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Der Geist des Schamanen

Die Leitung der Untersuchungskommission des LKA wurde der Kriminalhauptkommissarin Sabine Hainbusch-Vieth übertragen. Sie war im Polizeirevier in Husum nicht unbekannt. Ihr allseits bekannter Mangel an Humor machte den Umgang mit ihr nur unwesentlich schwieriger. Unangenehmer waren ihr scharfer Verstand und ihre penetrante Vorliebe für Details, was sie zu einer erfolgreichen, aber selbst unter den eigenen Kollegen unbeliebten Ermittlerin machte. Einerseits ließ die Ankündigung des LKA, dass Hainbusch-Vieth die Untersuchungen führen würde, hoffen, den Fall bald lösen zu können, andererseits gab es andere Ermittler, die eine angenehmere Zusammenarbeit versprochen hätten.

Ein nicht mehr bekannter Vorfall in dem Polizeidienst der Hauptkommissarin hatte ihr den etwas unpassend klingenden Spitznamen »Schwarze Witwe« eingebracht. Für jemanden, der Sabine Hainbusch-Vieth nicht kannte, verbanden sich zwangsläufig bestimmte Charaktereigenschaften mit diesem Spottnamen, und damit kam er der Wirklichkeit auch ziemlich nahe. Der Ursprung dieses nicht sehr schmeichelhaften Titels war zwar nicht mehr gegenwärtig, aber er hatte sich in bestimmten Polizeikreisen herumgesprochen, und die reichten bis ins Polizeirevier Husum.

Ob Hainbusch-Vieth wirklich eine Witwe war, wusste keiner. Sie hatte es stets verstanden, ihr Privatleben den Kollegen vorzuenthalten. Aber ihre große, hagere Gestalt und die ihr eigenen spinnenhaften Bewegungen sprachen für diese Namensgebung. Und vielleicht hatte sie ja noch eine ganz andere Bedeutung. Natürlich hütete man sich, die Bezeichnung »Schwarze Witwe« in ihrer Anwesenheit zu benutzen. Trotzdem war sie ihr im Laufe der Zeit nicht verborgen geblieben. Sabine Hainbusch-Vieth ertrug sie nicht nur mit Gelassenheit, sondern duldete sie sogar mit einer gewissen Genugtuung, verhinderte dieser Ruf doch ein zu persönliches Verhältnis zu ihren Mitarbeitern.

Als sich die Kriminalhauptkommissarin zusammen mit zwei Kollegen auf den Weg nach Husum machte, war sie weder überzeugt von den angeblich geheimnisvollen Phänomenen auf der Beekwarf noch hielt sie das Verschwinden der Familie Benninghaus für einen unlösbaren Fall. Wenn sie nicht ausdrücklich dazu aufgefordert worden wäre, der Sache nachzugehen, hätte sie keinen weiteren Gedanken daran verschwendet. Mit verhaltener Verachtung dachte sie über das Versagen der Husumer Polizisten, die vermisste Familie ausfindig zu machen. Aber noch verächtlicher urteilte sie über ihre Behauptung, auf der Beekwarf gehen merkwürdige Dinge vor.

Paranormale Erscheinungen, und darauf liefen die Schilderungen hinaus, hatten keinen Platz in ihrem Weltverständnis. Und plötzlich sollte sie einen solchen Fall untersuchen. Es war zwar nicht außergewöhnlich, rätselhaften Dingen zu begegnen. Sie gehörten zu ihrer täglichen Arbeit. Aber vermeintliche Rätsel solcher Art waren kein Gegenstand polizeilicher Aufgaben. Was jenseits davon über angebliche Spukerscheinungen und Gespenster zu hören und zu lesen war, konnte man getrost als Auflagen- und Publikumsbringer in die Mülltonne werfen. Gerüchteweise hatte auch die Polizei schon mit der einen oder anderen Angelegenheit dieser Art zu tun gehabt. Glücklicherweise war sie aber von solchen Fällen bisher verschont geblieben.

Allerdings ließen die Gepflogenheiten bei der Polizei nicht zu, dass sich Hainbusch-Vieth geringschätzig über ihre Kollegen äußerte. Sie war aber sicher, dass ihre skeptische Einstellung auch hier wieder von Vorteil war. Sabine Hainbusch-Vieth war davon überzeugt, diesen Fall mit ihrer sachlichen Sichtweise der Dinge bald lösen zu können. Und vermutlich dachten ihre Vorgesetzten genauso. Warum sonst war er ihr übertragen worden?

Wahrscheinlich hatten sich die Husumer Kollegen, aus welchen Gründen auch immer, in eine Angelegenheit verrannt, die man mit ganz einfachen Erklärungen, noch dazu vernünftigen Erklärungen, beantworten konnte. Anschließend musste nur noch die Familie gefunden werden und sie konnten nach Kiel zurückfahren, um sich wieder wichtigen Dingen zuzuwenden.

Doch so einfach, wie es sich die Hauptkommissarin vorstellte, war dieser Fall dann doch nicht zu lösen.

Zur Enttäuschung aller kam sie nur mit zwei weiteren Beamten auf das Polizeikommissariat Husum. Sie stellte die beiden als die Kommissare Björn Andresen und Veith Tolkien vor. Bei dem Namen des letzteren wurde nicht nur Christina Dörl aufmerksam.

„Sind Sie verwandt mit J.R.R. Tolkien, dem Autoren des »Herrn der Ringe«?“, fragte sie erstaunt.

Veith Tolkien musste lachen.

„Na ja, der Verdacht liegt nahe und diese Frage wird mir nicht zum ersten Mal gestellt. Aber ich muss Sie enttäuschen. Von einer Verwandtschaft ist mir nichts bekannt. Allerdings kommt meine Familie aus Angeln und vielleicht sind einige von ihnen im frühen Mittelalter mit den Angelsachsen nach Britannien ausgewandert. Es kann also sein, dass da irgendeine Beziehung besteht. Leider ist nichts von dem Ruhm dieses Schriftstellers auf meine Familie ausgestrahlt.“

„Nun gut“, unterbrach Sabine Hainbusch-Vieth die Unterhaltung. „Fangen wir mit der Arbeit an.“

Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie von dieser Plauderei nicht viel hielt. Tolkien zuckte zu Christina Dörl gewandt kaum merklich mit den Schultern und lächelte schwach.

Alle hatten angenommen, dass die LKA-Beamten sich sogleich mit dem Fall des Verschwindens der Familie Benninghaus beschäftigen würden, doch zu ihrer Enttäuschung und auch zum Ärger einiger, begannen sie ihre Ermittlungen nicht etwa auf deren Anwesen, sondern unter den Beamten des Polizeireviers, und auch nicht zu dem angezeigten Fall Benninghaus, sondern sie schien vielmehr die ihrer Meinung nach irrigen Schlussfolgerungen über die Zustände auf der Beekwarf widerlegen zu wollen. Die Kriminalhauptkommissarin war nicht einmal bemüht, ihre nur wenig überraschenden Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Aussagen der untersuchenden Polizisten zu verhehlen.

Mit so einer Reaktion hatten sie im Hinblick auf den Ruf der Hauptkommissarin zwar rechnen müssen, trotzdem hätten sie erwartet, dass diese Zweifel ein wenig rücksichtsvoller vorgetragen würden.

Es folgte eine Reihe von Befragungen, die nicht immer in aller Harmonie verliefen, denn die Geduld der Polizisten des Husumer Polizeireviers wurde arg strapaziert. Wenn es etwas herauszufinden gab, dann würde es eher auf der Beekwarf sein, als auf ihrem Polizeirevier. Gewiss waren die Erklärungen der Husumer Kollegen notwendig, um sich ein Bild von der Lage zu machen, aber die Befragung durch die Kriminalhauptkommissarin grenzte schon an Verhören.

Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig als festzustellen, dass die Aussagen der Husumer Kollegen schlüssig waren, was die gemeldeten Verhältnisse auf der Beekwarf wohl doch als nebulös erscheinen ließ. Und nach der Vorführung der Aufzeichnungen des Anrufbeantworters gab Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth widerwillig zu, dass es sich bei dem Fall wohl tatsächlich um eine außergewöhnliche Angelegenheit handelte. Das Tonband aus dem Anrufbeantworter wurde zu einer genaueren Untersuchung ins KTU-Labor nach Kiel geschickt.

Sich auf der Beekwarf umzuschauen, hatte die Kriminalhauptkommissarin natürlich von Anfang an vorgehabt. Aber eigentlich sollte es nicht mehr als eine kurze Visite sein. Keine Familie verschwand, ohne Hinweise zu hinterlassen. Anders konnte es dieses Mal auch nicht sein. Und wenn die Husumer Polizisten nichts Diesbezügliches entdeckt hatten, dann lag es einfach daran, dass sie in solchen Dingen keine einschlägige Erfahrung hatten. Die Beamten des LKA dagegen besaßen fraglos die geübteren Augen.

„Ich glaube, es war ein Fehler, den Anrufbeantworter mitzunehmen“, meinte Harm Hansen in einem vertraulichen Gespräch mit Andreas Thorensen, bevor sie sich zum Anwesen der Benninghaus´ aufmachten.

„Wie kommst du darauf?“

„Nun, es ist nur so ein Gefühl, aber vielleicht haben wir deswegen die Aufnahme weiterer Gespräche verhindert. Möglicherweise sogar die Aufnahme von -.“ Er zögerte.

„Du meinst Botschaften?“, ergänzte Thorensen weniger befangen.

Hansen nickte.

„Ja.“

„Glaubst du also auch nicht daran, dass es eine versehentliche Aufzeichnung eines Gespräches war, oder der Scherz irgendwelcher Witzbolde, die wissen, wo sich die Familie aufhält und mit einem mysteriösen Anruf versucht, die Polizei an der Nase herumzuführen?“

Hansen lachte auf.

„Beides wären gute Erklärungen, wenn sie sich als richtig erweisen würden.“

„Aber die zweifelst daran?“, vermutete Thorensen.

„Ja, zumindest solange, bis wir der Aufnahme tatsächlich eine Telefonnummer zuordnen können. Aber ich glaube, das wird nicht der Fall sein. Was wäre das alles für ein Aufwand, nur um die Polizei in die Irre zu führen, und warum? Das Chaos im Haus, das spurlose Untertauchen der Familie ohne erkennbares Gepäck und noch dazu mit all ihren Haustieren. Wenn das ein Spaß sein soll, dann steht der Aufwand in keinem Nutzen dazu, finde ich.“

„Und natürlich die unerklärlichen Phänomene im Haus und auf dem Grundstück“, ergänzte Thorensen.

Hansen zögerte, dann nickte er.

„Gut, meinetwegen auch die. Davon konnte ich mich selbst zwar nicht überzeugen, aber es gibt zu viele Aussagen von euch, um sie zu ignorieren. Du verstehst mich aber. Es wäre grotesk, dass alles als inszenierten Scherz zu betrachten, besonders die Aufnahme auf dem Anrufbeantworter.“

„Was ist es deiner Meinung nach dann?“, forschte Thorensen.

„Bleibt das unter uns?“

„Mein Wort darauf. Ich glaube, in dieser ganzen Geschichte muss jeder mit dem vorsichtig sein, was er offen sagt.“

„In letzter Zeit sind merkwürdige Dinge passiert“, begann Harm Hansen. „Ich bekam gestern und vorgestern zwei Bücher in die Hand, die sich mit paranormalen Phänomenen befassen. Seltsam, dass das gerade jetzt passiert ist, nicht? Zu allem Überfluss hat mir meine Frau beiläufig erzählt, dass sie eine Frau kennengelernt hat, die von sich behauptet, ein Medium zu sein. Das ist doch auch seltsam, oder?“

Dazu sagte Thorensen nichts. Was die Bücher betraf, hielt er ihr Auftauchen für einen Zufall. Der Markt wurde förmlich von solcher Literatur überschwemmt. Bestimmt hielt jeder irgendwann ein Buch, das sich mit Übernatürlichem beschäftigte, in den Händen. Das hatte also kaum etwas mit diesem Fall zu tun. Außerdem zweifelte er stark an der Aussage der Bekannten von Hansens Frau. Ohne sie zu kennen, hatte Thorensen genug Gründe dafür, ihre Behauptung als Wichtigtuerei zu entlarven. Aber er wunderte sich, mit welchen Gedanken sich sein Chef trug.

„Hast du deiner Frau von diesem Fall erzählt?“, fragte Thorensen.

„Kein Wort. Und sie weiß, dass sie mich auch nicht über meine Arbeit ausfragen kann.“

„Na gut“, meinte Thorensen. „Aber was hat das mit dem Anrufbeantworter zu tun?“

„Ich habe angefangen, ein wenig in diesen Büchern zu lesen und beide weisen mehr oder weniger tiefgreifend darauf hin, dass sich paranormale Phänomene unter bestimmten Umständen in technischen Apparaturen manifestieren können.“

Thorensen blickte Hansen fragend an.

„Manifestieren – darstellen oder zeigen.“

Thorensen nickte.

„Ja, ja, schon klar. Dann stellen wir doch einen anderen Anrufbeantworter in dem Haus auf, oder ein anderes Gerät, bei dem wir hoffen können, dass es Spukerscheinungen aufnehmen kann“, schlug er vor.

„Ich dachte daran -.“

Plötzlich öffnete sich die Tür und Christina Dörl trat ein. Sie sah die beiden an und fing an zu lachen.

„Was ist denn so lustig?“, beschwerte sich Hansen leicht verärgert.

„Eure Gesichter“, erklärte sie. „Ihr seht aus, wie zwei erwischte Verschwörer.“

Das war sicher übertrieben, aber ganz falsch war der Eindruck Christinas wohl auch nicht. Als sich so unvermittelt die Tür öffnete, waren beide unmerklich erschrocken zusammengezuckt. Anscheinend hatten sie sich in der Kürze der Zeit ziemlich weit in ihr Gespräch vertieft. Woran Hansen gedacht hatte, blieb ungesagt, denn Christina Dörl teilte ihnen mit, dass die LKA-Beamten jetzt soweit waren loszufahren.

Später einmal wunderte sich Thorensen darüber, dass Hansen ausgerechnet mit ihm über seine Überlegungen im Hinblick auf die Bandaufzeichnung gesprochen hatte. Und er wunderte sich noch mehr darüber, in welche Richtung diese Überlegungen gingen, denn in der Folge zeigte sich, dass Hansen gegenüber übernatürlichen Dingen skeptisch blieb, auch wenn Thorensen für kurze Zeit etwas anderes vermutete. Hansens Vorbehalte wichen auch nicht nach den kommenden Ereignissen im Zusammenhang mit dem Fall Benninghaus.

Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth und ihre beiden Kollegen fuhren in der Begleitung von Andreas Thorensen und Verena Rothenbaum zur Beekwarf hinaus. Nachdem sich die Kommissarin das letzte Mal gegen einen erneuten Besuch des Anwesens gesträubt hatte, wollte sie sich jetzt keine Blöße vor den Beamten des LKA geben.

Als sie aus den Autos ausstiegen, schauten sie prüfend auf das Gelände, das Haus und den Garten. Alles kam ihnen ruhig und friedlich vor und nichts deutete darauf hin, dass dort etwas möglicherweise Unerklärbares am Werke war, was im Widerspruch dazu seiner Enträtselung harrte. Dass alles so merkwürdig friedlich erschien, lag sicher auch an dem windstillen, sonnigen Tag.

Und trotzdem – im gleichen Augenblick, als sie vor dem Haus standen, stieg in Verena wieder das undeutliche Gefühl einer Bedrohung auf. Es war sogar noch intensiver als das letzte Mal. Wäre sie allein gewesen, hätte sie auf der Stelle kehrt gemacht, ohne die Türschwelle auch nur zu überschreiten.

Verena wunderte sich erneut über ihre ungeahnte Sensibilität, die sie im Zusammenhang mit diesem Anwesen zum ersten Mal in ihrem Leben an sich feststellte, denn eigentlich hielt sie sich für Reize dieser Art für nicht sehr empfänglich. Das machte sie ziemlich sicher, dass dort außerordentliche Kräfte wirksam waren.

„Es ist stärker geworden“, stellte Thorensen mit einer gewissen Beklemmung fest. Er spürte es also auch.

Beide warfen prüfende Blicke auf die drei LKA-Beamten. Sie schwiegen, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass die Besonderheit dieses Ortes auch an ihnen nicht spurlos vorüberging.

„Nun?“, fragte Thorensen, um ihnen eine Reaktion zu entlocken.

Sabine Hainbusch-Vieth drehte sich zu ihm um. „Wir gehen rein, was dachten Sie denn“, erwiderte sie entschlossen.

Thorensen nickte nur. Er ging voraus und öffnete die Haustür. In diesem Augenblick flogen laut schreiend zwei Rabenkrähen über das Anwesen.

Im Haus herrschte buchstäblich eine Grabesstille. Vielleicht hätten sie nicht diesen Vergleich gezogen, wenn sie nicht die jüngste Vorgeschichte gekannt hätten. Nicht einmal die drei LKA-Beamten konnten sich dieses Eindrucks erwehren, obwohl natürlich jedem bewusst sein musste, dass es in einem leerstehenden Haus gar nicht anders sein konnte. Verena Rothenbaum fand die ganze Atmosphäre düsterer als bei ihrem ersten Besuch. Diesem Eindruck konnten sich auch die hell durch die Fenster fallenden Sonnenstrahlen nicht gegenanstemmen.

Die Kommissarin und ihr Kollege führten die LKA-Beamten durch die Zimmer des Erd- und Obergeschosses. Nichts war verändert worden. So kamen auch Hainbusch-Vieth und ihre beiden Begleiter zu der Ansicht, dass die Anordnung der herumliegenden Dinge merkwürdig war. Eine Geruchsprobe an den Weingläsern lieferte die überflüssige Bestätigung, dass aus ihnen tatsächlich Rotwein getrunken worden war, bevor sich die noch ungeklärten Ereignisse zugetragen hatten. Über die Qualität des Weines ließ sich nach der langen Zeit an der Luft jedoch kein Urteil mehr fällen.

„Waren Sie auch im Keller?“, fragte Hainbusch-Vieth.

„Das erschien uns unnötig“, antwortete Verena Rothenbaum. „Es gab ja keinen Hinweis darauf, dass sich jemand dort unten aufhielt.“

Im gleichen Augenblick merkte sie selbst, wie dürftig ihre Begründung war, und wie fahrlässig dieses Versäumnis. Natürlich hätte eine Besichtigung des Kellers unbedingt zu ihren Untersuchungen des Geschehens gehört. Doch niemand von ihnen hatte auch nur den Vorschlag gemacht. Verena konnte sich diese Unterlassung nur mit der Befangenheit erklären, die alle damals ergriffen hatte. Aber sie zweifelte daran, dass die Hauptkommissarin das als Begründung akzeptieren würde.

Wenn Hainbusch-Vieth über diese Nachlässigkeit verärgert war, zeigte sie es nicht unmittelbar, aber der Klang ihrer Stimme, als sie entschied, auch diese Räume zu untersuchen, ließ darauf schließen.

Kaum hatten sie die Wohnstube verlassen, als sich ein nur schwach wahrnehmbarer Schatten, der entfernt einer menschlichen Gestalt ähnelte, durch den Raum bewegte. Er kam aus der Außenwand des Hauses und verschwand neben der Zimmertür in die Innenwand.

Die Kellertreppe begann in einem kleinen Verschlag unter der Treppe zum Obergeschoß und wurde durch eine trübe Birne beleuchtet. Eine muffige Kühle schlug ihnen entgegen, als sie die Stufen hinabstiegen.

Dieser Keller unterschied sich nicht erkennbar von anderen Kellern in alten Häusern. Die Decken waren niedrig, die Räume klein und feucht und wurden nur unzureichend durch schwache Glühbirnen beleuchtet. Es war gerade hell genug, um Dinge aus den Regalen zu nehmen oder dort etwas einzulagern. Es war offensichtlich, dass dort unten schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr geputzt worden war. Überall hingen dicke, verstaubte Spinnenweben und genauso verstaubt war ein Teil der Einrichtung.

Die Familie hatte eine beachtliche Menge an Essenvorräten gehortet, die in Einweckgläsern und Konservendosen zwei große Regale füllten. Im Heizungsraum entdeckten sie gewaschene Kleidungsstücke, die dort über Leinen zum Trocknen hingen. Ihr Zustand bewies, dass sie sich schon seit einiger Zeit in diesem Raum befanden.

Die Begehung des Kellers mit seinen wenigen Räumen dauerte nur ein paar Minuten. Dabei wurde bald ein bemerkenswerter Umstand erkennbar, der ohne die Zustände in den oberen Räumen kaum nennenswert gewesen wäre. In den Kellerräumen lag zwar viel Staub, aber es herrschte keine Unordnung. Was immer schuld an dem Durcheinander in den oberen Stockwerken war, es hatte dort unten nicht gewirkt.

Wenn keine weiteren Räume durch Vermauern unzugänglich gemacht worden waren, dann war das Haus nur zur Hälfte unterkellert. Und vielleicht lag das daran, dass wegen des oftmals hohen Grundwasserspiegels in der Marsch die Zahl der Kellerräume in manchen Häusern auf ein Mindestmaß beschränkt war. Der Zustand der Außenwände zeugte davon, dass sie mehr als einmal gründlich durchnässt worden waren, obwohl das Haus auf einem Wohnhügel stand. Aber diese Tatsache erklärte die hohe, ungemütliche Luftfeuchtigkeit.

„Nichts“, stellte Veith Tolkien fest. „Zumindest nichts auf den ersten Blick, was uns zunächst weiterhelfen könnte.“

„Na ja, zumindest war wohl keine Zeit mehr, die Wäsche von der Leine zu nehmen“, erwiderte Verena Rothenbaum. „Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass alles sehr schnell ging.“

„Das ergibt sich doch schon aus der Verfassung der oberen Räume“, meinte die Hauptkommissarin.

Plötzlich zuckte Verena zusammen.

„Habt ihr das auch gefühlt?“, fragte sie.

„Was?“, fragte Sabine Hainbusch-Vieth ungerührt.

„Mir war so - ach nichts.“

Die drei Männer hatten anscheinend nichts bemerkt, zumindest gaben sie es nicht zu. Aber Verena war sicher, einen kurzen, kalten Luftzug gespürt zu haben, obwohl sich in diesem Augenblick keiner von ihnen bewegt hatte. Und es gab kein Kellerfenster, durch das Wind von außen hätte hineinblasen können. Wenn es aber nur ihr aufgefallen war, dann war es vielleicht besser, es für sich zu behalten, solange die Kriminalhauptkommissar in ihrer Nähe war. Ihr Zweifel an Verenas Wahrnehmung war offenkundig. Später konnte sie ja immer noch Andreas Thorensen fragen, ob er wirklich nichts bemerkt hatte, oder es nur ebenfalls nicht in der Gegenwart der Hauptkommissarin zugeben wollte.

Sie gingen nach oben und Verena atmete unmerklich auf, als sie wieder auf der etwas freundlicheren Diele standen.

Das Gefühl der Sicherheit war nur von kurzer Dauer, und was kurz darauf so überraschend über sie hereinbrach, konnte keiner, der diesem Ereignis entkam, später erklären. Es wurde das schaurigste Erlebnis ihres bisherigen Lebens und stellte einige ihrer Anschauungen über die sogenannte Wirklichkeit auf den Kopf.

Kaum hatten sie die Absicht gefasst, als nächstes noch ein weiteres Mal die oberen Räume zu untersuchen, entfesselte eine unsichtbare Kraft auf der Diele einen Sturm, der sie fast umzuwerfen drohte. Er kam so plötzlich und so heftig, dass sie sich gegenseitig und am Treppengeländer und Garderobenhaken festhalten mussten. In ihrem Schrecken und ihrer Fassungslosigkeit versuchten sie sich, bis zur Haustür zurückzuziehen, um diesem übernatürlichen Orkan zu entrinnen. Ein ohrenbetäubendes Brausen und Brüllen erfüllte die Räume und Staub und umherfliegende Dinge zwangen die Polizisten, ihre Augen zu schützen.

Doch mit dieser Erscheinung hatten die Schrecken noch kein Ende.

Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth und Kommissar Tolkien waren schon ein Stück voraus gewesen, als das Unglück über sie hereinbrach und jetzt gelang es ihnen nicht, die anderen drei zu erreichen. Der Sturm ließ es nicht zu. Während die beiden LKA-Beamten verzweifelt versuchten, zu den anderen aufzuschließen, die ihrerseits versuchten, die Haustür zu erreichen, tauchte hinter ihnen plötzlich eine übermächtiger Schatten auf, der Verena, Andreas und Björn Andresen das Blut in den Adern gerinnen ließ.

Andreas Thorensen fasste sich als erster. Verzweifelt schreiend bemühte er sich, Hainbusch-Vieth und Tolkien, die mit dem Rücken zu dem Schemen gewandt gegen den Sturm ankämpften und ihn deshalb noch nicht bemerkt hatten, zu warnen.

Der Schatten wurde deutlicher, die Umrisse klarer und es bildete sich eine Gestalt heraus, wie sie noch keiner von ihnen gesehen hatte. Es war ein Riese und seine Kleidung und seine Ausstaffierung, bestehend aus verschiedenen Amuletten und urtümlich anmutenden Halsketten, aber besonders der Federschmuck um seinen Hals und über der Brust, ließen ihn einem Indianer oder einem nordeuropäischen Schamanen gleichen. Zunächst stand er bewegungslos da, sichtbar unberührt von dem unnatürlichen Sturm. Sein raues Gesicht wirkte ernst, fast grimmig, und in seinen schwarzen Augen glomm etwas, das zwischen Zorn und tiefer Gefühllosigkeit schwankte. Thorensens warnende Worte erstickten. Er, Verena und Björn starrten wie gelähmt auf das, was dann geschah.

Das Phantom hob nicht etwa beschwörend seine Arme, wie man es von einer solchen Gestalt vielleicht erwarten konnte, sondern stürzte sich mit zwei schnellen Schritten auf die Hauptkommissarin und den Kommissar, die trotz der entsetzten Reaktion ihrer Kollegen immer noch nichts von ihm bemerkt hatten, und packte sie an den Schultern. Ihre Hilfeschreie gingen in dem Lärm des tobenden Sturmes unter. Im nächsten Augenblick waren sie mit dem Indianer, oder was es immer war, verschwunden. Alles ging so schnell, dass sie nicht einmal verblassten. Dort, wo sie gestanden hatten, dehnten sich in quälender Langsamkeit jenseits der Gewalten des Sturmes zwei feine Schleier aus, die dünner wurden und schließlich verschwanden. Dann, so plötzlich, wie er begonnen hatte, war der Sturm vorüber.

Noch wütete das Tosen des Sturmes in den Ohren der anderen drei Polizisten und es verging eine Weile, bis sie die Totenstille bemerkten, die jetzt das Haus erfüllte. Und genauso dauerte es eine Weile, bis sie sich aus ihrer Lähmung befreien konnte.

„Raus! Raus hier!“, schrie Andreas Thorensen, der auch dieses Mal wieder als erster seine Fassung zurückgewann.

Er rüttelte an seinen beiden Kollegen und unendlich langsam, wie es ihm vorkam, brachte er sie dazu, seinem Befehl zu gehorchen.

Es waren nur wenige Schritte bis zur Haustür. Er riss sie auf und die anderen ins Freie. Wie in Trance taumelte Verena Rothenbaum als letzte nach draußen, immer noch keiner Äußerung fähig.

Von dem sonnigen Wetter war nichts mehr geblieben. Dichter Nebel, auf den vor kurzer Zeit noch nichts, aber auch gar nichts hingedeutet hatte, lag über der Beekwarf und ließ kaum die Umrisse der Polizeiautos erkennen, obwohl sie nur zwanzig Meter entfernt standen.

Thorensen war überzeugt davon, immer noch nicht in Sicherheit zu sein und brachte seine beiden Kollegen dazu, so schnell sie konnten zu den Autos zu rennen. Sie stürzten sich auf die Sitze und noch bevor Björn Andresen als letzter die Tür zuschlug, setzte Thorensen auch schon zurück und raste mit irrwitziger Geschwindigkeit die Ausfahrt hinunter zur Deichstraße. Mehr als einmal schlugen Funken unter dem Wagen hervor, als er auf den Buckeln der Fahrspuren aufsetzte.

Als sie die Deichstraße erreichten, umgab sie der merkwürdige Nebel immer noch und sie hatten Glück, dass in diesem Augenblick kein anderes Fahrzeug vorbeikam. Nach zwei oder drei Kilometern irrsinniger Raserei hielt Andreas ziemlich ruppig an und atmete tief durch. Den Nebel hatten sie hinter sich zurückgelassen und um sie herum herrschte wieder eine klare Sicht.

Thorensen drehte sich zu den beiden anderen um, die mit blassen Gesichtern dasaßen. Ihnen allen stand das blanke Entsetzen im Angesicht und es fehlten ihnen immer noch die Worte. Erst, als sich bei Verena mit einem Weinkrampf die Spannung löste, beruhigten sich auch ihre beiden Kollegen. Verenas Fassungslosigkeit war verständlich, schließlich waren sie alle nur knapp mit dem Leben davongekommen, wie es schien.

„Was um alles in der Welt war das?“, brachte sie schluchzend hervor.

„Wir wissen auch nicht mehr als du“, erwiderte Andreas scharf, weil auch er ratlos war. „Und ich schätze, wir haben das gleiche gesehen.“ Er reichte ihr ein Papiertaschentuch, die sie immer im Wagen mit sich führten. „Ich frage mich, woher so plötzlich der Nebel gekommen ist. Man könnte fast meinen, er wäre nicht natürlich.“

„Das ist doch Unsinn“, sagte Björn Andresen entschieden.

Thorensen lachte bitter auf.

Er wandte seinen Blick kurz zur Beekwarf, die immer noch unter einer Nebelglocke lag.

„Scheint eng begrenzt zu sein“, stellte er mehr in Gedanken fest. Dann sagte er: „Natürlich wäre das Unsinn, ließe man alles andere außer Acht.“

„Ja, der Sturm in dem Haus, das Phantom und das Verschwinden von Hainbusch-Vieth und Tolkien? Auch alles Unsinn?!“, fragte Verena aufgebracht.

Andresen schwieg. Noch war es zu früh, überhaupt eine Meinung zu dieser ganzen Sache zu haben. Doch eins stand fest, oder sollte feststehen - das, was sie erlebt hatten, gab es eigentlich nicht. Und vielleicht gehörte der verdammte Nebel auch mit dazu.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Andreas Thorensen unentschlossen.

Sie ahnten, worauf er hinauswollte. Sie hatten die Beekwarf überstürzt und kopflos verlassen, was leicht zu erklären war. Jetzt jedoch machte sich die Erkenntnis breit, dass sie nicht einmal versucht hatten, die beiden Kommissare wiederzufinden. Vielleicht befanden sie sich noch in dem Haus und brauchten ihre Hilfe. Sie mussten also wieder zurück.

„Oh nein!“, sagte Verena entschieden. „Ich setze jetzt wirklich keinen Fuß mehr in dieses - dieses Geisterhaus!“

Keinem der Männer war über diese Bemerkung zum Lachen zu Mute. Dort schien es alles andere als mit natürlichen Dingen zuzugehen. Vielleicht hatten sie tatsächlich einen Geist gesehen.

„Und wenn wir es mit einem Schabernack zu tun haben?“, schlug Andresen vor. „Vielleicht ist das alles mit einer bösen, technischen Spielerei zu erklären.“

„Glaubst du das wirklich?“, fragte Verena ärgerlich. „Womit soll dieser Schabernack, wie du sagst, durchgeführt worden sein? Und wozu? Außerdem ist Schabernack wohl auch das falsche Wort. Vielleicht haben wir es schon mit sechs Toten zu tun, falls die Familie auf die gleiche Weise verschwunden ist. Welch ein krankes Gehirn soll sich so etwas ausdenken und warum?“

„Alles berechtigte Fragen“, gab Björn zu. „Und trotzdem habe ich schon einiges gesehen. Und ich weigere mich, an übersinnliche Dinge zu glauben.“

Andreas Thorensen kratzte sich am Kinn. Beide hatten Recht oder konnten Recht haben. Es fiel ihm schwer, sich jetzt schon ein Urteil zu bilden. Doch was auf der Beekwarf los war, konnten sie nur herausfinden, wenn sie das Grundstück gründlich umkrempelten. Andererseits waren sie schon drei Mal dort gewesen, ohne auch nur den Hauch einer Erklärung zu entdecken. Nichts sprach bisher für irgendeine technische Einrichtung, geschweige denn für den Sinn einer solchen. Und einen echten Spuk wollte er spätestens jetzt auch nicht mehr ausschließen.

Thorensen hatte zwar ein ausgeprägtes Interesse an übersinnlichen Dingen, aber darüber zu lesen oder zu reden war etwas anderes, als selbst an einem übersinnlichen Ereignis teilzuhaben, zumal einem von solch überwältigender Art. Und wie es dazu kommen konnte, wenn es so war, überstieg auch seine Vorstellungskraft. Andererseits war er nicht sicher, ob dieser »unmögliche« Sturm und die Erscheinung des Phantoms tatsächlich ausgereicht hätten, sie so zu erschüttern. Vielleicht hatte die ganze Sache noch einen psychischen Aspekt, eine geistige Beeinflussung oder so etwas. Er schüttelte unwillkürlich mit dem Kopf. So ein Quatsch.

Wie immer man es betrachtete, ein Umstand war auf jeden Fall bemerkenswert. Warum waren nur Sonja Hainbusch-Vieth und Veith Tolkien betroffen? Warum hatte das Phantom sie nicht alle geholt? Damit, dass es nur zwei Hände hatte, war diese Frage bestimmt nicht beantwortet.

Auch in ihm sträubte sich alles, noch einmal auf das Grundstück zu fahren, aber trotzdem mussten sie wenigstens einen Versuch unternehmen, um herauszufinden, ob die Hauptkommissarin und ihr Kollege nicht doch noch dort waren. Sie konnten es kaum vor Harm Hansen rechtfertigen - und noch weniger vor dem LKA - jeglichen Rettungsversuch unterlassen zu haben. Der immer noch dichte Nebel über der Beekwarf machte eine Entscheidung nicht leichter.

„Wir müssen-“, begann Andresen.

„Ja, ja, ich weiß“, unterbrach ihn Thorensen bedrückt. „Wir müssen da wieder hin.“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“, fragte Verena, alles andere als angetan von dieser Absicht.

„Hör zu“, meinte Thorensen. „Ich werde dich nicht überreden, mit ins Haus zu kommen. Und wir werden dort nicht allein hineingehen.“

Er nahm den Hörer des Sprechfunkgerätes in die Hand, überlegte kurz, und funkte dann das Polizeirevier in Husum an, mit der Bitte um Verstärkung. Der Funkspruch verursachte einen gewissen Unglauben, denn er gab ohne Gründe an, dass jetzt auch die Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth und der Kommissar Veith Tolkien auf unerklärliche Weise verschwunden waren. Mit der angeforderten Verstärkung wollten sie nach ihnen suchen. Aber schließlich wurden ihnen eine weitere Streifenwagenbesatzung zugesagt.

Es kamen sogar zwei Streifenwagen. Sie stießen an der Einfahrt zum Anwesen auf die drei wartenden Polizisten. Inzwischen hatte sich der Nebel etwas gelichtet und es sah so aus, als würde er dieses Mal nicht so lange anhalten wie damals, als die Familie Benninghaus verschwand. Da zu diesem Zeitpunkt noch niemand den plötzlich aufgetretenen Nebel mit den Ereignissen in dem Haus in Verbindung brachte, kam auch keiner auf den Gedanken, dass er zu sehr lokal begrenzt war, um natürlich entstanden zu sein. Und deshalb ahnte auch niemand, dass dieser Nebel perfider Weise auch vollkommen unbemerkt in einem natürlichen entstehen konnte.

Polizeioberkommissar Gerd Treesen stieg aus, um zunächst einmal zu erfahren, was denn überhaupt geschehen war. Der Funkspruch war eher verwirrend als erklärend gewesen. Mit ihm kamen Polizeiobermeister Peter Kemenke, Polizeihauptmeister Bernd Niewald und Polizeihauptmeisterin Christina Dörl. Fast der ganze Außendienst, wie Thorensen belustigt festgestellt hätte, wenn ihm zum Lachen zu Mute gewesen wäre. Jeder von ihnen war natürlich interessiert daran zu hören, worum es eigentlich ging und ob es stimmte, dass die beiden Kommissare tatsächlich verschwunden waren.

Noch bevor Treesen seine Fragen stellen konnte, stellte er fest, dass sich Andreas Thorensen, Verena Rothenbaum und Björn Andresen seelisch in einem sichtlich angegriffenen Zustand befanden. Ihre Gesichter hatten ihre Leichenblässe zwar inzwischen schon wieder verloren, aber es war nicht zu übersehen, dass sie irgendetwas Unvorstellbares erlebt hatten.

„Was ist denn mit euch passiert?“, fragte er entgeistert.

Thorensen brachte es fertig, schwach zu lächeln.

„Etwas, das uns, wenn wir versucht hätten, es über Funk zu erklären, geradewegs in die Klapsmühle gebracht hätte“, meinte er.

„Ich verstehe nicht.“

„Wir verstehen es ja selbst nicht. Richtig ist aber, dass Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth und Kommissar Veith Tolkien sich vor unseren Augen mit dem Phantom eines Indianers aufgelöst haben.“

Die Blicke der vier dazugekommenen Polizisten bestätigten, was Thorensen über die Wirkung einer ausführlicheren Erklärung über Funk vermutete.

Zunächst war ihr Bericht etwas wirr und es dauerte einige Zeit, bis sich die Ereignisse einigermaßen klar darstellten. Aber das machte sie nur noch rätselhafter und unglaublicher.

„Es ist so schnell gegangen, dass Hainbusch-Vieth und Tolkien vermutlich überhaupt nicht begriffen haben, was mit ihnen geschah“, meinte Andreas Thorensen abschließend.

Keinem aus der Verstärkung fiel etwas dazu ein. Es war die merkwürdigste, ja unsinnigste Geschichte, die sie je gehört hatten.

„Also gut“, sagte Gerd Treesen schließlich. „Schauen wir uns die Sache einmal an.“

Zusammen mit all ihren Begleitern fühlte sich jetzt auch Verena Rothenbaum sicher genug, noch einmal in das Haus zu gehen, obwohl ihr dabei alles andere als wohl war.

Da sie zunächst einmal von einem gewöhnlichen Verbrechen ausgehen wollten, dass außerdem schon mehrere Opfer gekostet hatte, betraten sie das Haus mit gezogenen Pistolen. Andreas Thorensen und seinen beiden Kollegen erschien diese Maßnahme nach allem, was sie erlebt hatten, als nutzlos, trotzdem verhielten sie sich genauso. Im Haus war alles ruhig, aber die Spuren des neuerlichen Sturmes waren unübersehbar.

„Hier ist es passiert“, erklärte Thorensen. „Über den Ursprung des Sturmes können wir nichts sagen. Er war plötzlich da und füllte die Diele gleichmäßig aus.“

„Das stimmt“, gab ihm Björn Andresen Recht. „Aber die Richtung, aus der er kam, liegt dort.“

Dabei streckte er seinen Arm aus. Dass dieser Hinweis von Bedeutung sein würde, erkannten sie erst später.

„Ja, und wir drei befanden uns ungefähr hier“, sagte Thorensen. „Dort standen Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth und Kommissar Tolkien mit ihren Gesichtern zu uns. Und hier“, dabei machte er ein paar Schritte vorwärts, „erschien das Phantom.“

Gerd Andresen untersuchte die Stelle genauer, fand aber keinerlei offenkundige Hinweise.

„Hm“, machte er nur und entschied dann: „Wir teilen uns aus auf.“

Verena, Christina, Bernd und Peter gingen ins Obergeschoß, Björn, Gerd und Andreas in den Keller. Kurze Zeit später trafen sie sich auf der Diele wieder, ohne dass sie irgendetwas herausgefunden hatten. Von Sabine Hainbusch-Vieth und Veith Tolkien fehlte tatsächlich jede Spur. Genauso wenig hatte sich das Phantom noch einmal gezeigt, und im Inneren des Hauses war auch kein Sturm aufgezogen. Doch wie ein Damokles-Schwert schwebte die unsichtbare Drohung über ihren Köpfen, dass sich die letzteren beiden Ereignisse jeder Zeit wiederholen konnten - oder etwas, mit dem keiner von ihnen rechnete.

Thorensen atmete auf, auch wenn seine Erleichterung eigentlich fehl am Platze war. Aber wenn die beiden Vermissten tatsächlich nicht mehr in dem Haus waren, dann hätten sie auch vorher dort schon nichts mehr für sie tun können. Er hoffte nur, dass sie dann in der Zwischenzeit nicht weggeschafft worden waren. Sie hatten auch keinen Hinweis auf die Richtigkeit der Behauptung von Björn Andresen gefunden, der immer noch glaubte, es mit einer technischen Einrichtung zu tun zu haben. Einen Grund, Sinn oder Zweck dafür konnte er aber auch nicht nennen. Schließlich blieb auch ein gründliches Absuchen des Grundstückes ohne Ergebnis, außer der Feststellung, dass sich der kleine Krater im Garten anscheinend vergrößert hatte.

Plötzlich kam Thorensen der groteske Gedanke, dass es vielleicht nicht schlecht gewesen wäre, wenn wenigstens ein kleiner, ungefährlicher Spuk aufgetreten wäre, vielleicht in der Gestalt einer durch den Raum schwebenden Blumenvase oder so etwas. Der hätte niemanden bedroht, aber auch Treesen davon überzeugt, dass es in dem Haus zu merkwürdigen Phänomenen kam. Doch so zweifelte er natürlich weiter daran, es mit übernatürlichen Erscheinungen zu tun zu haben. Er gehörte zu den wenigen, die bisher von eigenen diesbezüglichen Erfahrungen verschont geblieben war und nur immer von anderen gehört hatte, was angeblich vorgefallen war.

„Wir können hier nichts mehr tun“, entschied Gerd Treesen. „Wir haben alles abgesucht und nichts gefunden. Fahren wir wieder zurück.“

Der Fall war also auch jetzt immer noch nicht gelöst, ja er war sogar noch rätselhafter als vorher und die Umstände unglaublicher, als sie vermutet hatten. Die vier Beamten, die den Sturm und alles andere nicht miterlebt hatten, mussten zunächst einmal glauben, was ihnen berichtet worden war. Doch die ganze Geschichte entbehrte einer vernünftigen Erklärung. Immerhin hatten die Polizisten jetzt eine vage Vorstellung, unter welchen Verhältnissen die Familie Benninghaus mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls verschwunden war. Über die Aussichten, die Familie und die beiden Kommissare wiederzufinden, mochte sich keiner von ihnen äußern.

Alle waren erleichtert, als sie endlich auf die Deichstraße einbogen, aber keiner war so froh, wie Verena Rothenbaum. Der Nebel hatte sich nun vollends aufgelöst und mit einer leichten Brise zog wieder klare Luft über das Land. Als sie sich noch ein letztes Mal zu dem Anwesen umdrehte war ihr, als trübte ein dunkler Schatten das große Stubenfenster ein. Hastig wandte sie ihren Blick wieder nach vorne. Was würde nur noch aus diesem Fall werden?

Harm Hansen schüttelte verzweifelt den Kopf. Das war die blödsinnigste Geschichte, die er jemals gehört hatte. Aber andererseits kannte er seine Leute und glaubte ihnen, was sie berichteten, obwohl es trotzdem absurd war.

„Überlegt euch schon einmal, wie euer Bericht dazu lauten soll“, meinte er nur. „Und ich muss mir überlegen, wie ich dem LKA das Verschwinden von Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth und Kommissar Tolkien erkläre. Ihr habt geglaubt, die Verhöre durch diese Kommissarin waren unangenehm. Ich fürchte, das, was uns jetzt blüht, wird noch unangenehmer. Noch eine Bitte, nein, ein Befehl. Solange die Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind, keine Kontakte zur Presse. Ich denke, das ist auch in eurem eigenen Interesse.“

Das war es zweifellos und obwohl Kommissar Björn Andresen dem Revierleiter Hansen nicht unterstand, bezog er diesen Befehl auch auf sich.

Sie mussten sich tatsächlich ziemlich die Finger verbiegen, um einerseits einen einigermaßen glaubwürdigen Bericht über die unglaublichen Vorfälle auf der Beekwarf zustande zu bringen, und andererseits ebenso glaubhaft darzustellen, dass sie die Aufklärung dieses Falles personell und aufgrund unzureichender Ausrüstung nicht würden leisten können und daher eine endgültige Übernahme der Untersuchungen durch das Landeskriminalamt beantragten.

Was den Bericht anging, gelang es den Beamten, jeglichen Hinweis auf übersinnliche Vorkommnisse zu vermeiden, und damit die Aussicht, sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie stellten die eindeutig menschliche Erscheinung, die offensichtlich an dem Verschwinden der beiden Kommissare beteiligt gewesen war, als ein »nach letztem Erkenntnisstand rätselhaftes physikalisches Phänomen in bemerkenswert menschenähnlicher Gestalt« dar, für das sie natürlich keine Erklärung hatten, das aber gleich von mehreren Zeugen beobachtet wurde, es also wirklich vorhanden gewesen war. Wie die beiden Kommissare dabei aber Verschwinden konnten, davon hatten sie nicht einmal eine ungenaue Vorstellung. Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesen Umständen und dem Schicksal der Familie Benninghaus wollten sie vorläufig noch nicht herstellen. Sie erwähnten weder den unmöglichen innerhäuslichen Sturm noch den Nebel, der während des Vorfalles so unerwartet aufgetreten war.

Wie die Polizisten vermuteten und Björn Andresen ihnen dann auch bestätigte, waren die Beamten des LKA nicht dafür ausgebildet, metaphysische Vorfälle zu untersuchen. Dagegen besaßen sie allerhand Erfahrung und vor allem die Ausrüstung zur Untersuchung physikalischer Phänomene. Und vielleicht würden dabei ja auch schon einige interessante Erkenntnisse ans Tageslicht kommen. Trotzdem waren sie nach Abwägung aller Beobachtungen schließlich zu der Überzeugung gelangt, dass es sich bei den verschiedenen Vorfällen auf der Beekwarf tatsächlich um Spukerscheinungen handeln müsse. Und die würden die Spezialisten des LKA schnell an ihre verstandesmäßigen Grenzen geraten lassen mit unvorhersehbaren Auswirkungen auf den Ausgang der Untersuchungen. Doch herausfinden, worum es sich bei den Vorfällen auf dem Anwesen handelte, mussten sie selbst. Erst dann konnten die Husumer Beamten ihre eigenen Folgerungen äußern, und alle ihre Beobachtungen.

Harm Hansen nickte zufrieden, als er den Bericht durchlas. Dann machte er sich das Leben einfach, indem er ihn in leicht abgewandelter Form als Grundlage für die Anforderung des LKA nahm. Denn warum sollte er sich irgendetwas mehr oder weniger Glaubwürdiges aus den Fingern saugen, wenn er selbst nicht mehr wusste als seine Leute. Er war gespannt, wie Kiel auf seine Meldung reagieren würde.

Das Geisterhaus auf der Beekwarf

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