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1. Von Dämonen verfolgt

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Das Buch Amethyst

Als sie mit ihrer Ausrüstung auf den Schultern zu den Pferdeställen gingen, lag ein leichter Nebel über der Landschaft. Im Osten kündigte sich das erste Licht des neuen Tages an, trotzdem würde es noch einige Zeit dauern, bis sich Nephys über den Horizont erhob. Am Himmel stand noch die Sichel des Mondes Folgar. Sein Bruder Duglar senkte sich dem nördlichen Horizont entgegen und war bereits in den Morgennebel eingetaucht.

Durch die Fenster der Ställe schimmerte ein schwaches Licht. Rolf und Alan waren bereits dort und bereiteten die Pferde für den Aufbruch vor. Auf ihrem bisherigen Ritt hatten Meneas und seine Freunde noch keine Packpferde mit sich geführt, doch nun waren sie vier Reiter mehr und das Gepäck war so umfangreich geworden, dass sie sich entschieden hatten, noch drei weitere Pferde mitzunehmen.

Sie verstauten ihre Sachen auf den Rücken der Tiere und führten sie auf den Vorhof von Wingert-Haus. Tjerulf gab Rolf und Alan noch einige Aufträge und Anweisungen für die Dauer ihrer Abwesenheit. In solchen Zeiten war Rolf der Verwalter des Anwesens und Tjerulfs Stellvertreter. In den letzten Jahren war das oft vorgekommen und so wusste Rolf sehr gut, was seine Aufgaben waren.

Noch nie zuvor war der Zeitpunkt ihrer Rückkehr jedoch so ungewiss gewesen wie dieses Mal. Ihre Reise würde Monate dauern. Wahrscheinlich war mit ihrer Heimkehr sogar erst in über einem Jahr zu rechnen. Doch weder Tjerulf noch Durhad schreckte diese Aussicht, und Trywfyn kam sicher schon früher in seine Heimat zurück.

Tjerulf, Meneas, Idomanê, Valea, Solvyn, Trywfyn, Durhad mit Fintas, Erest, Anuim und Freno saßen auf und ohne sich noch einmal umzusehen, entschwanden sie in der Allee, die zur Straße hinaufführte.

Die erste Etappe ihrer Suche nach den Kristallfragmenten sollte sie zum Tarin-See im Land Ogmatuum führen. So hatten sie es beschlossen. Meneas und Tjerulf hatten es sich noch einmal anders überlegt und sich, entgegen des Ratschlags der Sinaraner, schließlich für dieses Ziel entschieden. Den Ausschlag gab am Ende die Notwendigkeit von Trywfyns Rückkehr in seine Heimat und die fehlende Erklärung der Sinaraner, warum der Beginn der Suche auf einer Insel so bedeutsam sein sollte. Während Meneas den Wunsch Trywfyns nach seiner baldigen Heimkehr in dessen Befinden sah, wartete auf ihn und seine Freunde eine große Überraschung, als sie den wahren Grund erfuhren.

Sie wussten, dass es ein sehr weiter Ritt werden würde, denn bis dahin waren es etwa dreihundert Meilen. Auch wenn Reisen in Australis einigermaßen sicher und bequem waren, denn es gab verschiedene gut ausgebaute Straßen bis zur Grenze Ogmatuums, so mussten sie sich in jenem Land durch teilweise recht wilde und ungastliche Gegenden schlagen, denn die Ogmari benutzten keine befestigten Wege, geschweige denn Straßen. Wenn alles gut ging, konnten sie ihr erstes Ziel in etwa drei Wochen erreichen. Wie sie dann weiter vorgehen wollten, darüber hatten sie noch keine Vorstellung, denn das Fragment des Chrysalkristalles, das dort am Tarin-See versteckt war, schien irgendwo im Wasser oder darunter zu liegen. Trywfyn hatte den See gut genug in Erinnerung, um den anderen sagen zu können, dass er sehr groß war und an den meisten Stellen zu tief, um den Grund zu erreichen. Doch schließlich entschieden sie, sich erst über das Versteck Gedanken zu machen, wenn sie an Ort und Stelle waren.

Es gab mehrere Möglichkeiten, die westlichen Landesgrenzen von Australis zu erreichen. Insgesamt führten drei Straßen bis zur Grenze von Ogmatuum. Die Erste verlief von Leyhaf-Nod fast geradlinig in westliche Richtung, südlich am Kemaren-Meer vorbei, durch die Stadt Tekleren und schwenkte dann an den Ausläufern der Regenberge nach Süden. Ihren Namen »Kemarenstraße« hatte sie erhalten, weil sie streckenweise unmittelbar am Ufer dieses Binnenmeeres entlangführte.

Die zweite Straße verließ Leyhaf-Nod geradewegs in südliche Richtung. Sie folgte dem Fluss Leyhaf und wandte sich weit südlich von Guff-Mat nach Westen. Diese Straße wurde die »Wildsee-Straße« genannt, da sie der südlichen Küste am nächsten kam.

Schließlich gab es noch die »Limaren-Straße«. Sie zog sich zunächst ebenfalls an der Leyhaf entlang, bog dann hinter der Stadt Guff-Mat aber in den Limaren-Wald ab, den sie in seiner ganzen Länge durchquerte, und dem sie auch ihren Namen verdankte. Bei der Stadt Sigera stießen alle drei Straßen wieder zusammen. Es gab jedoch keine, die in das Land Ogmatuum hineinführte.

Meneas und Tjerulf hatten sich dazu entschlossen, durch den Limaren-Wald zu reiten. Es war die kürzeste Strecke. Die Wildsee-Straße wäre vielleicht sicherer gewesen, weil sie die am wenigsten benutzte Straße von den dreien war und der Orden von Enkhór-mûl sie dort wegen des weiten Umweges möglicherweise nicht vermutete, aber diese Hoffnung mochte trügen. Also gab letztlich die Kürze des Weges den Ausschlag. Außerdem konnte der dichtere Verkehr auf dieser Hauptader zwischen Sigera und Guff-Mat auch mehr Sicherheit bedeuten.

Ihre Reise begann angenehm. Nachdem sich der morgendliche Nebel aufgelöst hatte und Nephys immer höher stieg, wurde es bald recht warm. Die Reiter genossen das Wetter, denn sie wussten, im hügeligen Land von Ogmatuum im Südwesten Päridons herrschte ein har­sches Klima, da der Wind dort oft aus dem Südosten wehte und von der Wilden See kalte, polare Luft heranbrachte.

Nach zwei Tagen hatten die zehn Weggenossen die Stadt Guff-Mat erreicht. Ihr Ritt war bis dahin, abgesehen von einem verlorenen Hufeisen, ereignislos verlaufen. So ereignislos, dass sich einige bereits Sorgen machten, denn wie Alben Sur angedroht hatte, wollte sein Orden mit allen Mitteln versuchen, sie am Erreichen ihres Zieles zu hindern und wie die Erfahrung gezeigt hatte, schreckten sie auch vor Mord nicht zurück. Der letzte Anschlag lag bereits zehn Tage zurück und je länger sie ungestört blieben, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sich über ihren Köpfen wieder etwas zusammenbraute. Sie hofften zwar, dass der Orden von Enkhór-mûl ihre Fährte verloren hatte, seit sie ihre Zóex-Büchse den Sinaranern überließen, richtig glauben konnte allerdings keiner von ihnen daran. Schließlich war nur eine geöffnete Sprechschatulle verräterisch, wenn Tjerulf und Gnum die Wahrheit gesagt hatten. Das war jedoch nur selten der Fall gewesen, und trotzdem war der Orden auf ihre Spur gekommen.

Die Stadt Guff-Mat war, obwohl sie eine Stadtmauer besaß, sehr weiträumig angelegt. Die Mauer war ein Überbleibsel aus unruhigeren Zeiten. Obwohl die Tage der Kriege der Vergangenheit anzugehören schienen, hatte der Magistrat der Stadt die Instandhaltung der Stadtmauer bis dahin nicht vernachlässigt, denn wer wusste schon, was kommen würde. Am Stadttor wurden sie jedoch nicht von Wachen aufgehalten.

Abgesehen von der Umfassungsmauer war Guff-Mat eine verkommene Stadt. Die Straßen waren verschmutzt, und während anderenorts bereits unterirdisch Rohre zur Ableitung der Abwässer verlegt worden waren, liefen sie hier noch durch schmale Gossen, die in der Mitte der Straßen lagen und gerade an warmen Tagen einen erbärmlichen Gestank verbreiteten. Und gerade der Tag ihrer Ankunft war sehr warm. Auch ein Großteil der Häuser sah ziemlich heruntergekommen aus und nicht wenige hätten dringend einer Instandsetzung bedurft. Immer wieder wurde ihr Ritt durch die lärmerfüllten Gassen von geschäftig umhereilenden Leuten und herumstreunendem Vieh aufgehalten.

All das trat den Gefährten aber nicht überraschend entgegen, denn dass die Stadt und ihre Bevölkerung in einem schlechten Ruf standen, hatten Meneas und seine Freunde bereits gewusst, bevor Tjerulf sie darauf vorbereitete, denn sie waren schon auf früheren Reisen dort durchgekommen. Aber schließlich war es nur für eine Nacht und immer noch besser, als in der Wildnis ihre Zelte aufzustellen. Bis sie Sigera erreichten, standen ihnen noch einige Nächte im Freien bevor. Und wenn sie nachts nicht noch durch die Straßen schlenderten, um sich die Stadt anzusehen, was sich kaum lohnte, waren sie auch vor Überfällen durch die nicht sehr seltenen Straßenräuber sicher. Trotzdem war Guff-Mat keine Stadt, die zum Verweilen einlud.

Schon während sie durch die Straßen ritten, sorgten Trywfyn und Durhad für eine gewisse Aufmerksamkeit, denn weder Ogmari noch Morain wurden dort oft angetroffen. Die beiden hätten es vorgezogen, außerhalb der Stadt zu übernachten, denn keiner von ihnen hatte eine Vorliebe für diese Art der menschlichen Ansiedlungen und besonders die Erscheinung Guff-Mats war ihnen widerwärtig. Tjerulf jedoch wollte nicht, dass sich die Gruppe aufteilte und schließlich waren der Morain und der Ogmari ihren Freunden zuliebe mitgegangen. Nur Fintas befand, dass er lieber außerhalb der Stadt bleiben und sie am nächsten Tag am Waldrand kurz vor dem südlichen Tor erwarten wollte. Für ihn war es angenehmer, in einem Wald zu übernachten als in einer lärmenden Stadt.

Erstaunt waren die zehn Reiter über den gepflegten Zustand der drei Wirtshäuser. Sie lagen alle am Marktplatz in der Mitte der Stadt und schienen erst vor kurzer Zeit renoviert worden zu sein. Nicht einmal Tjerulf, der noch nach Meneas oder einem seiner Freunde in Guff-Mat war, hatte sie so in Erinnerung. Sie trugen die Namen »Zum Glockenturm«, »Die alte Meierei« und »Marstall«.

Für eine Gruppe von zehn Reitern war es nicht möglich, Unterkunft in der gleichen Herberge zu finden. Obwohl Guff-Mat eine größere Stadt von mehreren Tausend Einwohnern war und drei Wirtshäuser besaß, fanden sie keines, das noch Platz für sie alle hatte. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auf zwei Herbergen aufzuteilen. Im »Marstall« war nur noch ein Zimmer frei und so gingen Meneas und seine Freunde in das Wirtshaus »Zum Glockenturm«, während Tjerulf, Solvyn, Trywfyn und Durhad in dem Wirtshaus »Die alte Meierei« abstiegen.

Der Glockenturm, nach dem die Herberge ihren Namen erhalten hatte und gleich nebenan stand, war kein Anbau einer Kirche. Auf Elveran gab es keine Religionen, die derartige Gotteshäuser errichtet hatten. Dieser Glockenturm, und Guff-Mat besaß noch vier weitere davon, diente zur Alarmierung der Einwohner bei Bränden, die damals nicht selten vorkamen.

Meneas und Tjerulf verabredeten sich für den nächsten Morgen für den Zeitpunkt des Sonnenaufganges am südlichen Stadttor.

In der Herberge zogen Durhad und Trywfyn nicht weniger neugierige Blicke auf sich als auf der Straße. Als sie die Gaststube betraten, richteten sich die Blicke der anderen Gäste auf sie und verharrten dort lange genug, um aufdringlich zu wirken. Das ungewöhnliche gleichzeitige Auftreten eines Morain und eines Ogmari verursachte keine Feindseligkeit, aber lästiges Interesse. Doch nach kurzer Zeit wandten sich die Leute wieder ab und setzten ihre Gespräche fort.

Erst später, vor dem Abendessen, und nachdem sie ihre Sachen auf ihre Zimmer gebracht hatten und wieder die Gaststube betraten, fiel Tjerulf, Solvyn, Durhad und Trywfyn auf, dass es noch weitere nichtmenschliche Gäste in dem Wirtshaus gab. In einer hinteren Ecke und von der Beleuchtung kaum erhellt, stand ein Tisch, an dem zwei Landsleute von Trywfyn Platz genommen hatten, die ebenfalls in der »Meierei« übernachteten. Dank Trywfyn waren die beiden schnell damit einverstanden, dass die kleine Gruppe ihnen Gesellschaft leistete. Da der Ogmari schon seit einiger Zeit nicht mehr in seiner Heimat gewesen war, nahm er die Gelegenheit wahr, möglichst viele Neuigkeiten zu erfahren. So hörten sie von merkwürdigen Dingen, die sich dort in den letzten Wochen zugetragen hatten und das die Zahl der Ogmari-Landwachen so groß geworden war, wie in vielen vergangenen Jahren nicht mehr.

Als Meneas und seine Freunde das Wirtshaus »Zum Glockenturm« betraten, war es fast dunkel geworden. Sie waren an diesem Tag weit geritten und jeder von ihnen spürte die Anstrengung. Ein geschäftiger Mann kam ihnen entgegen. Er stellte sich als der Wirt des Gasthauses vor. Bei einer so großen Gruppe von Gästen erschien es ihm ratsam, sich selbst um sie zu kümmern und es nicht, wie bei anderen Gelegenheiten, seinen Bediensteten zu überlassen, nach ihren Wünschen zu fragen. Es gab in diesem Gasthaus noch drei freie Zimmer, gerade genug für die sechs Reiter. Sie waren nicht zu früh angekommen, um die Zimmer für sich in Anspruch zu nehmen, denn nur kurze Zeit später mussten einige andere Reisende abgewiesen werden.

Der Wirt selbst half Meneas und seinen Freunden, das Gepäck auf ihre Zimmer zu bringen, nachdem er zwei Knechte beauftragt hatte, sich um die Pferde zu kümmern, die noch draußen im Hof bei Freno warteten.

Die Zimmer waren klein und jedes enthielt zwei Betten. Sie waren recht sparsam ausgestattet und es gab keine Waschgelegenheit. Zum Waschen und zur Erledigung ihrer Notdurft mussten sie in ein stallartiges Gebäude auf den Hinterhof gehen. Wenn die Zimmer auch besser waren, als man in dieser Stadt erwarten konnte, so hielten sie doch nicht, was die Fassade des Wirtshauses versprach. Jeweils zwei von ihnen mussten sich eins teilen: Meneas und Erest, Idomanê und Valea sowie Freno und Anuim. Immerhin lagen die Zimmer alle nebeneinander in einem ruhigen, von der Straße abgewandten Seitenflügel, der sich zu ebener Erde auf den Hinterhof der Herberge erstreckte. Auf ein Bad verzichteten sie angesichts der Umstände und nach einem kurzen Abendessen in der Gaststube gingen sie schlafen.

Die Ankunft der zehn Reiter in der Stadt war nicht nur von einem Teil der Einwohner bemerkt worden. Gleich nachdem sie das Stadttor durchquert hatten, heftete sich eine unauffällige Gestalt an ihre Fersen. Sie verfolgte sie bis zu den Wirtshäusern und sah noch zu, wie sich die Gruppe aufteilte. Als die Fremden eingekehrt waren, ging sie schnell über den Marktplatz hinüber zum Gasthaus »Zum Glockenturm«. Allerdings betrat der Mann nicht die Wirtsstube, sondern umrundete das Hauptgebäude und traf bei den Ställen mit einem Knecht zusammen, der gerade die Pferde von Meneas und seinen Freunden versorgte. Nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, stellte er sich in den Schatten der Stallmauer, während der Knecht ins Haus ging.

Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann kam er wieder heraus und eilte zu der Stelle, wo sich die zwielichtige Gestalt versteckt hielt. Sie sprachen so leise, dass es von niemandem gehört wurde, aber wer genau hinsah, der konnte beobachten, dass ein kleiner Geldbeutel von einer Hand in die andere ging. Anschließend machte der Knecht sich wieder schleunigst an die Arbeit und die undurchsichtige Gestalt verließ den Hinterhof in Richtung Marktplatz. Dort mischte sie sich wieder unter die Leute, deren Anzahl mittlerweile merklich spärlicher als am hellen Tag geworden war. Schließlich verschwand der Mann in der Dunkelheit einer engen Seitengasse.

Es war eine verhältnismäßig milde Nacht, und da sie in Zimmern mit einer ruhigen Lage untergebracht waren, in der sie kaum etwas von dem Verkehrslärm der Stadt hören konnten, schliefen Freno und Anuim bei offenem Fenster. Sie hofften, dass, obwohl sie sich in Guff-Mat befanden, der Hinterhof des Wirtshauses sicher genug war, um vor unliebsamen Überraschungen geschützt zu sein, doch sie täuschten sich.

In den frühen Morgenstunden schlichen vier finstere Gestalten durch die Gassen der Stadt, stets bemüht, in den Schatten der Häuserwände zu bleiben, um von niemandem beobachtet zu werden. Sie trugen schwarze Gewänder und ihre Köpfe waren mit Kapuzen verhüllt. Sie schienen keine Waffen zu tragen, doch wer sie sah, der konnte sich gut vorstellen, dass sie unter ihrer Kleidung nicht unbewaffnet waren. Die vier Schatten huschten über den Marktplatz und verschwanden zwischen dem „Glockenturm“ und einem danebenstehenden Wohnhaus. Kurz bevor der Letzte von ihnen um die Ecke herum war, blitzte für die Dauer eines Lidschlages im Mondlicht die Klinge eines Schwertes auf. Dann war er mit ihr in der Dunkelheit untergetaucht.

Freno und Anuim lagen in ahnungslosem Schlummer, als sich vor ihrem Fenster kaum erkennbar der Umriss eines Mannes erhob. Vorsichtig wurde die Gardine mit einer Schwertklinge zur Seite geschoben. Der Fremde horchte einen kurzen Augenblick ins Zimmer. Beide Gäste schliefen unüberhörbar. Die Überraschung schien zu gelingen. Der Späher zischte kurz einige unverständliche Worte zu seinen drei Begleitern und schwang sich behände durch das Fenster, machte einige leise Schritte in den Raum hinein und wartete dann auf die anderen. Als der dritte auf den Dielen des Zimmers landete, knickte er ungeschickt mit dem Fuß auf einem Gegenstand auf dem Boden um und stützte sich geistesgegenwärtig auf der Lehne eines Stuhles, der vernehmlich zur Seite rutschte. Nun brauchten sie nicht mehr vorsichtig zu sein.

„Schnell, komm´ `rein!“ zischte der Anführer, für menschliche Ohren kaum verständlich, dem vierten im Bund zu und fasste einen anderen, damit er ihm folgte.

Durch den Lärm wachten Freno und Anuim auf. Während Freno noch halb schlief, griff Anuim zu seinem Schwert, das neben dem Bett stand und zur Taschenlampe, von denen es in jedem Raum wenigstens eine gab. Nur Idomanê und Valea hatten zwei bekommen, nachdem sie Opfer des ersten Überfalles des Ordens von Enkhór-mûl geworden waren.

Die Lampe war jedoch keine große Hilfe für Anuim, denn in ihrem Lichtkegel sah er nur zwei sich rasch ihm nähernde Gestalten, ein erhobenes Schwert ungemütlich nah vor sich und zwei fahle, runde Flächen, die die Gesichter der Angreifer sein mochten. Es ging alles blitzschnell. Irgendwie gelang es ihm, den auf ihn gerichteten Schwerthieb mit seiner Waffe abzuwehren, dann erhielt er einen heftigen Schlag gegen seinen Kopf, sah einen bunten Funkenregen vor seinen Augen und fiel in eine tiefe Bewusstlosigkeit. So bemerkte er auch nicht mehr, wie Freno von den beiden anderen aus dem Fenster gezerrt wurde.

Im gleichen Augenblick wurde die Zimmertür aufgerissen und Meneas und Erest stürzten herein. Sie hatten in dem Raum neben Anuim und Freno geschlafen und waren durch die Geräusche erwacht. Im Licht ihrer Lampe sahen sie, wie eine schwarz gekleidete Gestalt aus dem Fenster zu springen versuchte. Erest kam in den Sinn, ihn mit dem Wurf eines Gegenstandes an der Flucht zu hindern. Das Einzige, was er in den Händen hielt, war sein Schwert und es war keine Zeit, nach etwas anderem zu suchen. Leise fauchend wirbelte die Waffe durch die Luft und traf den Einbrecher so unglücklich, dass ihm die Klinge im Nacken steckenblieb. Seine Bewegungen erstarben, und er rutschte mit seinem Bein von der Fensterbank ab. Mit seinen Armen und dem Kopf nach draußen baumelnd, blieb er im Rahmen liegen. Der Wurf musste ihn sofort getötet haben, denn er rührte sich nicht mehr.

„Verflucht“, entfuhr es Erest, „ich glaube, ich habe ihn umgebracht. Das wollte ich nicht.“

„Lass ihn“, sagte Meneas mit harter Stimme. „Kümmern wir uns lieber um Anuim.“

Er ging zu dem Bewusstlosen und untersuchte ihn.

„Wo ist Freno?“, fragte Erest, als er sich umgesehen hatte. Er hatte festgestellt, dass ihr Gefährte verschwunden war.

Erest ging zum Fenster und blickte über den Toten nach draußen. Mit einem unangenehmen Gefühl zog er sein Schwert wieder aus dessen Nacken und wischte es an dem schwarzen Mantel ab. Dann machte er Anstalten, den Entführern zu folgen.

„Bleib hier“, hielt ihn Meneas zurück. „Das ist allein zu gefährlich.“

In der Zwischenzeit waren Idomanê und Valea aufmerksam geworden und standen nun ebenfalls mit ihren Schwertern und Blendlaternen in der Tür des Zimmers. Sie brauchten einen kurzen Augenblick, um zu verstehen, was geschehen war. Hinter ihnen lugten die ersten Gesichter anderer Gäste über ihre Schultern, die neugierig versuchten, in das Zimmer zu drängen.

Meneas stand von Anuim auf und sagte hastig: „Schnell, lauft hinüber zu Tjerulf. Freno ist entführt worden.“

Ohne weitere Fragen verschwanden die beiden Frauen zwischen den anderen Leuten im Korridor.

Erest stand immer noch fassungslos bei dem Toten am Fenster und betrachtete sich sein Schwert. Weder mit einem Messer noch mit einem Schwert hatte er jemals so genau zu werfen vermocht, dass die Klinge in ihrem Ziel steckengeblieben war. Mit einer Hand zog er dann den Leichnam in den Raum zurück und schaute noch einmal nach draußen. Der Wunsch, die Entführer zu verfolgen war groß, aber Meneas hatte Recht. Allein war er ziemlich machtlos und außerdem, wie hätte er sie nach der verstrichenen Zeit in der Vielzahl der Gassen finden sollen. Widerwillig ergab er sich der Erkenntnis, dass es besser war, auf Tjerulf zu warten. Und vielleicht konnten ihnen besonders Trywfyn und Durhad helfen. Erest zog seinen Kopf wieder zurück und sah sich um.

Im Halblicht der Lampe von Meneas, der sich bemühte, Anuim aus seiner Bewusstlosigkeit zu befreien, sah er eine Kerze auf dem Nachtschrank. Die entzündete er und ging damit hinüber zu Anuims Bett.

„Wie geht es ihm?“, fragte er. „Er ist hoffentlich nur bewusstlos.“

Wie zur Antwort begann sich Anuim plötzlich zu bewegen und gab ein leises Stöhnen von sich. Meneas stand erleichtert auf.

„Ich glaube, es ist nicht so böse, wie es auf den ersten Blick aussieht“, meinte er zuversichtlich. „Wohl nur die Wunde an seinem Kopf. Halt´ mir einmal die Lampe.“

Meneas half Anuim, sich im Bett aufzurichten. Er fühlte sich noch sehr schwach und presste seine Hände gegen den Kopf. Über die rechte Gesichtshälfte lief ein dünnes Rinnsal von Blut. Andere Wunden waren aber nicht erkennbar.

„Was um alles in der Welt ist denn hier passiert?“, fragte eine aufgeregte Stimme in der Tür. Sie gehörte dem Wirt, der inzwischen von irgendjemandem über die besorgniserregenden Ereignisse unterrichtet worden war.

„Einbrecher!“, antwortete Erest gereizt. „Sie haben versucht, Eure Gäste zu stehlen.“ Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, dann hätten seine Worte spöttisch geklungen. „Bei einem ist es ihnen gelungen. Einer aus unserer Gruppe wurde entführt.“

„Das ist ja fürchterlich“, entfuhr es dem Wirt fassungslos. „So etwas ist hier noch niemals geschehen. Kann ich irgendetwas für Euch tun?“

„Ja, sorgt dafür, dass Eure anderen Gäste dieses Zimmer verlassen und bringt uns eine Schüssel Wasser“, forderte Meneas ihn auf.

Der Wirt meinte sein Mitgefühl bestimmt ehrlich, aber die Art, wie er es vortrug, ärgerte Meneas, und er wollte ihn so schnell es ging loswerden.

Der Mann tat sein Bestes und nach wenigen Augenblicken waren die Leute, die sich mittlerweile aus dem Flur in das Zimmer vorgeschoben hatten, wieder aus ihm verschwunden und die Tür geschlossen. Meneas steckte zwei weitere Kerzen an. Nun konnten sie in dem Zimmer halbwegs etwas erkennen.

„Oh, mein Schädel“, stöhnte Anuim.

„Nur Geduld“, versuchte ihn Meneas zu beruhigen, „der Schmerz wird bald nachlassen.“

Er untersuchte noch einmal die Wunde. Sie war nicht der Rede wert. Dafür begann sich darunter schon eine mächtige Schwellung zu bilden, die sich bald erwartungsgemäß verfärben würde. Der Schlag hatte im Inneren des Kopfes einen größeren Schaden angerichtet als außen. Trotzdem hatte Anuim Glück im Unglück, denn der Schädelknochen schien nicht gebrochen zu sein. Außerdem war ihm nicht übel, was für eine nur geringe Gehirnerschütterung sprach.

„Das wird schon wieder“, sagte Meneas aufmunternd und wischte vorsichtig mit einem Tuch etwas Blut weg. „Ich mache mir mehr Sorgen um Freno.“

„Wieso? Was ist mit ihm?“, fragte Anuim.

Anuim hatte bisher so viel mit seiner eigenen Verfassung zu tun gehabt, dass er Erests Erklärungen überhört hatte.

„Er ist weg“, antwortete Meneas, „Entführt.“

„Entführt! Von wem?“, erwiderte Anuim überrascht.

Meneas zuckte mit den Achseln.

„Bis jetzt wissen wir es nicht“, meinte er. „Vermutlich waren es wieder Häscher des Enkhór-mûl. Dort am Fenster liegt einer der Entführer. Erest hat ihn an der Flucht gehindert. Er ist tot.“

„Das wollte ich aber wirklich nicht“, wiederholte Erest, den trotz der Umstände ein schlechtes Gewissen plagte, denn noch nie zuvor hatte er jemanden getötet.

„Da hatte ich ja noch richtig Glück“, meinte Anuim. „Vielleicht wollten sie mich ja auch mitnehmen. Erstaunlich, dass sie mich nicht umgebracht haben, als die Entführung misslang.“

„Ich glaube, Erest und ich haben es vereitelt“, vermutete Meneas. „Vielleicht wäre es geschehen, wenn wir nur wenige Augenblicke später aufgetaucht wären. Oder sie hätten dich bewusstlos mitgenommen. Für sie vielleicht noch besser, wenn es in ihren Plan gepasst hätte. Ich fürchte, die Priester sind uns dichter auf den Fersen, als wir dachten. Unsere Reise bleibt gefährlich.“

„Wo sind Idomanê und Valea?“, fragte Anuim. „Ihnen ist hoffentlich nichts geschehen.“

„Nein“, beruhigte ihn Meneas. „Sie holen Tjerulf aus der anderen Herberge.“

„Wir sind ja so blöd´“, hörten sie Erest plötzlich fluchen.

Er hielt eines der Funkgeräte von Gnum in der Hand. Es musste von Freno stammen.

„Wieso? Was gibt´s?“, wollte Meneas wissen.

„Na ja, wir hätten Tjerulf auch anrufen können“, erklärte er seinen Ärger.

„Jetzt, wo du es sagst“, meinte Meneas. „An diese Möglichkeit müssen wir uns erst gewöhnen. Bisher haben wir es schließlich noch nicht gebraucht und in der Aufregung vergessen.“

Ohne vorheriges Klopfen öffnete sich in diesem Augenblick die Tür und Tjerulf, Solvyn, Durhad, Trywfyn - jetzt mit einer Streitaxt in der Hand - Idomanê und Valea traten ein. Hinter ihnen drückte sich der Wirt durch die Tür und brachte das Wasser. Er erkannte widerwillig, dass er jetzt fehl am Platz war, besaß aber immerhin so viel Anstand, dass er mit einem kurzen „Ruft-mich-wenn-Ihr-mich-braucht“ wieder in den Flur verschwand. Trotzdem fiel es ihm ein wenig schwer, nicht zu lauschen, was gesprochen wurde.

„Freno wurde entführt?“, fragte Tjerulf knapp.

„Ja“, bestätigte Meneas kurz. „Dort aus dem Fenster. Ich schätze, wir konnten verhindern, dass sie Anuim auch mitnahmen. Allerdings nicht, dass er verletzt wurde.“

„Wie geht es ihm?“, fragte Valea.

Sie konnte sehen, dass er bei Bewusstsein war, sich aber immer noch den Kopf hielt.

„Den Umständen entsprechend lausig“, antwortete er selbst auf Valeas Frage. „Aber Meneas hat mir versprochen, dass ich keinen bleibenden Schaden davontragen werde.“

Valea feuchtete ein Tuch mit dem Wasser, das der Wirt gebracht hatte, an und legte es auf die Schwellung an Anuims Schläfe. Sie hatte bereits beachtliche Ausmaße angenommen.

Durhad ließ sich eine Taschenlampe von Idomanê geben und untersuchte den Toten.

„Tjerulf, schaue dir das hier einmal an“, forderte der Morain seinen Freund auf.

Auch Erest und Meneas kamen näher heran, um zu sehen, was er meinte. Durhad hatte sehr gefasst gesprochen, aber was die beiden sahen, erschütterte sie. Der Tote hatte kein Gesicht. Es war keine Wunde zu sehen, die das verursacht haben konnte, aber es fehlten Mund und Nase und wo die Augen einst gewesen sein mochten, waren jetzt nur noch graue Flecken auf einer offensichtlich geschlossenen Haut. Wenn der Tote einst richtiges Kopfhaar besessen hatte, so waren jetzt nur noch einige gerupft wirkende Haarbüschel übrig.

„Was ist das?“, fragte Meneas entsetzt.

„Unsere Gegner vom „Schwarzkittel“, klärte ihn Tjerulf betont ruhig auf. „Du hast sie damals nur lebend oder sehr kurz nach ihrem Tode und im Zwielicht der Nacht gesehen. Einige Zeit später hatten sie das gleiche Aussehen wie dieser hier - bevor sich die Körper vollständig auflösten.“

Valea und Idomanê waren jetzt ebenfalls herangekommen. Auch wenn sie angewidert schlucken mussten, so ertrugen sie diesen erschreckenden Anblick tapfer.

„Du meinst, es waren die gleichen Geister wie die, die dich verfolgt haben?“, fragte Meneas.

„Ob es die gleichen waren, weiß ich nicht“, erwiderte Tjerulf, „aber sie sind von der gleichen Art und ich bin sicher, vom gleichen Feind geschickt. Offensichtlich hat der Orden von Enkhór-mûl unsere Fährte doch nicht verloren, wie wir gehofft hatten. Aber damit war zu rechnen gewesen.“

„Und Freno ist jetzt in der Gewalt der noch lebenden Geister“, stellte Idomanê fest. „Wir müssen ihn suchen.“

Meneas war etwas hilflos. Natürlich mussten sie ihren Freund suchen. Auch er wollte Freno so schnell es ging befreien. Er hatte nur keine Vorstellung, wo sie nach ihm suchen sollten. Meneas stellte sich einen kurzen Augenblick vor, wie sie monatelang jedes Haus in der Stadt durchkämmten. Verzweifelt schüttelte er den Kopf.

„Dieser Geist lebt auch noch“, berichtigte Tjerulf Idomanê. „Durch den Todesstoß von Erests Schwert ist dieser Körper für ihn aber unbrauchbar geworden, und er hat ihn verlassen und dem raschen Zerfall preisgegeben, da es kein üblicher, natürlicher Körper war.“

„Kein Grund für ein schlechtes Gewissen, Erest“, meinte Meneas. „Du hast keinen Menschen oder ein anderes gewöhnliches Wesen umgebracht.“

Erest nickte nur. Auch ohne Meneas´ Erklärung, war er schon zu dem gleichen Schluss gekommen. Tjerulf sah Meneas fragend an.

„Erest wollte ihn nicht töten“, erklärte Meneas.

Tjerulf nickte verstehend und meinte:

„Dieses Mal war es jedenfalls kein Fehler. Wie es aussieht, wollten sie Freno lebend, sonst hätten sie ihn hier getötet. Das bedeutet, dass der Orden ihn als Pfand will. Damit wäre Freno zunächst in Sicherheit, wenn auch in einer misslichen Lage.“

„Mich wollten sie wohl auch“, vermutete Anuim und hob seinen Kopf. „Wahrscheinlich hat mich gerettet, dass Meneas und Erest so schnell aufgetaucht sind.“

„Möglich“, gab Tjerulf zu, aber ein leichter Zweifel lag in seiner Stimme. „Vielleicht wollten sie aber auch nur einen. Das ist schwer zu sagen. Ich rechne auf jeden Fall damit, dass sie sich in irgendeiner Weise wieder melden.“

Durhad durchsuchte die Kleidung des dahinschwindenden Körpers. Neben ihm lag das Schwert. Er betrachtete die Waffe näher, es war ein gebogenes Kurzschwert mit einem Griff aus einem schwarzen Material, das sich für Metall zu warm anfühlte und auch mit Sicherheit kein Holz war. Ähnliche Waffen trugen die drei Angreifer, die versucht hatten, Tjerulf umzubringen.

„Das ist der Beweis, falls noch jemand gezweifelt haben sollte“, meinte er nach kurzer Untersuchung. „Das Zeichen der Schwarzen Distel auf der Klinge, das Symbol des Ordens von Enkhór-mûl.“

Durhad reichte Erest das Schwert, damit er es sich ebenfalls genauer anschauen konnte, und wandte sich wieder dem Leichnam zu. Nach wenigen Augenblicken hielt er ein doppelt gefaltetes Stück Papier in der Hand. Es war nicht in einem Umschlag gewesen.

„Hier ist noch etwas“, sagte er und stand auf.

Er trat ins Licht und faltete das Blatt auseinander. Dann las er vor:

„Eine letzte Warnung: Kehrt um, dann lassen wir euren Freund wieder frei.“

„Wie erwartet“, sagte Tjerulf kopfnickend.

„Wie erwartet vielleicht“, meinte Meneas. „Aber befremdlich.“

„Warum?“

„Na ja, weil er - ach Unsinn“, sagte Meneas verdrießlich.

„Ich verstehe kein Wort.“

Meneas lachte trocken.

„Ich wollte fragen, warum er den Zettel in der Tasche hatte, und ob die Priester sein Ende und unsere Durchsuchung eingeplant hatten.“

„Ja, und?“

„Und? Ich nehme an, er hätte die Nachricht zurückgelassen.“

„So wird es sein“, stimmte ihm Tjerulf zu.

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte Valea.

Plötzlich blickte Trywfyn von außen durch das Fenster. Das kam so überraschend, dass Erest, der am nächsten stand, erschrocken zusammenzuckte.

„Ich habe eine Spur“, sagte der Ogmari. „Sie führt zu einem abbruchreifen Haus an der Stadtmauer.“

Keinem aus Meneas´ Gruppe war aufgefallen, dass Trywfyn, kurz nachdem sie herausgefunden hatten, dass Freno entführt worden war, ebenfalls aus dem Zimmer verschwand.

„Schnell, führt uns dort hin“, forderte Meneas den Ogmari kurzentschlossen auf.

Er bewaffnete sich wieder mit seinem Schwert, das er auf einen Stuhl gelegt hatte, griff sich eine Blendlaterne und sprang aus dem Fenster. Tjerulf und Durhad folgten.

„Halt, wartet!“, rief Idomanê.

Sie lief aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit zwei Lichtschwertern zurück. Eines davon gab sie Meneas, das anderen behielt sie selbst.

„Ich gehe mit“, sagte sie entschieden. „Vielleicht können uns diese Dinger helfen.“

„Gut“, meinte Meneas. „Ihr anderen kümmert euch um Anuim. Und - werft den Leichnam raus. Bis es hell wird, wird er sich aufgelöst haben.“

Tjerulf, Meneas, Durhad und Idomanê folgten Trywfyn in die Dunkelheit.

Um diese Nachtzeit waren nur wenige Einwohner der Stadt auf den Straßen. Während die merkwürdige Gruppe der Verfolger über den Marktplatz lief, blickten ihr nur zwei oder drei Augenpaare neugierig hinterher, bis sie in einer schmalen Gasse verschwand. Dort waren sie dann unter sich.

Trywfyn führte sie um unzählige Ecken und Winkel und er war erstaunlich schnell. Meneas war überrascht, wie gut Tjerulf ihn im Auge behielt, denn immer wieder, wenn der Ogmari in den Schatten eines Hauses geriet, in dem er dann um die nächste Ecke bog, wurde er für Meneas unsichtbar. Er war sicher, dass er den Ogmari sehr schnell verloren hätte, hätte er ihm allein folgen müssen.

Solange sie durch die Straßen liefen, brauchten sie ihre Taschenlampen nicht, denn das Licht der Monde war hell genug, um sich zurechtzufinden. Schließlich tauchte vor ihnen der schwarze Schatten der Stadtmauer auf. Trywfyn ließ die Gruppe an einer wenig erhellten Stelle anhalten.

„Dort drüben ist es“, sagte er leise und streckte seinen Arm aus. „Das Haus unterhalb des Wachturms.“

Sie konnten das Gebäude gegenüber, auf der anderen Seite der Querstraße, die nur wenige Schritte vor ihnen begann, gut erkennen. Das Haus lag in prallem Mondlicht und so zeigte es sich ihnen fast so deutlich wie am Tage, wenn es jetzt in der Nacht auch unheimlich und fahl leuchtend vor ihnen stand.

Der Ogmari hatte nicht übertrieben. Das Haus konnte nicht bewohnt sein. Die Schindeln auf dem Dach waren teilweise zerbrochen oder fehlten ganz, einige Fenster waren eingeschlagen und ein Teil der Fensterläden hing nur noch schief in den Halterungen. Einer war ganz verschwunden. An einigen Stellen bröckelte der Putz von der Wand und gab Fachwerk und Lehmmauerwerk frei. Nur die Haustür schien noch in Ordnung zu sein. Sie saß gerade und war geschlossen. Aus keinem Fenster schien Licht.

„Und warum glaubt Ihr, dass Freno ausgerechnet in dieses Haus verschleppt wurde?“, fragte Meneas flüsternd den Ogmari.

Ein leiser Zweifel war bei dessen Anblick in ihm aufgestiegen, andererseits konnte kein anderes Gebäude besser als Unterschlupf von Geistern, wenn auch verkörperten, geeignet sein.

„Ich habe sie gerochen“, erklärte der Ogmari.

Meneas sah Tjerulf fragend an. Er vermutete, dass der Ogmari einen Scherz gemacht hatte, aber Tjerulf nickte nur zur Antwort. Trywfyn hatte ihn also nicht an der Nase herumgeführt. Es war kaum zu glauben.

„Trywfyn und ich gehen durch die Haustür“, flüsterte Tjerulf. „Durhad, du behältst die linke Seite des Hauses im Auge. Meneas, du und Idomanê, ihr schleicht euch auf die rechte Seite. Das Haus ist bis an die Stadtmauer herangebaut, also kann niemand nach hinten flüchten. Zögert nicht, jemanden, der Ähnlichkeit mit den Helfern der Enkhór-mûl hat, zu erschlagen, wenn er das Haus verlässt. Bedauerlicherweise können wir sie nicht dauerhaft töten. Also los.“

Leise und flink wie die Wiesel überwanden sie die Straße und stellten sich so auf, wie Tjerulf es angeordnet hatte. Meneas hatte sich nicht dagegen gesträubt, da er keinerlei Erfahrungen mit Unternehmungen dieser Art hatte. Bei Tjerulf und seinen Freunden sah die Sache offenkundig anders aus. Meneas, Idomanê und Durhad nahmen im Schatten der Hauswände ihre Beobachtungsposten ein und hielten ihre Waffen kampfbereit in den Händen. Warum, fragte sich Meneas, sollten die Geister nicht auch durch die Stadtmauer fliehen können?

Trywfyn drückte vorsichtig gegen die Haustür. Sie war nicht verriegelt und sprang nach kurzem Widerstand auf. Mit verhaltenem Quietschen schwang sie in den Flur hinein. Langsam traten Tjerulf und der Ogmari ein. Knarrend bogen sich die Dielen unter ihren Füßen. Der Flur war leer. Durch eine offenstehende Zimmertür drangen die Strahlen silbrigen Mondlichtes in den Flur. Vorsichtig gingen die beiden vorwärts, tiefer in das Haus. Dann standen sie für einen Augenblick schweigend da und horchten. Es herrschte buchstäblich eine Grabesstille.

Das Haus war leergeräumt. Nur wenig Gerümpel lag in den Zimmern herum. Dadurch waren sie auch leichter überschaubar. Das Haus war eingeschossig errichtet und zumindest zu ebener Erde fanden sie weder eine Spur von Freno noch von seinen Entführern. Als sie vor der Treppe zum Dachboden standen, zeigte Trywfyn auf die Bodenluke. Tjerulf nickte und der Ogmari eilte mit wenigen Schritten die Treppe hinauf, drückte die Luke hoch, die nur lose auf ihrem Rahmen lag, wie es für gewöhnlich immer war, und sprang mit einem mächtigen Satz auf den Dachboden.

Mit der eingeschalteten Blendlaterne in der einen und der Streitaxt in der anderen Hand wirbelte er herum, bis er sich einen Rundumblick verschafft hatte. Außer einigen Fledermäusen, die er aufschreckte, gab es nicht viel zu entdecken. Auch hier oben hatten die früheren Bewohner nur wenig zurückgelassen. Er schaltete die Lampe wieder aus.

Trywfyn stand bewegungslos da und spürte Gerüche auf. Er hatte einen ausgezeichneten Geruchssinn und seine Erfahrung darin war sehr groß. Tatsächlich konnte Trywfyn besser riechen als sehen, wenn er auch meilenweit davon entfernt war, blind zu sein. Die Fledermäuse hatte er schon bemerkt, bevor er sie im Lichtkegel der Taschenlampe gesehen hatte. In einer dunklen Ecke verharrten reglos und unsichtbar zwei Ratten. Auch sie versuchten mit ihren Sinnen herauszufinden, wer sie da mitten in der Nacht mit mächtigem Lärm gestört hatte. Nicht weit von den beiden Nagern hing ein verlassenes Wespennest aus dem Vorjahr. Ungerührt und ohne sich zu ducken, ließ Trywfyn eine Fledermaus nur eine Handbreit entfernt über sich hinwegfliegen und durch ein Loch im Dach nach draußen verschwinden. Nein, war er schließlich sicher, hier oben waren weder Freno noch einer der Geister gewesen. Er ging wieder die Treppe hinab.

„Da ist nichts“, sagte er und dieses Mal gab er sich keine große Mühe mehr, leise zu sein, denn er hatte genug Lärm veranstaltet, um von jedem, der hier in diesem Haus sein mochte, gehört zu werden.

„Dann in den Keller“, befahl Tjerulf.

Unter der Bodentreppe lag die Kellertreppe. Tjerulf und Trywfyn schalteten ihre Leuchten wieder an und gingen vorsichtig hinunter. Sie hofften so, schnell genug handeln zu können, wenn sie in einen Hinterhalt geraten sollten. Die beiden, Tjerulf voran, kamen in einen kurzen, engen Flur, in dem einige Trümmerstücke herumlagen, die im Lauf der Zeit aus den Dielen über ihnen herausgebrochen waren. Drei Räume zweigten von dem Flur ab, einer zur Linken, einer zur Rechten und einer geradewegs vor ihnen. Zuerst teilten sie sich die beiden seitlichen, doch wieder ohne Ergebnis. Wenn die Entführer mit Freno tatsächlich hierher geflohen waren, dann konnten sie nur noch in dem letzten Raum sein. Mit knirschenden Schritten, erhobenen Schwertes und beide Lampen nach vorn gerichtet, näherten sie sich der Tür.

Plötzlich hörten sie dahinter einen gellenden Schrei. Er war so bestialisch und übernatürlich, dass er kaum von einem Menschen oder einem anderen irdischen Wesen ausgestoßen worden sein konnte. Trywfyn und Tjerulf sprangen vor und rissen die Tür auf. Auf dem Boden lag der bewegungslose Körper Frenos. Über ihm beugte sich die schwarze Gestalt eines Entführers, die beiden Arme mit einem Schwert in den Händen erhoben und bereit zuzuschlagen. Bevor er jedoch dazu kam, war Trywfyn heran und hieb ihm mit seiner Axt beide Hände ab. Polternd schlugen sie, das Heft des Schwertes immer noch umklammernd, gegen die Wand und fielen dann auf den Boden. Erneut erklang ein Schrei, der von allen Wänden widerhallte und weder von Freno noch von dem verwundeten Körper des Geistes ausgestoßen worden war.

Die Verletzungen waren schwer, wenn für gewöhnlich auch nicht sofort tödlich, doch der Entführer verhielt sich vollkommen anders, als sie es erwarten konnten. Nicht ein Tropfen Blut kam aus den Armstümpfen und anstatt vor Schmerzen aufzuschreien und zu toben, verharrte er für kurze Zeit reglos und stumm in seiner Haltung und sackte dann langsam zur Seite, ohne zu zucken oder einen weiteren Laut von sich zu geben. Fast lautlos fiel er auf den Boden.

Außer ihm waren keine weiteren Krieger des Enkhór-mûl in dem Raum und Trywfyn und Tjerulf vermuteten, dass dieser hier als Wächter zurückgeblieben war.

„Hoffentlich kommen wir nicht zu spät“, sagte Trywfyn mit rauer Stimme. „Er hatte viel Zeit zum Übertritt.“

„Das werden wir gleich sehen“, entgegnete Tjerulf. „Freno ist noch bewusstlos und hat die Augen geschlossen. Das Beste wird sein, wir holen erst einmal Durhad, Meneas und Idomanê herein. Ich glaube nicht, dass sie draußen weiter Wache stehen müssen.“

Trywfyn machte sich auf den Weg und kurz darauf hörte Tjerulf seine schweren Schritte auf den Dielen über sich. Staub rieselte herab.

Freno lag auf der Seite. Tjerulf vermutete, dass er schon seit längerem bewusstlos war, sonst hätte er sicher versucht, um Hilfe zu rufen, als er und Trywfyn das Haus betreten hatten. Spätestens als der Ogmari auf den Dachboden hinaufpolterte, hatten sie so viel Lärm verursacht, dass er bis in den Keller vorgedrungen sein musste. Tjerulf drehte Freno auf den Rücken und untersuchte ihn. Was er feststellte, bestätigte seine und Trywfyns Befürchtung. Freno schien zwar unversehrt, doch als Tjerulf seine Augenlider hochschob, blickten ihn fast weiße Augäpfel an. Die Pupillen waren bis auf winzige Punkte verengt. Sie waren also doch zu spät gekommen. Der Dämon, dessen Körper sie getötet hatten, hatte von Freno Besitz ergriffen und bereitete die Wiedererweckung vor. Jetzt durfte er keine Zeit verlieren.

Tjerulf drehte Frenos Körper auf den Bauch und leuchtete den Raum ab. An einer Wand fand er, was er gesucht hatte. Dort hingen einpaar kräftige Taue. Sie waren zwar alt, aber Tjerulf hoffte, dass sie noch fest genug waren, um den Kräften des Geistes zu widerstehen. Er riss die Taue von den Haken und fesselte Freno an Armen und Beinen. Tjerulf war noch nicht ganz fertig, da hörte er über sich die Schritte mehrere Leute und kurze Zeit darauf kam Trywfyn mit Meneas, Idomanê und Durhad die Treppe herunter.

„Was tust du da?“, fragte Meneas erstaunt und ein wenig ungehalten, als er seinen Freund in Fesseln sah.

Tjerulf antwortete nicht sofort. Er hatte nicht viel Zeit, und kaum war er fertig, da begann sich Freno zu bewegen. Ruckartig riss er an den Stricken. Tjerulf stand wieder auf. Er war gerade noch rechtzeitig fertiggeworden.

Ein von einem fremden Geist übernommener Mensch konnte über außerordentliche Kräfte verfügen. Es waren nicht immer übelwollende Geister, die von fremden Körpern Besitz ergriffen, doch hier war Tjerulf sicher, dass dieser in Freno ihnen gefährlich werden konnte.

„Seht euch Frenos Augen an“, forderte Tjerulf seine Freunde auf.

Im Licht der Leuchten zuckten sie wild hin und her. Durhad und Trywfyn wussten, was sie erwartete, denn Freno war nicht der erste von einem boshaften Geist besessene, den sie sahen. Für Meneas und Idomanê kam dieser Anblick aber vollkommen unvorbereitet. Entsetzt traten sie einen Schritt zurück.

„Was ist das?“, fragte Idomanê gequält. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“

„Zunächst besteht kein Grund mehr, Angst zu haben“, erklärte Tjerulf. „Euer Freund wurde von dem Geist eines seiner Entführer ergriffen. Er steckte vorher in dem Körper des Leichnams dort. Deswegen musste ich ihn mit den Stricken fesseln. Es war die einzige Möglichkeit, ihn zu bändigen. Solange er in den Fesseln bleibt, sind wir und auch er selbst einigermaßen sicher.“

„Und wie lange soll er in diesem Zustand bleiben?“, fragte Meneas. „Wir können ihn doch nicht für immer in dieser Lage lassen.“

Tjerulf lächelte und das, fand Meneas, war in diesem Augenblick unangebracht, denn weder ihm noch Idomanê war nach Frohsinn zumute. Tjerulf strahlte dagegen eine Gelassenheit aus, die nur in geübtem Umgang mit solchen Dingen entstanden sein konnte.

„Das habe ich auch nicht vor“, versuchte er die beiden zu beruhigen. „Wir, das heißt Durhad, Trywfyn und ich, werden versuchen, den Geist wieder auszutreiben. Er ist noch nicht lange in Frenos Körper und seine Bindung zu ihm noch nicht gefestigt. Daher sollte es verhältnismäßig leicht sein. Ihr könnt uns dabei nicht helfen. Das Einzige, was ihr tun könnt, um uns zu unterstützen, ist, uns mit den Taschenlampen zu leuchten. Wir werden es gleich hier versuchen. Ihn zuerst ins Wirtshaus zu bringen, hieße Zeit zu verlieren und außerdem würden wir dort unnötiges Aufsehen erregen. Seid ihr bereit?“

Alle nickten, obwohl Meneas und Idomanê nicht wussten, was sie erwartete. Trywfyn und Tjerulf gaben den beiden ihre Taschenlampen. Durhad hatte keine mitgenommen, da seine außerordentliche Sehfähigkeit sie in so hellen Nächten wie dieser überflüssig machte.

Die drei räumten den Fußboden in der Mitte des Raumes frei und schoben den Körper des Entführers an die Seite. Er war bereits spürbar leichter geworden, seit er sich aufzulösen begonnen hatte. Dann drehten sie Freno wieder auf den Rücken. Er versuchte sich zu wehren und blickte die Herumstehenden mit einem wütenden und entsetzlichen Gesichtsausdruck an. Seine weißen Augäpfel mit den winzigen Pupillen traten unnatürlich weit hervor und er versuchte jeden zu beißen, der in seine Nähe kam. Ein unheimliches und hohles Knurren kam aus seiner Kehle.

Meneas und Idomanê erschauderten bei diesem Anblick und Idomanê spürte, wie sie zu zittern begann.

Tjerulf wickelte einen festen Knebel um den Mund Frenos und Trywfyn, der gewiss über beachtliche Kräfte verfügte, hatte alle Mühe, seinen Kopf festzuhalten.

„Ihr werdet jetzt einige fremdartig wirkende und zweifellos abstoßende Dinge sehen“, bereitete Tjerulf Meneas und Idomanê auf das Kommende vor. „Was wir auch immer tun, es ist zur Rettung eures Freundes und keiner von euch darf einschreiten, weil er glaubt, dass wir Freno etwas zuleide tun wollen. Es würde nicht nur unseren Erfolg verhindern, sondern Freno wäre endgültig verloren und wir alle in größter Gefahr. Habt ihr mich verstanden?“

Meneas und Idomanê lösten ihren Blick von Freno und nickten. Zu einer anderen Antwort waren sie nicht fähig. Beide glaubten, auf das Schlimmste gefasst zu sein, doch das, was kam, war schlimmer.

Trywfyn beugte sich wieder nach vorn über den Kopf von Freno. Durhad kniete sich vor seine Füße. Beide zückten ihre Messer und ritzten die Haut an den Schläfen und den Innenseiten der Knöchel ein, bis die ersten Blutstropfen hervortraten. Der Geist in Freno wehrte sich immer heftiger gegen die Misshandlung seines neuen Körpers und durch den Knebel gab er tierische Laute von sich. Idomanê glaubte, ein kurzes Aufleuchten seiner Augen gesehen zu haben. Es mochte aber auch die Spiegelung des Lichtes ihrer Taschenlampen gewesen sein.

Durhad legte unter jedem Schnitt, den er getan hatte, eine Ader frei, schob jeweils ein Holzstäbchen, die er bei sich getragen hatte, unter sie und verhinderte so, dass die Blutgefäße wieder unter die Haut rutschten. Das gleiche tat Trywfyn mit den Schläfenadern. Die waren jedoch ungleich dicker als die an den Füßen und schienen unter den schnellen Herzschlägen zu pulsieren. Nachdem diese Vorbereitungen getroffen waren, lehnten sich Durhad und Trywfyn wieder zurück und warteten darauf, dass Tjerulf seinen Eingriff begann. Und es wurde einer im Sinne des Wortes. Auf das, was Meneas und Idomanê nun erlebten, war keiner von ihnen vorbereitet und sie hatten Mühe, ihre Fassung zu wahren.

Ohne Vorwarnung ging mit Tjerulf eine unheimliche Veränderung vor sich. Er kniete mit nach vorn geneigtem Kopf neben Freno und schien in Gedanken versunken. Plötzlich legte sich ein silberner Schimmer um seine Gestalt. Sein Kopf fuhr ruckartig in den Nacken und seine Augen starrten wie geistesabwesend nach oben. Doch dieser Eindruck war genau das Gegenteil von seinem Zustand. Es war nicht mehr Tjerulfs Kopf, den sie sahen. Vollkommen übergangslos hatte er sich in den Schädel eines alten, kahlköpfigen Mannes verwandelt, dessen Gesicht vor lauter Falten und Furchen beinahe wie grau versteinert wirkte. Langsam senkte sich dieser fremdartige Schädel wieder nach vorn und in dieser Bewegung hoben sich seine Arme bis in Gesichtsmitte empor. Mit keinem Blick aus seinen dunkelbraunen Augen streifte er Meneas und Idomanê. Sie hätten ihm nur mit Mühe standgehalten. Die Lichtkegel der Blendlaternen zitterten deutlich.

Der Alte, es konnte unmöglich noch Tjerulf sein, blickte starr auf seine Arme und murmelte Worte in einer unbekannten Sprache. Der Geist in Freno wehrte sich immer stärker, denn er wusste, was ihn erwartete. Es war fast unglaublich, dass die Stricke noch hielten, so bäumte er sich gegen sie auf. Meneas und Idomanê befürchteten, dass er sich im nächsten Augenblick Hände oder Füße abreißen würde, doch weder das eine noch das andere geschah.

Dann begannen sich die Hände des Alten zu verformen. Waren es vorher noch menschliche Hände gewesen, wenn auch steinalt und schrumpelig, so wuchsen an jeder Hand die fünf Finger jetzt zusammen und es bildeten sich drei unförmige, hornbewehrte Krallen, jeweils zwei Finger und ein Daumen. Damit begann der Fremde, die Kleidung über Frenos Bauch hochzuschieben und die nackte Haut freizulegen. Mit einer heftigen Armbewegung durchbrachen die Krallen der rechten Hand die Bauchdecke. Blut quoll hervor und Frenos Körper erbebte vor Qualen, doch er fiel nicht in eine gnädige Bewusstlosigkeit. Der Geist in Freno warf wie wahnsinnig seinen Kopf hin und her und trat mit den Füßen. Schaum bildete sich vor seinem Mund und unirdische, höllische Geräusche drangen durch den Knebel. Beiden, Meneas und Idomanê, wurde übel. Als ihr dann auch noch schwindelig wurde, ahnte sie, dass sie kurz vor einer Ohnmacht stand. Verzweifelt stützte sie sich an der Wand ab.

Was der Alte in den Eingeweiden Frenos in diesen Augenblicken veranstaltete, konnten sie nicht erkennen und sie waren dankbar dafür. Dafür mussten sie mit ansehen, wie Trywfyn und Durhad zur gleichen Zeit die freigelegten Adern durchtrennten und ihnen das Blut entgegenspritzte. Das war zu viel für Idomanê. Ohnmächtig sank sie zu Boden und polternd fielen die beiden Taschenlampen aus ihren Händen. Gespenstisch leuchteten sie zwei Ecken des Raumes aus. Tjerulf, Durhad und Trywfyn ließen sich jedoch nicht stören. Während der Alte seinen Arm weiter in die Richtung des Herzens vorschob, lehnten sich der Morain und der Ogmari wieder zurück.

Frenos Wunden hätten unter gewöhnlichen Umständen ausgereicht, ihn zu töten. Nicht so in diesem Fall. Seine Bewegungen waren nicht schwächer geworden. Der fremde Geist klammerte sich mit verzweifelter Wut an seinen Gastkörper und versorgte ihn mit schier grenzenloser Lebenskraft. Der Strom des Blutes, der aus der Wunde trat, verfärbte sich von rot zu grau, wurde dann schwarz und schließlich wieder rot. Es schien zu kochen, denn weißer Schaum mischte sich bei. Jetzt erst erstarben Frenos Bewegungen und schließlich hörte der Blutstrom auf. Mit einem Geräusch, das sich wie ein tiefer, erleichterter Seufzer anhörte, fiel der Körper in sich zusammen und lag bewegungslos da. Im gleichen Augenblick hallten die Wände des Kellerraumes zum zweiten Mal in dieser Nacht von einem unirdischen Kreischen wider. Dann herrschte im Sinne des Wortes Todesstille.

Meneas stand wie versteinert da. Nur seine Hände zitterten. Er verstand nicht, was vor seinen Augen stattgefunden hatte. Sein Geist weigerte sich einfach, es zu verstehen. Hatte Tjerulf, oder wer immer er jetzt war, Freno letztlich doch umgebracht, entgegen seines Versprechens? Meneas war unfähig zu handeln oder etwas zu sagen.

Der Alte zog seinen Arm wieder aus dem Bauch des offensichtlich leblosen Freno. So wie sich die Hände in Krallen umgewandelt hatten, wurden wieder fünffingrige Hände aus ihnen. Der kahle Schädel nahm wieder die Form des Kopfes von Tjerulf an und die silbrige Aura verschwand.

Nun, damit hatte Meneas gerechnet, aber nicht mit dem, was er dann sah. Die Wunden Frenos begannen sich langsam, aber sichtbar wieder zu verschließen. Die durchtrennten Adern, die sich nach den Schnitten unter die Haut zurückgezogen hatten, verbanden sich unsichtbar unter den verheilenden Wunden und selbst die gewaltige Bauchverletzung war bald nicht mehr zu sehen. Abgesehen von dem Blut, von dem nicht wenig um Freno verteilt war, deutete nichts mehr auf den Eingriff hin. Nach wenigen Minuten war Frenos Körper so unversehrt wie zuvor und von erstaunlich gesunder Farbe.

Tjerulf drehte Freno auf die Seite und löste ihm die Handfesseln. Durhad durchschnitt die Stricke an den Füßen. Nirgends waren erstaunlicherweise Druckstellen zurückgeblieben. Dann legten sie Freno wieder auf den Rücken und standen auf.

„Der Geist war stärker als erwartet“, gab Tjerulf zu. „Doch es ist vorüber. Nicht mehr lange, und Freno wird zu sich kommen. Dann wird er sich an nichts mehr erinnern.“

Tjerulf drehte sich um und wäre beinahe über Idomanê gestolpert, die hinter ihm lag.

„Oh, was hat sie?“, fragte er scheinheilig.

Es dauerte einige Zeit, bis Meneas wieder etwas sagen konnte. Er stand so steif an der Wand, dass es wie angewurzelt aussah, und hätte er sich nicht nach hinten anlehnen können, hätte er das Schicksal von Idomanê geteilt, auch ohne ohnmächtig zu sein. Wer ihn genau betrachtete, der konnte feststellen, dass seine Gesichtsfarbe ungesunder aussah als die von Freno.

Durhad und Trywfyn kümmerten sich um die Frau, die sich bald wieder regte. Tjerulf fühlte sich nach der Geisteraustreibung erschöpft und setzte sich auf eine Holzkiste, die in dem Raum stand.

„Wir werden einige Zeit warten müssen, bis Freno wieder zu sich kommt“, erklärte er. „Bis dahin sollten wir etwas ausruhen.“

Tjerulf hatte freiwillig nichts anderes getan als das, wozu Freno in dem Augenblick, als Trywfyn den Entführer tödlich verletzt hatte, von dessen Geist gezwungen worden war. Er hatte seinen Körper einem mächtigen Geist aus einer anderen Welt zur Verfügung gestellt.

Es war den Geistern, denen sich der Orden von Enkhór-mûl bediente, unter gewöhnlichen Umständen nicht möglich, die Körper ihrer Opfer zu übernehmen, solange diese bei Bewusstsein waren. Freno jedoch hatte es bereits während der Entführung zur Hausruine durch die überwältigende Ausstrahlung der feindlichen Geister verloren. Daher hatte er jegliche Widerstandskraft gegen sie eingebüßt. Nachdem sie ihn dort versteckt hatten, waren zwei der Entführer zu ihren Auftraggebern, den Priestern von Enkhór-mûl, aufgebrochen, während sie einen dritten bei Freno als Wache zurückgelassen hatten. Dass Tjerulf und Meneas nur einen der Entführer vorgefunden hatten, war also kein Zufall gewesen. Sie hatten es für unmöglich gehalten, dass es Frenos Freunden gelingen würde, ihr Schlupfloch ausfindig zu machen. Was mit Freno weiter geschehen sollte, war bis dahin noch nicht entschieden gewesen, aber wären seine Freunde tatsächlich wieder umgekehrt, dann hätte die Möglichkeit bestanden, dass sie ihn wieder laufen gelassen hätten.

In seinem Schrecken über die unerwartete Entdeckung hatte die Wache versucht, Freno umzubringen. Der Schrei, den die Freunde Frenos gehört hatten, als sie in den Keller vordrangen, war ein Schrei des Hasses und der Verzweiflung des letzten Entführers gewesen, denn diese Geister besaßen keine wesentlichen übermenschlichen Kräfte und er fühlte sich in diesem Augenblick seiner Entdeckung den Eindringlingen gegenüber unterlegen, ja er spürte sogar ein wenig Angst. Die Geister des Enkhór-mûl waren nur bedingt fähig, eigene Entscheidungen zu treffen und der hier hatte nicht recht gewusst, was er tun sollte. Einer der wichtigsten Gründe, warum der Orden sie einsetzte, war der Umstand, dass sie unter gewöhnlichen Umständen nicht getötet werden konnten. Die Geister konnten wohl ihren Körper verlieren, doch dann kehrten sie wieder in ihre Welt zurück und konnten von neuem gerufen werden.

Als Tjerulf und die anderen das Versteck erreicht hatten und Trywfyn den Körper des Wächters tötete, war dessen Geist in seiner Verwirrung nicht geflohen, sondern in den Körper des bewusstlosen und daher widerstandsunfähigen Freno eingedrungen. Dort hatte er gehofft, unentdeckt zu bleiben, und später in Sicherheit aus dem Körper fliehen zu können. Dann hätte er tatsächlich einen Toten hinterlassen. Doch die körperliche Veränderung von Freno hatten ihn schnell verraten, denn zu seinem Unglück gehörten Tjerulf und seine Freunde zu den wenigen, die sich in solchen Dingen auskannten.

„Was war das?“, waren die ersten Worte, die Meneas fand.

Allmählich begann er, seine Fassung wieder zurückzuerlangen, die das Geschehen arg beansprucht hatte. Aber immerhin hatte er es bis jetzt fertiggebracht, an der Wand stehenzubleiben. Idomanês Verstand hatte weit eher nachgegeben. Durhad und Trywfyn hatten ihr bei ihrer Rückkehr aus der Bewusstlosigkeit geholfen und nun saß sie, immer noch blass, das heißt hellblaugrau, mit dem Rücken an die Wand gelehnt da und schwieg. Bei genauer Betrachtung konnte man erkennen, wie es in ihr arbeitete.

„Was?“, fragte Tjerulf und lächelte.

„Das“, erwiderte Meneas einsilbig und zeigte auf Freno, der vor ihnen lag und scheinbar ruhig schlief. Meneas war noch nicht dazu in der Lage, sich über Tjerulfs Scheinheiligkeit zu ärgern.

„Also gut, ich will es dir sagen“, erklärte sich Tjerulf schließlich bereit. „Offensichtlich habt ihr einer Geisteraustreibung noch nie beigewohnt und nichts anderes habt ihr eben, zumindest teilweise“, und damit warf er einen Blick auf Idomanê, „miterlebt. Der Geist oder das Bewusstsein des Entführers“, jetzt deutete er auf den schwindenden Leichnam an der Wand, „war in Freno eingedrungen, nachdem Trywfyn ihn verwundet hatte. Ein sicheres Anzeichen dafür, und eigentlich zunächst das einzige, waren seine winzigen Pupillen in den Augen. Aber täusche dich nicht, Meneas. Dieser Zustand wäre nur vorübergehend gewesen. Morgen hätte Freno auf euch einen fast natürlichen Eindruck gemacht, äußerlich auf jeden Fall. Nur sein Verhalten hätte sich für euch auf unerklärliche Weise verändert. Und so lange er Freno beherrscht hätte, wäre er der perfekte Spion der Priester gewesen.“

„Wie lange wäre dieser - Geist - in Freno geblieben?“, fragte Meneas. „Und was wäre geschehen, wenn er ihn wieder verlassen hätte, falls das freiwillig möglich gewesen wäre?“

Wie bereits erwähnt, waren Meneas und seine Freunde bereits früher auf einigen ihrer Reisen auf Geister unterschiedlicher Art gestoßen, zuletzt waren es die Sinaraner gewesen. Sie waren ihnen also nicht fremd. Das Besondere in diesem Fall jedoch war die Geisteraustreibung. Einem solchen Ereignis waren sie bisher tatsächlich noch nie begegnet.

„Durchaus“, bestätigte Tjerulf. „Aber wann, kann keiner sagen, und ich bin ziemlich sicher, dass es dieser Geist, der gerade erst im Erwachen begriffen war, selbst noch nicht wusste. Auf jeden Fall wäre Freno dann wirklich gestorben. Manch ein plötzlicher Tod mag auf diese Weise verursacht werden, wovon die Leute nie etwas erfahren.“

„Und um Freno zu helfen, war so eine Schweinerei nötig?“, entrüstete sich Idomanê. Sie hatte sich jetzt so weit erholt, dass sie an dem Gespräch teilnehmen konnte. „Und Eure Verwandlung.“

Durhad und Trywfyn lachten leise und wissend. Sie wussten natürlich die Antworten. Tjerulf saß kurz mit gesenktem Haupt da und überlegte. Dann blickte er auf und erklärte weiter:

„Ich weiß, es war kein schöner Anblick und es hätte unter anderen Umständen auch andere Möglichkeiten gegeben. Hier jedoch konnte es nur auf diese Art geschehen. Aber ich kann Euch versichern, Freno wird sich an nichts erinnern, wenn er zu sich kommt. Ja, er wird nicht einmal den Schmerz gespürt haben. Und wie ihr seht, liegt er unversehrt da und sieht auch nicht allzu mitgenommen aus, oder?“

Tjerulf hatte Recht. Nun fiel Meneas und Idomanê auch auf, dass selbst das schwarze Blut begonnen hatte zu schwinden.

„Trotzdem“, beharrte Idomanê, „warum dieser grässliche Eingriff?“

„Nun gut, auch das will ich erklären“, meinte Tjerulf. „Fremde Geister, die die Körper anderer Wesen übernehmen, haften sich zuerst an das Sonnengeflecht. Von dort können sie am leichtesten ihre Macht auf die Organe und den Leib übertragen. Sie bilden sehr schnell und für andere nicht erkennbar einen eigenen Leib, nennen wir ihn Dämonenleib, aus, der dem ursprünglichen aufs Haar gleicht und ihn bis in die kleinste Zelle überlagert. Kurz gesagt, der Geist benutzt den übernommenen Körper, um sich seinen eigenen nach dieser Vorlage bauen zu können. Trotzdem bleibt der andere Körper im Dämonenkörper erhalten. Der Geist des ursprünglichen Wesens wird nicht verdrängt, sondern so weit unterdrückt, dass seine Sinne ihm keine Nachrichten mehr von außen übermitteln können, er jedoch nicht wie beim Tod den Leib verlassen kann. Er fällt sozusagen in ein dunkles Verließ. Erst wenn der Dämon sich wieder davon macht, kommt auch er wieder frei, kann seinen Körper jedoch nicht mehr verwenden, der dann unwiderruflich sterben muss. Bei Freno hatte dieser Vorgang aber erst begonnen und wir waren früh genug bei ihm, um ihm helfen zu können. Daher war es Ughel-do´bec ohne besondere Schwierigkeiten möglich, das fremde Bewusstsein aus dem Sonnengeflecht Frenos zu vertreiben. Die Durchtrennung der Adern war notwendig, um es dann zusammen mit dem im Aufbau begriffenen Dämonenkörper herauszuspülen. Ihr habt die farbliche Veränderung des Blutes gesehen. Damit kam Frenos eigener Körper wieder zum Vorschein und der war von dem ganzen Vorgang nicht betroffen. Jetzt bereitet sich sein Geist gerade darauf vor, zu erwachen. Nun wisst ihr, was wir gemacht haben.“

„Aha“, machte Meneas, und sein Gesichtsausdruck bewies Tjerulf nicht eindeutig, ob er ihn verstanden hatte.

„Ughel - wer? War das dieses Unge- ähm - dieses Wesen?“, fragte Idomanê.

„Ughel-do´bec, ja“, erwiderte Tjerulf. „Er ist ein Wächter aus der Dämonenwelt. Aber ein Ungeheuer ist er nicht, wenn er für menschliche Augen auch von wahrhaft erschreckender Erscheinung ist. Bei gewissen Gelegenheiten stelle ich ihm meinen Körper zur Verfügung. Doch ist jetzt nicht die Zeit, darüber mehr zu sagen.“

„Dann bist du sozusagen ein Mittler zwischen den Welten, wenn es so etwas gibt“, stellte Meneas erstaunt fest.

Er ahnte, dass er seinen Freund mächtig unterschätzt hatte und in ihm unbekannte Fähigkeiten steckten. Tjerulf, Durhad, Solvyn und Trywfyn schienen eine Gruppe zu sein, die noch ganz andere Dinge tat, als bloß hinter Altertümern herzujagen, so wie Meneas und seine Freunde.

„So ähnlich könnte man es beschreiben“, meinte Tjerulf, ließ sich aber auf keine weitere Erklärung ein.

„Ihr wollt nicht darüber sprechen“, stellte Idomanê fest. „Nun gut, das ist Euer gutes Recht, doch sagt uns wenigstens eines. Ughel-do´bec scheint ein mächtiges Wesen zu sein. Kann er uns nicht vor dem Orden von Enkhór-mûl schützen, oder sie wenigstens ausfindig machen, damit Gnum und Osir etwas gegen sie unternehmen können?“

„Nein“, antwortete Tjerulf bestimmt und fast ärgerlich und seine Stimme stach wie eine scharfe Klinge. Idomanê spürte es fast am Leib. Sie ahnte, sie hatte einen wunden Punkt berührt. Tjerulf war also nicht Herr jeder Lage. Sie ließ es dabei bewenden, ohne weiter zu fragen und möglicherweise Tjerulfs Zorn zu erregen.

„Freno kommt wieder zu sich“, unterbrach Durhads Stimme kurz darauf die gespannte Stille.

Und tatsächlich, seine Arme und Beine bewegten sich, wie es oft beim Erwachen aus dem Schlaf der Fall ist. Dann schlug er die Augen auf. Er sah sich blinzelnd um und schien sich erst zurechtfinden zu müssen. Dann richtete er sich etwas mühselig auf, bis er sich auf seine Ellenbogen stützen konnte. Jetzt konnte er mehr erkennen und machte ein zunehmend verwirrtes Gesicht.

„Was ist denn hier los?“, fragte er entgeistert und ohne zu ahnen, dass es im Sinne des Wortes geschah. „Und woher kommt all das Blut? Das ist doch nicht meins, oder? Wo sind wir hier überhaupt?“

Die Flut der Fragen bewies, dass es nach allem nicht allzu schlecht um ihn stehen konnte.

„Zunächst einmal, wie fühlst du dich?“, antwortete Meneas mit einer Gegenfrage.

Er war erleichtert darüber, dass Freno keine Fragen nach ihnen selbst gestellt hatte. Das bedeutete, dass er sie immer noch erkannte.

„Gut“, meinte Freno, der sich ein wenig über die Frage wunderte. „Ich habe Hunger und vor allem Durst, aber sonst geht es mir gut. Nun sag´ schon, wie kommen wir alle hier her und was ist mit mir los?“

„Weißt du wirklich nicht mehr, was geschehen ist“, wunderte sich Idomanê. „Zumindest wie alles begonnen hat? Die Entführung aus dem Wirtshaus? Deine Verschleppung?“

Freno blickte vor sich auf den Boden und überlegte. Ächzend richtete er seinen Oberkörper auf, denn die Ellenbogen begannen zu schmerzen.

„Nein“, sagte er. „Ich weiß zwar, oder glaube es zu wissen, dass mich irgendwer im Halbschlaf packte und aus dem Fenster warf, aber dann war buchstäblich Nacht um mich. Ich nehme an, es war ein Traum. Warum also habt ihr mich hierhergebracht? Was wollen wir im Keller des Wirtshauses?“

Tjerulf lachte und es klang wirklich belustigt, denn er wusste, es war nicht ungewöhnlich, dass sich zuvor Besessene nach einer Geisteraustreibung nicht mehr daran erinnern konnten, was ihnen widerfahren war. Und das war für sie am besten. Was immer Tjerulf kurz zuvor zu seiner barschen Antwort verleitet hatte, es schien vergessen, denn er hörte sich jetzt wieder so an, wie sie ihn kannten.

„Ich glaube, ich überlasse es euch, Freno darüber aufzuklären, was geschehen ist“, meinte Tjerulf.

Er stand auf und verließ den Kellerraum. Meneas und Idomanê schilderten Freno nur mit knappen Worten die Ereignisse, die sie ihm zu verdanken hatten, denn allmählich wollten alle den Keller des alten Hauses wieder verlassen. Er hörte zunächst schweigend und unverkennbar zunehmend zweifelnder zu, und an seinem Gesicht konnten sie erkennen, dass es ihm schwerfiel, ihnen die Geschichte abzunehmen.

„Und das alles soll mir zugestoßen sein?“, fragte er wenig überzeugt und sah an sich herab und dann hilfesuchend den Morain und den Ogmari an.

Als diese mit ernstem Gesicht nickten, blieb ihm nichts anderes übrig, als ihnen zu glauben. Schließlich waren die Reste des Blutes und der Leichnam des Entführers klare Beweise.

„Hm“, machte er, „dann wird es wohl so gewesen sein. Ich habe zwar nichts davon gespürt und fühle mich auch nicht so mitgenommen, wie es eigentlich nach einer solchen Tortur zu erwarten wäre, außer dass ich einen Bärenhunger und einen Mordsdurst habe, aber eure Geschichte reicht für mehr als einen Albtraum. Und wenn ich mich umsehe, dann gefällt es mir hier gar nicht. Ich hoffe, ihr seid auch dafür, dass wir hier endlich verschwinden.“

Natürlich waren sie das, schließlich hatten sie nur noch auf ihn gewartet.

„Wenn du gehen kannst“, meinte Durhad. „Wir warten nur auf dich.“

Freno versuchte, auf die Beine zu kommen, als wäre nichts gewesen, aber er spürte schnell und erstaunt seine Schwäche, die seinen Körper so unerwartet erfüllte. Bunte Kreise tanzten vor seinen Augen. Meneas und Durhad konnten ihn gerade noch abfangen, bevor er stürzte.

„Irgendetwas scheint da doch gewesen zu sein“, stellte Freno fest und lehnte sich an die Wand.

„Das geht gleich vorüber“, meinte Durhad. „So ergeht es allen.“

Freno sah den Morain an. Wie auch Trywfyn schien er sich nichts daraus zu machen, dass er noch mit Blut besudelt war. Allerdings hatte Freno sie nicht sofort nach der Geisteraustreibung gesehen, sonst wäre ihm aufgefallen, dass es schon beträchtlich weniger geworden war. Und da es sich um Dämonenblut handelte, würde es sich bald vollends aufgelöst haben wie der Körper des Entführers.

„Ihr macht so etwas öfter“, vermutete Freno.

Auch er bemerkte die unerklärliche Gelassenheit, die der Morain verbreitete. Natürlich ahnte Freno nicht einmal, dass es in anderen Fällen bereits um Leib und Leben von Tjerulf und seinen Freunden gegangen war. Dieser jedoch gehörte zu den undramatischen, und da gab es für sie nur wenige Gründe zur Aufgeregtheit.

„Nein, nein“, widersprach Durhad lächelnd. „Den Göttern sei Dank, dass es nicht allzu oft vorkommt, aber von Zeit zu Zeit haben wir damit zu tun, das stimmt.“

„Wer seid ihr?“, wollte Idomanê wissen. „Das hat doch nichts mit Altertumsforschung zu tun.“

„Oh, doch“, meinte er. „Es kommt eben nur darauf an, wo und unter welchen Umständen man welche Altertümer sucht. Das ist doch klar.“

Das war es ihr eben nicht, aber Durhad schien nicht geneigt zu sein, Näheres zu erklären. Stattdessen gab er ein Zeichen, den Kellerraum zu verlassen.“

„Eine letzte Frage noch“, bat Freno. „Was ist aus dem Dämon geworden? Ist er vernichtet?“

„Nein, er lebt. Er ist zwar gefangen, aber er lebt. Und er braucht zu seinem Segen nicht mehr dem Enkhór-mûl zu dienen. Er wird, zumindest für eine lange Zeit, nicht mehr in der Welt auftauchen und kann nun seinen natürlichen Weg der Reife gehen.“

Freno und Idomanê hatten bis auf die Behauptung, dass der Geist nicht umgekommen war, kein Wort von dem verstanden, was Durhad erklärt hatte. Was waren das doch für seltsame Leute um Tjerulf? Was für ein Wissen mochten sie haben über Dinge, von denen sie selbst noch niemals gehört hatten? Und welchen Dingen mochten sie wirklich nachgehen? Wenn es auf ihrer Reise so weiterging, dann würden Meneas und seine Freunde ihre Welt von einer ganz neuen, ungeahnten Seite her kennenlernen. Freno hoffte inständig, dass es nicht so weiterging.

In diesem Augenblick hörten sie über sich auf den Dielen die Schritte von Tjerulf. Er war von seinem Ausflug zurückgekehrt. Wo er gewesen war und was er getan hatte, darüber hielt er Stillschweigen. Idomanê und Meneas sammelten ihre Ausrüstung zusammen. Viel war es nicht, nur ihre Waffen und die Taschenlampen.

„Um den Körper des Entführers brauchen wir uns nicht zu kümmern“, meinte Durhad. „Er wird sich bis zum Sonnenaufgang auflösen. Lediglich ein Haufen Lumpen wird zurückbleiben, die nicht verraten können, wer einst in ihnen gesteckt hat.“

Tjerulf wartete oben auf der Treppenschwelle auf sie.

„Endlich“, sagte er. „Es wird bereits hell. Gehen wir zurück.“

Als sie vor das Haus traten, fand Freno bestätigt, dass sie tatsächlich nicht im Keller des Wirtshauses gewesen waren. Im Stillen war er bis dahin trotz aller Worte seiner Freunde nicht völlig überzeugt gewesen. Die ersten Hähne krähten, also musste Nephys gerade über dem Horizont erschienen sein. Bis er allerdings zwischen den Häusern der Stadt zu sehen war, würde noch einige Zeit vergehen.

Die Gruppe versuchte ihren Schritten eine Geschwindigkeit zu geben, die sie möglichst unauffällig erscheinen ließ. Trotzdem weckten sie die heimliche Neugierde einiger Einwohner der Stadt, die um diese frühe Stunde bereits unterwegs waren. Außer aber, dass sie interessiert beäugt wurden, geschah nichts weiter. Keiner sprach sie an. Sie wurden noch nicht einmal von dem kleinen Trupp Wachsoldaten angehalten, der ihnen kurz vor dem Marktplatz ein wenig lustlos entgegenkam. Diesen Umstand fand Meneas merkwürdig, denn sie waren ein nicht ganz alltäglich aussehender Haufen, aber umso besser, dachte er. Er blickte sich zu den anderen um und stellte erstaunt fest, dass sämtliche Blutspuren auf der Kleidung von Tjerulf, Durhad und Trywfyn verschwunden waren. Also stimmte tatsächlich, was sie behauptet hatten: Bis zum Sonnenaufgang werden alle Überreste des dämonischen Körpers vergangen sein.

Auf dem Weg zu den Gasthäusern entschieden Meneas und Tjerulf, unverzüglich aufzubrechen. Um nochmals zu schlafen, war es zu spät und je eher sie Guff-Mat verließen, desto weniger Fragen würden sie beantworten müssen, falls doch jemand auf ihr nächtliches Treiben aufmerksam geworden sein sollte und ihnen die Wache auf den Hals schickte. Zumindest aber wollten sie den Fragen des Wirtes und der Gäste des »Glockenturms« entgehen. Außerdem mussten sie damit rechnen, dass der Orden vom Enkhór-mûl noch weitere Helfer in der Stadt hatte, die ihnen gefährlich werden konnten. Sie trennten sich auf dem Marktplatz und jede Gruppe ging zurück in ihre Herberge.

„Wo seid ihr denn so lange gewesen?“, wurden sie von Erest begrüßt, als sie in das Gasthaus »Zum Glockenturm« zurückkehrten. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht, aber wussten nicht, wo wir euch suchen sollten. Was ist geschehen und wo sind Tjerulf, Durhad und Trywfyn?“

„Später“, vertröstete ihn Meneas. „Wo ist Solvyn?“

„Noch bei Anuim“, erklärte Erest. „Es geht ihm schon wieder recht gut.“

„Bei dieser Pflege“, sagte Freno verschmitzt und grinste.

Meneas schickte Solvyn zu ihren Freunden in die »Alte Meierei«. Dann veranlasste er, dass Freno gut und reichlich zu essen und zu trinken bekam. Wenn er sich auch an nichts mehr erinnern konnte, so hatte er es sich doch ehrlich verdient. Anuims Zustand war befriedigend. Er hatte, wie erwartet, eine Mordsbeule bekommen und auch einige, wenn auch erträgliche Kopfschmerzen zu erdulden, aber er war reisefähig.

Meneas verstand die Neugierde seiner Freunde, die im Wirtshaus zurückgeblieben waren, aber da er mit Tjerulf Eile vereinbart hatte, wollte er die Zeit nicht mit einem Bericht verschwenden, der auch später noch gegeben werden konnte und von dem seine Freunde auch dann noch einiges nur schwer glauben würden.

So kam es, dass sich die beiden Gruppen am südlichen Stadttor wieder vereinigten, noch bevor die alltägliche Geschäftigkeit in Guff-Mat begann. Sehr zum Unwillen des Wirtes des »Glockenturms« hatten Meneas und seine Gefährten zu den nächtlichen Vorkommnissen hartnäckig geschwiegen. Da auch nichts zu Bruch gegangen war, gab es auch keinen Streit über Dinge, die zu ersetzen er von Meneas verlangen konnte und bald ritten die sechs Reisenden vom Hof des Gasthauses herunter und ließen einen etwas verärgerten und noch unwissenderen Gastwirt zurück. Natürlich hatte er ihnen seinen Unwillen nicht gezeigt, denn sie hatten die Zimmer ordentlich bezahlt und vielleicht kamen sie ja eines Tages als Gäste wieder - und waren dann redseliger.

Die zehn Reiter waren froh, als sie die Stadtmauer hinter sich lassen konnten. Es erschien ihnen, als verließen sie ein Gefängnis. Besonders Durhad, der nun wieder seinen Lieblingsbegleiter Fintas auf seiner Schulter trug, und Trywfyn atmeten innerlich auf, als sie aus Guff-Mat heraus waren. Auch ohne die Geisteraustreibung hätten sie diese Stadt nicht gemocht.

Das Erbe der Ax´lán

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