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1. Die Rettung der Sinaraner

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Für den kommenden Nachmittag war an Bord des Raumschiffes eine Lagebesprechung angesetzt. Bis dahin sollten sich die vier geretteten Mitglieder des Bodeneinsatzkommandos von ihrem Einsatz auf Elveran erholen. Um fünfzehn Uhr Bordzeit kamen sie dann in einem kleinen Besprechungsraum zusammen. Außer Taligh, Gnee, Hyldan und Vanes nahmen Héth-Béckûs, Neneema und zwei weitere Offiziere daran teil.

Taligh hatte am Vortag bereits eine kurze Übersicht über die Ereignisse in der Seemark gegeben, daher war den Oson bekannt, dass die vermissten Mitglieder der Bodeneinsatzgruppe mit der Seefestung in eine andere Zeit versetzt worden waren. Obwohl sie vorerst nur als verschollen galten, war die Stimmung gedrückt.

Zeitexperimente fanden bei den Oson nicht mehr statt. Es hatte zwar einpaar Versuche gegeben, doch waren sie bald wieder aufgegeben worden, nachdem es zu schweren Unfällen gekommen war. Die Wissenschaftler hatten einsehen müssen, dass solche Dinge von ihnen nicht beherrscht werden konnten. Das Risiko überwog offensichtlich den erkennbaren Nutzen. Außerdem waren inzwischen Versuche dieser Art von dem Zivilisationsrat verboten worden, und es war nicht bekannt, dass sich irgendwer nicht daran hielt, denn das Verbot wurde auf allen dazugehörigen Planeten durch eine besondere Polizei überwacht.

[Es wird kaum einen Leser geben, der daran nicht zweifeln wird, denn aus menschlicher Sicht wird nichts erforscht, was man nicht erforschen kann. Und diese Zweifel sind berechtigt, denn hätte es sie nicht selbst bei dem Zivilisationsrat gegeben, wäre die Aufstellung dieser Sonderpolizei nicht notwendig gewesen. Die Anzahl der galaktischen Völker, die durch ihn vertreten wurden, war jedoch so groß, dass die Einhaltung der Gesetze kaum noch überwacht werden konnte, besonders in den Randgebieten der Gemeinschaft].

Aus diesen Gründen waren sie jetzt einigermaßen ratlos, wie sie Tjerulf, Scilla, Durhad, Fintas und Elemaris zurückholen konnten, falls sie noch lebten. Sie hatten sich aber darauf verständigt, sie vorerst als Überlebende dieses Vorfalles zu betrachten, solange ihr Tod nicht feststand oder bewiesen werden konnte.

„Es liegt doch auf der Hand, dass uns nur die Sinaraner weiterhelfen können“, meinte Gnee hoffnungsvoll. „Sie befinden sich immerhin schon gut dreitausendsiebenhundert Jahre auf Elveran und müssen mit den Machenschaften der Ax´lán vertraut sein.“

„Das heißt aber noch lange nicht, dass sie von den Zeitexperimenten der Ax´lán gewusst haben“, meinte Neneema. „Ich nehme an, die Ax´lán werden diese Experimente unter aller Geheimhaltung durchgeführt haben. Sicher hat nicht einmal der größte Teil ihres Volkes davon Kenntnis gehabt. Dann werden wahrscheinlich auch die Sinaraner nichts davon wissen.“

„Andererseits wird ihnen kaum die Errichtung der Antenne in der Nachbarschaft ihrer Pyramide entgangen sein“, sagte Taligh.

„Das ist sicher. Aber ist es nicht merkwürdig, dass die Sinaraner nicht versucht haben, sie zu zerstören, wenn sie die wahren Gründe kannten?“

„Das wäre nur merkwürdig, wenn sie es tatsächlich nicht versuchten. Aber vielleicht waren ihnen die Hände gebunden. Wie immer es wirklich war, sie haben es uns gegenüber mit keinem Wort erwähnt.“

„Trotzdem, Gnee hat nicht unrecht, denn schließlich haben die Sinaraner selbst die Zeit in ihrer Pyramide manipuliert“, erinnerte Hyldan. „Wie sie uns erklärt haben, wurde zumindest ein Teil der Einrichtung um fünf Minuten in die Vergangenheit versetzt. Also müssen sie sich mit solchen Dingen auskennen.“

„Das werden wir bald herausfinden“, erklärte Héth-Béckûs. „Denn als Nächstes werden wir sie aus der Pyramide befreien. Wenn es nur von den Kräften des Chrysalkristalles abhängt, dann haben wir jetzt das Mittel dazu in der Hand.“

„Ist der Kristall schon zusammengesetzt?“, fragte Taligh.

„Nein, die sieben Fragmente befinden sich getrennt voneinander in verschiedenen Behältern. Das Risiko erschien uns bisher zu groß, als dass wir es auf der ZETRIS wagen wollten.“

„Nach allem, was wir wissen, ist das sehr vernünftig. Wie viel Zeit bleibt uns noch?“

„Eure Suche war schneller von Erfolg gekrönt, als wir es erwartet haben. Wenn sich an der Lage der Sinaraner noch nichts geändert hat, dann haben wir noch ein halbes Jahr. Ich denke, das ist mehr als genug. Auf einen Tag kommt es daher nicht an.“

„Bei unserem letzten Treffen sagten sie uns, dass ihnen die Zeit in den Fingern zerrinnt“, erklärte Taligh. „Angeblich hätte ihre Anlage bei dem Angriff der Priester mehr Schaden genommen, als sie anfangs dachten.“

„Hm, davon haben sie uns noch gar nichts gesagt“, meinte Neneema.

„Dann ist ihre Lage vielleicht doch nicht so ernst. Wissen sie schon, dass die Teile des Kristalles vollzählig sind?“, fragte Taligh.

Héth-Béckûs schüttelte mit dem Kopf.

„Nein, aber wir werden sie in Kürze unterrichten. Und dann müssen wir sehen, wie wir ihnen helfen können. Ich bezweifle, dass es damit getan ist, den Kristall einfach in ihrer Pyramide zusammenzusetzen.“

„Ja, das wäre tatsächlich fast zu einfach“, fand auch Taligh.

„Ich habe noch einen anderen Vorschlag, was unsere verschollenen Freunde betrifft“, sagte Hyldan. „Mir kommt da ein Gedanke. Das Wissen, mit dem die Ax´lán offensichtlich erfolgreich Zeitreisen durchgeführt haben, haben sie sich bestimmt nicht erst hier angeeignet. Ihre technischen Mittel werden dazu kaum ausgereicht haben, entsprechende Versuche durchzuführen. Daher vermute ich, dass sie es von ihrem Heimatplaneten mitgebracht haben.“

„Ich verstehe“, sagte Neneema. „Du setzt auf die Hilfe der heutigen Ax´lán.“

„Genau.“

„Das wäre eine Möglichkeit. Vorausgesetzt, sie sind bereit dazu. Allerdings gibt es da einpaar kleine Probleme.“

„Ja, ich weiß. Man wird sie dazu überreden müssen, ihre Geheimnisse zu teilen. Immerhin verstoßen sie damit gegen keines unserer Gesetze, denn sie gehören nicht zum Zivilisationsrat.“

„Vorher müssen wir herausfinden, ob sie uns überhaupt helfen können, denn mir ist nicht bekannt, dass sie jemals Zeitexperimente angestellt haben.“

„Du meinst, sie könnten tatsächlich erst auf Elveran darauf gestoßen sein?“

„Ich halte es für möglich, obwohl wir eigentlich nur wenig von ihnen wissen“, sagte Neneema. „Die Ax´lán leben sehr zurückgezogen von anderen Völkern.“

„Zeitexperimente sind eine heikle Angelegenheit“, sagte der Offizier Tal-Vens. „Mit so etwas geht man nicht hausieren. Ich halte es für durchaus denkbar, dass die Ax´lán schon auf ihrem Heimatplaneten daran gearbeitet haben und es vielleicht immer noch tun, aber dann eben auch unter einer gewissen Geheimhaltung. Und wenn es so ist, werden sie sie vielleicht nicht aufgeben wollen, nur um einpaar Fremde von einem fernen Planeten zu retten, zumal sie mit uns keine besonders enge Freundschaft verbindet.“

„Dann blieben tatsächlich nur die Sinaraner“, meinte Hyldan. „Aber ich halte an meiner Überzeugung fest, dass die Ax´lán die Zeitexperimente nicht erstmals auf Elveran anstellten. Und ich wäre dafür, sie um Hilfe zu bitten. Ich glaube, in diesem Fall ist es gerechtfertigt. Schließlich haben ihre eigenen Leute den Schaden angerichtet.“

„Ich bezweifle, dass sie dieses Argument überzeugen wird. Die Ereignisse liegen immerhin über eintausendfünfhundert Elveranjahre in der Vergangenheit und es handelte sich um Sträflinge, Ausgestoßene ihres Volkes. Da wird heute keiner mehr die Verantwortung für ihre Taten übernehmen wollen.“

„Ihre Geheimnisse können uns doch eigentlich egal sein“, fand Gnee. „Wir wollen doch nur herausfinden, was aus unseren Freunden und meiner Schwester wurde. Danach können sie ja alles ohne Erklärungen wieder einpacken und mitnehmen.“

Einige lächelten, aber Gnee hatte genau den Umfang der erhofften Hilfe genannt.

„Es wird Wochen dauern, bis sie hier ankommen“, erklärte Thor-Halwis, der andere Offizier. „Selbst wenn sie Zeitreisen beherrschen und bereit wären, uns ihre Technik sofort zur Verfügung zu stellen, könnten sie kaum schneller hier sein. Ax´lûm liegt ziemlich weit entfernt.“

„Das ist mir bewusst“, erklärte Neneema. „Aber Hyldan hat Recht. Zur Rettung der Gruppe sollten wir nichts unversucht lassen.“

„Dann werde ich mich sofort darum kümmern, dass sie eine Botschaft von uns erhalten“, sagte Thor-Halwis.

Neneema nickte und er verließ den Raum.

Der Versuch einer Kontaktaufnahme mit den gegenwärtigen Ax´lán aufgrund der Umstände war nicht so abwegig, wie sie erscheinen mag, denn weder die Oson noch die Sinaraner waren mit ihnen verfeindet, nicht zu der Zeit der unbeabsichtigten Ansiedlung der Gefangenen auf Elveran und auch nicht zu der Zeit dieses Einsatzes. Zwar waren die Ax´lán nicht dem Zivilisationsrat beigetreten und ihr Heimatplanet lag außerhalb des Gebietes der Föderation, doch es herrschte ein gewisser Austausch zwischen ihnen und einigen anderen galaktischen Völkern.

Die Ax´lán, die einst auf Elveran landeten, gehörten, wie hinlänglich bekannt, zu einem Gefangenentransport zu einem entfernteren Gefängnisplaneten, der unwirtlicher war als Elveran und dazu von keiner höheren Lebensform besiedelt. Sie sollten ihn für die Ax´lán erschließen. Ihre Charaktereigenschaften hatten sie jedoch nicht erst auf Elveran entwickelt. Die Ax´lán galten schlechthin als nur bedingt umgängliche Wesen. Das änderte nichts daran, dass auch sie die Vorteile einer Zusammenarbeit mit anderen Völkern erkannt hatten. Und wer um ihr ausgeprägtes Eigeninteresse wusste und dazu ein gutes Verhandlungsgeschick bewies, konnte selbst mit den Ax´lán einträgliche Geschäfte machen.

In diesem Fall ging es jedoch um keinen Warenhandel, sondern um eine Hilfeleistung in einem Notfall, noch dazu mit Hilfe einer Technik, die sie zumindest nicht öffentlich bekannt gemacht hatten, wenn sie ihren Besitz, sollten sie diese Technik denn besitzen, überhaupt zugeben würden. Dass dieser Notfall ursächlich von einigen ihrer Volksgenossen in grauer Vorzeit verursacht worden war, würde ihre Hilfsbereitschaft sicher nicht sonderlich fördern. Damit hatte Tal-Vens bestimmt Recht. Die Ax´lán waren nicht bekannt dafür, besonders moralisch zu sein. Die Bemühungen der Oson war also alles andere als erfolgverheißend und weit entfernt davon, tatsächlich in eine tatkräftige Unterstützung zu münden. Aber, auch wenn sie sich tatsächlich dazu entschieden, den Oson zu helfen, ihre Unterstützung konnte frühestens in drei bis vier Wochen auf Elveran eintreffen.

Das wäre nicht unbedingt folgenschwer, wenn die Befreiung ihrer Freunde die einzige und letzte Aufgabe gewesen wäre, die auf Elveran wartete. Wenn das Zeitphänomen auch nicht leicht zu begreifen war, so war den Oson auf der ZETRIS doch klar, dass selbst in dem Fall, dass ihren Freunden später etwas zustoßen würde, oder zugestoßen wäre, sie die Zeit dann immer noch zurückdrehen konnten. Aber die Instabilität des Planeten und die unberechenbaren Eigenschaften des Chrysalkristalles ließen den Ausgang des ganzen Unternehmens mehr als ungewiss erscheinen und vielleicht hatten sie weniger Zeit, als sie dachten, um ihre Freunde zu retten. Deshalb hofften sie nicht weniger auf die Hilfe der Sinaraner.

„Aus diesem Grund werden wir die Befreiung der Sinaraner schon morgen beginnen“, erklärte Neneema. „Es gibt keinen Grund, noch länger zu warten. Ich würde zwar lieber zuerst versuchen, unsere Leute aus dem Zeitfeld zu holen, aber unter diesen Umständen haben die Sinaraner Vorrang.“

„Hoffentlich hält der Chrysalkristall nicht, was uns von ihm versprochen wurde“, meinte Taligh finster.

„Die Sinaraner haben uns ihr Wort gegeben, dass sie die Möglichkeit haben, für sichere Verhältnisse zu sorgen.“

„Hm, na hoffentlich überschätzen sie sich da nicht.“

„Da gibt es noch eine Beobachtung, die uns Rätsel aufgibt“, sagte Héth-Béckûs. „Vor zwei Tagen schickte die Antenne des Blauen Berges eine Reihe von Signalen in den Weltraum. Genau in die Richtung von Ax´lûm.“

„Nach Ax´lûm?“, wiederholte Taligh. „Das ist ja interessant. Konntet ihr die Signale verstehen?“

„Unsere Aufklärungsabteilung ist dabei, sie zu übersetzen. Sie waren verschlüsselt.“

„Was immer sie herausfinden, es wird mit der Seefestung oder mit der Forschungsstation zu tun haben“, meinte Taligh. „Ich halte es für unwahrscheinlich, dass der Blaue Berg rein zufällig nach der Zeitverschiebung angefangen hat zu senden. Das hängt miteinander zusammen, bin ich sicher.“

„Oder mit der Pyramide selbst“, meinte Gnee.

Was es tatsächlich bedeutete, konnte sich keiner von ihnen erklären. Dass die Ax´lán auf Elveran den sogenannten Blauen Berg, also diese Antenne, nicht zufällig in die Nähe der Urwaldpyramide errichtet hatten, war keine Frage, aber jeder, der davon wusste, war der Ansicht gewesen, dass sie die Aufgabe hatte, die Pyramide der Sinaraner zu überwachen und, wenn es so weit war, sozusagen in der Zeit verschwinden zu lassen. Doch dann hätte sie höchstwahrscheinlich in die Richtung der Seefestung gefunkt, oder zumindest in die Richtung einer Funkstation der Ax´lán auf Elveran. Warum sie aber gleich ins Weltall zu ihrem Heimatplaneten strahlte, war ein Rätsel, umso mehr, weil die elveranischen Ax´lán doch eigentlich unentdeckt von ihrem Volk bleiben wollten.

Aber noch unwahrscheinlicher war die Vermutung Hyldans, dass mit diesem Signal die zeitversetzte Forschungsstation samt Ruine der Seefestung nach Ax´lûm abgestrahlt worden war. Die Oson hatten zwar selbst in dieser Technik einige Fortschritte gemacht, aber um derartige Mengen von Materie als Funksignal durchs All zu befördern, waren unglaubliche Energiemengen notwendig. Und das Signal war eindeutig zu kurz und zu schwach gewesen, obwohl es durchaus als beachtlich angesehen werden konnte. Viel wahrscheinlicher war die Vermutung, dass die Ax´lán auf ihrem Heimatplaneten von dem Zeitexperiment erfahren hatten. Andererseits, warum hätten die elveranischen Ax´lán darauf Wert legen sollen? Die Oson fischten mit ihren Fragen und Antworten also im Trüben. Ihnen blieb nichts anderes als abzuwarten, welche Antworten sie in den nächsten Tagen erwarteten.

Am Abend trafen die vier mit Kirouena und Orlis zusammen. Es war ein freudiges Wiedersehen, wenn es auch von dem Schicksal der Zeitverschollenen überschattet wurde. Es gab einiges zu erzählen und sie saßen lange beieinander. Kirouena und Orlis hatten sich an den Routinedienst an Bord des Raumschiffes nur schwer gewöhnen können, trotzdem beneideten sie ihre Freunde nur bedingt um die Abenteuer, die sie nach ihrem Tod als Elveraner zu bestehen hatten. Nur die Drachen hätten sie gerne noch kennengelernt.

In den nächsten Tagen würden sie sich noch öfter sehen, denn an der Befreiung der Sinaraner aus ihrer Urwaldpyramide würden die beiden wieder beteiligt sein, aber nicht mehr nach Elveran zurückkehren.

In dieser Nacht schlief Taligh ziemlich unruhig und auch Gnee neben ihm wurde allzu oft von aufwühlenden Träumen heimgesucht. Immer wieder tauchten Bilder von Geschehnissen ihres vergangenen Einsatzes in kurzen Träumen auf. Dazu kam eine zunehmende Besorgnis durch die Erwartungen der kommenden Ereignisse. Eines jedoch blieb ihnen vorläufig erspart: der wehmütige Rückblick auf ihr früheres Dasein als Elveraner. Auch wenn sie bis auf weiteres noch ihre geliehenen Körper besaßen, denn sie mussten wieder auf die Planetenoberfläche zurückkehren, hatten ihnen die jüngsten Ereignisse noch keine Gelegenheit gelassen, sich danach zurückzusehnen. Ihnen war zwar klar, dass sie Everbrück nie wiedersehen würden, aber noch schmerzte sie der unfreiwillig klammheimliche Abschied von ihren früheren Freunden nicht. Zu viele andere Dinge schwirrten ihnen noch im Kopf herum. Erst einige Zeit später überkamen sie gelegentlich melancholische Erinnerungen an ihre Zeit als Elveraner.

Sie befanden sich in einem kleinen Raum neben dem Hangar für die Raumfähren: Neneema, Orlis, Taligh, Hyldan und Gnee. Bis auf Orlis, der bekanntlich wieder seinen osonischen Körper eingenommen hatte, wollten die anderen alle zur Urwaldpyramide hinabfliegen und mit den Sinaranern Verbindung aufnehmen. Vorerst sollten die Kristallfragmente aber noch auf dem Mutterschiff bleiben.

„Bevor wir den Kristall zusammensetzen, müssen wir darüber mit ihnen sprechen“, meinte Neneema. „Wie ihr wisst, wird das nicht ohne Risiko sein und ich möchte es nicht auf der ZETRIS tun.“

„Deine Vorsicht ist berechtigt“, meinte Taligh. „Alben Sur wies uns am Schluss selbst noch einmal eindringlich darauf hin, dass die Folgen beachtlich sein werden. Er sagte zwar, wir sind nur Erfüllungsgehilfen des Schicksals Elverans, aber dieser Umstand kann mich, ehrlich gesagt, nicht beruhigen.“

Jetzt, als sie kurz davor standen, das zu tun, worum sie die Sinaraner einst gebeten hatten, kamen ihm Zweifel. Am Tag zuvor waren ihnen die Warnungen trotz ihrer häufigen Wiederholungen und trotz seiner eigenen Erfahrungen immer noch übertrieben vorgekommen, denn keine hatte die Folgen anschaulich gemacht, und so hatten sie kaum darüber gesprochen.

Taligh berichtete jetzt, was Alben Sur im Einzelnen gesagt hatte. Neneema hörte sich die Geschichte in Ruhe an. Die Warnung vor den Kräften des zusammengesetzten Kristalles war nicht neu und sie kamen nicht nur von Alben Sur. Auch andere Quellen hatten zur Vorsicht geraten. Aber keine hatte anscheinend ein so ausführliches Wissen über ihn wie das ehemalige Oberhaupt des Ordens von Enkhór-mûl. Vieles davon war Neneema unbekannt. Trotzdem waren ihrem Denken derartig »übersinnliche« Dinge fern. Selbst den psychischen Seiten der Existenz Elverans hatte sie stets mit wissenschaftlichem Misstrauen gegenübergestanden. Sie zweifelte nicht daran, dass es da irgendetwas gab, was sie mit ihren Sinnen nicht fassen konnte, hielt eine gewisse Vorsicht diesen Behauptungen gegenüber aber für angebracht.

„Nun, ja. Warten wir ab, was die Sinaraner dazu sagen werden“, meinte sie dann, ohne sich zu Talighs Bericht zu äußern.

Immerhin hatte er mit keinem Wort versucht zu erreichen, dass der Kristall im letzten Augenblick doch nicht zusammengesetzt wurde. Dafür wäre es jetzt nach allem auch zu spät gewesen.

Dann gingen sie zur Raumfähre und kurze Zeit später fielen sie durch ein Schott den Sternen entgegen. Unter ihnen wurde die blaugrüne Kugel Elverans sichtbar und dann wurde sie zusehends größer, als der Pilot die Fähre auf die Planetenoberfläche hinabgleiten ließ.

Es war wie gewohnt heiß und feucht. Grell strahlte die Sonne auf sie hinab. Der Pilot hatte die Raumfähre auf der kahlen Fläche vor der Pyramide gelandet. Nicht weit entfernt stand die hoch aufragende, dünne Doppelspitze des Blauen Berges. Seit sie das Funksignal ins Weltall abgestrahlt hatte, schwieg sie wieder. Die Oson hatten begonnen, den Weltraum rund um Elveran verstärkt zu überwachen, nachdem sie die Möglichkeit in Betracht ziehen mussten, dass aufgrund der Sendung ax´lánische Raumschiffe auftauchen konnten, um den Grund dafür herauszufinden. Das Hilfeersuchen der Oson hatte Ax´lûm erreicht, aber bisher war noch keine andere Rückmeldung gekommen, als die, dass in den zuständigen Stellen darüber beraten wurde.

Vor der Pyramide der Sinaraner erwartete sie nach wie vor das Bild des Schlachtfeldes. Die Priester hatten einen Teil ihrer Ausrüstung zurückgelassen, die zerstreut in der Gegend herumlag. Der Boden war an einige Stellen aufgerissen. Dort waren osonische Geschosse eingeschlagen. Die Vegetation auf der Pyramidenoberfläche zeigte mancherorts Lücken und war teilweise angesengt oder ganz verbrannt. Am Fuß des Gebäudes fanden sich die Spuren der Versuche der Priester, es zu unterhöhlen. Sehr weit waren sie allerdings nicht gekommen. Auf den sichtbaren Oberflächen der Außenwände waren keine Schäden zu erkennen. Taligh wunderte sich darüber, denn nachdem, was die Sinaraner berichtet hatten, hatte er größere Schäden erwartet. Dass hier vor einiger Zeit gekämpft wurde, war nicht zu übersehen. Tote waren jedoch nicht zurückgeblieben, genauso wenig wie Waffen.

Die Sinaraner wussten, dass ein Beiboot der ZETRIS auf dem Weg zu ihnen war. Beim Eindringen in die Atmosphäre hatte der Pilot das verabredete Signal abgestrahlt.

„Hier war ja richtig was los“, fand Taligh, als sie vor der Pyramide standen und sich die Umgebung anschauten.

„Das kann man wohl sagen“, erwiderte Neneema, auf deren blaue Haut unter der Sonne Azurans ein Schimmern lag, das im Kunstlicht in den Räumen der ZETRIS kaum erkennbar war. „Ah, das Tor öffnet sich.“

In diesem Augenblick hatte sich der Eingang zur Pyramide aufgetan. Er wurde von keiner Tür verschlossen, sondern von einem Energiefeld, das im aktivierten Zustand den Eindruck einer geschlossenen, steinernen Oberfläche erweckte. Kurz darauf kam Osir an den Ausgang. Er verließ die Pyramide jedoch nicht, sondern winkte Neneema, Taligh, Gnee und Hyldan einladend herbei.

„Seid willkommen“, begrüßte er sie im Eingang. Hinter ihnen schloss er sich wieder, was an der Trübung des Lichtes in dem Gang zu erkennen war. Auch jetzt noch war ein Blick nach draußen möglich. „Besonders freut uns, einige aus der Gruppe zu sehen, die die lange Suche nach den Fragmenten auf sich genommen haben. Wie steht es damit und wie geht es euren Freunden?“

Offensichtlich war Osir nicht über die letzten Ereignisse unterrichtet.

„Das ist eine lange Geschichte“, erwiderte Taligh. „Vielleicht wäre es gut, wenn Gnum auch an der Unterredung teilnehmen würde. Es sind einige Dinge zu besprechen.“

Dass das Auftauchen der Oson kein reiner Freundschaftsbesuch war, hatte sich Osir schon gedacht. Aber jetzt wurde er neugierig, was sie ihnen berichten würden.

Osir ging mit ihnen in einen nahen Raum. Nach wie vor gab es keine Möbel und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich im Stehen zu unterhalten. Dann tauchte Gnum in der Begleitung eines dritten Sinaraners auf, den die Oson bisher noch nicht kannten. Gnum stellte ihn als Amenubis vor. Nach einer kurzen Begrüßung kamen sie bald zum wichtigen Teil ihrer Begegnung.

„Um es kurz zu machen“, begann Taligh ohne Umschweife, „wir haben die sieben Fragmente.“

„Alle sieben des Chrysalkristalles?“, vergewisserte sich Osir überrascht. „Wenn das stimmt, konntet ihr unsere Bitte am Ende unerwartet schnell erfüllen.“

„Ja, es stimmt, obwohl wir es gar nicht als so schnell empfunden haben. Und es verlief so wenig reibungslos, wie wir es erwartet hatten. Allerdings befinden sich die Fragmente noch auf der ZETRIS. Und wie es unseren Freunden geht, das wissen wir nicht.“

Die Sinaraner blickten ihn ernst an, dann bat Gnum ihn, der Reihe nach zu berichten.

Taligh begann mit der Begegnung zwischen ihnen und Alben Sur, kurz bevor sie Neerbucht erreichten. Die Sinaraner wussten noch nicht, dass es den Orden des Enkhór-mûl nicht mehr gab, ihnen war aber aufgefallen, dass er sich seit der verlorenen Schlacht nicht mehr um sie gekümmert hatte. Die Überfahrt in die Seemark schilderte Taligh nur in knappen Worten. Dann kamen die Ereignisse in der Ruine der Seefestung, das unerwartete Auftauchen von Elemaris und schließlich die Erkundung des Schiffes, in dem die Ax´lán ihre geheime Forschungsstation errichtet hatten, an die Reihe. Taligh berichtete von ihrer Verfolgung durch den Kampfroboter, die Ereignisse um den Tod Alben Surs und ihre anschließende Flucht aus dem unterirdischen Labyrinth. Und schließlich erwähnte er die Zeitverschiebung der Seefestung und mit ihr die ihrer Freunde.

Die Sinaraner waren nachdenklich geworden. Sie waren ehrlich überrascht darüber, dass dem Chrysalkristall Kräfte innewohnen sollten, die angeblich das ganze Planetensystem von Nephys erschüttern konnten. Und genauso ehrlich waren sie bestürzt darüber, dass sie einen Teil ihrer Gruppe in der Zeit verloren hatten. Unter diesen Umständen war selbst ihre Freude über ihre Rettung nicht so ungetrübt, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber am Ende durfte es für sie keine andere Lösung geben.

Nach einer kurzen Zeit des Überlegens sagte Amenubis:

„Einiges von dem, was ihr berichtet habt, ist uns bekannt. Es stimmt, dass dieser Kristall als Kraftquelle nicht von uns entwickelt wurde. Er wurde von unseren Vorfahren auf einem anderen Planeten entdeckt und dann nach Kukul gebracht. Dass wir ihn schließlich nach Elveran mitnahmen, hatte den Grund, dass er uns eine Macht gab, die uns ermöglichte, die Ax´lán zu beherrschen. Wir hatten jedoch keine Ahnung davon, dass er eigens für diesen Planeten geschaffen wurde, noch dazu von Wesen, von denen wir keine Vorstellung haben. Und ich glaube, es geht nicht nur mir so, wenn ich sage, dass mir das zu glauben schwerfällt.“

„Aber warum war es überhaupt eure Sache, die Ax´lán, die sich hierher geflüchtet hatten, zu überwachen?“, fragte Gnee.

„Nun, als wir ausgeschickt wurden, gab es noch den sogenannten Galaktischen Bund, das war die Vorläuferorganisation des Zivilisationsrates. Eines ihrer Gesetze war, bewohnte Planeten vor außerplanetarischem Einfluss zu bewahren, wenn die Einwohner ein bestimmtes Entwicklungsstadium noch nicht erreicht hatten. Dieser Schutz sollte auch gewährleistet werden, wenn dieser Einfluss von einem Volk ausging, das nicht zum Galaktischen Bund gehörte, also in diesem Fall von den Ax´lán.“

„Hätten die Ax´lán nicht selbst auf ihre Leute aufpassen können?“

„Ich bin sicher, dass sie nicht nur auf sie aufgepasst hätten, sondern sogar versucht hätten, sie wieder einzufangen. Doch das hätte Krieg auf Elveran bedeutet mit ungeahnten Auswirkungen. Die Ax´lán, die sich in der Zwischenzeit hier ausgebreitet hatten, hatten sich waffentechnisch weiterentwickelt. Sie wurden von einem Forschungsschiff des Galaktischen Bundes entdeckt, genauer gesagt, von dem Volk der Te´kumos. Um die Lage für die Elveraner nicht noch mehr zu erschweren, hat der Galaktische Rat beschlossen, den Ax´lán nicht von ihren Volksgenossen auf diesem Planeten zu unterrichten, sondern selbst dafür zu sorgen, dass nichts Schlimmeres geschah, als bereits geschehen war. Und da wir Sinaraner den Chrysalkristall besaßen und mit verhältnismäßig geringem Aufwand eine Überwachungsstation errichten konnten, übernahmen wir diese Aufgabe.“

„Hattet ihr denn nicht auch die Absicht, die Ax´lán von Elveran zu entfernen?“, fragte Gnee.

„Nein, auch das hätte wahrscheinlich Krieg bedeutet. Und den wollten wir unter allen Umständen vermeiden. Unser Ziel war es, ihre weitere Ausbreitung zu verhindern.“

„Wenn ihr den Kristall nicht eingebüßt hättet, wie hättet ihr dann den Ax´lán Einhalt bieten wollen?“, fragte Hyldan.

„Zugegeben, das ist eine unbeantwortete Frage“, antwortete jetzt Gnum. „Wir bezweifeln aber, dass wir den Untergang von Ax´lûm hätten verhindern können. Zwar waren uns ein Teil ihrer Experimente bekannt, aber dass sie dabei waren, die Kräfte von Nephys anzuzapfen, erkannten wir zu spät. Da hatten sie zwar noch nicht unseren Kristall in ihren Besitz gebracht, aber der Kontinent war nicht mehr zu retten. So mussten wir machtlos zusehen, wie sie seinen Untergang beschleunigten. Wir hätten es vielleicht aufhalten können, wenn wir rechtzeitig davon erfahren hätten, es zu verhindern, wäre sicher unmöglich gewesen.“

„Aber Alben Sur sagte, der Kontinent wäre früher oder später doch im Meer versunken“, wandte Gnee ein.

„So, sagte er das? Auszuschließen ist es nicht, aber wir hätten mehr Zeit gehabt, etwas gegen die Ausbreitung der Ax´lán über ganz Elveran zu unternehmen. Wir hätten ihnen irgendwo eine Kolonie zur Verfügung gestellt, vielleicht in einem Inselreich in einem der Ozeane.“ [Neneema bemerkte bald, dass irgendetwas an der Geschichte der Sinaraner nicht stimmen konnte. Einerseits wollten sie die Strafgefangenen auf Elveran belassen, um einen Krieg mit ihnen zu vermeiden, andererseits waren sie angeblich stark genug, um sie in einem begrenzten Gebiet festzuhalten. Das war widersprüchlich. Wären die Sinaraner so mächtig gewesen, wie sie behaupteten, hätte es ihnen kaum Schwierigkeiten gemacht, die Ax´lán einzufangen und schließlich auf einem anderen Planeten abzusetzen. Aber Neneema war nicht an endlosen Gesprächen über Ereignisse interessiert, die weit in der Vergangenheit lagen. Und wer weiß, vielleicht war Gnum, Osir und den anderen Wächtern auch nie die ganze Wahrheit mitgeteilt worden].

„Mit euren paar Leuten“, meinte Hyldan.

Gnum lächelte.

„Du unterschätzt unsere Möglichkeiten, die wir hatten.“

„Du meinst, gehabt hätten, wenn sie euch von einigen Ax´lán nicht genommen worden wären.“

„Na ja, ein Ruhmesblatt unserer Geschichte war es nicht und es fällt mir schwer, es einzugestehen, aber so war es wohl.“

„Warum habt ihr eure eigenen Leute nicht zu Hilfe gerufen?“, fragte Gnee. „Der Verlust des Kristalles war doch schließlich ein ausgesprochenes Unglück und stellte eure Aufgabe in Frage, wenn er sie nicht sogar unmöglich machte.“

„Das ist wahr“, gab Osir zu. „Wir sandten auch einen Hilferuf an unser Volk, aber es kam keine Antwort.“

„Das ist Geschichte und jetzt nicht mehr von Bedeutung“, erklärte Neneema entschieden. Noch hielt sie es nicht für angebracht, die Sinaraner darüber aufzuklären, warum wahrscheinlich eine Antwort ausgeblieben war. Und das hatte nichts mit dem Zustand ihrer Sonne Sina zu tun, der erst vor kaum einhundert Jahren kritisch wurde, sondern mit einem gewöhnlichen innenpolitischen Umstand, der kaum ein Volk, sei es zivilisiert oder auch nicht, ausließ. Vor eintausendfünfhundert Jahren war es auf Kukul zu einem verheerenden Bürgerkrieg gekommen, in dessen Folge vieles unterging und das Volk kaum noch die Kraft aufbringen konnte, dem Überwachungskommando auf Elveran zur Hilfe zu kommen. In diesen Wirren war der Hilferuf unweigerlich untergegangen. „Jetzt geht es darum, die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Und eines davon wird sein, den Ax´lán zu erklären, warum sie nicht von dem Ort, an dem ihr Gefangenentransport gelandet war, unterrichtet worden sind.“

„Wir verstehen nicht“, meinte Osir.

„Wir haben euch davon auch noch nichts erzählt. Wir hoffen auf die Hilfe der Ax´lán, um unsere in der Zeit verschollenen Freunde zurückzubringen. Allerdings wussten wir nichts davon, dass die Ax´lán von dieser Kolonie nichts erfahren haben.“

„Wie kommt ihr auf diesen Einfall?“, wunderte sich Amenubis.

„Wir glauben, dass sie selbst Zeitexperimente durchführen oder durchgeführt haben. Vielleicht haben sie eine Möglichkeit, unsere Leute ausfindig zu machen und in die Gegenwart zurückzubringen.“

„Aber auch ohne unser Hilfeersuchen dürften sie bald auf Elveran aufmerksam werden, denn kurz nach ihrem Verschwinden wurde eine Botschaft, die wir allerdings noch nicht entschlüsseln konnten, in die Richtung ihres Heimatplaneten abgestrahlt, und zwar von dem Blauen Berg. Offenbar ist er eine Sendeantenne“, sagte Taligh.

„Das war kein Hilferuf der ehemaligen Ax´lán auf Elveran“, erklärte Osir, „sondern eine Warnung, dass hier das Raumzeit-Gefüge durcheinandergeraten ist mit möglichen Folgen für andere Teile dieser Region des Weltalls. Deshalb wird es auch nicht mehr von sehr großer Bedeutung sein, wenn wir den Chrysalkristall zusammensetzen. In einigen Tagen werden sich umwälzende Veränderungen in diesem Sonnensystem ergeben.“

Neneema, Taligh, Hyldan und Gnee sahen die Sinaraner verblüfft an.

„Aber so ist es“, bestätigte Gnum.

„Wer sollte davor gewarnt werden, und warum?“, fragte Taligh.

„Die Botschaft war tatsächlich an die Heimatwelt der Ax´lán gerichtet, aber aus welchem Grund, wissen wir nicht. Das geht aus der Mitteilung nicht hervor. Genauso wenig erklärt sie die Frage, warum sich diese Kolonie ausgerechnet nach diesem Ereignis ihrer Heimatwelt offenbart, wo sie doch stets alles daran gesetzt hat, unentdeckt zu bleiben. Die jüngste Geschichte ist also voller Rätsel.“

„Dann wusstet ihr von der Zeitverschiebung in der Seemark?“, fragte Taligh.

„Wir haben einen ungewöhnlichen energetischen Vorgang angemessen, konnten auch den Ort herausfinden, wo er stattgefunden haben musste. Seine Bedeutung blieb uns aber unklar, bis wir das Signal von dem Blauen Berg auffingen.“

„Das hört sich so an, als bleibt uns nicht mehr viel Zeit, euch zu euren Körpern und uns zu unseren Freunden zu verhelfen“, meinte Hyldan.

„Nur wenige Tage, und wenn ihr empfindliche Geräte an Bord der ZETRIS habt, dann werden sie in Kürze die ersten Anzeichen dafür feststellen.“

[Als Taligh später seinen Bericht über ihren Einsatz auf Elveran verfasste, fiel ihm wieder ein, dass sie nie erfahren hatten, was es mit dem Tor der Zeit, das der Blaue Berg auch darstellen sollte, auf sich hatte. Allerdings war er nicht unglücklich darüber, denn von Zeitexperimenten hatte er die Nase gestrichen voll].

„Eigentlich haben die Ax´lán keinen Grund mehr, sich zu beklagen, warum sie von dieser Kolonie nichts erfahren haben, denn es waren ihre eigenen Leute, die den Keim für die baldigen Ereignisse gelegt haben, die die Existenz dieses Planeten verändern werden“, sagte Gnee.

Damit ließ sie zwar einige Erkenntnisse außer Acht, aber es stimmte, dass die Aktivitäten der Ax´lán diese Ereignisse beschleunigten.

„Hoffentlich hält sie dieser Umstand davon ab, das anders zu sehen“, meinte Hyldan düster.

„Ich fürchte, dann werden sie auf jeden Fall zu spät hier ankommen“, sagte Taligh. „Habt ihr eine Idee, wie wir unsere Leute finden können?“

Er schätzte die Aussichten nicht allzu schlecht ein, denn schließlich hatten die Sinaraner die Einrichtung der Pyramide aus Gründen der Sicherheit um fünf Minuten in der Zeit verschoben und hielten sie dort schon viele Jahrhunderte. Doch die Antwort von Amenubis fiel ernüchternd aus.

„Wir könnten wohl feststellen, wann sie sich auf Elveran befinden, sofern sich nicht auch der Ort, an dem sie sich aufhalten, verändert hat. Aber sie wieder in die Gegenwart zurückholen, dazu haben wir nicht die Mittel, leider.“

„Dann hilft uns nur noch ein Wunder“, murmelte Gnee bestürzt und dachte an ihre Schwester.

Für Neneema war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um auf Mirakel zu setzen. Wenn die Veränderung schon nicht mehr aufzuhalten war, dann gab es auch kein Hindernis mehr, den Chrysalkristall anzuwenden. Allerdings hatte sie noch keine Ahnung, wie das geschehen sollte. Dazu erklärten die Sinaraner Folgendes: Die Fragmente mussten in der Pyramide zusammengesetzt werden, denn dort konnten sie ein Feld erzeugen, dass die Kräfte des Kristalles umschloss. Vormals hatten sie ihn in einer Flasche aus einer besonderen Energieform aufbewahrt. Kein Behälter aus Materie hätte die Welt vor der Macht des Kristalles schützen können. Anschließend mussten seine Energien kontrolliert in die Generatoren geleitet werden, der das Kraftfeld erzeugte, das die Körper der Sinaraner am Leben hielt. Dadurch wurde ihre Struktur in einer Weise verändert, dass sie als Geister darin wieder aufgenommen werden konnten.

Was sich so einfach anhörte, war ein hochempfindlicher Prozess und die geringste Abweichung von den Sollwerten konnte für sie in einer Katastrophe enden.

Mit gemischten Gefühlen flogen Neneema, Taligh, Hyldan und Gnee wieder zur ZETRIS zurück. Ihre Sorge galt nicht nur ihren verschollenen Freunden, sondern auch den Folgen des Zusammensetzens des Chrysalkristalles. Bei Neneema waren es weniger die Warnungen Alben Surs und die Behauptungen einiger Legenden, die sie nachdenklich stimmten, als vielmehr die wissenschaftlichen Erklärungen der Sinaraner. Die Oson versuchten sich zwar damit zu beruhigen, dass eine Veränderung des Planeten unvermeidlich war, aber in wie fern sie möglicherweise durch den Kristall beeinflusst wurde, war allen noch unklar. Darüber hatten ihnen die Sinaraner auch nichts sagen können.

Und eine weitere Sorge tauchte auf. Mit dem Planeten waren von diesen Veränderungen Millionen von Elveranern, Ogmari, Haräen, Trochäen und selbst Walgeister betroffen, von allem Getier ganz zu schweigen. Was wurde aus ihnen, wenn das Experiment der Sinaraner scheiterte und die Kräfte des Kristalles nicht unter ihrer Kontrolle blieben? Manchmal schwindelte ihnen bei dem Gedanken, sie würden sich mitschuldig machen an dem Untergang dieses Planeten.

Doch dann fielen Taligh, Hyldan und Gnee wieder die Worte Trywfyns ein, wonach der Planet mit all seinem Leben nur in eine andere Daseinsform übergehen würde und die Ogmari dann von Elveran verschwinden würden. Er hatte von dem Großen Auszug gesprochen, der die Ogmari wieder in ihre Heimat zurückbringen würde. Taligh ahnte, dass der Edoral mehr Einblicke in die Dinge gehabt hatte, als er ihnen offenbarte, ähnlich wie Alben Sur. Damals hatte Taligh nur wenig von dem verstanden, was Trywfyn ihnen erzählte und vieles davon schienen vage Prophezeiungen gewesen zu sein. Deshalb hatte er seinen Worten nicht immer so aufmerksam gelauscht, wie es angemessen gewesen wäre. Jetzt hätte er viel darum gegeben, noch einmal mit ihm darüber sprechen zu können. Vielleicht hätte es sein Gewissen beruhigt.

Das Erste, was sie an Bord der ZETRIS taten, war die Ortungszentrale aufzusuchen. Sie rechneten nicht damit, dass bereits ein Ax´lán-Schiff in Reichweite der Überwachungssonden aufgetaucht war, aber in jenem Raum befanden sich auch die Geräte, die sie über den Zustand Elverans auf dem Laufenden hielten. So manche Veränderung, die sie in letzter Zeit festgestellt hatten, war hier aufgezeichnet worden. Aber weder war das eine eingetreten noch hatte sich das andere verstärkt.

Anschließend erstatteten Neneema und Taligh dem Stab der Wissenschaftler und Offiziere, die mit dem ganzen Unternehmen betraut waren, Bericht. Allerdings blieb es bei diesem Bericht, denn der Plan, den sie mit den Sinaranern besprochen hatten, wurde nicht verändert.

Dann holten Neneema und Taligh die sieben Fragmente aus der Sicherheitskammer und verluden sie in der Raumfähre. Dieses Mal würden nur diese beiden und der Pilot auf die Oberfläche Elverans zurückkehren. Aus Sicherheitsgründen sollten Gnee und Hyldan an Bord zurückbleiben und die ZETRIS sich bis hinter die äußere Mondbahn zurückziehen. Beide waren nicht sofort damit einverstanden, genauso wie Vanes, der als Mitglied des Bodeneinsatzkommandos meinte, auch bei dem letzten Akt ihres Abenteuers dabei sein zu müssen, aber schließlich fügten sie sich widerwillig in ihr Schicksal, das diesbezüglich mit einem Befehl von Neneema besiegelt wurde.

Zum zweiten Mal an diesem Tag verließ die Raumfähre das Mutterschiff in Richtung Elveran. Wie sich die ZETRIS zurückzog, konnten sie durch die Fenster nicht mehr sehen, denn schnell verschwand ihr schwarzer Leib zwischen den Sternen. Der letzte und folgenschwerste Abschnitt des ganzen Unternehmens hatte begonnen.

Der Pilot setzte Neneema und Taligh samt ihrer Kiste vor dem Eingang der Urwaldpyramide ab und zog sich dann wieder in die Umlaufbahn des Planeten zurück. Das Unternehmen, das sie jetzt begonnen hatten, barg einpaar ungewisse Risiken und weder der Pilot noch die Fähre sollten einer unnötigen Gefahr ausgesetzt werden, aber er sollte sich nicht so weit von ihrem Standort entfernen, dass er sie nicht in kürzester Zeit von der Planetenoberfläche zurückholen konnte. So bezog er einen stationären Beobachtungsposten einige Kilometer über der Urwaldpyramide und diente gleichzeitig als Verbindungsstation zwischen Taligh und Neneema und der ZETRIS.

Osir und Gnum erwarteten die beiden bereits. Es war das erste Mal, dass die Oson in die unteren Bereiche der Pyramide eingelassen wurden. Durch einen vormals verborgenen Schwerkraftaufzug erreichten sie das erste Stockwerk unter der Grundfläche der oberen Pyramide. Jetzt war Taligh die Wirkungsweise des Schachtes kein Rätsel mehr und die »magische« Treppe, wie sie sie einst genannt hatten, hatte viel von ihrer ursprünglichen Magie verloren.

Der Raum, den sie jetzt betraten, war nicht der, in dem die Sinaraner ihre Körper aufbewahrten. Doch er lag unmittelbar daneben. Unter diesem Stockwerk befanden sich die Räume mit den Energieaggregaten.

Es war auch das erste Mal, dass die Oson einen Raum betraten, der Einrichtungsgegenstände und technische Geräte enthielt. Gnum erklärte, dass alles Inventar, das sie bisher in der Zeit versteckt hatten, wieder in die Gegenwart zurückgekehrt war. Würden sie jetzt die oberen Stockwerke untersuchen, dann würden sie die Räume in ihrem ursprünglichen Zustand vorfinden. Die wichtigsten Dinge befanden sich aber in der unteren, auf dem Kopf stehenden Pyramide. Wenn die Rückkehr in ihre Körper gelungen war, würden die Sinaraner die Pyramide nicht mehr benötigen und den Oson überlassen. Doch er bezweifelte, dass sie besonders interessante Dinge vorfinden würden, denn die gesamte Einrichtung war dreitausendsiebenhundert Jahre alt und somit verglichen mit dem gegenwärtigen technischen Niveau völlig veraltet. Einzig und allein die Maschine, die die Zeitverschiebung ermöglichst hatte, mochte für die Oson von einigem Interesse sein.

„Ihr wollt also alles aufgeben?“, fragte Taligh.

„Ja, und für einige Zeit wird die Pyramide und alles, was sich darin befindet, unverändert bleiben. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Absicht haben, hierher zurückzukehren. Wir vermuten, dass auch ihr bald den Planeten verlassen werdet. Für drei Monate steht euch die Pyramide zur Verfügung. Was ihr gebrauchen könnt, gehört euch. Aber in drei Monaten wird sie mit allem, was sich dann noch darin befindet, endgültig verschwinden. Über dieser Pyramide liegt nämlich ein Geheimnis, von dem niemand außer uns etwas weiß. Sie ist die Schablone einer Pyramide unserer Heimatwelt, besteht aber nicht aus festem Material, wie ihr sicher immer gemeint habt. Sie besteht in Wirklichkeit aus einem Kraftfeld, dass die Struktur der Pyramide auf Kukul nachahmt. Nur die Gerätschaften im Inneren sind materiell. Aber auch sie werden vergehen, wenn sich die Pyramide sozusagen in Luft auflöst. Wenn wir wieder unsere Körper eingenommen haben, werden wir den Auflösungsmechanismus aktivieren.“

Taligh wunderte sich über die Zuversicht der Sinaraner, dass alles reibungslos verlaufen würde. Immerhin befanden sie sich inzwischen über eintausendfünfhundert Jahre außerhalb ihrer Körper, da konnten sie auch bei den besten Überwachungsgeräten Schaden genommen haben. Aber er behielt seinen Zweifel für sich und hoffte, dass aus den Erwartungen der Sinaraner keine Tragödie wurde. Und was die Pyramide betraf: die drei Monate, die die Oson Zeit haben würden, um sie zu untersuchen, waren illusorisch, denn wenn sich Elveran tatsächlich in den nächsten Tagen verändern würde, würden sie diese Frist kaum noch nutzen können. Und niemand konnte sagen, welcher Art diese Veränderungen sein würden.

„Was geschieht mit dem Chrysalkristall?“, fragte Neneema.

Die beiden Sinaraner wurden nachdenklich. Anscheinend hatten sie darüber noch keine klaren Vorstellungen.

„Das ist schwer zu sagen“, meinte Osir. „Wir hatten natürlich vor, ihn mitzunehmen. Schließlich haben wir ihn auch hierher gebracht. Doch jetzt haben wir Zweifel daran. Wer kann sagen, was er anrichten könnte. Würdet ihr nach allem Anspruch auf ihn erheben?“

Jetzt wurden Taligh und Neneema nachdenklich. Doch dann meinte Neneema entschieden:

„Nein, auch wir hatten uns vorgenommen, ihn für uns zu behalten, nachdem er euch die Rückkehr in eure Körper ermöglicht hat. Seltsam, wir hegen ähnliche Bedenken wie ihr. Vielleicht ist es daher besser, wir überlassen ihn euch.“

„Wir haben uns über die Worte Alben Surs Gedanken gemacht und manche Dinge, die er sagte, lassen uns an unseren Absichten zweifeln. Schließlich werden wir darüber entscheiden, wenn alles zu Ende ist“, sagte Taligh.

Hätten sie sich in diesem Augenblick beobachteten können, wäre ihnen ihre Unentschlossenheit amüsant vorgekommen. Sie hatten möglicherweise eine Auseinandersetzung um dieses Juwel der Macht erwartet, doch jeder von ihnen glaubte plötzlich, er traf seine Entscheidung, auf den Kristall zu verzichten, aus freien Stücken und aus der Einsicht, dass er ein zu gefährlicher Gegenstand war.

Was jedoch keiner von ihnen ahnte, in diesem Augenblick standen sie, ob als Geist oder als irdisches Wesen unter dem Einfluss des Chrysalkristalles, der alles andere vorhatte, als mit ihnen den Planeten wieder zu verlassen, denn jetzt befand er sich endlich an dem Ort, an dem er die Wirkung entfalten musste, für die er einst erschaffen worden war.

Der Chrysalkristall war kein seelenloses Mineral, hübsch anzusehen, wenn er zusammengesetzt war, aber erfüllt von einer inneren Leere. Er war von Anfang an als ein denkendes Wesen erschaffen worden, mit der dauerhaftesten Gestalt, die sich denken ließ und einem Bewusstsein dafür, was der Sinn seines Daseins war. Und sein Dasein war untrennbar mit dem Wesen Elveran verbunden. Für einen Ortswechsel jedoch war er auf die Hilfe beweglicher Wesen angewiesen.

Dass Talighs und Tjerulfs Gruppe seine Fragmente gefunden hatten, war nicht zuletzt auf seine Mithilfe zurückzuführen, auch wenn die Umstände aus menschlicher Sicht kaum als berechenbar oder vorhersehbar gelten konnten. Trotzdem hatte er einen entscheidenden Einfluss auf die Umstände ausgeübt, und das über lange Zeiträume.

Es war kein Zufall gewesen, dass er einst von Sinaranern auf einem Planeten entdeckt wurde, der sich in einer Frühphase seiner Entwicklung befand. Genauso wenig war es Zufall, dass er genau die Energie besaß, die es den Sinaranern erlaubte, mit wenigen Leuten die Überwachung der zahlreicheren Ax´lán durchzuführen. Die - unbekannterweise nicht ganz freiwillige - Ankunft eines ax´lánischen Gefangenentransportes auf Elveran war keine Notwendigkeit, aber eine der Möglichkeiten, in deren Folge der Kristall auf den Planeten gelangen konnte. Tatsächlich hatte der Kristall auf diese Entwicklung keinen Einfluss gehabt, aber die danach ablaufenden Ereignisse ließen ihn Elveran auf einen konsequenteren Weg erreichen, als es durch das Herbeiführen möglicher anderer Entwicklungen hätte geschehen können. Die Schandtaten, die später folgten, gehörten nicht zu diesem Plan und waren für das Wesen Elveran und den Chrysalkristall bedeutungslos.

Die Sinaraner brachten den Kristall also auf diesen Planeten, hielten ihn aber in so guter Obhut, dass für ihn die Gefahr bestand, wieder von dem Planeten fortgebracht zu werden. Also musste er sich von den Sinaranern trennen, um seine Wirkung entfalten zu können. So brachte er die Ax´lán dazu, ihn bei einem Überfall auf die Sinaraner zu entwenden, und beeinträchtigte gleichzeitig für eine kurze Frist die Aufmerksamkeit seiner Hüter, bis der Raub unumkehrbar geworden war.

Nach einigen weiteren seltsamen Geschicken ließ er es sogar zu, dass er in eben die berühmten sieben Fragmente zerlegt und für eine Weile an verschiedenen Orten auf Päridon versteckt wurde, denn noch war die Zeit seiner wahren Machtentfaltung nicht gekommen.

Allerdings beließ er es nicht dabei. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt musste er wieder zusammengesetzt werden, und das war am Ende des irdischen Kreislaufs des Planeten Elveran. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Sinaranern und den Oson, die schließlich zum Unternehmen »Schatzsuche« führten, waren jedoch ein Teil ihres Gesamtvorhabens auf Elveran, der weder unter dem Einfluss des Chrysalkristalles noch des Geistwesens Elverans zustande gekommen war. Dafür waren andere Mächte verantwortlich. Doch jetzt, als der Kristall kurz davor stand, wieder zusammengesetzt zu werden, würde er dafür sorgen, auf ewig auf Elveran zu bleiben. Sein Platz war genau in der Mitte des Planeten. Zusammen mit dem Wesen Elveran würde er die Entwicklung des Planeten vorantreiben. Es war eine Entwicklung, die jedoch nicht mehr im physischen Teil des Universums stattfinden sollte.

[Wem dieser kosmische Plan allzu sehr an den Haaren herbeigezogen erscheint, dem sei verziehen. Für die schlichten menschlichen Gemüter kann er gar nicht nachvollziehbar sein. Das ändert aber nichts daran, dass alles Gesagte genau den wahren Umständen entspricht. Und er ist nicht der einzige dieser Art. Im Universum existierten und existieren seit ewigen Zeiten verwirrende, aber absichtsvolle Vorgänge, von denen sich manche umschließen, ohne aufeinander einzuwirken].

In dem Raum, in dem sich Osir, Gnum, Neneema und Taligh aufhielten, gab es einen Hochsicherheits-Glasschrank. Er konnte durch ein Energiefeld abgeschirmt werden, das die Sinaraner für stark genug hielten, um die Kräfte des Kristalles im Zaum zu halten. Die Sinaraner kalkulierten mit den Erfahrungen, die sie mit ihm gemacht hatten, bevor er ihnen gestohlen wurde. Sie konnten nicht ahnen, dass er sich in der Zwischenzeit weiterentwickelt und die Art seiner Kräfte sich verändert hatte. Hätten sie es geahnt, wären sie vielleicht nicht mehr so hoffnungsvoll an ihr Vorhaben herangegangen. Andererseits war es ihre einzige Möglichkeit, sich mit ihren Körpern wiederzuvereinigen. Schließlich hatten seine Kräfte einst die Abspaltung ihrer Seelen von den Körpern bewirkt. Dieser Prozess hatte den Sinaranern gerade noch genug Zeit gelassen, die lebenserhaltenden Maßnahmen für ihre Körper zu vollenden. Tatsächlich wurde der Kristall erst anschließend von den Ax´lán in ihren Besitz gebracht. Aber die genaue Chronologie war selbst den Sinaranern nach so langer Zeit nicht mehr gegenwärtig.

Der Glasschrank war nicht eigens für das folgende Verfahren gebaut worden. Er gehörte einst zu der Grundausstattung der sinaranischen Expedition. An der Vorderseite waren zwei Hebel befestigt, mit denen Greifarme im Inneren des Behälters gesteuert werden konnten. Dort sollten jetzt die Fragmente zusammengesetzt werden.

„Bevor wir beginnen, müssen wir euch noch etwas sagen“, erklärte Gnum. „Ihr seid in Sorge um eure zeitverschollenen Freunde. Während ihr die Fragmente von eurem Raumschiff geholt habt, haben wir versucht, ihre Aufenthaltszeit herauszufinden. Es ist uns gelungen. Sie befinden sich genau vier Tage und siebenkommazwei Stunden in der Vergangenheit. Der Ort ist immer noch der, an der die Ruine der Seefestung sich befand. Vielleicht sollten wir sagen, befinden wird, aber das ist zu kompliziert. Diese Auskunft wird euch nicht weiterhelfen und wir können nichts für sie tun. Aber vielleicht könnt ihr später noch etwas damit anfangen. Leider konnten wir nicht feststellen, ob sie noch leben.“

„Das erscheint mir tatsächlich nicht viel“, meinte Taligh.

„Ich fürchte, ohne Hilfe liegt zwischen uns ein unüberbrückbarer Graben, ein Graben aus Zeit“, sagte Neneema. „Ich danke euch trotzdem. Vielleicht kann es uns wirklich nützen, obwohl ich im Augenblick nicht wüsste, wie.“

„Wir werden uns jetzt zu unseren Brüdern zurückziehen“, erklärte Osir. „Es ist wichtig, dass wir uns bei unseren Körpern aufhalten, wenn der Kristall beginnt, seine Kräfte zu entfalten. Geht vor, wie wir es besprochen haben. Wir können nicht sagen, wie lange es dauern wird und auch nicht, ob es Nebenerscheinungen geben wird. Doch habt keine Angst. Öffnet nicht die Tür dort, bevor wir es selbst tun. Ich hoffe, wir werden uns in Kürze in leiblicher Gestalt gegenüberstehen.“

Er hatte versucht, seine Anweisungen entschieden zu geben, aber Taligh und Neneema hatten den beunruhigten Klang in der Stimme nicht überhört. Er war verständlich, denn die Folgen dessen, was sie vorhatten, waren nicht so berechenbar, wie sie es wünschten. Gnum und Osir verblassten und verschwanden.

„Dann wollen mir einmal“, meinte Taligh mit gemischten Gefühlen.

Richtig wohl fühlten sich auch Neneema und Taligh nicht, denn sie konnten nicht ausschließen, dass die Kräfte des Kristalles auch auf sie wirkten. Taligh erinnerte sich an den Augenblick, als auf der Insel Kaphreigh die Welt um sie herum in einem gewaltigen Wirbel zu versinken drohte, mit ihnen in seiner Achse, doch er schob diesen Gedanken entschlossen von sich. Jetzt hatte es keinen Sinn mehr, durch überflüssiges Zögern Zeit zu verlieren.

Er öffnete die Kiste, in der sie die Fragmente nach Elveran gebracht hatten, und legte die einzelnen Behälter mit den Fragmenten durch eine seitliche Klappe in den Glasschrank. Dann verschloss er die Klappe sorgfältig. Anschließend betätigte er einpaar Knöpfe an einem Schaltschrank und schob langsam einen kleinen Hebel vor, so, wie die Sinaraner es ihnen erklärt hatten. Es geschah nichts, außer dass sich ein leichtes Flimmern um den Glasschrank legte, aber auch darauf hatte Osir sie vorbereitet. Es gab kein Summen, Knistern oder Brummen, alles ging vollkommen lautlos vonstatten. Das Flimmern jedoch bewies, dass sich das schützende Kraftfeld um den Glasschrank gelegt hatte. Als sich Taligh davon überzeugt hatte, dass alle Kontrollämpchen grün leuchteten, meinte er:

„Jetzt bist du dran, Neneema.“

Ihr fiel die Aufgabe zu, den Kristall zusammenzusetzen.

Mit erstaunlich ruhiger Hand und als hätte sie so etwas schon öfter getan, zog sie mit den Greifarmen ein Fragment nach dem anderen aus seinem Behälter und legte die Stücke säuberlich nebeneinander: violett, silbern, grün, gelb, türkis, blau, rosa. Nichts geschah. Vordergründig harmlos, glitzerten ihre Flächen in dem grellen Licht der Arbeitslampe.

Es war ein kleines Puzzlespiel, denn sie musste erst herausfinden, wie die Teile zusammenpassten. Das war nicht sofort ersichtlich. Schließlich setzte sie den Chrysalkristall in umgekehrter Reihenfolge zusammen, wie sie die Fragmente entnommen hatte.

Taligh stand angespannt und schweigsam ein wenig abseits, um Neneema bei ihrer Arbeit nicht zu stören. Jedes Mal, wenn sie wieder ein Stück eingepasst hatte, versteifte er sich unwillkürlich, weil er mit irgendwelchen Nebenwirkungen rechnete, doch es geschah immer noch nichts. Bis dem Kristall das letzte Fragment eingefügt worden war, behielten die anderen sogar ihre Farbe. Dann ging eine wunderbare Veränderung mit ihm vor sich. Er fing an zu funkeln und die Farben liefen ineinander und erzeugten Wellen und Wirbel auf seinen Oberflächen, während die Stücke zusammenwuchsen. Neneema trat einen Schritt zurück.

Es dauerte eine geraume Zeit, ehe sich die Farbspiele beruhigten und der Kristall seine ursprüngliche Farbe hergestellt hatte. Und dann begann er, in einem glänzenden, goldenen Licht zu erstrahlen.

Jetzt verstanden Neneema und Taligh, woher der Chrysalkristall seinen Namen hatte. Der ganze Raum wurde in einen goldenen Glanz getaucht. In ihrem weltentrückten Erstaunen vergaßen die beiden sogar zu überprüfen, ob die Energien des Kristalles eingefangen und in den Nebenraum weitergeleitet wurden. Erst nach einer Weile fassten sie sich wieder. Der Kristall strahlte unvermindert und Neneema verdunkelte das Glas der Schrankwände.

„Es scheint zu funktionieren“, meinte Taligh. „Die Anzeige bestätigt einen erhöhten Energiefluss in die Geräte des Nebenraumes.“

Jetzt galt es abzuwarten.

Als das letzte Fragment mit ihm vereinigt war, erwachte der Kristall zu bewusstem Leben und stellte fest, dass er wieder einmal in einem energetischen Käfig steckte. Und gleichzeitig fühlte er, wie ihm ein Teil seiner Kraft entzogen wurde. Es war nicht existenzbedrohend, aber unangenehm. Er hätte dem Zustand unmittelbar ein Ende bereiten können, aber er wollte nicht voreilig handeln. Zuerst wollte er herausfinden, was da mit ihm geschah. Er hatte keine Angst. Er brauchte keine Angst zu haben. Er war aber neugierig. Nach all den Jahrhunderten der Auflösung stellte er fest, dass er die Neugierde, die ihn einst erfüllt hatte, immer noch besaß.

Er erblickte die beiden Menschen, die außerhalb dieses seltsamen Glaskastens gebannt auf ihn starrten. Vorsichtig tasteten seine Gedanken nach den ihren. Sie gehörten offensichtlich keinem Volk an, das in die einstmaligen Ereignisse verwickelt war. Sie nannten sich Oson. Er bemerkte bei ihnen eine ungewöhnliche Fesselung, die offensichtlich ihm selbst galt. Er schmunzelte, was ihm als Mineral jedoch nur innerlich möglich war. Er hatte den Eindruck, als ob die beiden etwas sahen, was sie nicht erwartet hatten. Doch es gab keinen Zweifel, sie hatten ihn wieder zu einem Ganzen zusammengefügt. Trotzdem fühlte er dabei keine Dankbarkeit, denn das war ihm von vornherein bestimmt gewesen, und wäre es nicht durch sie geschähen, dann hätten es andere getan.

Als der Kristall tiefer in sie Eindrang, begriff er die Zusammenhänge und erfuhr die Gründe ihrer Anwesenheit in diesem Augenblick. Er war über die Maßen verblüfft darüber, was in der Zeit, seit er zerlegt worden war, an die er sich vergleichbar mit einem Traum organischer Lebewesen erinnerte, alles geschehen war. Gleichzeitig stellte er bei ihnen eine merkwürdige Spannung fest. Das hatte mit einem Ereignis zu tun, dass nicht unmittelbar seine »Wiederauferstehung« betraf. Die Gedanken des Mannes waren am deutlichsten und dann begriff der Kristall. In diesem Augenblick sollte ein Vorgang rückgängig gemacht werden, den er selbst vor vielen Jahren verursacht hatte. Natürlich, die Sinaraner wollten ihre Körper zurück.

Der Kristall erschrak. Wie lange war das her? Er forschte weiter in der Erinnerung der beiden Menschen. Wer waren die Oson überhaupt? Wie Sinaraner sahen sie nicht aus, wie die Elveraner, die er kannte, auch nicht. Er entdeckte bei ihnen das Wissen um die Dauer eines Zeitraumes von über eintausendfünfhundert Jahren. So lange war er also in alle Winde zerstreut gewesen? Obwohl er als Kristall in ganz anderen Zeitmaßstäben dachte, war dieser Umstand selbst für ihn unbegreiflich, denn er wusste, dass organische Lebewesen eine weit kürzere Lebensspanne besaßen als er selbst.

Das hatte der Kristall damals nicht gewollt. Natürlich wollte er die Sinaraner verlassen und die Ax´lán kamen ihm als Helfer ganz gelegen. Im Anschluss hatte er mit ihnen noch einigen Spaß gehabt, obwohl sie das bestimmt anders beurteilt hatten, aber das war Geschichte. Also hatten es die Sinaraner nicht geschafft, sich von ihrer Schwäche zu erholen. Ja, jetzt wusste er es wieder. Ihre Seelen hatten sich tatsächlich von ihrem Körper getrennt. So weit sollte die Entwicklung gar nicht gehen. Der Kristall beabsichtigte eine vorübergehende seelische Schwächung, aber keine vollständige Trennung von beidem. Doch damals war es zu spät gewesen, es wieder rückgängig zu machen.

Die Zeit, in der er zerlegt war, verbrachte er wie in einem Traum. Seine Handlungsmöglichkeiten waren eingeschränkt und er vergaß vieles, an das er sich jetzt erst wieder erinnern musste. Er sehnte sich nach der Ruhe seines zukünftigen Bestimmungsortes. Aber ihn erfüllte jetzt auch ein schlechtes Gewissen gegenüber den Sinaranern. Er musste wieder gut machen, was er ihnen angetan hatte. Doch dazu musste er erst einmal herausfinden, was gerade vor sich ging.

Der Kristall zog seine geistigen Fühler von den beiden Menschen zurück und spürte der Energie nach, die er beständig verlor.

„Hast du das auch gefühlt?“, fragte Taligh verblüfft. „Irgendetwas hat sich einen kurzen Augenblick in meinen Gedanken befunden. Es kam von außen. Jetzt ist es wieder fort.“

„Ja, auch ich habe es gespürt. Fragen. Es versuchte, seine Fragen mit meiner Erinnerung zu beantworten. Es war sanft und nicht fordernd. Seltsam.“

„Glaubst du, es war der Kristall?“

Neneema zuckte mit den Achseln.

Die geistigen Fühler des Kristalles erreichten die Geräte, die die Körper der Sinaraner am Leben erhalten hatten, und drangen in die Körper ein. Erschrocken bemerkte er plötzlich die Todesqualen der Sinaraner. Die Seelen waren tatsächlich zurückgekehrt, aber um welchen Preis. Die Kraft, die sie dem Kristall entzogen, war eine andere, als die, die sie berechnet hatten. Es blieb nicht mehr viel Zeit. In wenigen Augenblicken mussten die Körper ihre Lebensfunktionen einstellen.

Der Kristall änderte im letzten Augenblick seine Frequenz, verringerte die Schwingungen und passte sie den Körpern an. Er blockierte die Apparaturen, schaltete sie ab und ließ nur noch seine eigenen Kräfte wirken. Allmählich wurden die Schwingungen zwischen den Seelen und den Körpern harmonischer. Er spürte die Erleichterung der Sinaraner. Der Kristall ließ seine Fühler von einem zum nächsten wandern, überprüfte die Lebensfunktionen, änderte, was geändert werden musste, und glich an, was notwendig war. Zufrieden stellt er fest, dass alles wieder gut war. Die Rückkehr der Seelen in ihre Körper war im letzten Augenblick gelungen.

Für eine kurze Zeit schickte er sie in einen traumlosen Schlaf und zog sich dann wieder von ihnen zurück. Jetzt konnte er diesen Ort verlassen. Jetzt konnte die Verwandlung Elverans beginnen. Der Kristall machte sich auf den letzten Weg, den Weg zu dem Herrscher über diesen Planeten.

Unterwegs machte er eine überraschende Entdeckung. Er war nicht das einzige Energiewesen auf dem Planeten, das ihn von außerhalb erreicht hatte. Es gab ein weiteres, ihm ungewöhnlich ähnlich, und wie der Kristall spürte, streckte es seine suchenden Fühler nach ihm aus. Dieser Sache musste der Kristall zuerst auf den Grund gehen.

Der goldene Schein, der den Raum erfüllt hatte, verschwand übergangslos. Neneema nahm die Tönung aus den Fenstern des Glasschrankes heraus, aber daran hatte es nicht gelegen.

„Er ist weg!“, sagte Taligh überrascht. „Einfach verschwunden!“

So war es. Neneema war nicht weniger überrascht. Plötzlich fielen ihr die Sinaraner ein. War ihr Vorhaben geglückt? Beseelten sie wieder ihre Körper? Einen Augenblick war sie ratlos. Einerseits wollte sie nachsehen, wie es den Sinaranern erging, andererseits war ihre Anordnung eindeutig gewesen. Sie durften den Raum, in dem ihrer Körper aufbewahrt wurden, nicht betreten, sondern mussten warten, bis die Sinaraner von selbst herauskamen. Aber wenn etwas Unvorhergesehenes geschehen war? Wenn sie ihre Hilfe brauchten? Das plötzliche Verschwinden des Kristalles hatten sie bestimmt nicht eingeplant, sonst hätten sie ihnen davon erzählt.

„Egal“, sagte sie entschlossen. „Wir schauen nach. Komm mit.“

Taligh erinnerte sich zwar auch an den Befehl der Sinaraner, aber auch er betrachtete das Verschwinden des Kristalles als ein unvorhergesehenes Ereignis.

Der Raum war nur trübe beleuchtet und es war buchstäblich totenstill. Beide hätten eigentlich die Geräusche der lebenserhaltenden Geräte erwartet, die neben jedem Bett standen, auf dem ein Sinaraner lag. Oder waren es doch nur ihre toten Körper? Mit plötzlichem Erschrecken kam ihnen der Gedanke, dass der Versuch gescheitert war. Die Geräte hatten Schaden genommen, die Körper waren tot und die Geister der Sinaraner waren irgendwo, von wo aus sie keine Verbindung mehr zu ihnen aufnehmen konnten.

Taligh und Neneema gingen von einem Lager zum nächsten und stellten etwas Merkwürdiges fest. Die Sinaraner atmeten. Sie machten alle den Eindruck, als würden sie nur schlafen. Ihre Gesichter zeigten auch nicht die blassgraue Farbe des Todes.

„Die Geräte sind aber eindeutig abgeschaltet“, stellte Taligh fest. „Äußerlich ist kein Schaden festzustellen, also müssen sie von innen abgeschaltet worden sein. Hoffentlich nicht durch einen technischen Defekt.“

„Falls es so war, dann kann es erst während des Prozesses geschehen sein“, meinte Neneema. „Weder Osir noch Gnum haben einen Ausfall der Geräte erwähnt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alle ausgefallen sein sollen. Ich habe aber auch keine bessere Erklärung.“

„Ja, und wäre es schon vorher so gewesen, dann hätten sie ihn vielleicht gar nicht mehr unternommen, weil die Körper zerstört gewesen wären.“

„Das ist zu vermuten“, gab ihm Neneema Recht. „Ich habe festgestellt, dass alle dreiundzwanzig Körper die gleichen Lebenszeichen von sich geben. Sie schlafen. Vielleicht haben sich die Geräte automatisch abgeschaltet, als sie merkten, dass sie nicht mehr gebraucht wurden.“

„Ich hoffe, dass der Geisteszustand der Sinaraner nicht allzu sehr gelitten hat, auch wenn alles gut ausgegangen ist. Aber ich rate davon ab, sie aufzuwecken, um das festzustellen. Wahrscheinlich brauchen sie diese Ruhephase.“

Neneema und Taligh verließen den Raum wieder. Auf den ersten Blick schien jedenfalls alles in Ordnung zu sein. Jetzt mussten sie warten, bis die Schläfer von allein erwachten. Hoffentlich dauerte es nicht zu lange. Sie mussten auf der ZETRIS unbedingt feststellen, ob der Kristall irgendwo zu orten war. Wenn er beständig so viel Energie abstrahlte, wie er es in dem Labor getan hatte, musste man ihn orten können. Und wenn der Kristall so gefährlich war, wie Alben Sur und andere Quellen behauptet hatten, dann mussten sie rechtzeitig über die Entwicklung unterrichtet sein.

Neneema blieb in dem Vorraum zur Bettenstation, wie man sagen könnte, um da zu sein, wenn sich die Sinaraner regten, während Taligh die Pyramide verließ, um Verbindung mit dem Piloten ihrer Raumfähre aufzunehmen und einen ersten Bericht an die ZETRIS abzusetzen. Neneema hatte vorgeschlagen, dass sich ihr Forschungsschiff vorsichtig wieder dem Planeten nähern sollte, um sie aufzunehmen. Wie immer die Wiedervereinigung zwischen ihnen und ihren Körpern ausgegangen war, ihr Auftrag auf Elveran war beendet.

Als Taligh aus dem Eingang herauskam, brannte Nephys unbeeindruckt von den Dingen auf Elveran vom Himmel. In seiner Weitsicht hatte Osir ihnen vor dem Beginn der Zusammenführung (sogar im weiteren Sinne) einen Toröffner gegeben, sonst hätte Taligh die Pyramide jetzt weder verlassen noch wieder betreten können. Anscheinend war er sich über den Ausgang der Prozedur doch nicht so sicher gewesen, wie er den Anschein gegeben hatte.

Sein prüfender Blick in die Umgebung verriet Taligh keine Veränderungen. Vielleicht hatten sie noch nicht begonnen, wenn sie denn überhaupt einsetzen würden. Er nahm sein Funkgerät zur Hand und stellte die Verbindung zu beiden Schiffen her.

Taligh wollte Neneema aus dem Gang gerade zurufen, dass die Schiffe im Anflug waren, da verstummte er. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und der erste Sinaraner tauchte auf.

Er bewegt sich ein wenig schwach und musste sich in der Tür abstützen. Er schien verwirrt. Zuerst erkannten die beiden ihn nicht, erst als er etwas näher kam, brachten sie sein Gesicht mit einem Sinaraner in Verbindung, den sie vor einigen Monaten das letzte Mal gesehen hatten. Es war der Arzt Tresmegist. Schweigend und fast wie bei einer religiösen Prozession folgten ihm die anderen zweiundzwanzig. Dieser Eindruck wurde dadurch vertieft, dass sie alle in die gleichen gelbbraunen Gewänder gekleidet waren, allerdings ohne die von Osir, Gnum, Tresmegist und Amenubis bekannten Halsketten. Ganz zum Schluss kam Osir herein. Auf dem zweiten Blick fiel auf, dass ihnen ihr überirdisches Schimmern fehlte, das sie als Geister ausgezeichnet hatte.

Sie blickten sich etwas orientierungslos um, als hätten sie Mühe, sich zurechtzufinden, aber das war für Neneema und Taligh nicht überraschend, denn die Sinne der sinaranischen Körper hatten über eintausendfünfhundert Jahre keine Reize mehr verarbeiten müssen, deshalb würden sie einige Zeit benötigen, um diese Funktion wieder so erfüllen zu können wie ehedem.

„Wie fühlt ihr euch?“, fragte Neneema.

Osir blickte sie aus verschleierten Augen an. Doch er lächelte.

„Es ist, als wären wir aus einem langen Traum erwacht“, erklärte er mit einer Stimme, die sich hörbar von seiner geistigen unterschied. Es war nicht nur der Klang, dem einige Frequenzbereiche zu fehlen schienen, es war auch die Art, wie er gesprochen hatte. Die Worte klangen gequälter. Auch die Muskeln mussten sich erst wieder an ihre Arbeit gewöhnen.

„Na ja“, meinte Taligh verständnisvoll. „Ihr habt ja auch eine gewisse Zeit geschlafen. Hm, was ist das Letzte, woran ihr euch erinnert?“

Was sie zu hören bekamen, erfüllte sie mit Unglauben. Die Erinnerung der Sinaraner endete, kurz bevor sie ihre Körper verlassen hatten. Alles, was zwischen damals und dem Wiedereintritt in ihre Körper lag, erschien ihnen verschwommen und unklar. Das war erstaunlich. Offensichtlich wurde alles, was sie als Geister getan und erlebt hatten, von ihren Gehirnen gefiltert und abgeschwächt und nur unklar in ihr Bewusstsein durchgelassen. Das war interessant. Bei manchen Träumen erging es Taligh nämlich nicht anders als den Sinaranern jetzt. Obwohl er sicher war, dass diesen Träumen eine klare und schlüssige Wirklichkeit zugrunde lag, eine sehr lebensnahe Wirklichkeit. Da wunderte es ihn, dass es den Sinaranern nicht seltsam vorkam, die beiden Menschen an diesem Ort zu treffen. Entweder war so viel Erinnerung bei Osir und den anderen, die sie kannten, noch übrig, oder ihnen war dieser Widerspruch noch nicht in den Sinn gekommen.

Neneema und Taligh erklärten nur wenig, denn sie wollten die Sinaraner nicht mit zu vielen Einzelheiten überfordern, aber dass ihre Körper angeblich eine so lange Zeit an den Geräten angeschlossen waren, konnten sie nicht glauben. Für eine so lange Funktionsdauer waren sie niemals geschaffen worden. Dann, meinte Taligh, war es umso erstaunlicher, dass sie bis zum heutigen Tag gearbeitet hatten.

„Aber warum habt ihr unsere Lebensgeneratoren abgeschaltet?“, fragte Osir.

„Das haben wir nicht“, erklärte Neneema. „Wir waren selbst überrascht. Als wir den Raum betraten, nachdem der Kristall sich aufgelöst hatte, waren sie bereits ausgeschaltet. Wir dachten, das hätten sie selbständig getan, weil sie festgestellt hatten, dass sie nicht mehr benötigt wurden.“

„Sie waren nicht so konstruiert, dass sie sich abstellen konnten, ohne einen Zugriff von außen.“

Darauf, dass es der Kristall selbst getan hatte, um Unheil von ihnen abzuwenden, kamen sie natürlich nicht, und sie würden es auch nie erfahren. Und auch Neneema und Taligh hielten diese Möglichkeit für ausgeschlossen. So blieb es auf immer ein Rätsel.

Als die beiden die Sinaraner ans Tageslicht führten, mussten sie geblendet ihre schmerzenden Augen schützen, aber diesen unangenehmen Augenblick konnten sie ihnen nicht ersparen. Erst in der Raumfähre konnten sie das Licht wieder auf ein erträgliches Maß abdunkeln. Es wurde eng in ihrem Inneren, aber der Flug dauerte nicht lange.

Auf der ZETRIS war alles für die Aufnahme der dreiundzwanzig Sinaraner vorbereitet. Sie bekamen eine Reihe von Kabinen auf den Wohndecks. Außerdem war eine medizinische Betreuung sichergestellt. Die Sinaraner besaßen einen von den Oson abweichenden Stoffwechsel und auch andere körperliche Ansprüche. Sie konnten zwar mit nur geringen Schwierigkeiten eine gewisse Zeit in der Umgebung der Oson existieren, über kurz oder lang würden sie dort aber Schaden nehmen. Daher waren in ihren Wohnkabinen Bedingungen geschaffen worden, die ihrer Heimatwelt entsprachen. So konnten sie sich langsam wieder an ihr körperliches Dasein gewöhnen.

Bis sie aber ihre geistigen und körperlichen Kräfte in vollem Umfang wieder erreichten, wurde ihnen verschwiegen, dass ihr Heimatplanet Kukul in der Zwischenzeit aufgegeben wurde und vor kurzem in einer Sonnenexplosion untergegangen war. Obwohl der Planet von befreundeten Sternenvölkern nach Kräften evakuiert worden war, waren Millionen Sinaraner dabei umgekommen. Zu diesem Zeitpunkt war es jedoch unmöglich, den geretteten Sinaranern um Gnum und Osir diese Tragödie zu offenbaren.

So weit es ihr Zustand zuließ, wurden sie von der Besatzung der ZETRIS über die Ereignisse auf Elveran auf dem Laufenden gehalten. Von der Aufregung, die in der Zwischenzeit auf der ZETRIS ausgebrochen war, erfuhren sie zunächst nichts. Unter anderem hatte sie mit der Ankunft zweier unbekannter Raumschiffe zu tun.

Kurz, nachdem der Chrysalkristall zusammengesetzt worden war und zu leuchten angefangen hatte, wurde auf der ZETRIS ein starkes psychisches Feld angemessen. Sein Inhalt konnte nicht bestimmt werden, aber dass es sich um das Kraftfeld eines lebenden Wesens handelte, stand außer Zweifel. Die Wissenschaftler hielten es für unwahrscheinlich, dass beide Ereignisse zufällig im gleichen Augenblick aufgetreten waren und so setzte sich die Ansicht durch, dass es sich bei dem Kristall tatsächlich um ein intelligentes Wesen handelte, so wie Taligh auf seiner Reise bereits erfahren hatte. Nur würde man es wohl nie genau herausfinden, denn niemand wusste, wo es sich aufhielt. Die Ortungsversuche hatten bisher keine klaren Ergebnisse gebracht. Dafür hatten sie festgestellt, dass bei dem Planeten nun doch eine unheimliche Veränderung eingesetzt hatte. Auf den Ortungs- und Bildschirmen erschien er jetzt nicht mehr so deutlich. Konturen und Umrisse begannen, langsam aber unübersehbar zu verschwimmen.

Das Erbe der Ax´lán

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