteten Schreie verzichtet. Die beiden Drachen kehrten in einer weiten Schleife zurück und setzten dann am Straßenrand auf.

„Was ist los mit euch?“, fragte Kerlon munter. „Ihr seid so in Gedanken, dass keiner von euch unseren Anflug bemerkt zu haben scheint.“

Ob er über ihren misslungenen Scherz enttäuscht war, ließ er sich nicht anmerken.

„Und wo ist Erest? Ihr habt ihn doch nicht -? Ihr habt ihn doch?“

„Schlimme Dinge sind geschehen“, sagte Meneas. „Erest ist tot.“

Die beiden Drachen senkten betrübt ihre Köpfe.

„Das tut uns leid“, sagte Ithlor mit ungewöhnlich leiser Stimme. „Was ist passiert?“

Es war um Mittag und sie hatten sowieso vor, eine Rast einzulegen. Gemeinsam zogen sie sich in den Schatten einiger Bäume zurück. Nur Ithlor und Kerlon passten nicht mehr darunter und blieben in der Sonne liegen. Für sie war es eine wohltuende Wärme. Aus einiger Entfernung sahen die beiden aus wie missratene Brathühner (wegen der schwarzen Farbe ihrer Haut), die auf ihren Nestern ihre Eier ausbrüteten. Geduldig warteten sie, bis die Menschen anfingen, zu erzählen.

Reglos hörten sie zu, als Meneas begann, ihr Abenteuer zu schildern. Die Geschichte mit dem Bauern Merower war ja noch ganz lustig, obwohl einigen bald nach der Abfahrt der Rücken wehtat. Valea und Solvyn hatten sich tatsächlich die besten Plätze ergattert, und der Bauer sorgte für kurzweilige Unterhaltung und glaubte bis zuletzt, dass sie Bergsteiger waren.

Während dieser Zeit hatten die beiden Drachen für eine Weile die Gegend verlassen und waren zur Insel Kaphreigh geflogen. Aber das berichteten sie erst später.

Die Ereignisse in dem Gebirgsstollen waren schon nicht mehr so lustig. Zwar hatten die Gespenster der ax´lánischen Wissenschaftler ihnen nichts getan, aber der Schrecken, den ihr Auftauchen verbreitete, noch dazu in dieser finsteren Umgebung, war schauderhaft genug gewesen. Die Spinne hätte ihnen vielleicht gefährlich werden können. Immerhin hatte sich Dungal, der Trochäe, als Verbündeter herausgestellt.

Doch das alles war nichts gegen das, was sie in dem ax´lánischen Stützpunkt erwartete. Obwohl es ihnen niemand ansah, waren die Drachen erstaunt, erschrocken und erschüttert über das, was sie hörten. So vielen Dingen sie auf Elveran auch auf den Grund gegangen waren, sie waren noch nie in einem Stützpunkt dieses fremdartigen Volkes gewesen und hatten keine Ahnung davon, wie es darin aussah. Aus guten Gründen hatten sie sich stets von den Ax´lán ferngehalten. Was sie jetzt hörten, sprengte jedoch selbst ihre Vorstellungskraft. Auch ihre erste Begegnung mit einem Stützpunkt des Ax´lán-Volkes war für zwei ihrer Artgenossen tödlich ausgegangen, wenn der Umstand der Existenz einer solchen Anlage in den Drachenbergen auch nur mittelbar mit ihrem Tod in Verbindung stand.

Schließlich kam das Ende mit Schrecken, aber auch mit einer unerwarteten Hilfe. Immerhin fanden sie das blaue Fragment, aber es war teuer erkauft.

„Jetzt versteht ihr, warum wir so tief in Gedanken versunken waren“, schloss Meneas seinen Bericht. „Dieses Versteck ausfindig zu machen, hat uns viel Kraft gekostet, in jeder Hinsicht.“

„Fürwahr phantastisch und unglaublich“, sagte Ithlor bedrückt. „Und bedauerlich. Da muss die Freude über das Gelingen weit hinter der Trauer um den Verlust zurückbleiben. Wollt ihr aufhören?“

„Nein, wie kommst du darauf?“, erwiderte Meneas entschieden. „Dann wären Erest und Idomanê umsonst gestorben. Nein, wir werden natürlich weitermachen. Jetzt erst recht. Erest jedenfalls hätte nicht anders entschieden. Ich glaube, jeder von uns würde sich irgendwann Vorwürfe machen, wenn er jetzt heimritt. Wir kannten die Gefahren, oder besser, wir wussten, dass unsere Reise mit außergewöhnlichen Gefahren verbunden sein würde. Es ist nur eine allzu menschliche Eigenschaft, so etwas zu verdrängen, trotz aller Erfahrungen. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass wir schon weit gekommen sind. Nein, es gibt kein Zurück mehr.“

„Dein Entschluss erleichtert uns“, meinte Kerlon. „Wir werden euch helfen, so gut es geht.“

„Das wissen wir. Aber ihr hättet uns in der Enge des Berges kaum helfen können.“

Meneas´ Entschlossenheit wurde auch von den anderen geteilt, obwohl es ihnen zu dieser Zeit nicht anzusehen war. Sie glichen eher einem geschlagenen Haufen als wildentschlossenen Schatzsuchern. Aber jeder von ihnen würde es als eine Art von Verrat an Erest, und auch an Idomanê, betrachten, wenn sie sich von ihrem Auftrag abwendeten. Tatsächlich fühlten sie sich inzwischen stärker an ihre Ehre gebunden, als an das Versprechen, das sie den Sinaranern gegeben hatten.

„Wie habt ihr die letzten Tage verbracht?“, fragte Tjerulf die Drachen.

„Wir waren nicht untätig“, meinte Ithlor. „Der Nebel hier war so dicht, dass es für uns nicht viel zu beobachten gab. Also beschlossen wir, uns euer nächstes Ziel anzusehen, die Insel Kaphreigh, falls ihr eure Pläne nicht geändert habt.“

Tjerulf schüttelte den Kopf.

„Gut, glauben wir jedenfalls. Das Versteck des Fragmentes haben wir nicht gefunden. Das hätte uns auch überrascht. Aber wir sind sicher, dass sich dort keine Einrichtung der Ax´lán befindet, zumindest keine, in dem noch irgendwelche Vorgänge stattfinden, denn wir haben keinerlei Ausstrahlung festgestellt. Und soweit wir gesehen haben, und wir haben die Insel einige Male überflogen, ist sie unbewohnt. Wir vermuten, ihr werdet ein Boot brauchen, um hinüberzukommen.“

„Das wissen wir“, sagte Meneas. „Wir werden versuchen, in Landsende eins zu bekommen. Aber das waren zunächst einmal gute Nachrichten.“

„Wir werden euch jetzt wieder verlassen“, sagte Ithlor. „Ihr seid bald in Sprotthausen.“

„Ja, übermorgen brechen wir von dort wieder auf. Zunächst brauchen wir ein wenig Ruhe.“

„Das verstehen wir. Dann werden wir euch zwischen Sprotthausen und Landsende wiederfinden.“

Mit mächtigen Flügelschlägen erhoben sich die beiden Drachen in die Lüfte und wurden schnell zu kleinen Punkten, die bald verschwanden.

„Wenigsten haben wir es dieses Mal nicht mit den Ax´lán und den Priestern zu tun“, war Solvyn erleichtert.

Diese Hoffnung teilten alle, wenn auch nicht jeder davon überzeugt war.

Die Stadt hatte sie wieder. Die Reiter sahen erschöpft und unübersehbar heruntergekommen aus, aber daran nahm niemand Anstoß. Städter waren ganz andere Anblicke gewöhnt und daher wurden sie am Stadttor auch nicht besonders neugierig oder misstrauisch gemustert oder sogar angehalten.

Ihr Weg führte sie durch die von Lärm erfüllten Straßen geradewegs zum Hafen, wo das Gasthaus »Zum verlorenen Anker« stand. Auch wenn einigen unter ihnen das städtische Treiben nicht sonderlich behagte, so waren sie dieses Mal doch froh, eine halbwegs vertraute und sichere Umgebung um sich herum zu haben. Und sie waren zu erschöpft, um sich um irgendwelche Späher des Ordens von Enkhór-mûl Gedanken zu machen.

Der Wirt erkannte sie sofort wieder, war aber erschrocken, was diese wenigen Tage seit ihrer Abreise aus seinen damaligen Gästen gemacht hatten. Natürlich fiel ihm sofort auf, dass einer fehlte. Erest, glaubte er sich zu erinnern, war sein Name. Doch auf seine Frage bekam er nur die traurige Antwort, dass er einen tödlichen Unfall hatte und sie baten ihn, sie nicht weiter über den Hergang auszufragen.

Es waren genug Zimmer vorhanden, und nachdem sie ihre Pferde zwei Knechten übergeben hatten, brachten sie ihr Gepäck hinauf. Nach einem gründlichen Bad und einer ordentlichen Mahlzeit gingen sie auf ihre Zimmer, so früh, wie schon lange nicht mehr in einem Gasthaus. Und das erste Mal, seit sie den »Einsamen Posten« verlassen hatten, schliefen sie tief und fest und ohne wirre Träume bis zum späten Vormittag des folgenden Tages. Nur Valea verfolgten merkwürdige Erinnerungen an die Nacht bis spät in den Nachmittag.

Am nächsten Morgen wachte Durhad wie fast immer als erster auf. Die Sonne schien in das Zimmer, das er mit Tjerulf teilte. Der rührte sich noch nicht. Durhad zog sich leise an, ging hinaus und verließ das Gasthaus.

Er hatte kein besonderes Ziel und schlenderte durch den Hafen. Von einer Straßenhändlerin kaufte er sich ein wenig Obst und ging weiter. Durhad war nicht zum ersten Mal in einem Hafen, wenn ihn seine Wege auch nicht oft in eine solche Gegend geführt hatten, aber ihn befiel immer wieder eine leichte Wehmut, wenn er so manches prächtige Segelschiff auslaufen oder ankommen sah. Er war Zeit seines Lebens nicht zur See gefahren, und doch übte das Meer einen unerklärlichen Reiz auf ihn aus. Am Ende einer Mole setzte er sich auf die Steine und aß sein Obst.

Es herrschte nur ein leichter Wind und das Meer lag so ruhig wie selten. Nephys stand hinter ihm und so hatte er eine weite Sicht, die an diesem Tag kein Dunst beeinträchtigte. Der Hafenlärm war hinter ihm zurückgeblieben und leise rollten die Wellen gegen die Steine.

Sein Blick schweifte nach Norden. Weithin sichtbar stand in der Ferne der »Einsame Posten«. Von dort, wo Durhad saß, sah er friedlich und unschuldig aus. Es war kaum zu glauben, dass er seit vielen Jahrhunderten seine Geheimnisse wahrte und nur eine Handvoll Menschen davon wussten.

Plötzlich durchzuckte Durhad eine unglaubliche und erschütternde Erkenntnis, und er fragte sich, warum noch kein anderer aus ihrer Gruppe darauf gekommen war, zumindest hatte niemand darüber gesprochen. Konnte es sein, dass sie dort ihren eigenen Ursprung entdeckt hatten? Ithlor und Kerlon hatten in ihrer Schilderung davon gesprochen, dass sie aus einem Stamm von Urmenschen hervorgegangen waren und ihre Artgenossen beschrieben. Offenbar hatten sie nur wenig Ähnlichkeit mit den zeitgenössischen Menschen. Und diese Urmenschen waren ungewöhnlich schnell von der Bildfläche verschwunden. Das hatte er mit Tjerulf selbst herausgefunden.

An ihre Stelle waren die sogenannten »neuen« Menschen getreten. Weder Tjerulf noch die beiden Drachen hatten jemals erklärt, woher sie kamen. War das jetzt vielleicht die Antwort? Das hieße nichts anderes, als dass alle Menschen auf Elveran, so verschieden die Völker auch waren, Nachkommen der Züchtungen der Ax´lán waren. Hatte nicht Angrod in einem kurzen, scheinbar unbedeutenden Satz gesagt, in diesen unglücklichen Kreaturen, die sie entdeckt hatten, floss einst ax´lánisches Blut? Sie alle waren von ihrer grauenvollen Entdeckung zu betäubt gewesen, um darin den Sinn zu erkennen. Doch jetzt, glaubte Durhad, wurde dieser Sinn klar.

Die Menschheit Elverans hatte also ax´lánische Wurzeln. Sie alle waren Nachkommen dieses Volkes aus einer fernen Welt - und das Erzeugnis verbrecherischer Machenschaften. Es war unglaublich und furchtbar, wenn das stimmte, aber je länger er darüber nachdachte, desto mehr schwanden seine Zweifel. Es wäre unbedingt eine Erklärung für die sprunghafte Entwicklung der elveranischen Menschheit, die zwei Jahrtausende vor ihrer Entdeckung im »Einsame Posten« stattgefunden hatte.

Durhad war kein religiöser Mensch, und seine Beobachtungen in der Natur hatten ihn stärker geprägt, als das undurchschaubare Gerede der Prediger. Sie sprachen gern von Göttern und verschwiegen, dass sie diese nur heranzogen, um Dinge zu erklären, die sie selbst nicht verstanden. Aber wenn ihre Glaubensvorstellungen einen wahren Kern hatten, dann konnten, dann mussten mit diesen Göttern die Ax´lán gemeint sein, denn schließlich sollte die Menschheit die Schöpfung von Göttern sein. Dann waren ihre Götter keine himmlisch-geistigen Wesen, sondern sehr irdische, Menschen wie die Elveraner, die aus ihnen entstanden. Und dann durchdrangen ihre Wurzeln ein grauenhaftes Geheimnis, das besser niemals gelüftet werden sollte.

Trotz seiner bedrückenden Gedanken musste Durhad schmunzeln. Wer würde schon glauben, dass er von jemandem abstammte, der einst von einer anderen Sonne nach Elveran gekommen war? Aber schließlich konnte, wer wollte, auch mit dieser Gewissheit leben, denn was änderte sich schon dadurch? Und ob sich darüber irgendwann einmal einpaar Philosophen oder Religionslehrer die Köpfe heiß redeten, für wen, außer für ihre Selbstsucht hätte das eine Bedeutung? Es war so unbedeutend wie ein Regentropfen im Weltmeer.

Was ihn betraf, so wusste Durhad, dass sein Ursprung nicht im »Einsame Posten« liegen konnte, denn sein Bewusstsein erwachte in der Seemark. Allerdings waren seine Erinnerungen an jene Zeit wie ausgelöscht. Er nahm sich vor, mehr darüber herauszufinden, wenn sie dort waren.

Durhad stand wieder auf und ging langsam zurück. Er dachte an Fintas. Wo mochte er jetzt wohl sein? Durhad sträubte sich wider besseres Wissen, an seinen Tod zu glauben. Fintas war gewitzt, und wie immer er aus dem Tunnel zur Insel Schalk verschwunden war, er würde sich zu helfen wissen. In seiner Gestalt würde ihn kein Priester des Ordens von Enkhór-mûl als Mitglied ihrer Gruppe erkennen und sich für ihn interessieren. Das war seine Hoffnung. Und trotzdem war es ihm unbegreiflich, dass er noch nicht zu ihnen zurückgekehrt war. Durhad wollte aber auch nicht daran denken, dass Eichhörner nicht am Ende der Nahrungskette standen.

Als Durhad den »Verlorenen Anker« betrat, war es Mittag, und er entdeckte Valea, Solvyn, Anuim und Freno in der Wirtsstube, bereit zum Essen. Sie winkten Durhad zu sich heran. Er spürte, dass es ihnen nach ihren Erlebnissen schon wieder etwas besser ging. Sie machten immer noch ernste Gesichter, aber ihre Anspannung war ihnen nicht mehr anzusehen. Jedem von ihnen hatte die letzte Nacht gut getan, und wenn die nächste auch wieder so erholsam war, dann würde auch ihre Zuversicht bald wieder zurückkehren.

„Habt ihr Tjerulf und Meneas gesehen?“, fragte Durhad.

„Noch nicht“, antwortete Solvyn. „Wo kommst du her?“

„Vom Hafen. Ich war ausgeschlafen und wollte mir ein wenig die frische Seeluft um die Nase wehen lassen. Wie geht es euch?“

„Heute schon besser als gestern.“

Valea machte ein nachdenkliches Gesicht. Sie schien etwas sagen zu wollen, wusste aber anscheinend nicht, wie sie anfangen sollte.

„Ich sehe dir an, dass dir irgendetwas auf der Seele liegt“, sagte Durhad mit sanfter Stimme. Er wusste nur zu gut, wie sie die letzten Tage gelitten hatte. „Willst du darüber reden?“

Sie zögerte kurz, doch dann überwand sie sich und sagte:

„Ich hatte einen merkwürdigen Traum.“

„So? Kannst du dich noch daran erinnern?“

„Besser als an viele andere Träume. Ich glaube, es war eine Art Selbsttrost nach alldem, was wir erlebt hatten. Ich befand mich in einem Raum mit großen Fenstern und blickte auf ein weites Sternenmeer. Es ähnelte dem Anblick des Himmels in einer mondlosen Sternennacht, nur viel klarer. Ich wusste nicht, wie ich dorthin gekommen war, aber ich war glücklich, so glücklich, wie schon lange nicht mehr. Und ich war nicht allein.“ Für einen kurzen Augenblick schien ihre Stimme zu zittern. „Bei mir waren Idomanê und Erest. Auch sie waren glücklich und sie sprachen mir Mut zu. Es war, als errieten sie meine Trauer. Ich fühlte mich besser und ich wusste, dass es kein Traum war. Ihr wisst, manchmal träumt man und weiß, dass man träumt. Dieses Mal war es genau anders herum. Ich träumte, wusste aber, es war die Wirklichkeit.“

„Weißt du noch, was sie sagten?“

„Nicht den genauen Wortlaut, aber sie meinten, ich sollte mir keine Sorgen machen. Es ginge ihnen gut und sie würden auf uns, nicht nur auf mich, warten, bis wir unseren Auftrag erfüllt haben. Aber möglicherweise sehen wir uns schon vorher wieder.“ Valea wischte sich eine Träne aus den Augen. „Und als ich aufwachte, war ich immer noch glücklich und ich wusste, dass wir uns wiedersehen würden. Ich war beruhigt. Dann schlief ich wieder ein und heute Morgen hatte ich nur noch eine blasse Erinnerung an das, wovon ich träumte. Ich wünschte, es wäre so.“

„Wer weiß, ob es nicht tatsächlich mehr als ein Traum war“, meinte Solvyn.

„Solvyn hat Recht“, sagte Durhad. „Im Schlaf erreichen wir Welten, die uns sonst nicht erreichbar sind. Und besonders so klare Träume, wie sie uns nach dem ersten Erwachen in Erinnerung sind, enthalten oft mehr Wirklichkeit, als wir glauben. Wie fühlst du dich jetzt?“

„Besser, erleichtert. Aber nicht erst, seit ich euch davon erzählt habe. Schon bei meinem letzten Erwachen erfüllte mich eine Linderung meines Schmerzes. Wie immer man den Traum deuten mag, er brachte mir tatsächlich Trost.“

Durhad nickte wissend. Die Oson hatten Valea für kurze Zeit zu sich geholt, um ihre seelische Verfassung zu stärken. Vermutlich hatten sie es irgendwie herausgefunden, wie es ihr ging. Anscheinend war es aber nur Valea so ergangen, denn die anderen konnten sich nicht an einen solchen Traum erinnern. Ihr Traum war Wirklichkeit gewesen, und immer noch musste diese Wirklichkeit vor ihnen verborgen werden. Doch eines war für Durhad sicher. Spätestens, wenn sie das nächste Fragment gefunden hatten, würden die Oson mit ihnen offen in Verbindung treten, um die drei Fragmente zu übernehmen. Meneas irrte, wenn er glaubte, die anderen lägen in Elgen Damoth. Diese Überzeugung war ihm in seine Erinnerung eingepflanzt worden. In Wirklichkeit befanden sie sich auf ihrem Raumschiff in der Umlaufbahn um Elveran und in Sicherheit vor allen, die sie noch begehren konnten.

„Haben sie dir noch etwas über unseren Auftrag erzählt?“, fragte Anuim. „Vielleicht sogar, wo das nächste Fragment versteckt ist.“

Valea schüttelte mit dem Kopf.

„Ich kann mich an kein Wort erinnern.“

„Schade, es hätte uns die Suche erleichtert.“

In diesem Augenblick kamen Tjerulf und Meneas herein. Beide hatten Seile über ihren Schultern.

„Nanu, was habt ihr denn vor?“, fragte Anuim überrascht. „Unsere Bergtour ist doch vorüber.“

„Diese schon“, erwiderte Tjerulf lächelnd. „Nachdem wir aber bereits Wochen unterwegs waren und schon öfter Seile hätten brauchen können, haben wir uns entschlossen, nun endlich welche zu kaufen. Wer weiß, wofür sie noch vonnöten sein werden.“

„Sie sind also nicht für einen bestimmten Zweck?“

Meneas lächelte.

„Nein, mein Wort drauf. Weißt du einen?“

Anuim schüttelte den Kopf.

„Auch nicht.“

Wenn ihre Stimmung nicht noch so bedrückt gewesen wäre, hätte Freno eine makabre Bemerkung gemacht, aber unter diesen Umständen unterließ er es lieber. Vielleicht hatte Anuim sie auch schon angedeutet. Tjerulf und Meneas brachten die Seile auf ihre Zimmer und kamen dann zum Essen.

Den Nachmittag verbrachten sie mit Besorgungen in der Stadt. Auf dem Markt, wo auch einige Schausteller ihre Stände aufgebaut hatten, blieben sie ein wenig länger, als sie es sonst getan hätten, aber nach ihrem Abenteuer im »Einsamen Posten« war ihnen ein wenig nach Abwechslung zumute, bei der sie für eine kurze Zeit vergessen konnten, was geschehen war.

Nach dem Abendessen gingen sie dann früh schlafen. Die nächsten beiden Tage, bis Landsende erreicht war, würden sie die ganze Zeit wieder auf ihren Pferden unterwegs sein und die Nacht im Freien verbringen müssen. Da war es gut, wenn sie sich vor ihrer Abreise noch einmal ausruhen konnten.

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Nephys stand gerade über dem Horizont, als sie durch das Osttor der Stadt ritten. Die Straße führte eine lange Zeit an der Küste entlang, die ein Teil der Bucht von Landsende war. Der Gegend war kahl und öde. So weit ihr Blick reichte, entdeckten sie weder Baum noch Strauch, dafür war die schroffe Hügellandschaft von zahlreichen mehr oder weniger großen Felsbrocken übersät, zwischen denen kurzes Gras wuchs. Bis zum späten Nachmittag sahen sie auch keine menschlichen Behausungen. Zwischen Sprotthausen und Landsende gab es keine Dörfer. Trotzdem lag das Land nicht brach. Hier und dort grasten Weidetiere und gelegentlich erblickten sie einen Schäfer oder Rinderhirten bei seiner Herde.

Obwohl es ein klarer Morgen war, war es ungemütlich kühl, denn der Wind blies von Nordosten, und solange sie an der Küste entlang ritten, waren sie ihm ungeschützt ausgesetzt. An diesem Tag war auf der Straße fast kein Betrieb, denn es war Wochenende. Über der Woche herrschte zwischen Sprotthausen und Landsende allerdings nicht viel mehr Verkehr, da zwischen diesen beiden Städten vergleichsweise wenige Waren ausgetauscht wurden und es gab auch sonst kaum Reisende auf dieser Strecke. Landsende lag sehr abgelegen und besaß keine große Bedeutung. Der Name dieser Stadt spiegelte ihre ganze Einsamkeit wider.

Dann, an einer Stelle, wo keine anderen Reisenden unterwegs waren, hörten sie entfernt die mittlerweile gewohnten Schreie von Ithlor und Kerlon. Sie hatten die Reiter aus großer Höhe entdeckt, was ihnen unter diesen Umständen nicht allzu schwer gefallen war. Im Sturzflug kamen sie zu ihnen herunter, überflogen sie rauschend und zogen dann wieder hoch. Tjerulf und Meneas grüßten mit erhobenen Händen. Doch dieses Mal landeten sie nicht, sondern begleiteten die Reiter durch die Luft, bis sie am Abend ihr Lager aufschlugen.

Am Nachmittag wandte sich die Straße landeinwärts. Nur die Landschaft blieb unverändert. Jetzt lagen die felsigen Hügel zu ihren beiden Seiten. Als Nephys schließlich dem Horizont entgegensank, suchten sie sich einen geschützten Platz in einer Senke. Die beiden Drachen kamen zu ihnen herab und ließen sich einige Schritte von ihrem Lager entfernt nieder.

„Ich glaube, heute werden wir ganz schön im Dunkeln sitzen“, meinte Anuim. „Weit und breit gibt es kein Feuerholz.“

Durhad blickte in den klaren Himmel.

„Kalt wird´s, aber die Monde werden für ein wenig Licht sorgen. Und gegen die Kälte haben wir unsere Decken.“

Das war tröstlich, ersetzte aber nicht die Annehmlichkeiten eines Zimmers in einem Wirtshaus, oder noch besser im eigenen Heim. Immerhin hatten sie die Gewissheit, in Ruhe schlafen zu können, so lange die beiden Drachen über sie wachten.

Der Wind hatte über Nacht zugenommen, aber keinen Regen herangeführt. Er wehte steif von der See her und ihnen kalt ins Gesicht. Das machte den Ritt nicht angenehmer. Die kahle Landschaft bot ihnen kaum Schutz. Erst als sie am späten Nachmittag den Wald von Landsende erreichten, hielt er den zum Sturm ausgewachsenen Wind ein wenig von ihnen ab. Dafür setzte nun der erwartete Regen ein. Missmutig klappten sie die Kragen ihrer Mäntel hoch und zogen ihre Hüte tiefer ins Gesicht. Ein letzter trauriger und nasser Wanderer kam ihnen entgegen, denn war die Straße bis nach Landsende leer. Kurz vor der Stadt erreichten sie den Waldsaum und zwischen den Bäumen erwarteten sie die beiden Drachen.

„Jetzt seid ihr fast in der Stadt“, meinte Kerlon. „Wir haben die Gegend nach Spähern abgesucht. Es scheinen keine in der Nähe zu sein, zumindest sind Ithlor und mir keine aufgefallen, die wir kennen.“

„Vielleicht lassen sie uns endlich einmal in Ruhe“, meinte Meneas.

„Wir werden euch jetzt für einige Zeit wieder verlassen. Kaphreigh ist unbewohnt. Dort werden wir auf euch warten.“

„Ist gut“, sagte Tjerulf. „Die Insel ist eine Tagesreise vom Festland entfernt. Wenn wir morgen schon ein Boot bekommen, könnten wir in der Nacht auf Übermorgen ankommen. Das ist der früheste Zeitpunkt.“

„Falls der Sturm sich legt“, wandte Meneas ein. „Ich glaube nicht, dass uns jemand unter diesen Umständen hinüberfährt.“

„Wir werden warten“, versprach Ithlor. „Ihr werdet uns nicht entgehen, wenn ihr dort ankommt. Bis dahin haben wir ein wenig Zeit, uns gründlicher auf der Insel umzusehen, als wir es bisher tun konnten. Vielleicht entdecken wir ja einen Hinweis.“

Tjerulf nickte.

„Das würde uns einiges erleichtern. Gut, wir treffen uns auf Kaphreigh wieder. Einen guten Flug und lasst euch nicht wegblasen.“

Die beiden Drachen lachten. Verließen den Wald und tauchten kurz darauf in die Wolken ein.

„Und wir sollten zusehen, dass wir endlich ein Wirtshaus finden“, sagte Anuim mit regennassem Gesicht. „Allmählich wird es ungemütlich. Außerdem muss bald die Dämmerung einsetzen.“

Bis nach Landsende war es kaum mehr eine Meile und der Sturm wehte jetzt wieder scharf und böig über das Land. Der Regen peitschte in ihre Gesichter.

Landsende besaß keine Stadtmauer und auch keine Stadtwache, so konnten sie ungestört hineinreiten. Es war das erste Mal, das sie dort waren. Bis dahin hatte keinen von ihnen eine Reise jemals nach Landsende verschlagen.

Wie der Name der Stadt andeutete, lag es weit entfernt von allem. Und sie war eine ruhige Stadt, nicht nur, weil an diesem Abend kaum jemand in den Straßen unterwegs war. Landsende war zwar eine Hafenstadt, nahm an dem Handelsverkehr an der Ostküste aber nur wenig teil, denn die meisten Güter wurden in Sprotthausen angelandet oder verschifft. Und diesen Umstand konnte man der Stadt ansehen. Landsende war sichtbar ärmer als Sprotthausen und die Häuser in einem erkennbar schlechteren Zustand. Es war keine Stadt, in der Fremde länger blieben als unvermeidlich und an diesem Abend bot sie infolge des Wetters einen noch trostloseren Eindruck.

Sie mussten einige Zeit nach einem Gasthaus suchen und erst, nachdem sie einen Einwohner, der sich dick vermummt durch die Straßen schlich, befragt hatten, fanden sie das einzige der Stadt. Seine Fassade sah nicht gerade einladend aus, aber auch nicht so übel, wie sie es befürchtet hatten. Und trotzdem erwartete sie eine unangenehme Überraschung.

„Ob der Wirt überhaupt weiß, nach wem er sein Wirtshaus benannt hat?“, fragte Anuim finster.

Auf einem großen Holzschild über der Eingangstür stand in abblätternden Buchstaben »Ax´láner-Klause«. Verständlich, dass dieser Name bei den Ankömmlingen ein deutliches Unbehagen hervorrief.

„Bestimmt nicht“, sagte Valea. „Es sei denn, er hat eine ganz besondere Art von Geschichtsverständnis.“

„Ob der Orden von Enkhór-mûl auch Wirtshäuser betreibt?“, fragte Freno.

„Das hätte uns noch gefehlt“, meinte Solvyn.

Aber war dieser Gedanke wirklich so abwegig? Der Orden war wie jeder andere mehr oder weniger geheime Bund auf Nachrichten auch aus dem Volk angewiesen und wo konnte er sie leichter erlangen als dort, wo sich viele Menschen trafen. Und dazu gehörten eben auch Wirtshäuser. Unabhängig davon mochte auch manch ein Gastwirt heimlich diesem Orden angehören, ohne dass je irgendwer davon erfuhr.

Als sie die Gaststube betraten, lag sie in einem trüben Licht. Was der Name versprach, schien das Innere des Hauses zu halten. Nur zwei armselige Öllampen verbreiteten eine kümmerliche Helligkeit. Wenn ihnen der Fußgänger nicht gesagt hätte, dass es in ganz Landsende nur ein Gasthaus gab, wären sie auf dem Fuße umgedreht und wieder hinausgegangen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als es mit diesem zu versuchen.

Sie konnten keinen anderen Gast erblicken. Es dauerte einige Zeit, bis jemand auf sie aufmerksam wurde. Nachdem sie sich ein wenig lauter als gewöhnlich verhalten hatten, hörten sie Schritte. Dann öffnete sich eine Tür jenseits des Schanktisches und ein kleines, kahles Männchen kam herein.

„Oh, Gäste“, stellte er mit ungewöhnlich hoher Stimme fest. „Verzeiht, dass ihr warten musstet, aber ich war hinten im Haus beschäftigt. Was kann ich für euch tun?“

Wie sich herausstellte, waren sie außer einem anderen Reisenden die einzigen Gäste zu dieser Zeit. Nachdem der Wirt ihnen ihre Zimmer zugeteilt hatte, ging er mit Anuim und Meneas nach draußen, um die Pferde unterzustellen. Es war weniger aus Hilfsbereitschaft, dass die beiden ihn begleiteten, sondern mehr aus Misstrauen, denn sie wollten sichergehen, dass die Tiere vernünftig untergebracht waren. Sie hatten den Wirt noch nicht wissen lassen, dass sie die Stellplätze wahrscheinlich für mehrere Tage benötigten, und ehe sie es ihm sagten, wollten sie die Gegebenheiten überprüfen.

Aus einer dunklen Ecke blickte ihnen der Mann hinterher, der vor ihnen im Gasthaus abgestiegen war. Der Tisch vor ihm war leer. Er trank nicht, hatte sich nichts zu essen bestellt und rauchte nicht. Ein leises, kaum vernehmbares Summen war zu hören, als er den eintretenden Gästen sein Gesicht zuwandte.

Es war sicher nicht der beste Stall, aber er war einigermaßen sauber und nicht erfüllt von stickiger Luft. So sehr der Sturm draußen auch tobte, es zog nicht.

„Es war bestimmt kein Vergnügen, durch den Sturm zu reiten“, meinte der Gastwirt.

Er hatte sich zwischendurch als Kilrod vorgestellt.

„Bestimmt nicht“, gab ihm Meneas Recht.

„Darf ich fragen, was ihr in dieser Gegend vorhabt?“

„Wir sind in einer geschäftlichen Angelegenheit hier“, antwortete Meneas.

Kilrod nickte und gab sich mit der Antwort zufrieden.

Sie erfuhren von ihm den Grund für den Namen des Gasthauses und er war nicht so schicksalsträchtig, wie sie angenommen hatten.

Das Meer vor der Ostküste Päridons hieß seit alters her das Meer von Ax´lûm und niemand kannte den Ursprung dieses Namens. Doch die Seefahrer, die von Süden herkommend die Stadt Landsende erreichten, hießen bei den Einwohnern Ax´láner, weil sie eben das Meer von Ax´lûm befuhren. Das hatten Meneas und seine Freunde nicht gewusst. Und immer wieder kehrten welche von ihnen in dieses Wirtshaus ein. Daher trug es den Name »Ax´láner-Klause«. Dass diese Namensgebung für seine Gäste eine weitaus dramatischere Bedeutung hatte, davon ahnte wiederum der Wirt nichts und er erfuhr es auch nicht.

So trostlos ihnen das Wirtshaus vorgekommen war, und der heulende Sturm und der gegen die Fenster schlagende Regen trugen ihren Teil dazu bei, so sehr schien sich der Wirt zu bemühen, den Wünschen seiner Gäste gerecht zu werden. Er ließ Badewasser zubereiten und ebenso ein nicht zu knappes Abendessen. Alles in allem wurde ihr erster Eindruck durch die Umstände schließlich widerlegt.

Als sie sich zum Abendessen in der Gaststube einfanden, hatte der Wirt einige Lichter mehr angezündet und sie erschien ihnen in einem freundlicheren Bild.

Mitten in ihrer Mahlzeit stutzte Solvyn. Ihr war plötzlich ein unerwartetes grünes Leuchten unter der Kleidung von Valea, die ihr gegenübersaß, aufgefallen. Im gleichen Augenblick ertönte ein leises Summen.

„Was ist das?“, fragte sie verdutzt und zeigte auf Valeas Brust.

Sie sah an sich herunter und erstarrte. Nun hatten es Tjerulf, Freno und Durhad auch gesehen.

„Es ist - verdammt!“

Hastig blickte Valea sich um, dann zog sie das Amulett hervor, das ihnen die Nähe eines Roboters ankündigte. Sie dachte nur selten daran. Und in all der Aufregung im »Einsamen Posten« hatte sie es völlig vergessen, denn sie trug es nicht um den Hals, sondern in einer Hemdtasche. Es leuchtete hell in ihrer Hand.

„Ein Roboter!“, sagte sie alarmiert. „Irgendwo in der Nähe.“

Als sie das Amulett in ihren Händen hielt, fiel den anderen auch wieder ein, welchem Zweck es diente. Sie hatten es nach ihrer unangenehmen Erfahrung im Schafsloh von Tjerulf bekommen. Er besaß einige sonderbare Gerätschaften, das war ihnen mittlerweile bekannt, und dieses Amulett war eins davon. In der Zwischenzeit hatte sich aber so viel ereignet, dass es schon fast wieder in Vergessenheit geraten war. Erst jetzt stellten sie fest, dass es im »Einsame Posten« auch gar nichts angezeigt hatte, obwohl es die ganze Zeit hätte lärmen müssen. Tjerulf behauptete später, dass all die Maschinen um sie herum die Arbeitsweise des Amuletts wahrscheinlich beeinträchtigt hatten. Das war wirklich der Grund, aber eine genauere Erklärung hätten sie nicht begriffen.

Durhad und Tjerulf nahmen ihre Lichtschwerter in die Hand, ohne die Klingen einzuschalten, und Meneas vergewisserte sich, dass er schnell sein Schwert ziehen konnte. Seit er damit zwei Kampfroboter zur Strecke gebracht hatte, war es ihm lieber geworden als die sonderbaren Waffen der Sinaraner, die ihm immer noch etwas unheimlich waren.

Plötzlich bewegte sich etwas in der hinteren Ecke des Schankraumes. Ein Stuhl schleifte über den Boden und dann folgten schwere Schritte. Ohne auf die Gäste zu achten, verließ der Gast, von dem ihnen Kilrod erzählt hatte, die Gaststube. Nur Valea, Meneas, Anuim konnten ihn sehen, die anderen saßen mit dem Rücken zu ihm. Wenn er nicht diesen steifen, unnatürlichen Gang gehabt hätte, hätte es ein ganz gewöhnlicher Mann sein können. Er ging durch die Tür und verließ das Haus. Sie erkannten es daran, dass für kurze Zeit das Heulen des Windes zunahm und dann die Eingangstür zuschlug.

„Das war er!“, sagte Meneas hastig. „Verfolgen wir ihn?“

Tjerulf und Durhad sprangen auf.

„Was denkst du denn?“, erwiderte Tjerulf und verließ ohne zu zögern mit Durhad die Gaststube. Meneas und Freno folgten. Meneas gebot Solvyn, Valea und Anuim im Gasthaus zu bleiben, und ließ sich von Valea das Amulett geben.

Ein kurzes Aufheulen des Sturmes und ein Zuknallen der Tür, dann waren sie fort.

Auf den Aufruhr aufmerksam geworden, kam kurz darauf der Gastwirt herein.

„Was ist hier denn für eine Unruhe?“, fragte er, mehr aus Sorge um seine Wirtsstube als aus Verärgerung.

Valea erzählte ihm von dem unheimlichen Gast und ihrer Befürchtung, dass er etwas im Schilde führte. Daher verfolgten ihre Freunde ihn. Aber er müsse nichts befürchten.

Sie fragte Kilrod nach diesem Mann aus, aber viel konnte sie nicht erfahren. Er war merkwürdig, musste der Wirt zugeben. Als er am Nachmittag auftauchte und sich mit sonderbar tonloser Stimme auf unbestimmte Zeit im Gasthaus einquartierte, war er ihm schon sonderbar vorgekommen. Anstatt auf sein Zimmer zu gehen, war er in der Wirtsstube sitzengeblieben, in der hintersten, dunkelsten Ecke, und hatte sich bis zu dem Zeitpunkt, als er sie verlassen hatte, nicht gerührt. Er hatte nichts bestellt und nichts gesprochen, nur einmal von ihm verlangt, kein helles Licht anzumachen. Aber er hatte auch nichts getan, was es gerechtfertigt hätte, ihn hinauszuwerfen. Er hatte sogar das Zimmer für die nächsten zwei Tage im Voraus bezahlt. Sein Name lautete Dragur Klem. Aber mehr wusste Kilrod nicht von ihm. Was sie ihm vorwarfen?, fragte er.

„Der Fremde ist uns nicht unbekannt“, erklärte Valea. „Wir begegneten uns schon früher und hatten mit ihm einigen Ärger. Damals ist er uns entkommen. Macht Euch aber keine Sorgen. Wir werden diese Angelegenheit nicht in Eurem Haus austragen.“

Kopfschüttelnd ging der Wirt wieder hinaus. Hoffentlich hatte die Frau Recht.

Tjerulf, Durhad, Meneas und Freno hatten sich nicht die Zeit genommen, ihre Mäntel überzuziehen. Als sie auf der Straße standen, war der Roboter trotzdem schon in der Dunkelheit verschwunden. Die Straßen waren nicht beleuchtet und die dichten Wolken und der heftige Regen sorgten dafür, dass das Mondlicht nicht bis zu ihnen hinabdringen konnte. Sie liefen kurz in die eine, dann in die andere Richtung, aber die Maschine blieb verschwunden und kurze Zeit später war das Amulett erloschen.

„Er ist weg!“, rief Meneas durch Sturm den Regen und hielt das Amulett hoch.

Unverrichteter Dinge kehrten sie in das Wirtshaus zurück. Triefnass kamen sie in die Wirtsstube, wo Valea, Solvyn und Anuim auf sie warteten.

„Und?“, fragte Anuim. „Habt ihr ihn?“

„Er ist entwischt“, erklärte Tjerulf, aber seine Stimme drückte kein großes Bedauern aus.

„Was wollen wir jetzt machen?“

Meneas gab Valea das Amulett zurück.

„Während wir uns etwas Trockenes anziehen, achtet ihr darauf, ob er wieder in unsere Nähe kommt“, sagte er. „Dann essen wir weiter.“

„Er wird sich nicht weit entfernen“, vermutete Tjerulf, als sie wieder zusammen waren. „Schließlich soll er uns beobachten. Ich glaube aber nicht, dass er hierher zurückkommt. Er weiß, dass er sich uns jetzt verraten hat. Vermutlich wird er sich draußen, aber in der Nähe aufhalten.“

Das Amulett lag auf dem Tisch und war dunkel.

„Wie weit reicht es eigentlich?“, fragte Solvyn.

Tjerulf zuckte mit den Achseln. Darüber hatten ihm die Oson nichts gesagt.

„Morgen müssen wir uns nach einem Boot umsehen“, sagte Meneas. „Ich hoffe, dass sich der Sturm bis dahin gelegt hat, sonst wird kaum einer bereit sein, uns hinüberzufahren. Wir müssen die Augen aufhalten und du solltest das Amulett von nun an offen tragen, Valea, damit es uns sofort auffällt, wenn es uns wieder warnt. Ich bin sicher, dass der Roboter sich irgendwo in unserer Nähe aufhalten wird.“

„Glaubst du, es ist ein Kampfroboter, Tjerulf?“, fragte Solvyn besorgt.

Tjerulf schüttelte mit dem Kopf.

„Er unterschied sich kaum von dem anderen. Ich glaube eher, dass es sich um einen Aufklärungsroboter handelt von der Art, wie der im Schafsloh. Falls Alben Sur sein Wort hält, ist er nur zum Zweck der Beobachtung in unserer Nähe.“

„Vertraust du ihm?“

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Rechnen sollten wir mit allem. Vielleicht wäre es gut, wenn heute Nacht immer einer Wache hält und das Amulett im Auge behält. Wir sind sieben, und wenn jeder eine Stunde wach bleibt, ist es nicht zu viel.“

Die anderen erklärten sich einverstanden.

„Das kann ja schön unheimlich werden, bei diesem Sturm“, fand Freno.

Solvyn lächelte.

„Wenn du das schon behauptest, was soll ich dann sagen?“

„Eigentlich ist er doch nur eine Gefahr, vielleicht auch nur lästig, solange wir noch auf dem Festland sind“, meinte Valea. „Er wird uns kaum auf der Fahrt zur Insel begleiten. Und dann haben wir Ruhe vor ihm.“

„Ich wünschte, du hättest Recht“, sagte Tjerulf. „Aber solche Maschinen können sich sehr gut unter Wasser bewegen und Luft benötigen sie nicht. Er wird uns folgen, wenn wir ihn nicht schon hier unschädlich machen können.“

„Warten wir´s ab“, meinte Anuim und gähnte. „Weckt mich, wenn ich mit der Wache an der Reihe bin.“

Auch die anderen gingen schlafen. Nur Solvyn blieb noch einige Zeit in ihrem Zimmer wach. Anschließend war Valea mit der Wache dran.

Kilrod hatte hinter seiner Küchentür gelauscht und war schließlich zu dem Schluss gekommen, dass seine Gäste keine gewöhnlichen Gäste waren. Worüber die nur sprachen. Von solchen Dingen hatte er noch nie etwas gehört. Wenn er auch nichts verstand, glaubte er herausgehört zu haben, dass Gefahr bestand, und sein merkwürdiger Gast ebenfalls kein gewöhnlicher Gast war. Eine Maschine sollte er sein? So ein Unsinn. Hoffentlich gab es keinen Ärger. In dieser Nacht schlief er unruhiger als sonst. Immer wieder wachte er auf und horchte. Aber bis zum Morgen blieb es ruhig, abgesehen von dem immer noch tosenden Sturm. Und den Mann, der sich Dragur Klem nannte, sah er nie wieder.

Weit weg war er jedoch nicht, denn wie das Amulett anzeigte, war er einige Male in der Nacht in der Nähe des Gasthauses gewesen, und jedes Mal glomm das Amulett grün auf und summte leise. Aber es wurde nie so hell und so laut, wie am Abend zuvor in der Gaststube. Also hatte der Roboter zumindest nicht das Haus betreten.

Beim Frühstück seiner Gäste, versuchte Kilrod durch besonders große Ohren mehr zu erfahren. Aber sie sprachen nur wenig über diese Sache. Ob sie glaubten, dass dieser Fremde zurückkehren würde?, fragte er, denn schließlich hatte er schon die Zimmermiete für diesen Tag bezahlt.

„Macht euch keine Gedanken wegen des Geldes“, meinte Meneas. „Dass er wiederkommt, ist unwahrscheinlich, und dass er schon bezahlt hat, bedeutet ihm nichts. Das Geld könnt Ihr ohne ein schlechtes Gewissen behalten.“

„Na, wenn Ihr meint.“

Das Wetter war tatsächlich besser geworden. Es war klar und sonnig, aber der Wind war immer noch stürmisch. Und wenn sie für diesen Tag schon ein Boot bekamen, dann stand ihnen eine unangenehme Überfahrt bevor. Es gab einige in der Gruppe, die sich wünschten, dass sie erst am folgenden Tag absegeln konnten, wenn sich der Sturm hoffentlich noch mehr gelegt hatte.

Sie mussten in den Hafen. Er war nicht weit weg, aber die Straßen waren übersät von Pfützen, und da sie kaum befestigt waren, hatten sie sich über Nacht in Schlammwege verwandelt. Offensichtlich waren schon einpaar Fuhrwerke unterwegs gewesen, denn die Abdrücke der Hufe und Räder hatten deutliche Spuren hinterlassen.

Bisher hatte das Amulett, das Valea nun offen um den Hals trug, noch nichts angezeigt und in den Straßen war ihnen noch kein Mann aufgefallen, der Ähnlichkeit mit dem in der Gaststube hatte. Aber dass sie von ihm beobachtet wurden, stand außer Frage. Nicht nur Tjerulf war sicher, dass ihnen der Roboter weiter auf den Fersen war.

Im Hafen herrschte wenig Betrieb. Bei so einem Wetter waren kaum Segler unterwegs. Einpaar Männer beluden ein Frachtschiff mit Gütern von zwei Fuhrwerken. Ein Stück weiter entdeckten sie ein kleines Boot, das ihren Ansprüchen genügen würde. Es war ein Einmaster mit einer Kajüte. Es dümpelte ziemlich heftig an der Reede auf und ab.

Zuerst sah es so aus, als ob die Mannschaft von Bord gegangen war, aber kurz bevor sie es erreicht hatten, kam ein Mann an Deck. Er musterte die sieben Leute, die sich ihm näherten, kurz, machte sich dann aber an seinem Segel zu schaffen.

Er war unübersehbar ein Tar-Mensch, also musste das Boot aus Tartuum im Südosten Päridons gekommen sein. Und es hatte einen weiten Weg entlang der Ostküste nach Norden zurücklegen müssen, um Landsende zu erreichen. Das Meer von Ax´lûm galt als raues Meer, und wenn der Segler die Gefahren auf sich genommen hatte, musste er ein guter Seemann sein.

Er zeigte die kennzeichnenden Merkmale eines Taren, großgewachsen und stämmig von Gestalt mit einer goldgelben Haut und schütteren, blonden Haaren. Sein langer Vollbart wehte verwegen im Wind und die wettergegerbte Haut zeugte davon, dass er sie oft dem Wind, der Sonne und dem Regen aussetzte. Das konnte ihr Mann sein.

Der Tar wandte sich ihnen erst zu, als sie sich bis auf wenige Schritte seinem Boot genähert hatten. Offenbar wollten sie doch etwas von ihm. Er schwieg solange, bis Meneas ihn ansprach.

„Ich grüße Euch. Seid Ihr der Skipper von diesem Schiff?“

Der Tar kniff seine Augen zusammen, damit er die Fremden gegen die Sonne besser sehen konnte.

„Wer will das wissen?“, rief er zurück.

„Meneas Dolgard. Erlaubt Ihr mir, an Bord zu kommen? Ich komme allein.“

Nach kurzem Zögern machte der Tar eine einwilligende Handbewegung. Meneas passte einen Augenblick ab, in dem das Boot von einer Welle angehoben wurde, und sprang hinüber. Tjerulf, Durhad, Valea, Solvyn, Anuim und Freno blieben an Land. Sie hörten nur Bruchstücke der Verhandlung.

„Danke“, sagte Meneas. „Ich will auch gleich zur Sache kommen, denn ich nehme an, Ihr habt zu tun.“

„Heute weniger als sonst. Was gibt’s?“

„Darf ich zunächst Euren Namen erfahren? Wir sind hier, um Euch ein Geschäft vorzuschlagen.“

„Marbuk heiße ich. So, ein Geschäft also. Na, dann, ich höre.“

„Könnt Ihr uns zur Insel Kaphreigh hinüberbringen, und zwar so bald wie möglich?“

„Nach Kaphreigh?“, fragte Marbuk verwundert. „Was wollt ihr denn dort? Dort gibt es doch nichts.“

„Ihr habt Recht. Die Insel ist unbewohnt, und auch sonst hat sie nicht viel zu bieten. Sie ist vollkommen langweilig. Und trotzdem wollen wir dort hin.“

Marbuk strich sich nachdenklich durch seinen Bart und blickte von einem zur anderen.

„Ihr alle, oder kommen noch mehr?“

„Nur wir.“

„Warum?“

„In eigener Sache, wenn es Euch recht ist. Ihr sollt uns nur hinüberfahren und wieder zurückbringen, wenn es Eure Zeit erlaubt.“

„Wie lange wollt ihr drüben bleiben?“

„Solange wir brauchen. Rechnet mit zwei bis drei Tagen, höchstens vier.“

Marbuk überlegte. Ihm war anzusehen, dass er gern mehr über den Grund gewusst hätte, aber offensichtlich war dieser Meneas nicht bereit, darüber zu sprechen. Schließlich nickte Marbuk.

„Also gut, aber ich mache es nicht umsonst.“

„Davon war auch nicht die Rede. Was ist Euer Preis?“

„Zehn Baant für jeden. Vor Abfahrt die Hälfte.“

„Das ist viel“, meinte Meneas.

Marbuk blickte zum Himmel.

„Die Überfahrt ist nicht ungefährlich. Der Sturm wird wenigstens noch zwei oder drei Tage andauern und gegen Abend wieder zunehmen. Vielleicht wollt ihr ja auch warten, aber dann bin ich wahrscheinlich schon wieder weg.“

„Hm, vier Baant, wenn wir drüben ankommen und fünf, wenn wir wieder hier sind.“

Marbuk überlegte.

„Einverstanden, aber ohne Verpflegung.“

„Keine Sorge, wir bringen unseren eigenen Proviant mit.“

Meneas war sicher, dass bei unruhiger See sowieso keiner etwas essen würde, solange sie auf dem Boot fuhren.

„Wie lange werden wir unterwegs sein?“, fragte Meneas.

„Der Wind steht nicht günstig und der Weg ist weit. Acht bis zehn Stunden, wenn sich das Wetter nicht sehr verschlechtert.“

„Und Ihr glaubt, Euer Boot hält das aus?“

Marbuk lachte.

„Es hat schon mehr standgehalten. Hätte unsere Verhandlung sonst einen Sinn gehabt? Ich werde aber erst morgen früh ablegen, sonst kommen wir zu tief in Nacht. Ich kenne das Gebiet dort nicht sehr gut.“

„Wir werden morgen in der Dämmerung hier sein.“

„Ich werde auf euch warten. Also neun Baant, vier drüben, fünf, wenn wir wieder hier ankommen.“

Meneas reichte ihm die Hand. Nach päridonischem Brauch war damit das Geschäft verbindlich. Dann ging er wieder an Land.

„Morgen früh legen wir ab“, meinte er lächelnd. „Esst nicht so viel vorher. Marbuk sagt, der Sturm geht noch einpaar Tage so weiter.“

„Marbuk?“, fragte Solvyn.

„So heißt unser Skipper.“

Sie winkten ihm kurz zu und gingen zurück zum Wirtshaus.

Kilrod war ein wenig überrascht, als seine Gäste ihn baten, ihre Pferde für einpaar weitere Tage unterzustellen, und er war noch überraschter, als er erfuhr, dass sie für diese Zeit zur Insel Kaphreigh hinüberfahren wollten. Allerdings überraschte es ihn weniger, dass sie ihm den Grund auch dafür nicht nennen wollten. Natürlich war es ihr Geschäft und es ging ihn nichts an, aber trotzdem hätte er gern mehr darüber gewusst.

Immerhin versprach ihr Besuch aber eine ungewöhnlich gute Einnahme, denn viele Gäste kamen nicht nach Landsende und einundzwanzig Übernachtungen, die Mahlzeiten und zusätzlich die Stellplätze für die Pferde würden ein ansehnliches Sümmchen ergeben. Er hoffte nur, dass sie heil von ihrer Bootstour zurückkehren würden. Wenn er gewusst hätte, wie einige der Abenteuer seiner Gäste ausgegangen waren, hätte er wohl einen Vorschuss gefordert, aber den erhielt er unerwartet am folgenden Morgen freiwillig von ihnen. Dafür war er nicht knauserig mit dem Proviant, den er ihnen mitgab.

Vermutlich war der Roboter seit der letzten Nacht nicht mehr in ihrer Nähe gewesen, denn das Warnamulett hatte nicht noch einmal aufgeleuchtet. Dass das ein gutes Zeichen war, bezweifelten sie, denn er hatte bestimmt nicht von ihnen abgelassen. Sicher hatte er Alben Sur die Bilder aus dem Hafen übertragen, als sie das Boot angeheuert hatten und die Schlüsse, die man daraus ziehen konnte, waren nicht besonders schwierig zu ziehen. Kaphreigh musste das Ziel sein, denn dort lag das Versteck eines weiteren Kristallfragmentes. So nahmen sie an, dass der Roboter, sie nannten ihn jetzt selbst Dragur, ihnen schon vorausgegangen war, und auf der Insel auf sie wartete. Dort war er dem Orden zweifellos nützlicher als in Landsende.

Das konnte für sie von Vorteil sein, denn schließlich war die Insel unbewohnt und er musste sich schon sehr geschickt anstellen, um ihnen nicht aufzufallen. Allerdings war Kaphreigh nicht kahl. Tjerulf war aber sicher, dass, wenn sie selbst Dragur nicht entdeckten, es die Drachen tun würden. Trotz allem wollten sie in ihrer Vorsicht nicht nachlassen, denn sie mochten sich ja auch irren und er war noch in der Stadt. Ihre Absicht, ihn außer Gefecht zu setzen, hatten sie noch nicht aufgeben. So trug Valea das Amulett weiterhin offen und auch in der folgenden Nacht wachte immer einer von ihnen.

Wie abgemacht, war Marbuks Segler bei Einbruch der Dämmerung seeklar. Mit gemischten Gefühlen betrachteten Meneas und seine Freunde die aufgewühlte See. Der Sturm blies zwar nicht so stark wie am Abend ihrer Ankunft in Landsende, aber immer noch heftig genug, um eine sehr unruhige Überfahrt zu verheißen. Immerhin hatte es nicht wieder angefangen zu regnen und der Wind hatte sich gedreht und kam jetzt aus einer günstigeren Richtung. Vielleicht konnten sie es tatsächlich in acht Stunden schaffen. Aber selbst dann würden einige noch reichlich seekrank werden.

Marbuk grinste, als er sah, wie unbeholfen einige in das schwankende Boot einstiegen.

„Na“, meinte er. „Sehr viele Seefahrten habt ihr bestimmt noch nicht gemacht, oder?“

Er erhielt keine Antwort, denn sie hatten genug damit zu tun, einigermaßen geradeaus in die Kajüte zu kommen. Als alle an Bord waren, löste Marbuk die Trosse und stieß das Boot von der Reede ab. Dann zog er das kleine Segel auf, bei diesem Wind war es groß genug und ließ das Boot auf die offene See treiben.

Kaum hatten sie das verhältnismäßig ruhige Wasser des Hafens verlassen, begann das Elend. Solvyn und Freno waren die Ersten, die seekrank wurden. Um ein größeres Malheur unter Deck zu vermeiden, gingen sie nach draußen. Aber bei dem Auf und Ab des Horizontes wurde ihr Zustand nicht besser. Vielleicht brachte die frische Luft Linderung, aber einen Unterschied zu erkennen, ließ ihr Befinden nicht zu.

Das Boot rollte und schlingerte und obwohl es nicht regnete, warf die Gischt so viel Wasser über Deck, dass die Passagiere und der Skipper bald genauso nass waren wie nach einem heftigen Regenguss.

Während Marbuk zusah, wie sich immer mehr seiner Gäste an Deck versammelten, hielt er schmunzelnd und unbeeindruckt vom Wetter sein Boot auf Kurs. Mehr als einmal wiederholte er seine Aufforderung, sich gut festzuhalten, denn bei dieser See würde es nicht leicht sein, jemanden wieder an Bord zu holen, der ins Wasser gefallen war.

Von Land her war die Insel Kaphreigh kaum mehr als ein dünner, grauer Streifen am Horizont und nur an sehr klaren Tagen konnte man die Berge auf ihr erkennen. Dieser Tag jedoch war kein klarer Tag und nicht einmal der Streifen war in der diesigen Luft aufgewirbelten Wassers zu sehen. Aber im Laufe des Vormittags zeichnete sich ihr Ziel immer deutlicher ab. Tjerulf, dem es von allen noch am besten ging, bewunderte die Fähigkeit Marbuks, bei diesem Wetter so zielsicher Kurs zu halten. Am Morgen hatte er sich schon gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, die wenigen Tage abzuwarten, bis der Sturm sich legte, aber sich dann doch entschieden, seine Einwände für sich zu behalten. Wenn Marbuk kein Selbstmörder war und unter diesen Umständen bereit, in See zu stechen, dann würde eine Überfahrt wohl möglich sein. Der Tar hatte auf ihn den Eindruck eines erfahrenen Seebären gemacht, der wohl wusste, was er tat, und dem man vertrauen konnte.

Meneas Rat und Vermutung waren richtig gewesen, nämlich die Vermutung, dass keiner auf der Überfahrt etwas essen würde, und der Rat, nicht allzu viel zu frühstücken. Allen, die ihn nicht befolgt hatten, also Freno und Anuim, schien es außer Solvyn noch ein wenig schlechter zu gehen als den anderen. Und das Boot des Elends setzte unbeirrt seinen Kurs fort.

Dann schlug das Schicksal zu. Eine beachtliche Welle schlug über sie hinweg und alle hielten sich unwillkürlich an Seilen und Haken und was immer sie zu fassen bekamen fest. Aber als sie vorüber war, fehlte Anuim. Kurz vorher hatte er sich in einem neuen Übelkeitsanfall über die Reling gebeugt und der Brecher hatte ihn in die See gerissen.

Marbuk vollführte geistesgegenwärtig eine halsbrecherische Wende, die durch die Beweglichkeit des kleinen Bootes erleichtert wurde. Tjerulf sprang auf und riss eines der Seile aus seiner Tasche, die sie in Sprotthausen gekauft hatten. Mit einer Hand an einem der Taue, die den Masten hielten, blickte er suchend auf die aufgewühlte See.

„Dort!“, rief Marbuk.

Gar nicht so weit entfernt von dem Boot sahen sie wild um sich schlagende Arme. Wenn Tjerulf gut traf, konnte er Anuim noch erreichen. Hoffentlich bemerkte er, dass sie das Seil nach ihm auswarfen. Der erste Wurf ging jedoch fehl, weil eine Sturmböe das Seil erfasste, und endete ein unerreichbares Stück entfernt von Anuim. Beim zweiten Mal hatte Tjerulf mehr Glück, und sicher auch Anuim. Das Seilende traf ihn genau ins Gesicht. Hastig griff er danach und Tjerulf und Meneas zogen ihn zurück an Bord. Prustend und erschöpft lag er auf den Planken. Er war etwas benommen und es dauerte eine Weile, bis er sich erholte.

Die anderen kümmerten sich um ihn.

„Haltet euch gut fest!“, ermahnte Marbuk sie nochmals. „Besser ihr geht unter Deck!“ Dann schwankte er zu seinem Ruder zurück.

Natürlich ging keiner unter Deck. Aber von nun an beherzigten sie seinen Ratschlag umso verbissener.

„Hast du es geahnt!?“, fragte Valea, mit ihrer Stimme gegen den Sturm ankämpfend.

„Was!?“, rief Tjerulf zurück.

„Dass wir das Seil hier brauchen!“

Er schüttelte mit dem Kopf und lächelte.

„Nicht hier!“

Kaphreigh wurde größer. Über dem grauen Band wuchsen die Berge empor und das Grau wurde zu einem gelben Streifen von Sand und Felsen und darüber zu einem grünen Streifen von Gras und Sträuchern. Die Berge waren nicht sehr hoch und je näher sie kamen, desto deutlicher wurde, dass sie vollkommen von Wald bewachsen waren. Von Kerlon und Ithlor fehlte jede Spur, aber das hatten sie nicht anders erwartet. Sie waren sicher, dass die beiden von irgendeiner geschützten Stelle die Annäherung des Bootes beobachteten. Dass sie Dragur nicht entdecken konnten, bedeutete gar nichts.

Je näher sie der Insel kamen, desto ruhiger wurde das Wasser und desto leichter fiel Marbuk die Steuerung des Bootes. Er lenkte es in eine kleine Bucht an der Westseite und warf im flachen Wasser Anker. Von drei Seiten geschützt, war nur noch eine mäßige Brise zu spüren und das Boot dümpelte leicht in den flachen Wellen.

„Da wären wir“, meinte Marbuk gleichmütig. „Den Rest müsst ihr zu Fuß zurücklegen. Ich habe kein Ruderboot dabei.“

Die Gesichter seiner Fahrgäste besaßen zwar immer noch eine mehr oder weniger ungesunde Farbe, aber die Ersten begannen, sich schon wieder zu erholen.

Während Anuim, dem es schon wieder recht gut ging und der seinen Schrecken allmählich überwunden hatte, und Freno ins Wasser sprangen und sich von den anderen die ersten Stücke ihrer Ausrüstung geben ließen, um sie an Land zu tragen, gab Meneas Marbuk den ersten Teil seines Lohnes.

„Hier sind achtundzwanzig Baant“, sagte er. „Damit haben wir und Ihr die erste Hälfte unserer Abmachung erfüllt.“

Marbuk zählte nach und steckte das Geld ein.

„Ich werde hier auf euch warten“, versprach er. „Um zurückzufahren, ist es zu weit, außerdem ist es schon spät. Viel Glück bei dem, was ihr vorhabt.“

„Danke, das werden wir brauchen.“

Meneas war der Letzte, der von Bord ging. Das Wasser ging ihm bis über die Hüfte und es war kalt. Mit seinem Bündel über dem Kopf ging er an Land.

„... wenn wir uns da `mal keine Erkältung holen“, hörte er die ärgerlichen Worte Valeas.

„Wir hätten uns eine Flasche mit ordentlichem Schnaps mitnehmen sollen“, meinte Freno.

„Denkst du da an etwas Bestimmtes?“

„Sicher doch. Erinnerst du dich noch an das Teufelszeug von Terkull Topf. Davon der Stärkste, das wäre jetzt genau das Richtige.“

„Leider haben wir das, was noch übrig war, in Everbrück zurückgelassen“, sagte Meneas lächelnd. „Aber vielleicht tut es ein vernünftiges Lagerfeuer auch.“

Sie gingen den Strand hinauf und schlugen sich in die Büsche.

An diesem Tag war es schon spät und sie wollten sich nur noch einen geeigneten Lagerplatz suchen. Kichernd stellte Solvyn fest, dass sie alle einen komisch unsicheren Gang hatten. Das war auch nicht verwunderlich, nach dem schlimmsten Segeltörn, den sie je gemacht hatten. Für einige war er der Erste, aber für alle blieb er unvergesslich. [Als sie Orlis später davon berichteten, konnte er sich eine gewisse Schadenfreude nicht verkneifen. Für ihn wäre diese Überfahrt schlimmer gewesen als der Tod. Aber sie erfuhren gegen seinen Willen, dass er auf seine Weise mit ihnen gelitten hatte].

Das Erbe der Ax´lán

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