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3. Abenteuer im Limarenwald

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Gegen Abend erreichten sie den Rand des Limarenwaldes, so wie sie es vorgehabt hatten. Die Sonne senkte sich dem westlichen Horizont entgegen und war bereits hinter dem Wald verschwunden. An diesem Tag mussten sie wieder in ihren Zelten übernachten, denn für die nächste Zeit gab es nirgends einen Ort mit einem Gasthaus und das würde sich auch nicht ändern, solange sie sich im Limarenwald befanden. In ihm gab es noch nicht einmal Dörfer ohne Gasthaus.

Der Limarenwald war in seiner ganzen Ausdehnung von Menschen unbewohnt mit Ausnahme einiger weniger Einsiedler, die aus verschiedenen Gründen die Einsamkeit der Natur dem Treiben in den menschlichen Siedlungen vorzogen. Dafür war er aber reichlich gesegnet mit Tieren aller Art, und falls sich in ihm auch Morain-Menschen aufhielten, dann taten sie es so geschickt, dass sie sich niemandem verrieten.

Die zehn Reiter verließen die Straße in Richtung einer kleinen Einbuchtung des Waldrandes, etwa zweihundert Schritte waldeinwärts. Dort konnten sie ungesehen von der Straße ihr Lager aufschlagen. Meneas und seine Freunde hätten diesen Platz kaum gefunden, aber Tjerulf war er bekannt, denn er und seine Begleiter hatten dort bereits auf früheren Reisen Rast gemacht. Er bot nicht nur Schutz gegen Sicht und vor unleidlichem Wetter, was in dieser Nacht allerdings kaum zu erwarten sein würde, sondern auch frisches Wasser, denn ein kleiner, munter dahinplätschernder Bach streifte die Halblichtung. Gras für die Pferde war im Überfluss vorhanden.

Die Zelte waren schnell aufgestellt und kurz darauf begannen sie, ihr Abendessen über einem in einer kleinen Erdgrube entfachten Lagerfeuer zuzubereiten. Das war so geschickt überdeckt, dass es kaum einen Lichtschein erzeugte und trotzdem noch ausreichend Wärme verbreitete und die Zubereitung des Essens ermöglichte. Im Hinblick auf ihre Verfolger erschien ihnen diese Vorsichtsmaßnahme erforderlich, wenn sie von ihrer Wirkung auch nicht uneingeschränkt überzeugt waren.

Jetzt, da sie wieder im Freien übernachteten, war es erneut notwendig, Wachen aufzustellen. Jeweils zwei von ihnen sollten ständig die Umgebung im Auge behalten. In dieser Nacht hatten sie aber Ruhe. Sie wurden weder von Schergen des Ordens von Enkhór-mûl behelligt noch von Sinaranern oder anderen bekannten und unbekannten Wesen besucht. Die Wachen konnten in der Dunkelheit - nur der Halbmond Duglars wanderte über den Himmel; Folgar ließ sich zwar für kurze Zeit über dem Wald sehen, verschwand dann aber bald wieder. Und beide Monde wurden zudem die meiste Zeit von einer Wolkenschicht verdeckt - nicht erkennen, ob sie durch irgendwen aus dem Wald heraus beobachtet wurden. Und sie hörten nur die gewöhnlichen Geräusche des nächtlichen Waldes.

Einmal jedoch wurden sowohl die Wachen als auch einige der Schläfer durch einen ungewöhnlichen Lärm aufgeschreckt, zumindest für diese Tageszeit. Es war kurz nach Mitternacht, als ein seltsames Rumpeln, Ächzen, Schnaufen und Geklapper von der Straße her immer lauter wurde. Dann schob sich ein seltsames Ungetüm aus dem Wald heraus, das zwar beleuchtet war, aber so dürftig, dass sie es nicht sofort erkennen konnten. Solvyn und Anuim, die gerade Wache hatten, sowie Idomanê, Tjerulf und Meneas gingen der Straße so weit entgegen, dass sie wenigstens etwas sehen konnten.

Da waren zunächst nur drei hin- und herbaumelnde Laternen oder besser Funzeln zu erkennen. Zwei schwebten vorne und eine kam in kurzem Abstand hinterher, während sie sich über die Straße bewegten. Dann wurde in dem trüben Licht der Umriss eines mächtigen australischen Lastkarrens sichtbar, der von zwei Lambwas gezogen wurde.

Die Laternen waren vorne und hinten an der Kutsche angebracht und der Lärm rührte von den Rädern und den Hufen auf den Pflastersteinen her. Das Ächzen und Knirschen des Wagens ließ darauf schließen, dass er weit überladen war. Von einer antreibenden Stimme des Kutschers hörten sie nichts. Er mochte dösend auf seiner Bank hin- und herschaukeln und die Führung des Gefährtes den beiden Zugtieren überlassen haben. Kaum mehr als ein schwacher Umriss war von ihm zu erkennen.

Schließlich wurden die Geräusche wieder leiser und die letzte Laterne verschwand hinter einem Hügel, an dessen abgewandter Seite die Straße entlang lief.

„Ich denke, wir können wieder ins Zelt gehen“, meinte Tjerulf und verschwand im Dunkeln.

Schließlich wurde es wieder hell und Durhad und Trywfyn, die die letzte Wache hatten, weckten ihre Gefährten. Ihr Frühstück war etwas ungemütlicher als das Abendessen, denn in den Morgenstunden hatte es angefangen, leicht zu regnen, und so ging alles ein wenig schneller als gewöhnlich vonstatten. Nachdem Nephys über dem östlichen Horizont aufgegangen war, was sie allerdings nur an einer allgemeinen Zunahme der Helligkeit feststellen konnten, brachen sie wieder auf.

Wie bereits erwähnt, gab es keine Siedlungen im Limarenwald, aber in unterschiedlichen Abständen lagen Rastplätze an der Straße, die auch zur Aufnahme größerer Gruppen und ihrer Fahrzeuge geeignet waren. Natürlich waren diese Plätze nicht planvoll angelegt worden, sondern es waren ursprünglich unbewachsene, lichte Stellen am Straßenrand, die der Wald ausgespart hatte und die von Reisenden zur Rast und Übernachtung genutzt wurden. Da sie ihr Feuerholz nicht nur sammelten, sondern gelegentlich auch schlugen, waren die Plätze nach und nach immer ein wenig größer geworden. Und sie waren auch notwendig, denn selbst bei einem einigermaßen schnellen Ritt, und zu mehr sahen Meneas und Tjerulf keinen Anlass, würden sie gut eine Woche benötigen, um die Stadt Sigera auf der anderen Seite des Waldes zu erreichen.

Trotzdem wollten die zehn Reiter diese Rastplätze nicht benutzen. Sie wurden schließlich von den Häschern des Ordens von Enkhór-mûl verfolgt und mussten annehmen, dass auch ihnen diese Orte nicht unbekannt waren, deshalb wollten sie versuchen, geschütztere Stellen zu finden. Außerdem wollten sie durch die merkwürdigen Dinge, die immer wieder um sie herum geschahen, weder die Aufmerksamkeit anderer Reisender erregen, denn sie würden an den Rastplätzen nur selten allein sein, noch wollten sie andere durch ihre eigene Anwesenheit in Gefahr bringen.

Auf der Suche nach geschützten Lagerplätzen halfen ihnen die Erinnerung Tjerulfs, Durhads Kenntnisse des Waldes und die Spürnase von Trywfyn, sodass sie niemals Schwierigkeiten hatten, in nicht allzu weiter Entfernung von der Straße eine Lichtung zu finden.

Die ganze Zeit auf ihrem Ritt und nachts durch ihre Wachen blieben sie aufmerksam. Außer den üblichen Reisenden, die seltener waren, als sie erwartet hatten, sahen sie niemanden, der ihren Argwohn erregte. Bis zum ersten gefährlichen Ereignis fiel ihnen niemand auf, der sich in mehr oder weniger auffallend gleichem Abstand hinter ihnen hielt. Einerseits war diese Beobachtung beruhigend, andererseits bot sie keine Gewähr, dass sie mit der Vermutung, noch nicht wieder verfolgt zu werden, Recht hatten, denn ihre Gegner hatten auch schon Krieger ins Feld geführt, die keinem Angehörigen der zweibeinigen Völker Elverans glichen. Und durch sie wurde in der vierten Nacht im Limarenwald der erste von zwei Überfällen verübt, bevor sie die Stadt Sigera erreichten. Es geschah einige Zeit, nachdem sie zu Abend gegessen hatten.

Als sie eine Stelle erreichten, an der Tjerulf mit Solvyn und Durhad vor einigen Jahren schon einmal übernachtet hatte, mussten sie zunächst einiges von dem neuen Aufwuchs entfernen, bevor sie für sich und ihre Pferde ausreichend Platz hatten. Sie entzündeten ein offeneres Feuer als in den Tagen zuvor, denn der Wald um sie herum war dank des üppig wuchernden Unterholzes um die Lichtung herum sehr dicht und schien für einen schwachen Feuerschein kaum durchlässig.

Da es noch früh war, saßen fast alle noch im Kreis um das Feuer herum und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Lediglich Valea, Freno und Trywfyn hatten sich schon zurückgezogen. Meneas stand auf, um noch einen Arm voll Feuerholz zu holen, das sie noch im Hellen am Waldrand aufgeschichtet hatten.

Plötzlich griff sich Solvyn mit aufgerissenen Augen an den Hals. Zuerst wusste keiner, was sie hatte, doch dann erkannten sie einen fingerdicken Zweig, der sich ihr um den Hals gelegt hatte und dabei war, die Frau in die Büsche zu ziehen.

Solvyn saß im Kreis der Gefährten am dichtesten mit dem Rücken am Waldrand und weder sie noch jemand anderes hatte bemerkt, wie sich in der Dunkelheit aus dem Unterholz heraus ein dünner Zweig vorsichtig herausschob und dann blitzschnell um ihren Hals schlang, als er ihre Schulter erreichte.

Durhad erkannte die Gefahr zuerst. Er sprang auf, zog sein Schwert und hieb den Ast entzwei.

„Zieht sie weg!“, rief er in einen schrillen und fremdartigen Schmerzensschrei hinein.

Tjerulf und Erest packten Solvyn und zerrten sie vom Waldrand weg, taten einige Schritte rückwärts, stolperten dann aber hinter dem Feuer über Anuim, der nicht schnell genug ausweichen konnte, und fielen alle auf einen Haufen. Tjerulf hörte das Würgen und Keuchen Solvyns, aber sie war in Sicherheit, vorerst jedenfalls. Sie hatten keine Zeit, sich um die Frau zu kümmern, denn plötzlich trat mit einem Rascheln und Rauschen ein Baumläufer aus dem Gebüsch.

Es war genau an der Stelle, an der Solvyn gesessen hatte. Noch ehe jemand handeln konnte, tat er zwei Schritte vorwärts und wirbelte mit seinen zweigähnlichen Fortsätzen, die er wie Arme benutzen konnte, herum. Funken stoben auf, als die Beine des Ungeheuers das Feuer zerstreuten. Ein oder zwei kreischende Laute ausstoßend, suchte es sein nächstes Opfer und wandte sich den vier am Boden liegenden Menschen zu. Dann war Durhad wieder da und auch Tjerulf hatte sich gefasst und von seinem Schrecken erholt. Mit wuchtigen Schwerthieben gingen die beiden den Baumläufer an.

Baumläufer waren zähe Wesen und sehr widerstandsfähig. Das hatten sie zuvor bereits unter Beweis gestellt. Wenn sie selbst auch keine Waffen benutzten, jedenfalls hatten sie es gegen die Gefährten bisher noch niemals getan, so konnten sie doch durch das Umherschlagen ihrer Arme gefährliche bis tödliche Wunden verursachen, wenn sie ihre Opfer nicht zu Tode würgten. Es waren keine übermäßig großen Wesen, vielleicht zweimal so hoch wie ein ausgewachsener Mensch, dafür aber erstaunlich flink, flinker als sie erwartet hatten, und von einer Erscheinung, die Furcht einflößte.

In diesem Durcheinander geschahen plötzlich zwei Dinge gleichzeitig. Neben dem Morain erschien wie aus der Luft heraus der Erdmensch Trywfyn mit seiner Streitaxt in der Hand. Mit wütenden Schlägen trennte er ein Gliedmaß nach dem anderen ab, bis der Baumläufer einknickte und in die Reste des Feuers stürzte. Im gleichen Augenblick, als der Ogmari aufgetaucht war, leuchteten am anderen Ende der Lichtung die Klingen von zwei Lichtschwertern auf. Es waren die Waffen von Valea und Freno. Als sie und Trywfyn durch den Lärm aufgeschreckt wurden und aus ihren Zelten blickten, da sahen sie, dass sich ein zweiter Baumläufer auf ihrer Seite aus dem Unterholz gelöst hatte und auf sie zukam.

„Nehmt die Lichtschwerter!“, rief Trywfyn ihnen zu. „Ich gehe zu den anderen!“

Er hatte in seiner Kleidung geschlafen und seine Axt an das Zelt gelehnt. Ohne noch einmal dorthin zurückzukehren, stürmte er los zu seinen kämpfenden Freunden. Freno und Valea verstanden, was er meinte und kurz darauf verließen sie ihre Zelte mit den Waffen und griffen den zweiten Gegner, nächst zu ihnen, an.

Während Durhad, Tjerulf und Trywfyn »ihren« Baumläufer bearbeiteten, rappelten sich die drei am Boden Liegenden wieder auf und brachten sich in Sicherheit. Es war keine Feigheit, denn der Kampf mit dem Baumläufer wurde so heftig ausgetragen, dass eine Verstärkung Gefahr lief, verletzt zu werden. Das musste Idomanê schnell einsehen, als sie versuchte, die drei zu unterstützen und nur knapp einem Schwerthieb Durhads entging. Mit einem für ihn ungewöhnlich strengen Zuruf befahl er ihr, aus dem Weg zu gehen.

Meneas war vollkommen überrascht worden. Mit einem Arm voller Brennholz stand er da und sah, wie Solvyn nach Luft rang und in seinen Augenwinkeln sah er den Schatten des zweiten Baumläufers. Natürlich ließ er sofort das Holz fallen. Das war aber auch alles, was er tun konnte und was überhaupt nicht nötig gewesen wäre, denn er war zur Untätigkeit verdammt. Meneas hatte aus Bequemlichkeit sein Schwert beim Abendessen abgelegt, aber griffbereit neben seinen Sitzplatz gestellt. Dort stand es jetzt immer noch, für ihn aber unerreichbar. Im nächsten Augenblick war selbst das nicht mehr wichtig, denn er musste mit ansehen, wie der Baumläufer auf die Waffe trat und es zerbrach. Dermaßen außer Gefecht gesetzt, konnte Meneas dem Geschehen nur noch tatenlos zuschauen.

Die Kämpfe dauerten nicht lange. Die Lichtschwerter waren erstaunliche Waffen, und obwohl Valea und Freno mit ihrer Handhabung keine Erfahrung hatten, gelang es ihnen beinahe so schnell wie Trywfyn, Durhad und Tjerulf, mit ihrem Gegner fertigzuwerden. Allerdings nicht ganz ohne Blessuren, denn Tjerulf, Trywfyn und Valea trugen leichte Wunden davon. Valea hatte es am ärgsten getroffen. In einem unaufmerksamen Augenblick peitschte ein dünner Ast an ihrem Kopf vorbei und verletzte ein Ohr. Im Eifer des Gefechtes spürte sie es aber erst, als das Blut an ihrer Wange herablief. Da lag der Angreifer bereits am Boden und regte sich nicht mehr.

„Beachtliche Waffen“, sagte Freno anerkennend und tätschelte den Griff des Schwertes, nachdem er die Klinge abgeschaltet hatte. „Valea, du bist verletzt“, stellte er mehr fest, als dass er fragte.

Er sah, wie sie eine Hand auf das Ohr legte und etwas Blut zwischen den Fingern hindurchrann.

„Ach was, nur eine Schramme“, wiegelte sie ab. „Es tut kaum weh“,

„Lass´ `mal seh´n“, verlangte Freno. „Na ja, es scheint wirklich nicht schlimm zu sein. Ein leichter Fall für Meneas. Nimm dieses Tuch und halte es auf die Wunde.“

Es war kein Taschentuch und schon gar kein gebrauchtes. Freno hatte Valea sein Halstuch angeboten. Jetzt konnte endlich auch Meneas etwas tun. Er holte Salbe, Kräuter, Verbandszeug und eine Taschenlampe aus seinem Zelt.

„Setz dich hier hin“, forderte er Valea auf und begann mit der Versorgung ihrer Wunde.

Solvyn war nichts mehr von dem Überfall anzusehen. Sie atmete wieder normal und schien sich von ihrem Schrecken, der größer war als der Schmerz, wieder erholt zu haben. Aber ihren Hals würde für einige Zeit noch eine bandartige Rötung zeichnen.

„Ich hoffe, das bleibt für heute der einzige Angriff!“, meinte Meneas.

Tjerulf zuckte mit den Schultern.

„Wer kann das schon sagen“, meinte er. „Andererseits gab es bisher nie mehr als einen Angriff am jeweiligen Tag, doch das heißt nichts. Das Einzige, was uns bleibt, ist wachsam zu sein.“

„Tja, so wie es aussieht, hast du Recht“, meinte Erest. „Aber das ist sehr ermüdend.“

Tjerulf schmunzelte, sagte aber nichts.

Der Überfall hatte sie aufgewühlt und keiner von ihnen hätte zu diesem Zeitpunkt Ruhe finden können, daher ließen sie sich noch einmal am Lagerfeuer nieder, nachdem sie die Überreste der Baumläufer in den Wald geworfen - sie würden am Tag kaum von gewöhnlichem Holz zu unterscheiden sein - und das Feuer etwas weiter in der Mitte der Lichtung wieder ordentlich aufgeschichtet und neu entfacht hatten. Ein wenig Abstand zum Waldrand erschien ihnen nach diesem Erlebnis angebracht zu sein. Von nun an blickten sie öfter einmal über die Schulter ihrer gegenübersitzenden Freunde, um vor möglicherweise auftauchenden Gefahren zu warnen.

„Das war kein ernsthafter Versuch, jemanden von uns zu töten“, stellte Tjerulf fest. „Eher ein wirkungsvoller Versuch, uns einzuschüchtern.“

„Das sehe ich aber ganz anders“, widersprach Solvyn und griff sich unwillkürlich an den Hals.

„Ich verstehe deinen Einspruch“, sagte Tjerulf. „Aber hätten sie wirklich töten wollen, wären sie erst hervorgetreten, wenn nur noch die Wachen aufgewesen wären. Dann hätten die anderen kaum Zeit gehabt, ihnen zu helfen. So früh am Abend mussten sie aber mit einem spürbaren Widerstand rechnen. Und sie konnten sicher sein, dass alle von uns zu Zeugen wurden. Ich schließe daraus, dass es eine Warnung war.“

„Dann war es für die Angreifer aber eine ziemlich verlustreiche“, fand Erest. „Oder glaubt ihr, die beiden Baumläufer sollten dabei draufgehen?“

Tjerulf lächelte.

„Nein, wohl kaum, aber ihr Vorgehen sagt mir, dass sie keine allzu bedachten Helfer des Ordens von Enkhór-mûl sind.“

„Ist das gut oder schlecht?“, fragte Anuim.

Tjerulf zuckte mit den Achseln.

„Auf jeden Fall macht es sie unberechenbar.“

Meneas bedauerte den Verlust seines Schwertes. Als er nur noch eine Hälfte davon aus der Scheide ziehen konnte, da wusste er, dass es unbrauchbar geworden war. Es war keine besonders schöne Waffe und auch nicht sehr kunstvoll gearbeitet, aber es war ein altes Erbstück und Meneas war nicht der erste in seiner Familie, in dessen Besitz es übergegangen war. Seinem Alter nach hätten sich zahllose Legenden um das Schwert ranken müssen, aber keine war Meneas bekannt. Doch abgesehen von seiner Wanderung durch die Generationen der Dolgards war das Schwert leicht zu handhaben und hatte Meneas bereits gut Dienste geleistet. Deshalb hing er ein wenig an ihm, auch wenn es familiengeschichtlich vollkommen bedeutungslos zu sein schien.

„Zeige mir die Waffe und die Tasche“, forderte Trywfyn ihn auf.

Meneas reichte ihm beide Teile. Trywfyn ließ mit einem Ruck auch die zweite Hälfte des Schwertes aus der Scheide gleiten und legte beide Hälften auf seinen Schoss. Ohne etwas zu sagen, untersuchte er die Bruchstellen, hielt sie aneinander und fühlte mit dem Daumen darüber. Dann nickte er und brummte etwas.

„Es wird gehen“, sagte er dann verständlicher. „Meneas, bewahre die beiden Hälften der Klinge und die Tasche auf. Im Land Ogmatuum werden wir Ogmari die Klinge neu schmieden.“

Trywfyn gab Meneas alles wieder zurück.

„Du meinst, das geht?“, fragte Meneas erstaunt und ein wenig zweifelnd. „Wird die Waffe halten?“

Trywfyn nickte.

„Mache dir keine Sorgen“, beruhigte er Meneas. „Die Klinge wird wie neu werden, und sie wird biegsamer, fester und schärfer sein, als sie es bisher war.“

Meneas schüttelte fast ungläubig den Kopf und sah sich um, doch weder Durhad noch Solvyn oder Tjerulf machten einen Gesichtsausdruck, der ihm angedeutet hätte, dass der Ogmari ihn verspotten wollte. Also hatte er die Wahrheit gesagt.

„So etwas gibt es doch nur in alten Sagen - und Märchen“, meinte Meneas.

Trywfyn lächelte und erwiderte in verschwörerischem Tonfall:

„Aber Sagen und Märchen, wie du es nennst, nahmen irgendwann ihren Anfang.“

„Ich gehe jetzt schlafen“, sagte Tjerulf. „Es ist spät. Ich schlage vor, dass wir das Feuer nicht ausgehen lassen. Ich glaube, es zu löschen wäre gefährlicher, als es in Gang zu halten. So erkennen wir vielleicht die Gefahr früh genug, falls es noch einmal eine gibt. Weckt mich, wenn ich mit der Wache dran bin.“

Tjerulf stand auf und ging zu seinem Zelt. Auch Durhad, Trywfyn und Solvyn verabschiedeten sich. Bevor der Morain-Mensch verschwand, meinte er grinsend:

„Falls uns das Feuerholz ausgeht, die Reste der Baumläufer brennen sicher sehr gut.“

Das stimmte.

Erest und Idomanê übernahmen die erste Wache. Valea und Solvyn blieben in dieser Nacht von dieser Aufgabe verschont.

Ehe Meneas in sein Zelt ging, blieb er ein wenig abseits von dem Lagerfeuer stehen und blickte in den Himmel. Die Sterne leuchteten in aller Pracht, denn die Monde waren noch nicht aufgegangen und ihr Licht schwächte das der Sterne noch nicht.

„Die Klinge wird neu geschmiedet“, murmelte er und lächelte.

Er sah sich plötzlich in einer uralten Geschichte, aus denen Legenden wurden. Nur dort gab es solche Dinge. Meneas hatte darüber gelesen, aber er hätte es sich niemals träumen lassen, dass ihm ähnlich Sagenhaftes eines Tages selbst widerfahren würde. Jetzt zweifelte er nicht mehr an den Worten Trywfyns und der Ogmari erschien Meneas weit mächtiger zu sein als ein gewöhnlicher Angehöriger seines Volkes. Ein unbekanntes Gefühl von Erhabenheit und Glück erfüllte Meneas, als er sich in seine Decke einrollte und einschlief.

Die Nacht blieb ruhig. Die Stille wurde weder durch einen weiteren Angriff noch durch den Lärm einer Lastkutsche oder anderer Reisender gestört. Noch vor dem Frühstück wechselte Meneas den Verband an Valeas Kopf. Sie hatte schlecht geschlafen, da sie nicht auf der Seite des verletzten Ohres liegen konnte. Dank seiner Heilkünste hatte sich die Wunde bereits geschlossen, trotzdem hielt er es für besser, sie noch nicht offen zu tragen. Als er fertig war und Valea das schmale Tuch um ihren Kopf trug, das den Verband über dem Ohr halten sollte, sah sie erstaunlich verwegen aus, ganz im Gegensatz zu ihrer gewöhnlichen Erscheinung. Meneas konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren.

Sie hatten jetzt noch drei Tage im Limarenwald vor sich, von denen sie hofften, dass sie in dieser Zeit vor Angriffen verschont blieben. Ihre Aussichten dafür schätzten sie als nicht schlecht ein, denn nicht in jeder Nacht hatten sich ihre Gegner geregt und am Tage schienen sie ziemlich sicher zu sein. Aber erstens gab es dafür nach wie vor keine Gewähr, auch wenn die Feinde immer nur nachts zugeschlagen hatten, und zweitens war der Angriff von zwei Baumläufern ungewöhnlich und bereits eine Steigerung.

Meneas und Tjerulf und auch die anderen waren natürlich sehr unzufrieden mit ihrer Lage, denn sie fühlten sich den Angreifern hilflos ausgesetzt. Dass die bisher noch keinen größeren Schaden angerichtet hatten, hielten sie für einen glücklichen Umstand, denn oft genug hatte der eine oder andere von ihnen in Lebensgefahr geschwebt und mancher Überfall hätte böse enden können. Letztlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr erstes ernsthaftes Opfer zu beklagen haben würden.

Meneas und Tjerulf überlegten lange, was sie gegen die fortgesetzten Angriffe tun konnten, doch keinem der beiden fiel etwas ein. Meneas hatte von sich nicht viel erwartet, da er zum ersten Mal mit solchen Gegnern zu tun hatte, aber er war ein wenig enttäuscht, dass Tjerulf, der doch eine weitaus größere Erfahrung im Umgang mit den Schwarzen Reitern, Baumläufern und welche Helfer der Orden von Enkhór-mûl noch alles aufbieten konnte, auch keine brauchbare Lösung einfiel. Ihm kam der Gedanke, sich mit Gnum oder Osir zu beraten. Er hatte nur keine rechte Vorstellung, wie er mit ihnen in Verbindung treten konnte, denn die Sprechgeräte hatte sie für den Sprechverkehr unter sich erhalten und nicht, um die Sinaraner damit anzurufen. Außerdem hatte Gnum selbst gesagt, wenn überhaupt, dann würden sie mit der Gruppe Verbindung aufnehmen. Andersherum wäre es nicht möglich. Meneas hoffte, dass sie es bald taten.

Wieder begann es zu regnen. Der Himmel war bereits seit dem frühen Morgen, als es hell wurde, bedeckt gewesen, doch erst zum Mittag hin hatten sich die Wolken so weit verdichtet, dass es anfing zu regnen. Und dieses Mal richtig. Da sie sich bereits weit im Südosten Päridons befanden, wenn auch noch im Schutz des Limarenwaldes, wurde das Klima bereits rauer. Daher war der Regen oft schon unangenehm kühl. Mit einem Anflug von Galgenhumor behauptete Anuim, dass sie bei einem solch lausigen Wetter mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Überfall befürchten mussten. Kaum einer wollte darüber lachen.

Bis zum Abend wurde es nicht besser und es gelang ihnen nur unter Schwierigkeiten, ein Lagerfeuer zu entfachen. Allzu lange hielten sie sich auch nicht davor auf. Lediglich den Wachen, die sie - ungeachtet der Zuversicht Anuims - auch in dieser Nacht aufstellten, machte es das Leben ein wenig angenehmer.

Am folgenden Morgen war keiner aus der Gruppe wirklich ausgeruht. Das lag weniger daran, dass jeder von ihnen, abgesehen von Valea, Wache halten musste. Valea ließen sie in dieser Nacht noch einmal ruhen, obwohl sie selbst diese Ausnahme für sich nicht mehr beansprucht hätte. Doch schließlich hatte sie sich Meneas Worten gefügt, nicht zuletzt deswegen, weil ihre Wunde tatsächlich immer noch schmerzte. Aber die klamme Kleidung, die kühle Luft und das nächtliche Trommeln des Regens auf den Zeltdächern hatten einen erholsamen Schlaf verhindert.

Da der Regen immer noch nicht aufgehört hatte, fiel das Frühstück auch an diesem Morgen ziemlich knapp aus. Als die Dämmerung in die Helligkeit des Tages überging, wobei an diesem Morgen nur wenig Unterschied zwischen beidem festzustellen war, ließen sie das Lagerfeuer ausgehen, denn keiner verspürte noch die Lust, sich an ihm wärmend niederzulassen. So nass, wie ihre Sachen waren, verstauten sie sie in ihren Taschen. Die Pferde würden an diesem Tag schwerer zu tragen haben als sonst.

Plötzlich kam Erest aufgeregt ins Lager gelaufen. Er hatte sich kurz in eigener Sache zurückziehen wollen, als er eine besorgniserregende Entdeckung machte.

„Meneas! Tjerulf!“, rief er. „Kommt schnell! Ich habe etwas gefunden, dass euch interessieren dürfte!“

Die beiden folgten Erest, allerdings nicht ganz so eilig, wie er ins Lager zurückgelaufen war. Weit brauchten sie nicht zu gehen. Hinter einigen Büschen fanden sie das, was Erest so in Aufregung versetzt hatte. Außer Erest, Meneas und Tjerulf kamen natürlich auch alle anderen heran, um es sich anzusehen.

„Wegen eines Haufens alter Lumpen machst du so ein Aufstand?“, warf Idomanê ihm vor.

„Lumpen?“, entgegnete er. „Schau sie dir einmal gründlich an.“

Idomanê hatte auf dem ersten Blick nichts anderes als ein Bündel alter Kleidungsstücke gesehen und auch auf dem zweiten Blick fiel ihr nur die Farbe als etwas - vielleicht - Besonderes auf. Sie waren einheitlich schwarz.

„Verflucht!“, entfuhr es Meneas. „Werden wir vor denen denn nie Ruhe haben?“

„Hatten wir denn keine?“, erwiderte Tjerulf gedehnt. „Ich frage mich nur, wem wir den nächtlichen Beistand zu verdanken haben.“

„Äh - kann mir einmal jemand sagen, worüber ihr sprecht?“, fragte Freno, der den Worten von Meneas und Tjerulf nicht recht folgen konnte.

„Ich glaube, ich weiß es“, meinte Valea eher beunruhigt als triumphierend. Sie berührte mit einer Fußspitze leicht die Kleider auf dem Boden.

„Oh schaut!“, sagte sie und bückte sich nach einem Stück glänzendes Metall. Er entpuppte sich als Schwert, das unter den Lumpen verborgen war. „Ich denke, wir kennen diese Art von Waffen. Ein schwarzer Griff und eine schwarze Distel auf der Klinge. Freno, weißt du nun, wer diese Dinge getragen hat?“

Valea reichte das Schwert Tjerulf. Freno nickte und trat ebenfalls gegen die Kleider.

„Und was ist hier geschehen?“, fragte er.

In seinem Gesicht zeigte sich eine deutliche Beunruhigung.

„Das wüssten wir auch gerne“, erwiderte Meneas.

Doch keiner hatte eine vernünftige Antwort darauf. Wie sich herausstellte, hatte keine der Wachen Waffengeklirr, Schreie oder andere ungewöhnliche Geräusche gehört. Ausnahmslos schüttelte jeder ratlos den Kopf.

„Wahrscheinlich gab es überhaupt keinen Kampf“, meinte Tjerulf. „Vielleicht sind sie in einen Hinterhalt geraten und hatten keine Gelegenheit zur Gegenwehr. Dann hat der Gegner schnell und erbarmungslos zugeschlagen. Das kann uns nur recht sein. Du wirst dich erinnern, Meneas, dass die Geister in der Nacht, als ich überfallen wurde, ebenfalls keine Laute von sich gegeben haben. Im Keller in Guff-Mat herrschten andere Verhältnisse. Merkwürdig ist nur, dass die Kleidung der Schwarzen Geister auf einem Haufen liegt, als hätte sie jemand absichtlich aufgetürmt und das kann erst nach Sonnenaufgang geschehen sein. Vorher konnten sich die Geister noch nicht vollends aufgelöst haben. Und sie in nur teilweise aufgelöstem Zustand zu berühren, wäre gefährlich.“

„Warum ist das gefährlich?“, fragte Anuim.

„In Auflösung befindliche Geistkörper dieser Art entziehen demjenigen, der sie berührt, Lebenskräfte. Das schwächt ihn und verzögert ihre Auflösung.“

„Und das wäre sicher nicht gut.“

„Nein, das wäre sicher nicht gut. Und wir könnten sie vielleicht noch erkennen, wenn auch verschwommen.“

„Könnte es dann nicht sein, dass sie schon in der vorletzten Nacht überfallen wurden?“

„Das wäre für mich die einzige vernünftige Erklärung, obwohl die Kleidung dafür eigentlich zu frisch aussieht“, meinte Tjerulf.

Erest fühlte sich äußerst unwohl bei der Vorstellung, dass er beinahe auf den oder die Gegner der Geister gestoßen war. Seiner Meinung nach mussten sie nicht unbedingt auch ihre Freunde sein.

„Hm, das verstehe ich nicht“, meinte Meneas. „Haben wir nicht schon mehrmals getötete Schwarze Geister berührt, ohne irgendeine Wirkung zu spüren? Und jetzt plötzlich soll das gefährlich sein.“

„Nicht erst jetzt ist es gefährlich“, erwiderte Tjerulf. „Doch die Gefahr geht von den Körpern aus, nicht von ihrer Kleidung. Und die Körper hat offensichtlich keiner von uns angefasst.“

„Das kann sein, aber du hättest uns warnen können. In Zukunft werden wir uns vorsehen.“

„Ja, es war ein Versäumnis, es nicht zu wiederholen“, gab Tjerulf zu. „Aber erinnere dich an den Hinweis, den ich dir und dem Wirt des »Schwarzkittel« gab. Den hast du wohl vergessen.“

Meneas nickte.

„Doch, jetzt erinnere ich mich wieder. In der Aufregung jener Nacht habe ich anscheinend nur mit einem halben Ohr zugehört.“

„Verständlich.“

Tjerulf hatte sich in die Hocke gesetzt und untersuchte die Überreste. Er zog noch zwei Schwerter hervor. Das war dann jedoch alles, was er an Bemerkenswertem fand.

„Tja“, meinte er, „dieses Mal keine Botschaft. Es waren drei.“

„Sie müssten irgendwo in der Nähe ihre Pferde haben, wenn sie nicht laufengelassen wurden“, sagte Valea. „Lasst uns nach ihnen suchen. Vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wer uns vor dem Überfall gerettet hat.“

„Einen Augenblick noch“, sagte Meneas. „Tjerulf, von welcher Beschaffenheit sind diese Schwerter?“

„Von guter, warum?“

„Dann werde ich eines an mich nehmen“, entschied Meneas. „Solange mein eigenes Schwert unbrauchbar ist, kann ich mich damit behelfen. Die Lichtschwerter sind mir unheimlich. Außerdem habe ich ein herkömmliches Schwert eher kampfbereit als eines, an dem ich vorher noch die Klinge einschalten muss, auch wenn sie dann vielleicht wirkungsvoller ist.“

„Sicher, das kannst du tun“, meinte Tjerulf. „Suche dir das Beste aus. Dort liegt auch eine Schwerttasche. Aber schneide dich nicht. Die Klingen sind sehr scharf.“

„Ich hoffe nur, dass sie sich später nicht auch auflösen“, sagte Meneas.

„Keine Sorge, das habe ich noch nicht erlebt“, erklärte Tjerulf.

„Könnten sie vergiftet sein?“, fragte Erest.

Wie Meneas die Lichtschwerter, so waren ihm die Geisterschwerter unheimlich. Aber Tjerulf versuchte, ihn zu beruhigen.

„Nein, ich glaube nicht. Zumindest kann ich mich an keines erinnern, das vergiftet war und ich habe bereits einige kennengelernt. Trotzdem kann es nicht schaden, wenn Meneas die Klinge in dem Teich dahinten reinigt.“

„Was ist jetzt?“, fragte Valea. „Gehen wir ihre Pferde suchen?“

„Das wird wenig Sinn haben“, meinte Tjerulf. „Für gewöhnlich sind die Reitpferde dieser Geister von der gleichen Art wie ihre Reiter, nämlich auch Geister. Ihre Körper lösen sich ebenfalls bald auf, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Wir werden kaum noch etwas von ihnen finden.“

„Na gut, aber vielleicht gibt es noch mehr von den Geister-Kriegern. Mir wäre wohler, wenn wir feststellen könnten, ob diese hier die Einzigen waren.“

Da war Tjerulf ziemlich sicher, aber sie hatten Zeit und vielleicht fanden sie etwas über ihren geheimnisvollen Beschützer heraus, obwohl das genauso unwahrscheinlich war. Trotzdem stimmte Tjerulf zu.

Alle bis auf Meneas schwärmten aus. Es regnete immer noch und ihre Suche verlief eher lustlos und führte sie auch nicht weit von ihrem Lager weg. Wie Tjerulf vermutet hatte, blieb sie auch erfolglos. Schließlich brachen sie die Suche ab, denn noch mehr Zeit zu verlieren, erschien ihnen sinnlos.

Meneas war allein zu dem kleinen Tümpel gegangen, der sich nicht fern von ihrem Nachtlager befand. Es war ein guter Vorschlag von Tjerulf gewesen, die Klinge abzuwaschen. Wer wusste schon, wer noch Opfer dieser Waffe geworden war. Er kniete ans Ufer und tauchte das Schwert unter Wasser. Vorsichtig und bemüht, sich nicht zu schneiden, fuhren seine Finger auf der flachen Seite der Klinge auf und ab, als Meneas spürte, wie sich seine Umgebung eigentümlich veränderte.

Die Oberfläche des Tümpels, die kurz vorher noch durch den Regen ein Mosaik zahlloser kleiner Ringe war, lag plötzlich vollkommen glatt und wie eingefroren vor ihm. Meneas konnte ungehindert bis auf den Grund sehen. Ein kleiner Fisch huschte bedenklich nahe an der scharfen Klinge vorbei. Meneas Bewegungen erstarben. Entweder der Regen hatte tatsächlich so unmittelbar aufgehört, oder er spürte ihn nicht mehr. Eine Stille, so vollkommen wie unerwartet und ungewöhnlich, umhüllte ihn.

Von einem Augenblick zum anderen veränderte sich die Wasseroberfläche und ein altes, bärtiges Gesicht erschien. Meneas kannte es. Es war markant und er hatte es bereits zweimal gesehen. Das erste Mal in der Leuchtblase der Zóex-Büchse im »Schwarzkittel« und das zweite Mal an dem Abend, als Gnum die Zóex-Büchse an sich genommen hatte. Es war das Gesicht Alben Surs, des Anführers vom Orden des Enkhór-mûl. Meneas war so erschrocken, dass er sich nicht rühren konnte. Dann hörte er eindringliche Worte, nicht in seinen Ohren, sondern in seinem Inneren, und Alben Surs Lippen bewegten sich nicht.

„Meneas, höre auf diese Warnung. Beende die Suche nach dem Kristall. Du weißt nicht, was geschieht, wenn er zusammengesetzt wird. Er wurde nicht ohne Grund zerstört und vor allem nicht aus dem Grund, den dir die Sinaraner nannten. Widersetze dich uns nicht. Siehe, was durch den Kristall geschehen wird.“

Nun wurde Meneas eine Reihe von Bildern geschickt, die ihn mit großer Bestürzung erfüllten. Mit einem Aufschrei stieß er sich vom Ufer des Tümpels weg und fiel rücklings auf das Gras. Er konnte sich gerade noch mit den Armen abstützen. Wie von einer fremdartigen Kraft gewirkt, fiel sein Blick nach rechts. Dort stand Tjerulf, wortlos, ihn beobachtend und unterschwellig bedrohlich, nur wenige Schritte von ihm entfernt vor einem Strauch. Meneas riss seinen Blick los und drehte seinen Kopf nach vorn.

Am gegenüberliegenden Ufer stand Durhad, wie versteinert mit dem bewegungslosen Fintas auf seiner Schulter. Trywfyn?, dachte Meneas und fand ihn links von sich. Genauso stumm, bewegungslos und bedrohlich wie die anderen. Meneas schloss die Augen. Was hatte das zu bedeuten? Sollten sie die Wirkung von Alben Surs Worten unterstützen? Sollte er glauben, dass sie Spione des Ordens waren? Und versuchte er auf diese Weise, einen Keil zwischen sie zu treiben?

Plötzlich setzte der Regen wieder ein. Meneas spürte ihn auf seinem Hut und hörte ihn plätschern. Als er seine Augen öffnete, waren Tjerulf, Trywfyn und Durhad verschwunden. Schnell fischte Meneas das Schwert aus dem Wasser und verließ den Tümpel. Er spürte seinen immer noch unnatürlich heftigen Atem und es dauerte einige Zeit, bis er sich wieder beruhigt hatte.

Als er bei ihrem Lagerplatz ankam, waren die anderen von ihrer Suche nach Erklärungen für das nächtliche Geschehen noch nicht zurückgekehrt. Meneas ging zu einem nahen Felsbrocken und setzte sich. Dort wollte er auf die anderen warten. Nachdenklich zog er das schwarze Schwert aus der Schwerttasche und legte es auf seine Oberschenkel. Ohne sich die Waffe wirklich anzuschauen, dachte er über das nach, was er eben erlebt hatte.

Meneas war davon überzeugt, dass nichts davon wirklich gewesen war, sondern sich alles in seinem Vorstellungsvermögen abgespielt hatte. Weder die Regenpause hatte stattgefunden noch hatten seine drei - Freunde(?) - dagestanden und ihn angestarrt. Vielleicht der Fisch. Der mochte tatsächlich dagewesen sein. Und das Gesicht Alben Surs. So etwas hatte Meneas noch nie erlebt. Es war sein erstes Gesicht, seine erste Vision in seinem Leben, und sie zeigte ihm eine klare Botschaft, zumindest teilweise, denn er hatte nicht den Grund dafür erfahren, warum der Kristall den Sinaranern abgenommen worden war. Aber immer noch stand das schreckliche Bild vor seinen Augen von dem, was geschah - geschehen würde - falls sie den Kristall wieder zusammensetzten. War der Diebstahl des Chrysalkristalles möglicherweise doch mehr als ein einfacher Diebstahl, um sich vor den Sinaranern zu schützen?

Als Erste kehrten Erest, Idomanê und Freno wieder zurück. Kurze Zeit später kamen auch die anderen. Als Meneas Tjerulf, Durhad und Trywfyn sah, spürte er ein leichtes Prickeln im Nacken. Für gewöhnlich war das ein Anzeichen aufkeimender Gefahr. Jetzt mochte es auch eine unbewusste Reaktion seines Körpers auf die geschauten Bilder sein. Meneas wusste sehr wohl, dass die drei sich bisher ausnahmslos als zuverlässige Freunde erwiesen hatten und es fiel ihm schwer zu glauben, dass alles nur ein Theaterspiel sein sollte. Und wie verhielt es sich mit Solvyn, von der die ganze Zeit keine Spur zu erkennen war? Meneas entschloss sich, die Geschichte für sich zu behalten, aber die Reise mit wachen Augen auf Tjerulf und seine Freunde fortzusetzen. Er war nicht immer sehr gut darin, seine Gedanken zu verbergen und hoffte, dass die drei nichts von seinen Überlegungen spürten. Er stand auf und ging den anderen entgegen.

„Und?“, fragte er.

„Nichts. Nicht einmal Fährten,“ erwiderte Erest.

„Dann sollten wir weiterreiten, sonst ist es Mittag und wir sind immer noch hier“, meinte Tjerulf.

Meneas´ Blick folgte Tjerulf, als er ging, um seine Sachen auf sein und eines der Packpferde zu verladen. Er glaubte, etwas bisher Unbekanntes in dessen Stimme gehört zu haben, aber dann schalt er sich einen Narren. Jetzt kriege nicht noch Wahnvorstellungen, dachte er. Tjerulf hatte ja mit allem Recht, was er gesagt hatte, und Meneas musste sich hüten, unter dem Eindruck seiner Vision seinem - immer noch - Freund gegenüber ungerecht zu werden.

Ein schmaler Pfad, der sich an einem bewaldeten Hügel vorbei schlängelte, führte zurück zur Straße. Als sie dort ankamen, waren weder in der einen noch in der anderen Richtung Reisende zu erblicken. So weit sie sehen konnten, war die Straße leer. Tjerulf und Meneas übernahmen wieder die Spitze des kleinen Zuges, der nach hinten abwechselnd von Freno oder Anuim begrenzt wurde, die sich die Führung der Packpferde teilten. Es war eine Aufgabe, die sie leicht bewältigen konnten, denn als ehemalige Händler waren sie öfter mit einer Warenkarawane durch die Lande gezogen.

Der Limarenwald hatte sich, seit sie hinter Guff-Mat in ihn hineingeritten waren, erheblich verändert. Er begann in einer weiten Ebene, von der zwischen den Bäumen natürlich nur sehr wenig zu sehen war, doch verlief hier die Straße über weiter Strecken immer geradeaus und führte weder durch Senken noch über Anhöhen. Dort wuchsen hauptsächlich Laubbäume: Eichen, Buchen, Ulmen und einige elveranische Baumarten in einem lockeren und lichten Verband. Und natürlich eine stattliche Anzahl von Limarenbäumen. Doch allmählich wurde die Landschaft hügeliger, die Straße vollzog immer häufiger weite und weniger weite Kurven und verlief ansteigend oder abfallend. Die Bäume gingen allmählich in einen Nadelwald über, der überdies dichter und finsterer wurde. Wenn es bis zum westlichen Waldrand auch noch keine richtigen und kahl emporragenden Berge gab, so fiel oder stieg die Pflasterstraße doch einige Male in bemerkenswerter Neigung.

Da der Limarenwald von Menschen unbewohnt war, was verwunderte, denn für das eine oder andere Wirtshaus hätte es eine einträgliche Grundlage bei den doch recht häufigen Reisenden gegeben, konnte es nicht überraschen, dass es eine beachtliche Anzahl von Geschichten gab, die sich um den Wald rankten. Von allerlei fremdartigen Wesen war die Rede, von freundlichen und weniger freundlichen. Und wenn den zehn Reitern auch nie unmittelbar etwas begegnete, was ihnen unbekannt war, hatten sie doch das eine oder andere Mal den Eindruck, merkwürdige Schatten zwischen den Bäumen zu sehen, die entweder flüchteten oder ihnen einige Zeit folgten. Doch niemals kamen diese Schemen nahe genug an die Straße, dass es ihnen möglich war zu erkennen, worum es sich handelte. Selbst wenn sich nachts eines dieser Wesen ihrem Lager neugierig genähert haben sollte, waren die Menschen nie dadurch erschreckt oder belästigt worden. Die Einzigen, die ihnen auf unangenehme Art nahegekommen waren, hatten sie sozusagen selbst mitgebracht. Und diese hatten allemal das Zeug dazu, den bekannten Geschichten noch einige furchterregende hinzuzufügen.

Dieses Gefühl und die Tatsache, dass es wohl nur noch eine Frage der Zeit war, bis sich ein Zwischenfall mit ernstem Ausgang ereignen würde, wenn sie mit ihrer Wachsamkeit nachließen, schürte in den Gefährten eine unterschwellige Furcht, von der sich nicht einmal Tjerulf lossprechen konnte. Die Spannung stieg und auch die Vermutung, dass irgendjemand in ihrer Nähe war, der sie offenkundig beschützte, konnte ihre Gemüter nicht beruhigen, denn zum einen hatten sie keine Vorstellung, wer das gewesen sein konnte, zum anderen war er wohl auch nicht ununterbrochen in ihrer Nähe. Alles in allem verhinderten diese Umstände, dass sie sich länger im Limarenwald aufhielten als unbedingt nötig.

Schließlich lag noch ein Reisetag vor ihnen, bevor sie am westlichen Waldrand ankamen, doch sicherer würde es wohl nicht mehr werden, denn das hügelige, bewaldete Land und später die Berglandschaft waren ebenso geeignet für Überfälle wie der Limarenwald.

Der Regen hörte schließlich am späten Nachmittag auf und die Wolkendecke zeigte immer mehr Lücken. Aber das war zu spät, als dass die Sonnenstrahlen, die sie um diese Zeit berührten, ihre Sachen noch hätten trocknen können. So würden sie eine weitere Nacht in feuchter Kleidung und klammen Zelten zubringen müssen. So gut es ging, versuchten sich die Gefährten an ihrem Lagerfeuer zu wärmen.

„Ich hoffe, die Sinaraner wissen zu schätzen, was wir für sie tun“, sagte Erest missmutig. „Selbst wenn wir die Kristallfragmente nicht finden, haben wir uns sehr aufgeopfert.“

Meneas musste lächeln und stieß einen kleinen Schwall beschlagener Luft aus. Es war an diesem Abend bereits empfindlich kühl. Man konnte spüren, dass der Sommer seinem Ende entgegenging. Bei einer so langwierigen und schwierigen Sache wie der ihren war es nur selbstverständlich, dass Zeiten eintreten würden, in denen der eine oder andere oder auch einmal alle an dem Sinn ihrer Aufgabe und deren Erfüllung zweifelten. Das wusste Meneas. Und auch, dass das Wetter und die ständige Gefahr durch einen mehr oder weniger unsichtbaren Gegner einen guten Teil dazu beitrugen. Er wusste aber auch, dass diese Zweifel spätestens nach ihrem ersten Erfolg für einige Zeit beseitigt sein würden. Meneas hoffte, dass ein solcher Erfolg nicht mehr lange auf sich warten ließ. In diesem Fall gab es aber noch keinen Grund zur Sorge. So gut kannte Meneas seinen Freund Erest schon. Sicher fühlte er sich nicht wohl, aber das tat an diesem Abend keiner von ihnen, doch Erest war weit davon entfernt, entmutigt zu sein.

„Seid unbesorgt, wir wissen euren Einsatz selbstverständlich zu schätzen“, sagte unvermittelt eine bekannte Stimme vom nahen Waldrand her.

Die zehn Gefährten blickten überrascht in die Richtung, aus der die unerwarteten Worte gekommen waren.

„Osir!“, sagte Meneas erstaunt. „Mit Euch hätte ich jetzt am wenigsten gerechnet. Umso mehr freue ich mich, Euch zu sehen.“

Osir lächelte freundlich. Er trug wie üblich sein gelbes Gewand und ein schwacher Schimmer lag um seine Gestalt. Er schien nicht zu frieren.

„Unerwartet?“, fragte er verwundert. „Obwohl Ihr mich sprechen wolltet?“

„Ich wusste nicht, dass Ihr Gedanken lesen könnt“, meinte Meneas. „Ich kann mich schwach erinnern, dass Ihr das einmal abgestritten habt. Doch setzt Euch in unseren Kreis. Ich vermute, eine Erfrischung, die ich einem gewöhnlichen Gast anbieten könnte, würde Euch wenig nützen.“

„So ist es“, meinte der Sinaraner, nahm aber auf einem nahen Stein Platz. „Trotzdem danke ich Euch. Ich bin hier, um mich davon zu überzeugen, dass es euch gut geht. Es scheint mir allerdings, als würde mir das nicht jeder von euch bestätigen.“

„Wenn Ihr über unseren Weg unterrichtet seid, dann wisst Ihr, dass er von unerfreulichen Zwischenfällen gepflastert ist, könnte man sagen, die unserem Wohlbefinden nicht gerade förderlich sind“, meinte Erest ein wenig spöttisch.

„Ja, ich weiß es und es tut mir leid“, gab Osir zu. „Und ich verstehe Euren Unmut, denn es ist bisher nicht gelungen, euch in einer angemessenen Weise zu schützen. So, wie wir es versprochen haben. Der Orden von Enkhór-mûl ist verschlagener, als wir vermutet haben.“

„Wart Ihr das in der letzten Nacht?“, fragte Valea.

„Was?“, erwiderte Osir in ehrlicher Unwissenheit.

„Na, die drei Schwarzen Geister“, antwortete sie mit leicht erhobener Stimme. „Wir fanden ihre Kleidung und ihre Waffen nicht weit von unserem Lager entfernt. Die Körper hatten sich bereits aufgelöst.“

Osir sah sie fragend an.

„Damit haben wir nichts zu tun, ehrlich nicht“, sagte er. „Was ist mit ihnen geschehen?“

„Sie wurden - wir wissen es nicht. Irgendwer hat sie beseitigt.“

Osir schüttelte langsam und nachdenklich seinen kahlen Schädel.

„Wir hätten sie vertrieben, wenn wir von ihnen gewusst hätten, aber wir haben es nicht gewusst. Drei waren es, sagtet ihr? Nein, davon weiß ich nichts.“

„Hm“, machte Idomanê, „aber wer war es dann?“

Erstaunlich menschlich zuckte Osir mit den Achseln.

„Es mag sein, dass sie auf einen Gegner stießen, von denen wir nichts wissen“, vermutete er. „Die aber auch nicht notwendigerweise unsere Freunde sind. Immerhin haben sie euch aber in Ruhe gelassen.“

„Ich glaube, dann ist es müßig sich über sie Gedanken zu machen“, meinte Tjerulf. „Vielleicht kommt der Zeitpunkt, an dem wir mehr darüber erfahren. Viel wichtiger ist, ob Ihr uns einen Rat geben könnt, wie wir uns die Geister, Baumläufer und die anderen Krieger des Ordens vom Hals halten können.“

„Welche anderen Krieger?“, fragte Valea.

„Die Schwarzen Geister und die Baumläufer sind bei weitem nicht alles, was die Priester gegen uns ins Feld führen können“, erklärte Tjerulf. „Und ich bin erstaunt und etwas beunruhigt, weil es bisher nur so war, wie es war. Es mag niemanden beruhigen, aber so ist das.“

„Tjerulf hat Recht“, sagte Osir. „Es scheint aber so zu sein, dass der Orden wenigstens im Augenblick nichts anderes gegen euch aufbieten will, aus welchen Gründen auch immer.“

„Also waren die bisherigen Angriffe doch nur Warnungen“, vermutete Meneas. „Dann aber ziemlich heftige.“

„Es scheint so, ja“, meinte der Sinaraner.

„Was haben sie denn noch?“, wollte Anuim wissen, und seine Stimme klang nicht allzu mutig und unentwegt.

„Alles, was du dir denken kannst“, antwortete Tjerulf, erklärte es aber nicht näher.

Meneas sah Tjerulf prüfend an.

„Trotzdem gibt es vielleicht etwas, das Euch wieder Zuversicht geben kann“, sagte Osir. „Wie ihr festgestellt habt, haben die Überfälle des Ordens in den letzten Tagen zugenommen. Das hat seinen Grund. Wir haben herausgefunden, dass sie euch nicht ins Land Ogmatuum hinein verfolgen können. Bestimmte Umstände machen es ihnen unmöglich. Umstände, die in der Ausstrahlung des Volkes der Ogmari liegen.“

„Ihr meint also, dass die Erdmenschen allein durch ihre Anwesenheit und ohne zu kämpfen verhindern, dass die Krieger der Priester in ihr Land vordringen“, meinte Freno. „Aber warum zeigt dann Trywfyn keine Wirkung auf unsere Verfolger?“

„Ich soll keine Wirkung auf sie haben?“, erwiderte Trywfyn gespielt entrüstet und strich über seine Streitaxt. „Das sehe ich aber ganz anders, und die Verfolger, die es mit mir zu tun bekommen, bestimmt auch.“

„Na ja, so habe ich es ja auch nicht gemeint“, sagte Freno beschwichtigend. „Aber von der Wirkung dieser Ausstrahlung, von der Osir spricht, habe ich bisher nichts bemerkt.“

Natürlich wusste der Ogmari, was Freno sagen wollte. Trywfyn waren die Besonderheiten seines Volkes durchaus bekannt und die Behauptung des Sinaraners hatte ihn kaum überrascht. Er selbst hatte damit gerechnet, auch wenn er nicht darüber sprechen wollte. Außerdem war er sich nicht sicher gewesen, denn er wusste nicht genug über die Möglichkeiten des Ordens von Enkhór-mûl.

„Das hat zwei Gründe“, erklärte Osir. „Der Erste: Trywfyns Ausstrahlung ist bei ihm allein zu schwach. Und zweitens, er befindet sich nicht in Ogmatuum, was zusätzlich zu einer Abschwächung seines Strahlungsfeldes führt. Daher bleibt seine Wirkung auf die Verfolger gering. Und weil die Priester um ihre schwindenden Möglichkeiten wissen, versuchen sie natürlich, euch am Erreichen der Landesgrenzen zu hindern.“

„Mit verminderter Kraft, wenn sie nicht alles gegen uns einsetzen, was sie aufzubieten haben, und obwohl wir kaum sehr lange in Ogmatuum bleiben werden und dann wieder für den Enkhór-mûl erreichbar sind?“, zweifelte Erest. „Irgendetwas stimmt doch an dieser Geschichte nicht. Osir, ich will damit nicht Eure Worte in Zweifel ziehen, aber Ihr müsst zugeben, dass das Verhalten des Ordens nicht völlig einleuchtend ist.“

„Ja, da habt Ihr Recht und es wäre mir lieber, das wäre Euch nicht aufgefallen, denn ich muss - wieder einmal - zugeben, dass unser Wissen über die Priester etwas lückenhaft ist“, bedauerte Osir. „Aber trotzdem, und jetzt komme ich zu dem, weshalb ich auch hier bin, können wir euch für einige Zeit behilflich sein. Wir werden euch beschützen, bis ihr die Grenze von Ogmatuum erreicht. Wir glauben, das sind wir Euch schuldig. Es sind jetzt noch drei Tage, einen Tag bis nach Sigera und zwei weitere bis zur Grenze. Ich vermute, Ihr wollt nach Sigera reiten, Tjerulf. Dann haltet Euch nicht zu lange auf, aber zur Aufstockung eurer Vorräte ist es unumgänglich. Wir werden also in eurer Nähe sein, aber unsichtbar. Lasst trotzdem nicht in eurer Wachsamkeit nach.“

Als Tjerulf von Osir auf Sigera angesprochen wurde und wie selbstverständlich nickte, war Meneas für einen kurzen Augenblick misstrauisch. Doch dann vertrieb er diesen Gedanken wieder, denn natürlich waren ihre Vorräte geschrumpft und mussten ergänzt werden, bevor sie weiterreiten konnten. Schließlich hatten sie in den kommenden Wochen ein unwirtliches Land vor sich. Dazu war eine umfangreiche Ausrüstung notwendig und Meneas wusste nicht, ob und welche Möglichkeiten Trywfyn hatte, sie auszustatten. Also war ein Abstecher nach Sigera nur richtig.

Noch an diesem Abend wollte Meneas mit Osir über seine morgendliche Vision sprechen. Der Sinaraner erschien ihm der einzige zu sein, von dem er hilfreiche Antworten erwarten konnte. Von Tjerulf und seinen Freunden war es vielleicht auch der Fall, aber da sie Gegenstand seiner Zweifel waren, verbot es sich von selbst, sie ihnen gegenüber zu erwähnen. Meneas spürte, dass dieses Ereignis seine Freundschaft zu Tjerulf belastete und er wollte von Osir wissen, wie er es einschätzen sollte. So bat er den Sinaraner um ein Gespräch unter vier Augen.

Einige waren etwas erstaunt, sagten zunächst aber nichts und hofften auf eine spätere Erklärung. Osir jedoch war weder über Meneas´ Bitte überrascht noch lehnte er sie ab. Es war fast so, als hätte er sie erwartet. Während die anderen abwartend um das Feuer herumsaßen, Durhad legte noch einmal einige Stücke Holz nach, gingen Meneas und Osir einige Schritte in die Dunkelheit. Nur der schwache Schein der Aura des Sinaraners war noch zu erkennen. Außer leises Murmeln hörten sie nichts von dem, was von den beiden gesprochen wurde.

Meneas erfuhr, dass bestimmte Priester des Ordens die Fähigkeit hatten, ihre Gegner oder auch ihre Verbündeten mit Visionen zu bedrohen oder zu unterrichten, je nach Notwendigkeit. Der Besitz des Schwertes der Schwarzen Geister hatte ihn, der sich sonst nicht für besonders empfindlich hielt, was solche Dinge anging, für Gesichter dieser Art empfänglicher gemacht. Deshalb war für Meneas Vorsicht geboten. Tjerulf hatte davon nichts gewusst und ihn deshalb nicht davor warnen können. Osir forderte nicht von Meneas, die Waffe fortzuwerfen, doch er musste sich dieser Gefahr bewusst sein. Der Orden von Enkhór-mûl würde auch auf diese Weise versuchen, den Zerfall der Gemeinschaft herbeizuführen. Falls Meneas jedoch glaubte, dem nicht standhalten zu können, wäre es besser für alle, er würde sich von dem Schwert trennen. Jedenfalls sollte er nicht an der Freundschaft von Tjerulf und seinen Freunden zweifeln.

Meneas war erleichtert. Es hätte ihn belastet, wenn seine Zweifel durch Osir bestärkt worden wären. Er behielt das Schwert. Und nun konnte er ihnen auch erklären, warum er zunächst das Gespräch mit Osir gesucht hatte.

Auch wenn Tjerulf ein wenig unglücklich über Meneas´ Vorbehalte war, konnte er ihn doch verstehen und er war ziemlich sicher, dass er nicht anders gehandelt hätte. Am Ende war er aber auch über Meneas´ Ehrlichkeit dankbar, dafür, dass er ihm seine Zweifel schließlich genannt hatte.

In dieser Nacht konnten die Gefährten besser schlafen, denn die Worte Osirs hatten sie ein wenig beruhigt und sie blieben tatsächlich ungestört. Trotzdem wollten sie nicht so leichtsinnig sein und auf Wachen verzichteten.

Am folgenden Morgen fanden sie noch nicht einmal die Spuren möglicher nächtlicher Angreifer oder eines verunglückten Überfalles. Was einigen umso mehr zu schaffen machte, das war der Beginn einer Erkältung. Und das war nach den vorangegangenen Tagen keine Überraschung, wenn man bedenkt, unter welchen ungünstigen Wetterbedingungen sie gereist waren.

Das Erbe der Ax´lán

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