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Rangdredd

Das LKA reagierte schneller und mit einem beachtlicheren Aufwand, als die Husumer Beamten nach dem kümmerlichen Auftritt von nur drei Kommissaren beim letzten Mal erwartet hatten und das war nur damit zu erklären, dass zwei ihrer Ermittler unmittelbar Opfer der Vorfälle auf der Beekwarf geworden waren. Schon einen Tag, nachdem Hansen seinen Bericht abgeschickt hatte, rückte es mit einer ungewöhnlich umfangreichen Mannschaft und Ausrüstung in Husum an. Nach einer kurzen Befragung der Husumer Polizisten ließen sie sich kurzentschlossen an den »Tatort« bringen, ohne sich lange mit internen Verhören aufzuhalten, wie es Kriminalhauptkommissarin Sabine Hainbusch-Vieth getan hatte.

Der Leiter der Untersuchungskommission des LKA war Kriminalhauptkommissar Michael TenDegen. Er machte den Eindruck eines gemütlichen älteren Herrn. Von kleiner, untersetzter Gestalt mit geschmeichelt nur schütterem Haar und gutmütigem Gesichtsausdruck, schien ihm ein ausgiebiges Frühstück mit der Tageszeitung und anschließender Betätigung in seinem vermutlich üppig wuchernden Garten wichtiger zu sein, als die Aufklärung kriminalistischer Rätsel. Doch wer ihn so einschätzte, der irrte sich, obwohl TenDegen tatsächlich einen großen Garten hatte, dessen Pflege er aber vertrauensvoll seiner Frau überließ.

TenDegen und zwei weitere Kollegen besichtigten in der Begleitung von Gerd Treesen und Björn Andresen den Ort des Geschehens, bevor er den Rest der Untersuchungsmannschaft darauf losließ. Schweigend hörte er sich die Erklärungen der beiden an, während sie die verschiedenen Räume betraten. Nur selten stellte er Fragen, die zudem manchmal noch nicht einmal etwas mit dem Fall zu tun zu haben schienen.

Außer der schon bekannten Unordnung konnten sie keine besonderen Beobachtungen machen und nur Treesen und Andresen wussten, welch dramatischer Art sie sein konnten. Noch immer vermieden sie die Erwähnung der Begleitumstände des Verschwindens der beiden Kommissare. Lediglich den Ort, an dem das Phantom des Schamanen aufgetaucht war und wo Hainbusch-Vieth und Tolkien standen, als es sie mit sich nahm, zeigten sie ihm. Immer wieder blickte der Kriminalhauptkommissar scheinbar versonnen in irgendeine Richtung, auf ein Bild oder in eine Ecke.

„Nun gut“, meinte er schließlich mit einem beinahe traurigen Gesichtsausdruck, als sie sich alle Räume angesehen hatten. „Dann wollen wir einmal.“

Falls er irgendwelche Schlüsse gezogen hatte, behielt er sie zunächst für sich, aber Treesen und Andresen konnten sich kaum vorstellen, dass es in einem solchen Fall die richtigen sein konnten, schließlich hatten sie immer noch nicht ihre Vermutungen geäußert, es möglicherweise mit einem Spuk zu tun zu haben.

Draußen vor der Haustür warteten die Spezialisten des LKA in ihren »fusselfreien« weißen Schutzanzügen. Zu ihren Füßen standen die Taschen und Kisten mit der Ausrüstung. Es war ein kühler, aber sonniger und freundlicher Tag und eigentlich keiner, an dem man mit erschreckenden Ereignissen rechnen wollte. Aber, so erinnerten sich die Husumer Polizisten, die die Beamten des LKA zum Benninghaus-Anwesen begleitet hatten, nicht anders hatte der Tag, an dem die beiden Kommissare verschwanden, auch begonnen.

Nachdem TenDegen den Befehl zum Beginn der Spurensicherung gegeben hatte, kam Bewegung in die vier Frauen und fünf Männer und nicht zum ersten Mal fielen sie mit ihrer Ausrüstung über einen »mutmaßlichen« Tatort her. Der größte Teil der Mannschaft begab sich ins Haus, zwei von der Gruppe schickte TenDegen zu dem merkwürdigen Trichter in den Garten.

„Hat es einen besonderen Grund, warum Sie keine spezifischen Angaben gemacht haben, wonach sie im Haus suchen sollten?“, fragte Gerd Treesen den Hauptkommissar aus reiner Neugierde.

Der sah ihn rätselhaft an.

„Haben wir denn spezifische Hinweise, wie Sie es nennen?“, erwiderte der TenDegen. „Weder aufgrund unserer Besichtigung noch aufgrund einer Ihrer Erklärungen. Oder sollte ich vielleicht besser sagen, aufgrund einer ihrer preisgegebenen Hinweise.“

„Wie meinen Sie das?“

Kriminalhauptkommissar TenDegen lächelte milde ohne die Spur von Ärger zu zeigen.

„Sehen Sie, ich bin schon einige Zeit in diesem Geschäft und habe einige bescheidene Erfolge erzielt. Und irgendwann bekommt man ein Gespür dafür, ob einem eine Unwahrheit, nur ein Teil der Wahrheit oder die ganze Wahrheit erzählt wird.“ Es entstand ein ungemütliches Schweigen. Ohne lange eine entsprechende Antwort abzuwarten, setzte er lächelnd hinzu: „In diesem Fall ist es nur die halbe Wahrheit, wie ich vermute. Und wir wollen versuchen, auch die andere Hälfte der Wahrheit herauszufinden. Vielleicht ist sie in gewissen Sinne nicht leicht zu verstehen, und wenn es so ist, dann war vielleicht noch nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu erwähnen.“

Treesen begann, TenDegen allmählich mit anderen Augen zu sehen. Der Kriminalhauptkommissar schien ein schlauer Fuchs mit bestimmt beachtlicher Menschenkenntnis zu sein. Da konnte es ihm natürlich kaum entgangen sein, dass die beiden Polizisten etwas vor ihm verheimlichen wollte. Sie erzählten ihm ja keine Lügen, aber eben nur die halbe Wahrheit, wie er richtig erkannt hatte. Aber Treesen bezweifelte, dass der Kriminalhauptkommissar auch nur ahnte, was sie ihm zunächst versuchten zu verschweigen. Es gänzlich zu tun, war ja gar nicht ihre Absicht, aber vorher mussten sie die Ermittlungen in bestimmte Bahnen lenken. Denn so viel Björn Andresen wusste, war TenDegen ein genialer, aber ebenso nüchterner Polizist und weit davon entfernt in dem Ruf zu stehen, übersinnliche Dinge überhaupt auch nur in Betracht zu ziehen.

„Übrigens, meine Herren, ich vergaß ihnen mitzuteilen, dass die Analyse des Anrufbeantworters mit einem interessanten Ergebnis abgeschlossen wurde“, eröffnete er den beiden übergangslos. „Und zufällig habe ich das Ergebnis hier. Aber ich denke, der Revierleiter Harm Hansen sollte sich das ebenfalls anhören. Und vielleicht kann es nicht schaden, wenn Polizeihauptmeister Thorensen ebenfalls mit von der Partie ist. Fahren wir also zurück nach Husum.“

TenDegen übergab die Leitung der laufenden Untersuchungen einem seiner Leute und ging dann mit Andresen und Treesen zu den Autos. Gerd Treesen wunderte sich, aus welchem Grund der Kriminalhauptkommissar die abgeschlossene Untersuchung des Anrufbeantworters nur so beiläufig erwähnt hatte und wie es schien, erst auf dem Anwesen. Eigentlich hätte er, da es sich um einen ganz offiziellen Auftrag gehandelt hatte, auch ganz offiziell auf dem Revier darüber sprechen müssen. Und noch mehr wunderte er sich, warum TenDegen Wert darauf legte, dass ausgerechnet Thorensen und nur er von den bisher mit dem Fall betrauten Polizisten an der Besprechung teilnehmen sollte. Allmählich begann ihm auch der Kriminalhauptkommissar einige Rätsel aufzugeben.

Bevor sie die Beekwarf verließen, meinte TenDegen verschmitzt: „Auch ich habe Ihnen nur eine halbe Antwort gegeben. Hätte ich vorhin auf bestimmte Dinge hingewiesen, hätten meine Leute unbewusst anderen vielleicht weniger Beachtung geschenkt. Es hatte also keinen tieferen Sinn als den, die Gründlichkeit der Untersuchungen zu optimieren.“

„Das verstehe ich“, erwiderte Treesen.

Das tat er nicht ganz, denn er argwöhnte nicht, dass TenDegen ganz »bestimmte« bestimmte Dinge gemeint hatte. Außerdem hätte dieser Einwand einen gewissen Zweifel an der Professionalität der Spurensucher aufkommen lassen. Und das hätte sich Treesen auch nicht vorstellen können.

Die Beekwarf lag einige hundert Meter von der Deichstraße entfernt. Dieser Umstand, und der, dass die Gegend nur sehr dünn besiedelt war, führte dazu, dass die in der letzten Zeit häufigen Besuche der Polizei auf dem Anwesen, die an diesem Tag in dem Auftauchen einer ganze Armada von weißen Fahrzeugen mit weißverhüllten Gestalten und dazu noch ein paar mehr Polizeifahrzeugen als zuvor mündeten, nur wenigen aufgefallen waren. Einer davon war ein Bauer auf seinem Schlepper, der seine Geschwindigkeit auffallend verringerte, als er an dem Anwesen vorbeifuhr. Zu den Gebäuden hinauf kam er aber nicht.

Trotz einiger Meldungen in Presse, Rundfunk und Fernsehen über der vermisste Familie hielt sich das Interesse an der Beekwarf in Grenzen.

Und entgangen war es auch einem anderen Beobachter nicht, der sich nicht allzu weit entfernt von der Beekwarf auf einer anderen Warf aufhielt, auf der sich verdeckt hinter einer hohen, dichten Hecke und von der Beekwarf unsichtbar die Ruine eines ehemaligen Wohnhauses befand. Natürlich war sie den Husumer Beamten bekannt. Da sie aber unbewohnt war, hatten sie keine Notwendigkeit gesehen, sie in ihre Ermittlungen mit einzubeziehen. Tatsächlich hätten sie dort auch nichts entdecken können, was ihnen geholfen hätte, die Vorgänge auf der Beekwarf zu erklären.

Dieser Beobachter, ein wahrer Hüne mit langem Haar, stand gerade in diesem Augenblick dort zwischen zwei Büschen und beobachtete der Ereignisse auf der Beekwarf mit starren und erschreckend geweiteten Augen. Sein Interesse an den dortigen Vorgängen war mehr als reine Neugierde.

Zunächst hörten sie ein Geräusch wie das Brausen eines starken Windes in den Wipfeln von Bäumen, wie ein Sturzregen auf einem Dach oder wie das Rauschen eines fernen Wasserfalles, das wie durch eine wechselhafte Brise anschwoll und wieder davongetragen wurde. Dann waren die ersten, undeutlichen Worte zu vernehmen, deren Verursacher sich den Zuhörern näherten.

... „Der Sturm ist vorbei“, stellte ein Mann fest. Seine Stimme zitterte leicht und ihr war der Schrecken deutlich anzuhören. „Woher kam dieser verdammte Sturm?“ „Wir hätten auf sie hören sollen“, sagte eine Frau verzweifelt. „Wir hätten die Beekwarf verlassen sollen.“ Ihre Stimme war erfüllt von Verzweiflung und Furcht. Ein Kind weinte im Hintergrund. „Dafür ist es jetzt zu spät“, erwiderte der Mann niedergeschlagen. „Oh! Johannes, was sind das für Mönche?“, fragte die Frau. Es entstand ein schwaches Störgeräusch. „Herrgott, lauf nicht weg“, sagte sie ungehalten. „Bleib in unserer Nähe, Karsten.“ Anscheinend gehorchte das Kind nicht, denn plötzlich fing es an zu jammern, dass es der Mönch loslassen soll. „Ich wollte doch nur -“, erwiderte das Kind, wurde aber von dem Mann unterbrochen. „Es sind Wächter, glaube ich. Sie sollen uns bewachen “, war anscheinend die Antwort auf die Frage der Frau. Für eine kurze Zeit herrschte Ruhe, überlagert von einem leisen Zischen und Fiepen, wie bei einem gestörten Radioempfang. „Wo sind wir hier?“, fragte ein Kind. „Das ist nicht mehr die Beekwarf.“ Dieses Mal war es ein Mädchen. Es schien älter als der Junge zu sein und seine Stimme hörte sich erstaunlich gefasst an. „Und - wie kommen wir hierher?“ „Ich weiß es doch nicht, Mirja“, erwiderte Johannes angespannt. „Der Sturm und der Schamane ...“ Wieder entstand eine Lücke mit einer atmosphärischen Störung. „... der Schamane überhaupt?“, fragte die Frau. „Es sind nur noch diese Mönche da.“ „Ich höre etwas. Seid jetzt einmal ruhig“, forderte der Mann die anderen auf. „Ich höre nichts“, meinte Mirja nach einer kurzen Pause. „Vielleicht habe ich mich auch geirrt.“ Es folgte ein erneutes Rauschen. „Dort!“, sagte das Mädchen mit erschrockener Stimme. „Da kommt jemand.“ „Es ist wieder der Schamane“, entfuhr es der Frau. „Er hat ein Schwert in der Hand.“ Die nun folgenden ängstlichen Bemerkungen der Kinder ließen darauf schließen, dass der Schamane auf die vier zukam. Schließlich erklang eine tiefe, unüberhörbar drohende Stimme mit einem unbestimmbaren Dialekt. Es war eine Stimme, die einem Schauer über den Rücken jagen konnte: „Ich bin nicht zurückgekommen, um euch zu begrüßen und auch nicht, um euch willkommen zu heißen. Ihr hättet besser auf uns gehört. Ihr habt Warnungen erhalten, Rangdredd zu verlassen. Es gehört uns und wir werden es uns zurückholen.“ „Das Grundstück gehört uns. Wir haben es gekauft“, widersprach der Mann, den die Frau Johannes genannt hatte. Der Schamane schien nicht beeindruckt zu sein. Er reagierte weder mit Hohn noch mit Zorn. Mit ruhiger Stimme entgegnete er: „Nichts habt ihr begriffen, wie mir scheint. Man kann nicht besitzen, was einem nicht gehört. Aber darüber entscheiden wir an einem anderen Ort. Und über einige mehr. Rangdredd ist für euch Geschichte. Folgt mir.“ „Ihr wollt uns umbringen! Ihr wollt uns umbringen!“, klagte die schwächer werdende Stimme von Johannes. Es folgte ein kurzes Rauschen, dann ein Knacken.

An dieser Stelle war das Band des Anrufbeantworters zu Ende, als wäre es abgeschnitten worden, damit keine weiteren Aufzeichnungen mehr darauf Platz hatten. Alle anderen Anrufe hatten vor dieser rätselhaften Aufnahme stattgefunden und waren aufgrund ihrer Bedeutungslosigkeit für den Kriminalfall im Labor entfernt worden. TenDegen schaltete das Wiedergabegerät ab.

Für einen kurzen Augenblick herrschte ein nachdenkliches Schweigen in dem kleinen Raum. Kriminalhauptkommissar TenDegen, der Revierleiter Harm Hansen, Polizeioberkommissar Gerd Treesen, der Kriminalkommissar Björn Andresen und der Polizeihauptmeister Andreas Thorensen dachten jeder für sich über das Gehörte nach.

„Nun, was halten Sie davon?“, fragte Kriminalhauptkommissar TenDegen und blickte von einem zum anderen.

Björn Andresen räusperte sich. Einerseits wollte er sich äußern, andererseits fiel ihm nichts recht Gescheites ein. Nicht nur ihm ging es so. Abgesehen von Michael TenDegen konnte eigentlich keiner etwas mit dem Gehörten anfangen. Keiner von ihnen glaubte wirklich daran, dass diese Fragmente eines Gespräches tatsächlich ein Anruf waren, auf dessen anderem Ende sich eine Gruppe von Leuten einen Spaß daraus machte, einem Zuhörer mit ihren Wortwechseln zu verwirren und mit dem Rauschen, Pfeifen und den Verzerrungen der Stimmen einen Schauer über den Rücken zu jagen. Aber worum es sich in Wirklichkeit handelte, blieb ihnen verborgen. Es hätte ihre Vorstellungskraft überfordert. Daher verlief das Gespräch der Polizisten zunächst auch ziemlich zusammenhangslos und verriet eine verständliche Ratlosigkeit.

„Die Stimmen haben dünn und etwas hohl geklungen“, fand Andresen, „als wären sie in einem größeren Raum mit einem Echo gesprochen worden. Auf jeden Fall hören sie sich weit entfernt an, fast als kamen sie aus einer anderen –.“

„Soweit wollen wir noch nicht denken“, unterbrach ihn TenDegen und nur Thorensen ahnte, warum. „Befassen wir uns zunächst nur mit den Fakten.“

Was Andresen auf der Zunge lag, hätte manch einen nicht nur erstaunt, sondern ihm auch ein gehöriges Maß an Phantasie abverlangt. Deshalb war TenDegens Eingreifen zu diesem Zeitpunkt wohl bedacht. Und doch war er überrascht. Gerade von diesem Kommissar hatte er eine solche Deutung der Aufnahme nicht erwartet.

Der Kriminalhauptkommissar fuhr fort:

„Und einer dieser Fakten ist die Gewissheit, dass es sich tatsächlich nicht um einen Anruf handelt, sondern um den Mitschnitt eines Gespräches. Wir haben alle anderen Anrufe zeitlich und den Teilnehmern zuordnen können, aber als diese Aufzeichnung gemacht wurde, hat kein Anruf stattgefunden.“

„Es wäre auch ein sonderbarer Anruf gewesen“, fand Gerd Treesen.

„Sicher. Und deshalb kann man die Existenz dieser Aufzeichnung durchaus als eine Besonderheit betrachten. Ungeachtet der Umstände in diesem Fall sind Anrufbeantworter für derartige Aufgaben nicht geeignet, soweit ich weiß.“

„Ich muss Ihren Leuten meine Hochachtung aussprechen“, sagte Hansen anerkennend. „Die KTU hat offensichtlich eine gute Arbeit bei der Restaurierung der Aufnahme geleistet.“

„Das will ich meinen“, sagte TenDegen zufrieden. Schon oft hatte er mit der kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung zusammengearbeitet und es hatte sich immer wieder bewiesen, wie wertvoll ihre Ergebnisse für die Aufklärung seiner Fälle und die der anderen Ermittler waren. „Aber wie ich sagte, dieses Gespräch passt nicht in dieses Gerät und bei aller Raffinesse des Labors ist es ihm nicht gelungen festzustellen, wie das Gespräch aufgezeichnet worden sein könnte.“

„Aber ich glaube, es gibt keinen Zweifel daran, um wen es sich dabei handelt“, meinte Gerd Treesen. „Es kann nur die Familie Benninghaus gewesen sein. Soweit wir wissen, heißt der Mann Johannes und der Sohn Karsten. Mutter und Tochter heißen Kathrin und Mirja. Konnte der Zeitpunkt der Aufnahme herausgefunden werden.“

„Sogar sehr genau. Es war letzten Mittwoch um 14:45 Uhr.“

Jetzt begann das Grübeln. Thorensen erinnerte sich als erster.

„Das war acht Tage, nachdem Karola Herbst und Bernd Niewald sich dort umsahen. Nach den Angaben des Postboten hatte er schon in der Woche vorher niemanden mehr aus der Familie angetroffen. Wenn die Angabe stimmt –„

„Sie stimmt“, unterbrach ihn TenDegen.

„Dann war die Familie seit wenigstens zwei Wochen vor dieser Aufzeichnung verschollen. Wären dieses die einzigen Fakten, dann könnten wir vielleicht sogar ein Verwirrspiel der Familie in Betracht ziehen, die sich ein Spaß daraus machen würde, einige Spekulationen über ihren Verbleib auszulösen. Aber nachher ist ja noch einiges mehr passiert und sogar der Schamane ist ziemlich eindrucksvoll aufgetaucht. Trotzdem halte ich es für möglich, dass die Familie noch lebt.“

„Das ist jetzt reine Spekulation“, meinte Hansen. „Auch wenn wir keine Hinweise auf eine Gewalttat an der Familie haben, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie wirklich noch lebt.“

„Richtig, aber warum gleich mit dem Schlimmsten rechnen?“, erwiderte Björn Andresen. „Wir können, glaube ich, durchaus davon ausgehen, dass die Familie noch lebte, als die Aufnahme entstand.“

Unter gewöhnlichen Umständen wäre diese Schlussfolgerung schlüssig gewesen, aber TenDegen hatte Gründe anzunehmen, warum es in diesem Fall nicht so sein musste. Doch die konnte er in diesem Kreis unmöglich vorbringen.

„Ich meine, es gibt einen ziemlich sichtbaren Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Familie und dem der beiden Kommissare“, sagte Andreas Thorensen. „Der Nebel.“

„Nur weil in beiden Fällen Nebel aufgezogen war?“, zweifelte Andresen.

„Wenn die Wetterlage bei dem zweiten Ereignis anders gewesen wäre, den Nebel angekündigt hätte, dann hätten Sie Recht. Aber es war keine Nebelwetterlage.“

„Sie meinen, der Nebel wurde künstlich hervorgerufen? Das ist doch lächerlich. Da würde ich eher eine Gemeinsamkeit in dem Auftauchen des Schamanen sehen.“

Der Polizeihauptmeister lächelte und entgegnete: „Was diese Erscheinung betrifft, gebe ich Ihnen recht, aber der Nebel, der aufzog, als die beiden LKA-Beamten verschwanden, hätte nach allem, was ich über das Wetter in unserer Gegend weiß, und ich bin hier aufgewachsen, nicht da sein dürfen. Außerdem war er lokal ungewöhnlich eng begrenzt und trotz des, wenn auch schwachen Windes, erstaunlich standortfest.“

„Und wie verhält es sich mit dem Nebel, der herrschte, als die Familie verschwand?“, fragte Andresen. „Und das über mehrere Tage.“

„Tja, in dem Fall muss ich zugeben, dass er genauso gut meteorologisch erklärbar wäre“, gestand Thorensen ein.

Nach einer erneuten Pause meldete sich Harm Hansen wieder zu Wort.

„Das Brausen am Anfang der Aufnahme deutet auf den innerhäuslichen Sturm hin. Und als die Aufzeichnung stattfand, also eine Woche später, stellte Johannes Benninghaus fest, dass er vorüber war. Hm, müssen wir das so verstehen, dass da eine Lücke von einer Woche klafft und dieser Zeitraum der Familie nicht bewusst geworden ist? Das wäre physikalisch unmöglich, meine ich.“

„Genauso unmöglich wie der Sturm, oder?“, meinte Thorensen und deutete damit an, dass sie es hier mit mehr als einer physikalischen Besonderheit zu tun hatten.

„Das ist eine wichtige Beobachtung“, stellte TenDegen fest. „Über diesen Punkt habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Ich bin aber noch zu keiner Erklärung gelangt. Doch genauso scheint es gewesen zu sein. Bemerkenswert, nicht wahr?“

„Dafür gibt es vielleicht eine ganz einfache Erklärung“, meinte Björn Andresen. „Wenn diese Aufnahme am Ende des Sturmes entstanden ist und erst eine Woche später auf dem Aufnahmegerät gespeichert wurde, wäre die Frage nach der Lücke beantwortet. Oder gibt es einen zwingenden Grund dafür, dass beides gleichzeitig passiert sein muss?“

TenDegen sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an und schüttelte den Kopf.

„Sie haben Recht. Nein, einen zwingenden Grund dafür gibt es in der Tat nicht, soweit ich weiß. Dass ich noch nicht selbst darauf gekommen bin. Wahrscheinlich werde ich alt.“

Einige lächelten, aber Andresen fühlte sich ein wenig vor den Kopf gestoßen. Dabei hatte es TenDegen gar nicht so gemeint, er hatte sich nur etwas unglücklich ausgedrückt.

„Mich beschäftigt noch etwas anderes“, meinte Gerd Treesen. Anscheinend gab es vor diesem Ereignis Warnungen an die Familie. Unter gewissen Umständen hätte sie demnach mit dem rechnen müssen, was schließlich eintrat. Welcher Art diese Warnungen waren, erwähnen sie bedauerlicherweise nicht, und auch nicht, was der Familie angedroht worden war, aber es deutet darauf hin, dass das Verschwinden der Familie der Höhepunkt einer längeren Entwicklung war.“

„Der nicht notwendigerweise eintreten musste“, ergänzte Harm Hansen.

„Ja, es scheint so“, stimmte Treesen zu. „Und wir wissen auch nicht, wie eindringlich die Warnungen waren, und welche Forderungen damit verbunden gewesen sind.“

„Was verlangt wurde, ist keine Geheimnis, denke ich“, meinte TenDegen. „Anscheinend ging es diesem - Schamanen - in letzter Konsequenz nur darum, dass die Familie die Beekwarf - oder Rangdredd, wie er sie nannte - verlässt. Wahrscheinlich wäre der Familie nichts passiert, wenn sie diesen Warnungen gefolgt wäre.“

„Aber es wird mit keinem Wort erwähnt, für wen der Schamane steht“, stellte Harm Hansen fest. „Handelt er sozusagen auf eigene Rechnung, oder steht hinter ihm irgendeine Gruppe?“

„Allein tritt er nicht auf“, sagte TenDegen. „In der Aufzeichnung ist die Rede von Mönchen. Aber die scheinen mir eher so etwas wie Helfer zu sein.“

„Also gut, dann haben wir es also mit einer Gruppe von Entführern zu tun“, resümierte Harm Hansen. „Doch welche Absicht steckt hinter ihrer Tat? Welches Ziel verfolgen sie mit der Verschleppung der Familie? Es kann doch nicht nur darum gehen, sie von der Beekwarf zu entfernen.“

„Ich meine, die Aufnahme beantwortet diese Frage“, sagte TenDegen. „Aus irgendeinem Grund störte ihre Anwesenheit auf der Beekwarf und wie es scheint, hatte es im Vorfeld Forderungen gegeben, sie zu verlassen, die aber von der Familie hartnäckig ignoriert wurden. Alles, was wir vermuten, deutet ausschließlich darauf hin, dass sie die Beekwarf hätten verlassen sollen, und das freiwillig.“

„Welche Bedeutung steckt hinter dem Wort »Rangdredd«?, wollte Gerd Treesen wissen.

TenDegen zuckte mit den Achseln.

„Auf jeden Fall ist es ihr Name für die Beekwarf. Vielleicht ist es nur eine Wortspielerei. Genauso gut kann aber auch ein tieferer Sinn dahinter stecken. Ich weiß es nicht.“

„Es scheint, dass der Schamane mit der Familie noch irgendetwas vorhatte, denn wie ein unabwendbares Todesurteil hörte es sich nicht an“, fand Thorensen.

„Zumindest nicht wie ein unmittelbares“, schränkte TenDegen ein. „Aber eine freundliche Einladung klingt anders. Allerdings glaube ich auch nicht, dass der Schamane sie zu ihrer Hinrichtung führte, wie Johannes Benninghaus es befürchtete. Es ist gut möglich, dass er in der angespannten und ungewöhnlichen Situation überreagierte.“

„Na ja, aber dass sie nicht willkommen waren, hat der Schamane doch offen zugegeben“, stellte Gerd Tresen fest.

„Vielleicht lässt sich ein Kontakt zu Hauptkommissarin Hainbusch-Vieth und ihrem Kollegen Tolkien herstellen, wenn wir den Anrufbeantworter erneut in dem Haus anschließen“, meinte Björn Andresen. „Zumindest können sie möglicherweise auf diesem Wege eine Botschaft übermitteln.“

„Es kann natürlich nicht schaden, Ihren Vorschlag in die Tat umzusetzen“, erwiderte TenDegen. „Doch bin ich über die Erfolgsaussichten im Zweifel. Das Gespräch erscheint mir ohne Wissen der Familie aufgezeichnet worden zu sein. Wahrscheinlich kann man von dort, wo sie sich befand, überhaupt nicht feststellen, ob ein solches Empfangsgerät existiert. Wie sollen es die beiden Kommissare dann tun. Trotzdem glaube ich nicht, dass es eine zufällige Aufzeichnung war.“

„Sie meinen, jemand hat dafür gesorgt?“, fragte Harm Hansen.

„Nun ja, wie wir wissen, war die Aufnahme eines Gespräches mit diesem Anrufbeantworter technisch überhaupt nicht möglich, mit der Ausnahme von Ansagen. Also muss es jemand veranlasst haben, meinen Sie nicht?“

„Glauben Sie, es war dieser seltsame Schamane?“

„Ich glaube noch gar nichts“, erwiderte TenDegen. „Selbst dafür ist es im Augenblick noch zu früh. Aber vielleicht müssen wir uns mit einem unangenehmen Gedanken vertraut machen. Selbst wenn die Benninghaus-Familie noch lebt, sagt es nichts über das Schicksal der beiden Kommissare aus. Wir müssen durchaus in Betracht ziehen, dass mit ihnen weniger zimperlich umgegangen wurde. Wir wissen ja auch nicht, was mit der Familie geschah, nachdem sie von dem Schamanen sozusagen in Empfang genommen wurde.“

„Aber wozu das alles?“, fragte Gerd Treesen ratlos. „Ich meine, wer lässt eine ganze Familie und zwei weitere Menschen verschwinden, in dem er einen unnatürlichen Sturm und einen angeblich ebenso unnatürlichen Nebel verursacht und dann noch einen unmöglichen Hinweis auf einem Anrufbeantworter hinterlässt. Ich verstehe es nicht.“

„Ich habe für das alles zwar auch keine Erklärung“, gab Harm Hansen zu. „Aber es sieht so aus, als hätte sich jemand sehr viel Mühe gegeben, die Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Und das kann doch nur bedeuten, dass sie einen bestimmten Zweck erfüllen soll.“

„Ja, vielleicht“, meinte TenDegen. „Aber auch, wenn kein Zweck dahinter steckt, wäre das der Fall. Allerdings bezweifle ich, dass die Aufzeichnung durch einen Zufall entstanden ist.“

Die folgende Gesprächspause nutzte TenDegen für die Frage, warum bisher noch keiner von den Husumer Kollegen etwas zu der Erscheinung des rätselhaften Sturmes gesagt hatte, von dem schon mehrmals die Rede war. Lächelnd erkundigte er sich, ob der wohl zu dem Teil der Wahrheit gehörte, der ihm bisher verschwiegen worden war.

Mit dieser unverhohlenen Anspielung konnte Harm Hansen als Vorgesetzter seiner Beamten natürlich nichts anfangen, denn er war nicht zugegen, als TenDegen von Gerd Treesen und Björn Andresen auf der Beekwarf herumgeführt wurde. Aber er hatte angenommen, dass sie dem Kriminalhauptkommissar nichts vorenthalten hatten.

Die Erklärung, die ihm die beiden Kommissare gaben, bestätigten aber einige Vermutungen, die er aus der Aufnahme gewonnen hatte, so unvorstellbar sie auch waren. Und er verstand die Bedenken der beiden Kommissare, ihm gleich zu Anfang über diesen absurden Sturm zu berichten. Allerdings hätte er erwartet, dass sie ihm bereits nach dem Abhören der Tonbandaufzeichnung von der Tatsache des innerhäuslichen Sturmes berichten hätten.

„Vielleicht waren die ganzen Umstände gar nicht so unnatürlich, wie wir vermuten“, gab Andreas Thorensen vorsichtig zu bedenken. „Vielleicht war es ein natürliches Phänomen, das sich uns nur durch unbegreifliche Begleitumstände offenbart hat. Vielleicht -“, er zögerte kurz, „- vielleicht ist es ein Tor, dass sich da aufgetan hat, ob absichtlich oder nicht.“

Gerd Treesen lachte.

„Ja klar, ein Tor zu einer anderen Welt. Das ist doch wohl Esoterik, Spuk oder so etwas, glaube ich. Und das gehört doch besser nicht hierher.“

In dieser Eindeutigkeit hatte es Thorensen zwar nicht ausgedrückt, und doch kam Treesens Reaktion alles andere als unerwartet. Björn Andresen jedoch war über den Vorschlag Thorensens hellhörig geworden, denn in die gleiche Richtung ging auch seine Vermutung, deren Äußerung TenDegen gleich am Anfang ihrer Unterhaltung so unvermittelt abgebrochen hatte. Aber die Reaktion Gerd Treesens bestärkte ihn in seiner Entscheidung, Thorensens Vorschlag jetzt nicht zu unterstützen.

Andreas Thorensen hatte mit solchen Zweifeln gerechnet, sie kam alles andere als unerwartet. Deshalb ärgerte er sich auch nicht darüber. Er hatte seine Vermutung nicht ohne Bedacht geäußert. Trotzdem bestand er nicht weiter darauf. Dabei wollte er nicht einmal ein Tor in eine andere Welt ins Gespräch bringen, aber er fragte sich, ob es physikalische Erscheinungen gab, die einen übergangslosen Ortswechsel auch auf der Erde erlaubten, ohne irgendein verkehrstechnisches Medium zu benutzen. Doch dann kamen ihm Zweifel, ob es in diesem Fall tatsächlich so sein konnte, denn hätte es auf diese Weise einen ungewollten Ortswechsel der Familie in eine andere Gegend gegeben, wäre sie bestimmt schon wieder von selbst aufgetaucht. Wahrscheinlich die beiden Kommissare auch, falls ihnen das gleiche Schicksal widerfahren war. Offensichtlich war es allen jedoch verwehrt.

Die spöttische Bemerkung Gerd Treesens brachte Thorensen ungewollt auf die Frage, ob der Kommissar der Wahrheit nicht vielleicht sogar näherkam als er selbst, auch wenn es bestimmt unbeabsichtigt geschehen war. Es wäre irre, wenn die Vermissten sich aus dem Grund nicht melden konnten, weil sie tatsächlich in eine andere Welt versetzt worden waren.

Thorensen erschauerte bei der Tragweite solcher Vorstellungen. Doch dann zwang er sich wieder zu realistischen Gedanken, denn das alles waren natürlich nur Spekulationen, ungeeignet dafür, logisch nachvollziehbaren Erklärungen für diese Fälle zu liefern. Dabei ahnte er schon, dass es wahrscheinlich keine solchen Erklärungen geben würde, und seine Vorschläge waren zu unkonventionell, um akzeptiert werden zu können. Die Möglichkeit für ein Ausbleiben einer Nachricht der beiden LKA-Kommissare hatte TenDegen ja bereits ins Spiel gebracht. Vielleicht war das Schicksal von Tolkien und Hainbusch-Vieth in Wirklichkeit ganz anders verlaufen als das der Familie Benninghaus und sie waren bei oder nach der Entführung umgekommen. Die Art ihrer Auflösung ließ jedenfalls darauf schließen.

„Was hat die Fahndung nach der Familie bisher eigentlich ergeben?“, wollte Björn Andresen wissen.

„Nichts“, musste Harm Hansen eingestehen. „Weder die Angehörigen und Freunde der Benninghaus´ können etwas zu ihrem Verbleib sagen noch haben sich irgendwelche Zeugen gemeldet.“

„Dann wissen wir also nichts“, stellte Björn Andresen fest. „Und die Aufnahme hat uns auch nicht viel weitergebracht.“

„Ich denke, wir wissen einiges. Aber das, was wir wissen, bringt uns der Aufklärung des Falles nicht näher. Es macht den Fall sogar verwirrender, finde ich“, meinte Hansen.

Gerd Treesen wollte noch etwas sagen, da unterbrach ein Klopfen an der Tür die Runde. Eine junge Polizeibeamtin steckte ihren Kopf herein und brachte die Nachricht, dass auf der Beekwarf ein paar interessante Entdeckungen gemacht worden waren, die die Anwesenheit des Untersuchungsleiters erforderlich machten.

„Also doch“, sagte Andresen zuversichtlich.

„Abwarten“, dämpfte TenDegen seine Hoffnungen. „Wir wissen nicht, was sie entdeckt haben. Vielleicht wird dadurch der Fall nur noch verwirrender.“

TenDegen und Thorensen gingen voraus zu den Autos.

„Sie war ziemlich gewagt, deine These von dem Tor“, meinte TenDegen lächelnd. „Aber vielleicht stellt sich heraus, dass du der Wahrheit nähergekommen bist, als du glaubst.“

„Ich weiß, dass sie gewagt war“, gab Thorensen zu. „Ich weiß auch, dass ich meine Vermutung vielleicht ein wenig vorschnell geäußert habe. Aber die ganzen Umstände, besonders die Art und Weise, wie die Kommissare verschwanden, schließen einen gewöhnlichen Entführungsfall aus. Allerdings lag es mir fern von einem Tor in eine andere Welt zu sprechen, sondern zwischen zwei entfernten Orten auf der Erde. Natürlich kann ich mich irren. So etwas ist mir noch nicht begegnet. Ich gebe aber zu, dass Gerds Einwand auch etwas für sich hat, obwohl er ihn nur ironisch meinte.“

TenDegen sah Thorensen aufmunternd an.

„Nochmal, warten wir es ab. Vielleicht machen wir noch ein paar erstaunliche Entdeckungen. Ich fürchte nur, wenn meine Vermutungen stimmen –.“

„Die du nicht leichtsinnig äußern wolltest“, unterbrach Thorensen ihn listig.

„Wäre ich in der Vergangenheit in dieser Hinsicht unvorsichtig gewesen, würde ich inzwischen wieder Streifendienst tun. Also, ich fürchte, wenn meine Vermutungen stimmen, dann werden wir diesen Fall nicht durch eine übliche polizeiliche Vorgehensweise aufklären können. Trotzdem, warten wir ab, was auf dem Anwesen gefunden wurde.“

„Du weißt mehr als ich.“

„Natürlich. Aber dieses Mal ist es eher eine Vorahnung.“

„Teilst du sie mir mit?“

TenDegen lachte.

„Habe noch ein wenig Geduld.“

„Hast du eine Ahnung, wie es zu diesem - äh, Zeitsprung, oder besser zu der Zeitlücke zwischen der Entführung der Benninghaus´ und der Aufnahme des Anrufbeantworters kam?“, fragte Thorensen. „Ich nehme an, dass du deine Ahnungslosigkeit nur vorgetäuscht hast. Oder liegt sie wirklich an deinem Alter?“

TenDegen lachte.

„Ich fürchte, ich habe mich gegenüber Andresen etwas unhöflich ausgedrückt. Das wollte ich nicht. Vielleicht hat er sogar Recht. Aber ich weiß, dass die Zeitabläufe zwischen dem Diesseits und dem Jenseits nicht synchron stattfinden. Es ist also ebenso gut möglich, dass sich die Zeit bei einem Übergang von hier nach dort dehnt. Genau kenne ich mich in diesen Vorgängen aber wirklich nicht aus.“

„Du denkst, sie befinden sich im Jenseits?“, fragte Thorensen erstaunt.

„Ehrlich gesagt, ja. Zumindest sind sie ihm näher als unserer Welt.“

Soviel hatte Thorensen auch schon vermutet, nachdem Treesen ihn auf diesen Gedanken gebracht hatte, deshalb lag die Möglichkeit, die Ereignisse mit einer herkömmlichen physikalischen Betrachtungsweise nicht mehr erklären zu können, wahrscheinlich gar nicht so fern. Allerdings soweit, die Familie gleich ganz ins Jenseits zu verbannen, hatte er dann doch nicht gehen wollen. Möglicherweise gab es Regionen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, aus denen sie wieder zurückkehren konnten. Aber vielleicht hatte TenDegen mit seiner Vermutung auch nicht so Unrecht.

„Ich wundere mich“, meinte TenDegen. „Hast du nicht selbst ein Tor in eine andere Welt ins Spiel gebracht.“

„Ja, aber -.“

„Na also, warum denn nicht ins Jenseits. Und hüte dich vor dem Fehler, es dir als den furchtbaren Ort vorzustellen, wie es so viele Leute tun. Es ist genauso eine Welt wie unsere und manche Orte dort würdest du von irdischen kaum unterscheiden können. Es heißt sogar, dass es im Jenseits Orte gibt, die schöner sind als manche auf der Erde.“

„Ich wäre gespannt auf eine Begegnung mit diesem Schamanen“, meinte Thorensen, den die Äußerungen des Kriminalhauptkommissars ziemlich verwirrten und ratlos machten. „Glaubst du, die wird stattfinden?“

„Unwahrscheinlich und schon gar nicht bei dem Trubel auf der Beekwarf.“

„Hältst du ihn für das Gleiche wie ich?“, bohrte Thorensen nach.

TenDegen blickte ihn an.

„Du hast mir noch nicht gesagt, wofür du ihn hältst, aber unter uns, ich vermute, dass er ein Geist ist. Und wenn er ein Geist ist, sind wir auch dem Jenseits nahe, wie ich es sagte. Ich glaube, dieser Erdtrichter hält noch ein paar Überraschungen bereit. Es spricht sehr viel dafür, dass wir es in diesem Fall tatsächlich mit echten Geistererscheinungen zu tun haben. Trotzdem bin ich mir noch nicht im Klaren, warum dieser Sturm notwendig war, um die Menschen zu entführen.“

„Vielleicht war das ja tatsächlich nur ein Nebeneffekt für irgendeinen Vorgang“, wiederholte Thorensen. „Oder das Spektakel sollte die Wirkung des Auftrittes des Schamanen nur verstärken.“

„Ja, vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber zu deiner Genugtuung, ich bin ebenfalls ziemlich sicher, dass es sich tatsächlich um ein Tor zu einer anderen Welt handelt.“

„Dann gibst du meinen Husumer Kollegen recht, die Geistererscheinungen auf der Beekwarf für möglich halten?“, vergewisserte sich Thorensen. „Schließlich haben sie einige gespenstische Augenblicke dort erlebt.“

„Ich zweifle daran, dass sie auch nur ahnten, was ihnen dort begegnete. Aber ich habe ihre Aussagen mit Interesse zur Kenntnis genommen. Übrigens verwechsle Geister nicht mit Gespenstern. Geister sind vollständige Wesenheiten, während Gespenster nur die Auswirkungen von Energien und Kräften diesseitiger und jenseitiger Wesen sein können. Ah, da kommen unsere Kollegen.“

Dass Michael TenDegen die Leitung der Ermittlungen in diesem Fall übernommen hatte, war kein Zufall, denn Thorensen hatte ihm kurz vor dem Hilfeersuchen Harm Hansens schon einige Hinweise zu dieser Angelegenheit mitgeteilt und auf die baldige Meldung an das LKA hingewiesen. So hatte TenDegen rechtzeitig die Gelegenheit, einen gewissen Einfluss darauf zu nehmen, wer den Fall übertragen bekam.

Die beiden kannten sich privat und teilten einige ungewöhnliche Interessen, was von den anderen Beamten keiner wusste. Und die Umstände dieses Falles waren für TenDegen von besonderem Interesse.

Als sie das Anwesen erreichten, befanden sich alle Untersuchungsbeamten im Garten und umringten den mysteriösen Erdtrichter. Der hatte sich in der Zwischenzeit ziemlich verändert.

„Das müssen Sie sich ansehen, Herr Hauptkommissar“, empfing ihn eine junge Beamtin.

Die anderen ließen TenDegen und seine Begleiter bis zum Rand des Trichters durch. Am Fuß war ein Mann in einem nicht mehr ganz so weißen Schutzanzug damit beschäftigt, menschliche Knochen freizulegen und vom Rand her machte ein anderer Fotos mit einer Kamera.

„Wie seid ihr darauf gestoßen, Bärbel?“, fragte der Kriminalhauptkommissar.

„Unter anderem haben wir die Umgebung hier auf Ihr anraten mit dem Magnetresonanzdetektor abgesucht und sind auf diese menschlichen Überreste gestoßen.“

„Kann man schon sagen, wie alt sie sind?“, fragte Gerd Treesen ein wenig voreilig. Bei dem Anblick der Knochen hielt er es dann aber selbst für unwahrscheinlich, es mit den Überresten der Familie zu tun zu haben.

Der Gerichtsmediziner, Dr. Schreiner, der kurz vor TenDegen auf der Beekwarf angekommen war, schüttelte mit dem Kopf. Er hatte die Knochen einer ersten Prüfung unterzogen.

„Nein, aber sie müssen bereits ziemlich alt sein“, war er sicher.

„Sie liegen in über zwei Metern Tiefe und waren bedeckt von einer siebzig bis achtzig Zentimeter dicken Kleischicht“, erklärte Bärbel Wolters, die in der Untersuchungsmannschaft für chemische Analysen zuständig und eigentlich mehr im Labor als an Tatorten beschäftigt war. „Darüber befand sich noch einmal einiges an Hausabfällen. Vermutlich handelt es sich um eine alte Abfallgrube. Die Tonscherben und die Asche dort auf dem Haufen gehören dazu. Wir stießen nur wenige Zentimeter unterhalb der Trichtersohle darauf. Die Kleischicht ist übrigens eine natürliche Bodenablagerung. Sie verstehen schon, Schlicksedimentationen durch Überflutungen.“

„Dann müssen die Knochen allerdings tatsächlich ein hohes Alter besitzen und vor der Besiedlung dieser Warf dort verscharrt worden sein“, meinte Björn Andresen. „Wie eine Begräbnisstätte sieht mir das Ganze aber nicht aus. Vielleicht waren es Opfer eines Verbrechens oder eines Kampfes.“

„Opfer“, sagte TenDegen.

„Bitte?“

„Es waren wirkliche Opfer. Es sind die menschlichen Überreste einer Opferstätte. Allerdings existierte sie lange bevor dieser Hügel besiedelt wurde, was die Tonablagerungen beweisen. Mein Rat an Sie, Bärbel, war nicht das Ergebnis einer Eingebung, sondern ganz schnöder Geschichtsforschung. In einer ziemlich alten Chronik fand ich einen Hinweis darauf, dass es in dieser Gegend zwei Opferstätten des frühen Volksstammes der damals noch heidnischen Friesen gab. Ich habe nur nicht herausfinden können, wo genau. Anscheinend ist dieses hier einer der Orte.“

„Stand Ihre Nachforschung im Zusammenhang mit diesem Fall?“, fragte Harm Hansen. „So lange wissen Sie doch noch gar nichts davon.“

„Auf jeden Fall nicht lange genug, um so kurzfristig literarisch etwas herauszufinden. Aber Sie sehen, ein wenig Heimatkunde fördert manchmal auch ganz praktische Erkenntnisse.“

„Was soll mit den Knochen geschehen?“, fragte ein anderer Beamter.

TenDegen überlegte. In jedem anderen Fall wäre die Entscheidung einfacher gewesen, doch hier konnte eine falsche geradezu schauerliche Folgen haben, vielleicht schauerlicher als die bisherigen Vorfälle. Der Kriminalhauptkommissar traf bewusst die falsche Entscheidung. Das hatte jedoch nicht unmittelbar mit der Aufklärung dieses Falles zu tun. Ihn interessierte viel mehr, was sie über Menschenopfer der damaligen Zeit lernen konnten. Aber er hoffte inständig, keine ruhenden Mächte auf den Plan zu rufen.

„Wir graben sie aus und nehmen sie mit ins Labor“, sagte er. „Aber lasst sie alle beieinander.“ Das wäre sowieso der Fall gewesen, deshalb wunderten sich einige über diese Anordnung. „Und dann füllt den Trichter sauber wieder auf.“ Diese zweite Anordnung wunderte einige noch mehr, aber sie führten sie ohne Einwände aus.

„Wir müssten die Knochen hier eigentlich liegen lassen“, sagte TenDegen flüsternd zu Thorensen, als sie sich ein Stück von den anderen entfernt hatte. „Es geschieht vielleicht irgendetwas, was mit ihrer Entfernung zu tun hat. Aber andererseits kann ich vor diesen Leuten so nicht argumentieren. Ich hoffe, die Sache geht gut, wenn wir sie später vernünftig auf einem Friedhof beisetzen. Und ich hoffe auch, dass wir die Geister besänftigt haben, indem wir den Erdtrichter wieder auffüllten.“

„Du ahnst, was kommt?“

„Nicht einmal das. Aber wir müssen unter Umständen damit rechnen, dass wir – ach was. Lassen wir das. Es war nur so ein Einfall.“

„Du meinst, es könnte auch beim LKA spuken?“

„Na ja, so wie dieser Fall begonnen hat, können wir es nicht ausschließen.“

„Dann gehst du ein gewisses Risiko ein, oder?“

„Du sagst es.“

„Hatte deine Vorahnung, von der du mir vorhin nichts sagen wolltest, etwas mit diesem Fund zu tun?“, fragte Thorensen.

„Allerdings. Ich war mir nur nicht sicher, ob es sich bei der Beekwarf tatsächlich um eine ehemalige germanische Opferstätte handelt. Jetzt weiß ich es. Und solche Orte sind geradezu prädestiniert für Spukerscheinungen.“

„Dann weißt du auch sicher ihren ursprünglichen heidnischen Namen, nehme ich an?“

„Rangdredd“, erwiderte TenDegen kurz.

„Ich habe es mir fast gedacht.“

Die Entdeckung der menschlichen Überreste war aber noch nicht alles, was die Beamten des LKA ans Tageslicht befördert hatten. Nachdem sie die Spuren des scheinbaren innerhäuslichen Sturmes untersucht hatten, stellten sie fest, dass er sich fächerförmig aus der Richtung eben dieses Erdtrichters ausgebreitet hatte. Dass es sich dabei tatsächlich um einen Sturm gehandelt hatte, erfuhren sie aber erst jetzt. Da es dafür mehrere Zeugen gab und die Zustände im Haus keinen anderen Schluss zuließen, mussten sie daran glauben, obwohl es den meisten mehr als schwer fiel. Es war ja auch kein normaler Sturm, aber dass währenddessen auch noch die Erscheinung eines Phantoms stattgefunden hatte, behielten die wenigen, die davon wussten, für sich. Dafür gab es keine Beweise außer den Aussagen von drei Zeugen und es waren Zweifel angebracht, ob die ausreichten, die Skepsis der LKA-Beamten zu beseitigen.

„Ich bin froh, dass dieser angebliche Ausbruch aus dem Trichter nicht auch noch die Knochen dieser Toten in der Gegend verstreut hat“, meinte ein Untersuchungsbeamter, der für seine gelegentlichen makabren Bemerkungen berüchtigt war. TenDegen wollte schon etwas erwidern, schwieg dann aber doch.

Schließlich hatte die Erkenntnis des angeblich übernatürlichen Sturmes für den Ausgang der Untersuchungen unmittelbar aber keine Bedeutung. Außerhalb des Hauses konnten keine Hinweise auf dieses mikrometeorologische Phänomen gefunden werden und so gab es auch keine Antwort auf die Frage, ob sich dieser Sturm kreisförmig vom Erdtrichter her ausgebreitet hatte oder tatsächlich nur innerhalb des Hauses aufgetreten war.

Alles, was sie im Haus entdeckt hatten, bestätigte die Annahme, es nicht mit einer gewöhnlichen Entführung zu tun zu haben. Es gab keine Anzeichen für eine Auseinandersetzung und nachdem die Beamten ohne große Bemühungen noch Bargeld, Schmuck und andere Wertgegenstände gefunden hatten, konnte auch ein Raubüberfall ausgeschlossen werden. Aber an ein profanes Verbrechen glaubte TenDegen inzwischen ohnehin nicht mehr. Alles deutete auf parapsychische Aktivitäten hin, und die gab es im Polizeialltag nicht. Mit Bedauern und einer gehörigen Portion Unzufriedenheit dachte er daran, dass die »Akte Benninghaus« mit großer Wahrscheinlichkeit mit dem Untersuchungsergebnis »Vermisst unter unerklärlichen Umständen« abgeschlossen werden würde. Er wusste, wie hilflos unwissende Menschen, und dazu gehörte nun einmal auch der größte Teil der Polizeibeamten, in Fällen übersinnlicher Phänomene waren. Deshalb würde dieser Tatbestand auch nirgends erwähnt werden.

Aber noch wollte er nicht aufgeben und sei es nur, um den Schein zu waren. Und schließlich – vielleicht gab es am Ende ja doch noch eine »vernünftige« Erklärung für alles.

Kurz vor dem Abschluss der Spurensicherung fand eine Beamtin in einem Haufen durcheinandergewirbelter Dokumente zwei recht ungewöhnliche Schriftrollen. Sie waren, wie sich bald herausstellte, in roter Tinte handbeschrieben, nicht datiert und, was am merkwürdigsten war, sie bestanden aus einem derben, aber dünnen, fast durchsichtigen und lederartigen Pergamentpapier. Als die Polizistin eine davon entrollen wollte, wurde ihr unerwartet schwindelig und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Mit einem entsetzten Aufschrei und erfüllt von einer plötzlichen Abscheu ließ sie die Schrift fallen. Andere Kollegen stürzten alarmiert in den Raum. Die Frau starrte sichtlich erschrocken auf die am Boden liegende Rolle.

„Martina, was ist los?“, fragte ein Ermittler.

„Eine Botschaft - eine Warnung - auf Menschenhaut!“, erklärte sie zusammenhangslos. „Auf der Rolle da.“

Inzwischen war auch Michael TenDegen hinzugetreten, der sich eigentlich nur noch einmal in dem Haus umsehen wollte. Er hob das Dokument auf und während er sie entrollte, verschwammen die Eindrücke um ihn herum. TenDegen gewann schnell seine Fassung zurück. Nein, ein Schlaganfall war das nicht. Im Gegenteil, seine Sinne waren plötzlich ungewöhnlich scharf und obwohl er sich immer noch der Nähe seiner Kollegen bewusst war, fühlte er sich gleichzeitig in eine fremde Umgebung versetzt. Fast erwartete er jetzt, den beiden verschollenen Kommissaren und der Familie Benninghaus zu begegnen.

Etwas verwirrt stellte er fest, dass ein Teil von ihm noch in seiner angestammten Welt verharrte, während sich der andere Teil in jener fremden Welt befand. Er stand auf der Schwelle einer Tür zu zwei Welten, oder genauer, zu zwei Zeitebenen einer, seiner eigenen Welt. Kurz, er befand sich auf der Schwelle zu einer fernen Vergangenheit. Den Zeitpunkt jedoch konnte er nicht bestimmen. Er war bemüht, sich nichts anmerken zu lassen und blickte zunächst wie durch einen Tunnel auf das Stück Pergament. Es war beschrieben mit ihm unbekannten Symbolen, aber es war eindeutig eine Handschrift. Während er die Zeichen zu deuten versuchte, entstand vor seinen Augen ein neues Geschehen.

Es war Nacht und der Himmel klar. Der Vollmond stand beinahe im Zenit und versetzte die Landschaft in ein düsteres, aber durchscheinendes Zwielicht. Vor TenDegen lag eine weite, ebene Marschlandschaft. Erkennbare Deiche gab es nicht, und nicht weit entfernt erstreckte sich das ausnahmsweise unbewegte, silberne Tuch der Nordsee. In geringer Entfernung befand sich eine flache Erhebung, die rings um ihren Fuß von Holzpflöcken umgeben war. Der Rand des niedrigen Plateaus war gesäumt von zahllosen Fackeln, die in dieser windstillen Nacht ruhig vor sich hin brannten. Dazwischen bewegte sich eine Gruppe von Menschen.

TenDegen war einerseits erfüllt von dem Wunsch, näher heranzutreten, andererseits scheute er die Vorstellung, als fremder Beobachter entdeckt zu werden. So blieb er, wo er war. Von dort konnte er allerdings nicht hören, was gesprochen wurde. Inzwischen hatten sich seine Augen an das Mondlicht gewöhnt und konnten auch Einzelheiten erkennen.

In der Mitte der Gruppe kniete ein Mann, den Kopf gesenkt und seine Arme hinter dem Rücken zusammengebunden. Schlagartig ahnte TenDegen, wessen er jetzt Zeuge wurde, und dann ging alles sehr schnell. Einer der Beistehenden trat auf den knienden Mann zu, hob ein mächtiges Schwert in die Luft und ließ es auf den Unglücklichen niederfahren. Der Kopf fiel in eine Grube und der Körper sackte zur Seite. Von den anderen hinabgestoßen, versank auch er in dem Loch.

TenDegen erschauerte. Ihn packte plötzlich die Erkenntnis, dass es sich nicht um eine Hinrichtung im Sinne eines weltlichen Gerichtsurteiles handelte. Er war Zeuge eines Menschenopfers geworden und jetzt war er froh, nicht näher an dem Geschehen gewesen zu sein und nichts gehört zu haben.

Trotzdem war er nicht unentdeckt geblieben. Bevor er sich fragen konnte, wie es nun weitergehen würde, stand plötzlich die gewaltige Gestalt eines Mannes neben ihm, ohne dass er bemerkt hatte, wie er sich ihm genäherte. TenDegen zuckte zusammen. Die Erscheinung des Fremden passte in allen Einzelheiten zu der Beschreibung des Schamanen. Es gab keinen Zweifel mehr, in dieser ganzen Geschichte spielte er eine Schlüsselrolle. Von der Furcht ergriffen, dass nächste Opfer in dieser Nacht zu werden, packte TenDegen der Wunsch zu fliehen. Erst jetzt bemerkte er, dass er sich nicht rühren konnte.

„Dieses Land ist unser Land. Dieser heilige Boden ist unser heiliger Boden. Bald werden wir es für viele Jahre verlassen, trotzdem bleibt es unser Besitz. Und wenn wir zurückkehren, wird Rangdredd immer noch unser Anspruch sein. Wir werden niemanden auf diesem Land dulden.“

Die Gestalt verblasste. Es waren keine gesprochenen Worte, die der Hauptkommissar gehört hatte. Sie waren in seinem Geist entstanden und ihr Sinn war eindeutig.

TenDegens Blick fiel wieder auf die Schriftrolle. Plötzlich wusste er, dass die rote Farbe, in der die fremdartigen Zeichen geschrieben waren, Blut war - Menschenblut. Und geschrieben waren sie auf Menschenhaut. Diese Erkenntnis war ein Teil des Gesichtes. Doch die Zeichen waren keine Symbole zum Lesen, sie besaßen eine viel tiefere Wirkung. Ihr Anblick erzeugte in demjenigen, der sie sah, die vorhergehende Vision. Sie war eine Botschaft derjenigen, die dieses Land für sich beanspruchten und sie würden es sich zurückholen. Es war die Warnung, von der auf dem Anrufbeantworter die Rede war. Offensichtlich war die Zeit der Rückkehr der Priester gekommen - und sie kamen als Geister. Dass Rangdredd gleichbedeutend mit der Beekwarf war, stand außer Zweifel.

TenDegens Blick klärte sich und er kehrte in die Gegenwart zurück. Alles hatte nur wenige Sekunden gedauert und dank seiner Erfahrung in diesen Dingen hatte niemand bemerkt, dass ihn in dieser kurzen Zeit eine Vision offenbart worden war. Keiner von den anwesenden Polizisten hätte diese Botschaft gefasster ertragen können als er, und noch im gleichen Augenblick schüttelte er die schaurigen Eindrücke ab. Schnell rollte er das Schriftstück zusammen und hob die zweite Rolle auf.

„Ich werde sie an mich nehmen“, sagte er ohne weitere Erklärungen. „Wenn ihr fertig seid, dann rücken wir wieder ab.“

Anfangs war TenDegen etwas in Sorge, dass Martinas Ausruf, die Rollen bestünden aus Menschenhaut, weitere Kreise ziehen würde, doch bald schon konnte er den Gesprächen entnehmen, dass niemand diese Äußerung wirklich ernst nahm. Selbst Martina gab zu, dass es ihr im ersten Schrecken wohl nur so herausgerutscht war, sie es aber selbst nicht glaubte. Eigentlich konnte sie sich auch kaum noch daran erinnern, was in diesem Bruchteil einer Sekunde überhaupt mit ihr geschehen war. TenDegen hielt es nicht für notwendig, dazu Erklärungen abzugeben.

Die Arbeiten auf der Beekwarf waren abgeschlossen. Alle Räume des Hauses waren gründlich durchsucht und nach Spuren durchforscht worden und am späten Nachmittag war auch der Erdtrichter wieder eingeebnet. Wie vieler Menschen Knochen geborgen worden waren, war noch nicht klar, aber Dr. Schreiner war nach einer groben Übersicht sicher, dass sie zu mehr Körpern gehörten als die fünf Totenschädel erahnen ließen. Die genaue Anzahl würde man im Labor herausfinden. Es war durchaus wahrscheinlich, dass in den vielen Jahrhunderten, die den schrecklichen Ereignissen an dieser Opferstätte gefolgt waren, einige menschliche Überreste durch geologische Vorgänge umgelagert worden waren und sich irgendwo im Boden in der näheren Umgebung befanden.

Der Aufklärung des Falles waren die Ermittler aus polizeilicher Sicht jedoch keinen Schritt nähergekommen. Weder hatten sie eine Erklärung dafür gefunden, wie und warum die Familie Benninghaus verschwunden war, noch gab es auch nur einen Hinweis auf den Verbleib der beiden Kommissare Hainbusch-Vieth und Tolkien. Im Gegenteil, alles was sie entdeckt hatten, hatte die Angelegenheit nur noch rätselhafter gemacht. Der einzige, der sich einen ungefähren Reim auf die Ereignisse machen konnte, war Kriminalhauptkommissar TenDegen. Aber dieser Reim bezog sich nur auf die Ursache ihres Verschwindens, nicht jedoch auf die Folgen für die Vermissten. Und er war kriminaltechnisch nicht verwendbar.

Für die Husumer Polizisten begann in dieser Angelegenheit jetzt eine Zeit des Wartens. Sie konnten nicht mehr tun, als in bestimmten Abständen den Anrufbeantworter zu überprüfen, den sie wieder in dem Wohnhaus auf der Beekwarf angeschlossen hatten. Nach ihren bisherigen Erlebnissen dort taten sie es mit einem verständlichen Widerstreben. Während der Dienststellenleiter Harm Hansen einige Erwartungen in dieses Gerät setzte, war TenDegen weniger hoffnungsvoll. Und tatsächlich zeichnete das Gerät auch nie wieder etwas anderes auf, als gewöhnliche Anrufe, die bald aufhörten.

Das Wohnhaus wurde versiegelt. In dem persönlichen Sprachgebrauch der Husumer Beamten erhielt das Anwesen bald den Namen »Spukwarf«. Die einzigen, die Zugang zu dem Haus hatten, waren die Polizisten auf ihren gelegentlichen Kontrollfahrten. Die Post wurde bis auf weiteres abbestellt. Ob sich dort noch irgendwelche Spukerscheinungen ereigneten, fanden die Beamten nicht heraus, und sie wollten es auch gar nicht wissen. Sie betraten keine anderen Räume mehr als die Diele, wo der Anrufbeantworter stand, bis er nach einiger Zeit seinen technischen Geist aufgab. Als das geschehen war, blieben die Gebäude für viele Jahre verwaist.

Für die Mitarbeiter des LKA und der Gerichtsmedizin, begann eine dramatische und denkwürdige Zeit, denn es war der Anfang von Ereignissen, die so ganz und gar nicht in den polizeilichen Alltag passten.

Das Geisterhaus auf der Beekwarf

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