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2. Alben Surs Erkenntnis

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„Das ist furchtbar! Alles ist furchtbar“, murmelte Alben Sur und starrte sorgenvoll aus dem Fenster seines Arbeitszimmers. „Wie soll die Geschichte nur enden? Und anscheinend geht sie zu Ende.“

Er hatte die Arme hinter seinem Rücken verschränkt. Sein Blick war jedoch nach innen gerichtet. Die tropischen Korallen und bunten Fischschwärme sah er überhaupt nicht.

In den letzten Tagen hatte er sich ungewöhnlich oft allein in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, denn schwermütige Gedanken plagten ihn. Sie betrafen nicht nur die Reise von Meneas und seinen Freunden, die eine Vereinigung der Fragmente zu dem Chrysalkristall immer wahrscheinlicher werden ließ, sondern auch die beunruhigenden Ereignisse innerhalb des Ordens. Manchmal kam es ihm so vor, dass er in nicht ferner Zukunft einen tiefgreifenden Wandel erfahren würde, nur konnte er noch nicht absehen, welcher Art er sein und was sich daraus entwickeln würde.

Nachdem die beiden Tum´rei von Meneas´ Gruppe entdeckt und unschädlich gemacht worden waren, hatte Alben Sur für einige Zeit keine Nachrichten mehr von ihr erhalten. Immerhin hatte ihn vorher noch die unglaubliche Botschaft erreicht, dass sich Meneas offensichtlich zwei der letzten sieben mythischen Drachen angeschlossen hatten, die schließlich auch für das unrühmliche irdische Ende der beiden Geister verantwortlich waren. Das war unbegreiflich (die Tatsache, dass die Drachen zu der Gruppe gestoßen waren, nicht ihr Beitrag zur Entkörperlichung der Hilfsgeister), denn Alben Sur hätte nie für möglich gehalten, dass diese Wesen sich überhaupt Menschen zuwenden würden. Er fragte sich, wie es dazu gekommen sein konnte und obendrein, wo sich die Gruppe und die Drachen begegnet waren.

Der Orden von Enkhór-mûl versuchte schon lange, die Drachen zu finden und vielleicht stand er kurz vor ihrer Entdeckung, denn nach allem, was die Priester inzwischen wussten, mussten sie sich irgendwo in den Eisbergen aufhalten. Doch die Lage hatte es Alben Sur noch nicht erlaubt, einen Suchtrupp loszuschicken und die Tum´rei hatten ihm keine genauen Angaben darüber machen können. Die Gruppe von Meneas hatte sich getrennt und die Schwarzen Reiter waren dem Teil gefolgt, der sich einpaar Tage lang mit einer kleinen Höhle beschäftigt und wohl auch etwas darin gefunden hatte. Schließlich waren die anderen in eben dieser Höhle wieder aufgetaucht, wahrscheinlich aus einem Gang innerhalb des dahinterliegenden Berges.

Zu diesem Zeitpunkt war aber von den Drachen noch nicht die Spur zu erkennen gewesen. Erst einpaar Tage später waren sie aufgetaucht und hatten sich der Gruppe angeschlossen. So viel jedenfalls war sicher. Alben Sur vermutete, dass diese Höhle einen Zugang zu dem Schlupfwinkel der Drachen enthielt. Genauso wenig konnte er aber auch ausschließen, dass die Höhle überhaupt nichts damit zu tun hatte und der Trupp aus dem Berg bis dahin noch gar nicht den Drachen begegnet war. Die Lage war reichlich unklar und die Tum´rei hatte seine Erwartungen in keiner Weise erfüllt. Und wie es aussah, würden sie ihnen in Zukunft auch nicht mehr zu Diensten stehen. Bisher hatte er noch keine Priester in jene Gegend entsandt, um der Angelegenheit nachzugehen.

Alben Sur war aber weniger an diesen Kreaturen gelegen als vielmehr an den Teilen der mythischen »Sphäre«, deren Bestandteile sie in sich tragen sollten. Um was es sich dabei tatsächlich handelte und was der Orden damit anfangen konnte, wusste Alben Sur selbst nicht genau, aber das würden sie sicher herausfinden. Die beiden Plasmaklumpen, die sie bereits besaßen, hatten bisher nur wenig zu ihrem Verständnis über die »Sphäre« beigetragen. Nur so viel war klar: Die »Sphäre« war älter als der Chrysalkristall und beide standen nicht im Zusammenhang miteinander.

Alben Sur war es am Anfang, und der lag schon sehr weit zurück, nicht einmal darum gegangen, den Drachen zu schaden. Er hatte nichts gegen sie, solange sie den Orden in Ruhe ließen. Das war leider nicht immer der Fall gewesen. Und so hatte der Orden irgendwann angefangen, sie als Gegner zu betrachten. Und inzwischen hatten sie herausgefunden, dass sie an die Teile der »Sphäre« nicht herankamen, ohne die Drachen zu töten. Jetzt wog die Aussicht auf Erkenntnisse schwerer als die Folgen der Tat. Welche Art der Verbindung zwischen den Drachen und der »Sphäre« bestand, war Alben Sur nicht klar. Er wäre wohl überrascht gewesen, wenn die beiden Drachen im »Eisernen Wächter« noch gelebt und ihm einiges zu erzählen gehabt hätten, sofern sie dazu geneigt gewesen wären.

Die Tatsache, dass sich zwei andere Drachen mit Meneas verbündet hatten, verhieß für ihn die Hoffnung auf eine größere Wahrscheinlichkeit, seine Suche nach den Kristallfragmenten erfolgreich zu beenden, denn diesen Wesen wurden Eigenschaften nachgesagt, die der Gruppe durchaus von Nutzen sein konnten. Allerdings konnten sie ihm in dem »Einsamen Posten« keine große Hilfe gewesen sein, denn soweit Alben Sur die Räumlichkeiten kannte, und das schloss die Zugänge ein, waren sie so eng, dass sich die Drachen darin nicht frei bewegen konnten. Außerdem -. Alben Sur überlegte. Die beiden Drachen im »Eisernen Wächter« hatten sich sehr seltsam benommen, als man sie fand. Sie machten einen fast abwesenden Eindruck, als hätten sie sich an irgendetwas berauscht. Er konnte nicht ausschließen, dass ihr Verhalten eine Reaktion darauf war, dass sie versucht hatten, die Maschinen in Betrieb zu setzen. Kurz darauf waren sie gestorben. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten die Priester ihnen kaum die Herzen entnehmen können. Da sie davor noch niemals Drachenherzen gesehen hatten, musste sie die blauleuchtenden, pulsierenden Organe für die Herzen halten. Sie hatten nicht einmal geahnt, was geschehen wäre, wenn ihre Amulette sie nicht vor der Kraft der Fragmente der »Sphäre« beschützt hätten. So musste die »Sphäre« hilflos miterleben, wie sie von den Priestern an einen anderen Ort gebracht wurden.

Alben Sur wusste, dass es Gemeinsamkeiten zwischen beiden ehemaligen Stützpunkten der Ax´lán gab und daher war es möglich, dass sich die Drachen im »Einsamen Posten« nicht viel anders gebärdet hätten. Möglicherweise hatten sie sich ihm aus diesem Grund ferngehalten. Wo die beiden Drachen sich aber während der Zeit, in der sich Meneas´ Gruppe in dem Berg befand, herumgetrieben hatten, wusste Alben Sur nicht, denn die Priester im Stützpunkt hatten ihre vorübergehende Gegenwart in der Umgebung des Gipfels nicht einmal bemerkt und die Tum´rei befanden sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf Elveran. So gab es keine Nachrichten.

Alben Sur lächelte bitter. Er musste sich eingestehen, dass seine damaligen Kenntnisse des Standes bei der Suche nach den Fragmenten des Chrysalkristalles alles andere als zufriedenstellend waren. Und nicht weniger Rätsel umgab immer noch das plötzliche Auftauchen und das Verhalten der Drachen.

Nachrichten, die nicht mehr bloße Vermutungen waren, erhielt Alben Sur erst wieder von den Priestern, die er in den »Einsamen Posten« entsandt hatte, nachdem seine Geräte ihm gemeldet hatten, dass irgendetwas in dem Berg nicht in Ordnung war. Und was sie zu berichten hatten, machte ihn fassungslos. Meneas und seine Begleiter hatten den Orden buchstäblich überrumpelt. Er verfluchte seine Nachlässigkeit, denn den Eindringlingen war etwas gelungen, was die Priester in all den Jahrzehnten ihrer dortigen Anwesenheit nicht gelungen war. Und Alben Sur verfluchte genauso seinen Hochmut, denn in der Überzeugung der Überlegenheit der ax´lánischen Einrichtungen hatte er es versäumt, den Stützpunkt stärker zu sichern.

Es war den Priestern bekannt, dass in dem Berg unheimliche Dinge vorgingen. Der Stützpunkt selbst war davon nie betroffen gewesen, aber die umliegenden Stollen und Höhlen, und nachdem sich anfangs einpaar erschreckende Unfälle ereignet hatten, von denen die meisten unter geisterhaften oder im Sinne des Wortes ungeheuerlichen Umständen tödlich endeten, wurde der südliche Teil des Berges zum Sperrgebiet erklärt.

Aber durch eben diesen Teil musste Meneas mit seinen Leuten in den Stützpunkt eingedrungen sein, denn der gewöhnliche Zugang aus dem Westen wurde durch technische Wächter kontrolliert, die jede Annäherung von Eindringlingen der Besatzung gemeldet hätten.

Wieder einmal hatte sich gezeigt, dass Meneas´ Gruppe entweder von besonderen Kräften beschützt und unterstützt wurde, oder mehr Glück als Verstand hatte, wobei Alben Sur eher dazu geneigt war, das Letztere in Betracht zu ziehen. Die fehlende Anwesenheit der Drachen bewiesen sowohl die Spuren der Auseinandersetzungen als auch die Aufzeichnungen der Kameras. Doch sie hatten jemanden aufgenommen, den Alben Sur noch niemals gesehen hatte und von dem er nicht wusste, woher er gekommen war. Es war ein Morain-Mensch, der zum ersten Mal Meneas´ Gruppe begleitete. Und wie es schien, war er auch nicht gleich zu Beginn mit ihnen im Stützpunkt aufgetaucht. Alben Sur konnte sich nur vorstellen, dass er sie durch das verbotene Gebiet nachgefolgt war. Auch wenn dieser Fremde nicht zu ihnen gehörte, hatte seine Hilfe doch maßgeblich dazu beigetragen, dass Meneas und seine Leute auf Geheimnisse gestoßen waren, die ihm, Alben Sur, bis dahin unbekannt waren. Im Nachhinein musste er zugeben, dass es ein Fehler gewesen war, die Tore nicht zu schließen. Aber wer hätte ahnen können, dass die Sucher nach den Kristallfragmenten ausgerechnet diesen Weg nehmen und ihn überleben würden.

„Auf jeden Fall war in dem Berg allerhand los gewesen“, murmelte Alben Sur.

Ein rot und grün schillernder Fisch zog an dem Fenster seines Arbeitszimmers vorbei, glotzte kurz herein und verschwand wieder im Zwielicht zwischen den Korallen.

Als ein Trupp Priester im »Einsamen Posten« ankam, um die Vorfälle zu untersuchen, war niemand mehr da, oder besser niemand, der noch lebte und Auskunft hätte geben können. Kyra, Tristo und Maturek waren tot und von den Eindringlingen fehlte jede Spur. Alben Sur fragte sich, wie es möglich gewesen war, dass sich die drei Priester so leicht überrumpeln ließen. Er musste zugeben, dass die drei nur unzureichend über den ax´lánischen Stützpunkt aufgeklärt worden waren, und auch nur so weit, wie es ihre Aufgabe erforderte. Sie kannten nicht einmal die Ereignisse, die bei der Entdeckung des Stützpunktes geschehen waren. Sie mussten selbst von den Abwehrmaßnahmen überrumpelt worden sein. Auf keinen Fall konnten sie Meneas verraten haben, wo sich das Fragment des Chrysalkristalles befand, denn davon hatte nicht einmal Alben Sur Kenntnis gehabt.

Der Orden hatte den fünf Priestern nur die Handhabung seinen Erkenntnissen nach unbedeutender Geräte übertragen, ihnen aber die Wichtigkeit ihres Tuns eingeredet. Das war für ihre eigentliche Aufgabe unumgänglich gewesen. Hätten sie davon gewusst, wäre zweifelhaft gewesen, dass sie lange genug in dem Berg ausgehalten hätten, um die Beobachtungen zu machen, die sie machen sollten. Denn in Wahrheit ging es dem Orden darum, mehr über die seltsamen Erscheinungen in den umliegenden Hohlräumen herauszufinden. Die Schutztore in den Zugängen waren nicht zufällig oder durch mangelnde Pflege blockiert gewesen und von den anderen Schutzeinrichtungen wussten sie nichts. Immerhin hatten sie bis zu diesem Zeitpunkt herausgefunden, dass die Station offensichtlich nicht von den Erscheinungen betroffen war.

Larijianis und Bron hatte wohl nur der Zufall gerettet. Sie waren kurz vor der Ankunft der Eindringlinge in den Hauptstützpunkt des Ordens zurückgekehrt. Über die Vorgänge im »Einsamen Posten« waren sie nicht unterrichtet worden. Ohne nähere Erklärungen hatte der Orden sie für andere Aufgaben eingeteilt.

Meneas´ Gruppe war es nicht nur gelungen, fünf Kampfroboter zu zerstören, sie hatten es auch fertiggebracht, zwei der behaarten Tenglin-Schlangen, die sich unsichtbar machen konnten und schon von den Ax´lán als Wächter eingesetzt wurden, zu erschlagen. Außerdem hatten sie einen gehörigen Schaden hinterlassen. Und schließlich waren ihnen vier Formori zum Opfer gefallen. Für die Gruppe war es eine außerordentliche Leistung - für Alben Sur dagegen furchtbar und ein unersetzbarer Verlust. Die drei Priester hatten zweifellos versagt.

All das war jedoch nicht annähernd so erschütternd, wie die Entdeckung des medizinischen Laboratoriums im unteren, bisher unbekannten Teil der Anlage, und der Fund des Kristallfragmentes.

Natürlich war Alben Sur bekannt, dass sich in dem ehemaligen Stützpunkt der Ax´lán eines der Fragmente des Chrysalkristalles befand und mehr als einmal war unter seiner Leitung danach gesucht worden, aber es war ihnen nie gelungen, es zu finden. Es war wie die Suche einer Nadel in einem Heuhaufen und der Heuhaufen war verdammt groß. Und da kamen nun diese Leute daher, schlugen alles kurz und klein und entdeckten innerhalb kurzer Zeit, was ihm nie gelungen war. Das war unglaublich und noch dazu demütigend. Aber dass sie tatsächlich in dem Besitz des blauen Fragmentes waren, hatten die Kameraaufzeichnungen zweifelsfrei bewiesen. Es war das fünfte Fragment.

Das war der Stand der Kenntnisse Alben Surs über den Fortgang der Suche nach den Kristallfragmenten an diesem Tag und er war alles andere als zufrieden mit dem Verlauf. Aber da gab es noch etwas anderes, das ihn beschäftigte.

Alben Sur erfüllte die bittere Einsicht, dass die Macht des Ordens schwand. Er war in den letzten Jahren der Existenz der Ax´lán gegründet worden von Leuten wie Alben Sur, die diesem Volk nützliche Dienste erwiesen hatten und ihnen nahestanden. Dafür waren ihnen von den Ax´lán einige besondere Gaben verliehen worden, zu denen nicht nur eine Verlängerung ihrer Lebenszeit, die an der Unsterblichkeit grenzte, gehörte. Dass sie sich der technischen Hinterlassenschaft der Ax´lán annahmen, war für die Priester dieses Ordens selbstverständlich, hatte für deren Eigentümer jedoch keine Bedeutung mehr. Die eigentliche Aufgabe des Ordens, so wie ihm aufgetragen worden war, war zu verhindern, dass der Chrysalkristall jemals wieder zusammengesetzt wurde. Und das sollte nach dem Willen der aussterbenden Ax´lán mit allen Mitteln geschehen.

Die letzten dieses Volkes, die um diesen Kristall wussten, hatten den Gründern des Ordens von Enkhór-mûl eindringlich eingeschärft, welche Wirkung es auf den bedeutendsten Teil ihrer Hinterlassenschaft haben würde, falls es doch geschah. Um welchen es sich handelte, das hatten sie verschwiegen. Aber nicht, dass ihre Existenz auf dem Spiel stand. Doch sie hatten es offengelassen, ob damit die Existenz der Priester oder die der Hinterlassenschaft gemeint war. Und schließlich gab es den Hinweis, dass die Macht des Ordens daran gebunden war, dass der Kristall zerlegt blieb.

Was die Existenz von etwas so Bedeutendem anging, so hatte Alben Sur inzwischen aufgrund langer und eingehender Nachforschungen bestimmte Schlussfolgerungen gezogen, die durch die Entdeckungen im »Einsamen Posten« bestätigt wurden. Es ging keineswegs um den Fortbestand seines Ordens, sondern vielmehr um den der elveranischen Menschheit, das wahre Erbe der Ax´lán. Daraus hatte Alben Sur geschlossen, dass ein Zusammenfügen der Fragmente diese Menschheit in eine existentielle Gefahr bringen würde und damit natürlich auch das Weiterbestehen des Ordens von Enkhór-mûl. Also betrafen die Warnungen der Ax´lán auch ihn unmittelbar.

Alben Sur hatte sich im Laufe der Zeit immer wieder gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass er und seine anderen Brüder des Inneren Kreises des Ordens sich überhaupt zu dieser Aufgabe bereiterklärt hatten. War die Verehrung der Ax´lán einst tatsächlich so uneingeschränkt, sie selbst so leichtgläubig gewesen? War es das Versprechen, über viele zu herrschen und einer großartigen und geheimen Sache zu dienen? Oder war es einfach nur die Aussicht auf eine Unsterblichkeit, die ihnen die Ax´lán versprochen hatten?

Alben Sur seufzte. Wahrscheinlich war es von allem etwas und dazu noch ein gerütteltes Maß an Dummheit, denn ihm war seit einiger Zeit immer wieder der Gedanke gekommen, dass die Ax´lán ihn und den ganzen Orden, den der Innere Kreis in der Folgezeit aufgebaut hatte, auch noch nach ihrem Erlöschen missbrauchten. Und er konnte nicht einmal sagen, wofür. Die Gerätschaften? Welchen Sinn sollte ihre Erhaltung, soweit es den Priestern mit ihren unzureichenden Kenntnissen, wie die Ereignisse am »Eisernen Wächter« unmissverständlich gezeigt hatten, möglich war, haben? Die Ax´lán würden nicht zurückkehren, so viel war sicher. Also wurde ihre Technik, die zudem ein Beweis ihrer Verbrechen war, auch nicht mehr benötigt.

Blieb also nur der Kristall. Für die Ax´lán hatte er seine Bedeutung verloren, aber die, die ihm noch zukam, hatte sich verändert und war zu einer Bedeutung für die elveranische Menschheit und ihrem Heimatplaneten geworden. Alben Sur fragte sich, ob diese Entwicklung von den Wissenschaftlern der Ax´lán vorhersehbar gewesen war und falls es so war, warum sie ihn und die anderen Mitbegründer des Ordens nicht darauf hingewiesen hatten. So etwas kann man von jemandem erwarten, der einem einen Auftrag für die Ewigkeit erteilt. Oder sollte es gar nicht so lange dauern? Aber wie lange sollte es dauern, und woran würden sie erkennen, dass die Zeit zu Ende ging? Stand das Ende jetzt kurz bevor? War die Geschichte schließlich so vorbereitet worden, wie sie jetzt ablief? Wenn Alben Sur und die anderen Priester des Inneren Kreises nahezu unsterblich waren, konnte es die Gruppe um Meneas nicht auch sein und taten sie jetzt etwas, wofür sie einst vorgesehen wurden? Und was würde danach kommen? Das alles waren nicht zu beantwortende und im Grunde nutzlose Fragen, die Alben Sur nur in weitere Zweifel stürzten.

Aber in einem Punkt hatten die Ax´lán von einst Recht behalten. Je mehr Fragmente wieder zusammengetragen wurden, desto schwächer schien der Orden zu werden, auch wenn sie noch nicht zusammengefügt worden waren. Und nie zuvor hatte Alben Sur die Richtigkeit dieser Behauptung so deutlich gespürt wie in diesen Tagen. Nie zuvor hatte ihm sein Alter so zu schaffen gemacht, aber das konnte auch an seinem Befinden liegen, denn ihn plagten Sorgen. Neben den vielen unergründlichen Ereignissen geschah seit einiger Zeit etwas, was noch niemals in der ganzen Geschichte des Ordens der Fall gewesen war. Er verlor Priester durch Fahnenflucht und es kam zu Verrat. Mehrere Zufluchtsorte waren von den Soldaten einiger Herrscher ausgehoben worden und Priester dabei umgekommen. Auch das Ergebnis der Geisterbeschwörung von Tarkas und Amonpa war bisher einmalig gewesen. Ihnen war zwar gegeben worden, was sie begehrten, aber zum ersten Mal durften die Geister keine Waffen tragen. Auch das war bis dahin einmalig. Alben Sur konnte nicht erkennen, was aus dem Orden werden würde, aber es gab für ihn keinen Zweifel mehr, dass sich geschichtlich bedeutsame Veränderungen ankündigten und ihn beunruhigte diese Entwicklung, weil er sie nicht durchschaute.

Alben Sur wurde langsam klar, dass Meneas und seine Leute keine gewöhnlichen Altertumsforscher waren, wie er anfangs geglaubt hatte. Sie schienen Hilfe von mehreren Seiten zu erhalten und nicht jede war sichtbar. Sollten wirklich mit ihnen die beobachteten Veränderungen zusammenhängen, sie am Ende sogar zum Verhängnis des Ordens werden? Wer steckte hinter dieser Gemeinschaft, die so plötzlich aufgetaucht war? Die Sinaraner, ja. Daran gab es keinen Zweifel, seitdem die Priester von ihrem Bündnis wussten. Aber auch die Sinaraner mussten noch mächtigere Verbündete haben, die sie retteten, kurz bevor die Priester die Pyramide einnehmen konnten. Vielleicht waren auch dieser Tjerulf und sein Begleiter, der Morain-Mensch, nicht zufällig und als bloße Abenteurer zu Meneas gestoßen. Und was war von der unbekannten Macht zu halten, deren merkwürdige Funksprüche sie aufgefangen hatten, die Oson. Der Inhalt der Meldungen war immer noch nicht entschlüsselt, aber Alben Sur hatte allen Grund, seinen Orden durch jemanden, der sich solcher Mittel bediente, und nur die Götter wussten, worüber er noch verfügte, bedroht zu sehen.

Erneut seufzte Alben Sur und er spürte die Last der Jahrhunderte auf seine Schultern. In letzter Zeit hatte er mehr als einmal den Eindruck, als würde ihm seine Macht entgleiten und er die Fäden aus den Händen verlieren. Zu viele Dinge geschahen, über die er nur unzureichend unterrichtet war.

Unvermittelt überkam ihn erneut sein Hader mit den auch für ihn so erschreckenden Enthüllungen in dem »Einsamen Posten«. Er wusste, dass die Ax´lán einst ein wissenschaftliches Volk waren, das diese Eigenschaft aber bis zu ihrem Ende fast völlig eingebüßt hatte, wie er überzeugt gewesen war. Aber dass sie bis zuletzt noch in der Lage waren, solche Forschungsstationen zu betreiben und Menschenversuche durchzuführen, das hatte er nicht geahnt.

Einen Kristall zu zerschlagen und zu verstecken, das konnte Alben Sur noch mit einem guten Gewissen vereinbaren. Seine Gefährlichkeit rechtfertigte diese Tat. Aber Menschenversuche waren auch für ihn ein Verbrechen. Seitdem er selbst die unterste Ebene untersucht hatte und auf die grausigen Überreste dieser Machenschaften gestoßen war, hatte Alben Sur bewusst begonnen, sich von den Ax´lán abzuwenden. Die Entdeckung ihrer Unredlichkeit gegenüber dem Orden allein hatte noch nicht ausgereicht, wenn sie auch schmerzlich war, aber jetzt bekam auch das Gewicht. Was mochte dieses schändliche Volk noch alles angerichtet haben?

Alben Sur war schon am Anfang der Reise von Meneas und seinen Freunden nicht bereit gewesen, die letzten Mittel einzusetzen und obwohl es ihnen selbst nicht so vorgekommen war, hatte er nur mehr oder weniger halbherzig versucht, sie von ihrer Suche nach den Fragmenten abzuhalten. Diese zögernde Haltung konnte er zunächst durch die Überzeugung rechtfertigen, dass sie die Fragmente sicher nicht finden würden. Aber er behielt diese Haltung zum Unverständnis seiner Priester auch noch bei, als eins nach dem anderen entdeckt wurde. Vielleicht war dieses Versäumnis schon eine Folge seiner inneren und damals noch unbewussten Abkehr von den Ax´lán.

Die Todesfälle waren unglückliche Zufälle gewesen, und keinesfalls von ihm beabsichtigt.

[Weder Tjerulf noch Meneas wären davon zu überzeugen gewesen, dass die Selbsttötung der Priester eine Folge ihres eigenen Willens und ihnen nicht aufgezwungen worden war. Und auch, wenn die beiden es nicht wussten, es betraf bei weitem nicht alle, sondern nur diejenigen, die über den Hauptsitz Bescheid wussten. Bedauerlicherweise waren ihnen bei den Verhören aber immer solche Priester vorgekommen. Der Zweck war offensichtlich der Schutz des Ordens. Beide hätten aber niemals für möglich gehalten, dass die Treue der Priester bis zum Selbstmord reichen würde. Doch inzwischen gab es unter einer zunehmenden Anzahl dieser Priester einen wachsenden Widerstand gegen eine solche endgültige Loyalität, aber das Mittel dazu konnte ihnen nicht mehr entfernt werden].

Doch spätestens seit der Entdeckung der ax´lánischen Verbrechen erschien es ihm unangemessen, so weiterzumachen wie bisher. Auch kam er zu der Erkenntnis, dass mit der Suche nach den Fragmenten Erfolge einhergingen, die all die Jahrhunderte hindurch unmöglich schienen, was in ihm den Glauben eines schicksalhaften Verlaufes der Dinge nährte.

Alben Sur lächelte, und es war jetzt kein bitteres Lächeln mehr, sondern ein erkennendes. Zu seiner Überraschung fühlte er dabei sogar eine deutlich wahrnehmbare Erleichterung. Ihm war ein geradezu frevelhafter Gedanke gekommen, eigentlich waren es sogar zwei bis vor kurzem undenkbare Gedanken. Vielleicht war der Orden von Enkhór-mûl, mittlerweile eineinhalbtausend Jahre alt, einfach in die Jahre gekommen und so groß geworden, dass es zu Auflösungserscheinungen am Rande kommen musste. Und vielleicht hatte er sich nach dieser beinahe ewigen Existenz in dieser Zeit einfach überlebt und die jüngsten Ereignisse auf Elveran hatten von ihm nie beeinflusst werden können.

Falls es Meneas und seinen Freunden tatsächlich gelang, den Kristall zusammenzusetzen, dann mussten sie sich wohl eine neue Aufgabe suchen, mit einem verkleinerten Orden, wenn es ihn dann überhaupt noch gab. In diesem Fall würde es sich als eine weise Entscheidung herausstellen, dem Äußeren Kreis, dem die meisten Priester angehörten, nur wenig Wissen mitgeteilt zu haben. Alben Sur würde dann aber auch überlegen müssen, ob er überhaupt noch länger der Kopf des Ordens bleiben wollte, denn er spürte oft eine immer deutlicher werdende Müdigkeit.

Nach all diesen Gedanken war Alben Sur erleichtert, dass er entgegen seiner einst übernommenen Verpflichtung darauf verzichtet hatte, Meneas und seinen Leuten Mordkommandos nachzuschicken. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, aber er zweifelte an dem Sinn einer solchen Handlung. Erschrecken wollte er ihn, denn vielleicht hatten die Ax´lán ja es nicht richtig, andererseits war ihm klar geworden, dass dieses Volk den Orden von Anfang an hintergangen hatte, und für solche fragwürdigen Auftraggeber wollte er nicht töten. So viel Ehrgefühl hatte sich Alben Sur noch bewahrt.

Er fühlte sich in seinem Entschluss bestätigt, den Fortgang der Suche nur noch zu beobachten und nicht mehr einzugreifen. Mochte nun das Schicksal wirken und darüber entscheiden, ob Meneas schließlich Erfolg beschieden war oder nicht, denn der schwierigste Teil stand ihm und seinen Freunden noch bevor, die Seemark. Allerdings traf er diesen Entschluss nicht ganz freiwillig, denn die Suche war jetzt in ein neues Stadium getreten. Dorthin waren selbst die Priester nur selten vorgestoßen und dann oft mit unheilvollen Folgen für sie. Alben Sur wusste, dass der Orden dort keine Macht besaß, um auf die Ereignisse noch irgendeinen Einfluss ausüben zu können. Es war eine Tatsache, dass auch ohne seines Sinneswandels der Orden inzwischen nur noch wenige Möglichkeiten hatte, Meneas´ Vorhaben hinderlich zu werden. Die letzte Gelegenheit dazu wäre im »Einsamen Posten« gewesen.

Auf Kaphreigh lag der Fall wiederum ganz anders. Auf dieser Insel wirkten im Gegensatz zur Seemark keine Kräfte der Ax´lán und hatten es auch nie. Dort, wusste Alben Sur, war das Fragment von den Ax´lán einfach nur an einem unbekannten Ort, der von dem Orden auch nach gründlichster Suche, die allerdings bereits vor mehreren Jahrhunderten stattgefunden hatte, nicht entdeckt werden konnte. Schließlich hatten sie es aufgegeben in dem Bewusstsein, dass es auch kein anderer finden würde. [Wieder einmal würde sich aber zeigen, dass fast zweitausend Jahre eine lange Zeit sind, in der sich die Bedingungen für Verstecke ändern können. Dieses Fragment war zwar durchaus absichtlich auf Kaphreigh verborgen worden, aber die Ax´lán hatten von den sich entwickelnden Kräften nichts geahnt. Zu dieser Zeit hätten sie selbst keine Möglichkeit mehr gehabt, es wiederzuerlangen].

Alben Sur kam durch seine Überlegungen endgültig zu der Erkenntnis, dass der Orden bei diesem Spiel zu einem Beobachter geworden war, ohne die Möglichkeit, es noch zu gestalten. Und selbst, wenn Meneas und seine Freunde das gewusst hätten, ihre Aufgabe wäre dadurch keinen Deut einfacher geworden, denn jetzt betraten sie Boden, auf dem andere Mächte herrschten. Aber Alben Sur war entschlossen, die Gruppe weiterhin im Auge zu behalten, und deshalb hatte er einen weiteren Beobachtungsroboter hinter ihnen hergeschickt. Er musste die Gruppe in kurzer Zeit erreicht haben.

Dann fiel ihm eine Lösung ein, wie er manche Fragen, die ihn während seines Selbstgespräches beschäftigten, ohne dass er Antworten darauf gefunden hatte, vielleicht doch noch beantworten konnte. Es war eine Quelle, von der er schon lange Zeit wusste, er aber tatsächlich nie gewagt hatte, sie in Anspruch zu nehmen. Selbst im Inneres Kreis des Ordens gehörte er zu einer winzigen erlesenen Auswahl, die wusste, wie man sich ihr nähern konnte. Jetzt endlich wollte er den Versuch wagen. Dann, so war er überzeugt, würde er Klarheit bekommen über das Schicksal seines Ordens. Und plötzlich fürchtete er sie nicht mehr, beide, die Quelle und die Klarheit.

Das Erbe der Ax´lán

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