Читать книгу Das Geisterhaus auf der Beekwarf - Hans Nordländer - Страница 7
ОглавлениеSpuk im Landeskriminalamt
Die Gebeine der Toten wurden zur weiteren Untersuchung in das Gerichtsmedizinische Institut und die übrigen Gegenstände, die die Spurensicherung sichergestellt hatte, in das Gebäude der kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung gebracht. Kopfzerbrechen bereiteten TenDegen die beiden Schriftrollen aus Menschenhaut. Ihm war vollkommen klar, dass er sie niemandem in die Hand geben durfte, weil das unvorhersehbare Folgen für seine seelische Verfassung haben würde. Dabei spielte die Tatsache, aus welchem Material die Schriftstücke bestanden, nur eine untergeordnete Rolle. Mit menschlichen Substanzen und Überresten in den unterschiedlichsten Formen hatte sowohl die Gerichtsmedizin als auch die KTU täglich zu tun. Aber diese beiden Schriften übten einen starken magischen Einfluss aus, der nur schwer zu kontrollieren war. Bei unvorbereiteten Menschen konnten solche Kräfte unter Umständen eine verheerende seelische Belastung mit allen denkbaren bösen Folgen verursachen, denn die Visionen, die sie hervorriefen, besaßen eine furchteinflößende Wirkung. Allein, dass sie überhaupt dazu in der Lage waren, solche Bilder entstehen zu lassen, würde bei den untersuchenden Beamten einen überwältigenden Schrecken auslösen, denn keiner von ihnen war auf so etwas vorbereitet.
In einem kurzen Selbstversuch hatte TenDegen festgestellt, dass die zweite Rolle eine noch erschreckendere Vision hervorrief, in der die Empfindungen der Ritualopfer im Augenblick ihres Todes scheinbar am eigenen Leib erfahren wurden. Auch die in ihr verwendeten Symbole waren mit dem Blut eines Menschen geschrieben. TenDegen wusste aber, dass nicht unbedingt das Blut eines Toten notwendig war, um eine magische Wirkung zu erzielen. Manche Mystiker benutzten ihr eigenes, um die innewohnenden Geisteskräfte eines von ihnen geschaffenen Gegenstandes zu verstärken.
Beide Schriftstücke waren allgemein gehalten und nicht ausdrücklich auf die Familie Benninghaus bezogen, fast, als hätten die Geister sie jedem gewidmet, der beabsichtigte, auf der Beekwarf zu wohnen. Und so mochte es auch gewesen sein, denn solange die Aussicht bestand, dass die Drohungen und Schicksale, die sie enthielten, ihre Wirkung nicht verfehlten, waren die Namen der Adressaten gleichgültig. Aber jetzt verstand TenDegen auch, warum Johannes Benninghaus ihre eigene Hinrichtung so fürchtete.
Für TenDegen stand damit außer Zweifel, dass diese beiden Schriftrollen die Warnungen der Geister waren, die in der Aufzeichnung auf dem Anrufbeantworter erwähnt wurden, und dass sie von den Geistern der Beekwarf stammten, davon war er überzeugt. Der Kriminalhauptkommissar fand diese Botschaften sehr eindringlich und überzeugend, wirkten sie doch nicht nur durch die persönliche Teilnahme an diesen Visionen, sondern auch durch einen deutlich spürbaren Einfluss auf die Gemütsverfassung desjenigen, der die Schriftrollen öffnete.
Doch in gewisser Hinsicht erschienen sie ihm auch recht plump und ohne einen tieferen Sinn. Zumindest hatte er in der Kürze der Zeit keinen erkennen können. Offensichtlich dienten die Botschaften tatsächlich nur dem einen Zweck, denjenigen, dem sie sich offenbarten, in Angst und Schrecken zu versetzen, verbunden mit der eindeutigen Aufforderung, die Beekwarf zu verlassen. Umso mehr verwunderte ihn, warum die Familie Benninghaus nicht darauf reagiert hatte. Welchen Grund konnte es gegeben haben, dass sie die Warnungen so dickfällig ignoriert hatte?
Doch es gab noch weitere Fragen, die beantwortet sein wollten. Eine davon barg einen unübersehbar ethischen Aspekt: es war das Alter dieser Rollen. TenDegen glaubte nicht, dass es sich dabei um wirklich altertümliche Schriftstücke handelte, sondern war sicher, dass sie erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit verfasst worden waren und ihre Existenz mit der Rückkehr der Geister auf die Beekwarf in Verbindung stand. Da diese Schriften also neueren Datums waren, stellte sich die Frage nach der Herkunft der menschlichen Haut.
Das Blut, das als Tinte verwendet worden war, verursachte ihm weniger Kopfzerbrechen, obwohl die Möglichkeit bestand, dass beides miteinander zusammenhing. Das würde sich durch eine gentechnische Analyse feststellen lassen. Aber auch, wenn sich kein Zusammenhang herausstellte, führte der Umstand der Verwendung menschlicher Haut mit Sicherheit zu einem weiteren Verbrechen. Im Gegensatz zu dem verwendeten Blut würde der Verfasser der Botschaften wohl kaum seine eigene Haut geopfert haben. Im Zuständigkeitsbereich des LKA Kiel war, soweit TenDegen wusste, in den letzten Jahren kein Mordfall bekannt geworden, in dem einem Mordopfer größere Partien der Haut entfernt worden waren.
Allerdings gab es einen Gesichtspunkt in dieser Angelegenheit, der TenDegen wieder zuversichtlicher stimmte, was die polizeilichen Ermittlungen betraf. Alles, was sie bisher herausgefunden hatten, wies für ihn eindeutig auf geisterhafte Aktivitäten, oder, wie manche sagten, Spuk hin. Doch nach allem, was er über diese Dinge wusste, konnte nicht alles, was sich herausgestellt hatte, allein darauf zurückzuführen sein. Er war sicher, dass die Geister weltliche Helfer hatten, die ihnen in irgendeiner Weise zu Diensten standen. Und hier lag seiner Meinung nach der Schlüssel dafür, den Fall lösen und das Schicksal der Vermissten herausfinden zu können. Er musste also nur ermitteln, wer die Geister in der irdischen Welt unterstützte.
TenDegen hoffte, dass diese Aufgabe mit Hilfe der ganz trivialen Spurensicherung gelang. Sie hatten eine Vielzahl von Fingerabdrücken aufgenommen, dazu kam noch eine Reihe von menschlich-organischen Substanzen, mit deren Hilfe Genanalysen durchgeführt werden würden. Auch wenn dieses Verfahren noch in den Kinderschuhen steckte, so setzte er doch einige Hoffnung darauf. Sicher gehörte der größte Teil der Funde zu den Mitgliedern der Familie Benninghaus und den Polizeikollegen aus Husum, aber vielleicht entdeckten sie auch Spuren anderer Menschen, die sich erst kürzlich in dem Haus aufgehalten hatten.
Alle diese Überlegungen äußerte er aber nicht im LKA. Sie würden die typischen Beamtengemüter seiner Kollegen weit überfordern. Für ihn stand die Notwendigkeit außer Frage, eigene Ermittlungen anzustellen. Dabei sollten ihm Andreas Thorensen und ein Medium helfen, das er in dem Kreis kennengelernt hatte, in dem ein Teil seiner eher verborgenen privaten Aktivitäten stattfand.
Während er aus seinem privaten Arbeitszimmer in den Garten seines weitläufigen Grundstückes schaute, kehrten seine Gedanken wieder zu den beiden Schriftrollen zurück. Er konnte sie also unmöglich im Ganzen zur Untersuchung in die KTU geben, soviel war sicher. Aber fast jeder, der mit ihm an diesem Tag auf der Beekwarf gewesen war, wusste, dass er sie mitgenommen hatte. Verstecken konnte er sie also auch nicht. Irgendetwas musste ihm einfallen.
Sein Telefon klingelte und während er ein belangloses Gespräch führte, stromerte sein Hund in das Zimmer, schnupperte hier und dort und näherte sich dem Schreibtisch, auf dem die beiden Schriftrollen lagen. TenDegen wollte schon vorspringen aus Sorge, der Hund könnte sie schnappen, aber noch ehe er mit seine Schnauze die Rollen berührte, wich er mit einem mächtigen Sprung und einem kläglichen Jaulen zurück und jagte aus dem Zimmer.
Das ist es, dachte TenDegen. Kurz darauf beendete er das Telefongespräch und hatte seinen Plan gefasst.
„Felix (so hieß der Hund), ich werde dich jetzt zum Haupttäter in einer schweren Straftat machen müssen“, flüsterte er lächelnd. „Du hast das wichtigste Beweismaterial vernichtet, das wir in diesem Fall haben. Ich weiß nicht, ob ich dir das jemals verzeihen können werde.“
Dann nahm er die beiden Rollen und legte sie in seinen Safe. Für den erlittenen Schrecken und dafür, dass er sein Herrchen auf einen genialen Einfall gebracht hatte, hatte sich Felix auf jeden Fall eine Extrawurst verdient.
Die befremdend ängstliche Reaktion seines Hundes hatte TenDegen nicht überrascht. Tiere reagieren oft empfindlicher auf Orte oder Dinge mit ungewöhnlichen psychischen Eigenschaften als Menschen. Diese Fähigkeit zeigte sich gerade immer wieder bei Hunden in der Reaktion auf ihre Umwelt. Und diese beiden Rollen besaßen zweifellos eine besonders starke magische Energie.
Dass die Schriftrollen aus Leder bestanden, hatte TenDegen bei seinen Kollegen bereits bekanntgegeben, aus guten Gründen aber nicht, aus welchem Leder. Da würde es ihm nicht schwerfallen, niedergeschlagen zugeben zu müssen, dass sein Hund sie sich in einem Augenblick seiner eigenen Unachtsamkeit einverleibt hatte. Natürlich würde TenDegen diese unverzeihliche Fahrlässigkeit mehr als leidtun, aber schließlich war es nicht mehr zu ändern. Er war sicher, dass es keine weiteren Fragen geben würde. Immerhin, konnte er behaupten, und das entsprach sogar der Wahrheit, war es ihm gelungen, vorher eine Probe sowohl der Haut als auch der Bluttinte zu retten, um sie einer Gen-analyse unterziehen lassen zu können.
Das Ergebnis sorgte dann auch tatsächlich für einige Aufregung. Und zu seiner Erleichterung erfüllte sich auch TenDegens Erwartung, dass diesen winzigen Fragmenten keine magischen Kräfte innewohnten.
Auf seiner Dienststelle begann der nächste Tag mit einer Überraschung. Wie es schien, war es in der Gerichtsmedizin zu einem unerhörten Vorfall gekommen. Die menschlichen Skelette, die Dr. Schreiner am Abend zuvor angefangen hatte zusammenzulegen, hatten über Nacht aus unerfindlichen Gründen wieder einen ziemlich ungeordneten Haufen eingenommen, der, vielleicht aus Jux, von einem Totenschädel gekrönt wurde. Die Reaktion der Mitarbeiter in der Gerichtsmedizin reichte von unverhohlener Heiterkeit über versteckte Schadenfreude bis hin zu einer gewissen Fassungslosigkeit. Dr. Schreiner selbst erfüllte ein verständlicher, aber übertriebener Ärger. Es begannen die Nachforschungen nach dem Urheber des nur bedingt gelungenen Scherzes, der zur vorübergehenden Vernichtung der Arbeit des Mediziners geführt hatte. Sie blieben aber erfolglos. Keiner wollte es gewesen sein und es war auch niemandem nachzuweisen.
Die gerichtsmedizinische Assistentin Maren Kirchner hatte nur nebenbei von der Aufregung über die Knochen, die aus irgendeinem prähistorischen Grab in der Marsch nahe Husum ausgegraben worden waren, gehört. Sie hatte aber weder die Zeit, sich für den Vorfall zu interessieren, noch sich an der Suche nach den Scherzbolden zu beteiligen. An diesem Morgen musste eine Leiche für eine Obduktion vorbereitet werden. Es war die Leiche eines jungen Mannes, der von einem Mitbewohner der Wohngemeinschaft, in der er lebte, tot aufgefunden worden war. Und es gab bisher keine erkennbare Todesursache.
Maren Kirchner war nicht besonders ängstlich, sonst hätte sie ihre Arbeit, die sie, für viele unverständlich, sogar noch gern tat, nicht verrichten können.
In dem Kühlraum, in dem die Leichen vorübergehend aufbewahrt wurden, war es wie immer, kühl eben und es herrschte buchstäblich eine Grabesstille. Zu dieser Zeit war der ehemalige Student der einzige »Kunde« dort, wie die angehenden Obduktionsobjekte von den Mitarbeitern der Gerichtsmedizin gleichmütig genannt wurden. Maren Kirchner schob den Transportwagen, auf dem der Tote in den Obduktionssaal geschoben werden sollte, neben das Schubfach, in dem er aufbewahrt wurde, um den Leichnam darauf zu legen, und zog das Fach heraus. Sie war froh, es dieses Mal mit einem ziemlich leichten Kunden zu tun zu haben. Dieser war erstaunlich klein und schmächtig. Da hatte sie schon ganz andere Fälle wuppen müssen. Ein wenig achtlos schlug sie das Leichentuch zur Seite.
Plötzlich wurde ihr Arm von einer Hand des Toten gepackt, der sich ein Stück an ihr hochzog. Es war selbst für Maren Kirchner ein schauriger Anblick, als sich seine schon trüben Augen in dem von ersten Leichenflecken gezeichneten Gesicht öffneten und er mit heiserer Stimme und fast stöhnend hauchte: „Zurück nach Rangdredd!“ Dann fiel sein Oberkörper wieder nach hinten und die Hand löste sich von ihrem Arm. Der Tote lag wieder da, wie es sich für einen Toten gehörte.
Das war alles so schnell gegangen, dass Maren Kirchner kaum Zeit gehabt hatte, in Angst und Schrecken zu geraten. Doch jetzt ergriff sie die Panik, das erste Mal in ihrem Leben. Mit einem schrillen Schrei wirbelte sie herum und stürmte aus dem Kühlraum. Erst zwei Flure weiter gewann sie einen Teil ihrer Beherrschung zurück, gerade als zwei Bedienstete um die Ecke kamen. Sie lehnte leichenblass an der Wand.
„Maren, was ist mit dir los?“, fragte einer der beiden besorgt. „Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
Sie schluchzte kurz, putzte sich die Nase und nachdem sie sich ihre Tränen getrocknet hatte, gelang ihr ein kurzes, aber freudloses Lächeln.
„Es ist schlimmer“, stellte sie fest. „Es war eine Leiche, die zu mir sprach.“
Hätte sie nicht selbst wie eine ausgesehen und wäre ihr Gesicht nicht vom blanken Entsetzen gezeichnet gewesen, hätten sich die beiden Männer auf den Arm genommen gefühlt. Aber sie kannten Maren Kirchner schon einige Zeit und ahnten, wenn sie so aussah, und es war das erste Mal, dass sie ihnen in einem solchen Zustand begegnete, musste etwas Außergewöhnliches passiert sein. Gemeinsam gingen sie in den Kühlraum und fanden alles so vor, wie die Assistentin ihn verlassen hatte. Die Leiche war so tot, wie sie nur sein konnte. Maren Kirchner berichtete, was geschehen war. Sie konnte sich trotz ihres Entsetzens sogar noch an die Worte erinnern. Jetzt stellte sie fest, dass sich deutliche Druckspuren von der zupackenden Hand auf ihrem Unterarm gebildet hatten. Der Griff des Toten war kräftiger gewesen, als sie in dem Augenblick bemerkt hatte.
Vieles sprach dafür, dass sie die Wahrheit sagte, aber so etwas gab es nicht. Das grenzte an Spuk, aber Spuk existierte nur in Büchern und Filmen. Weder Maren Kirchner noch die beiden Männer hatten je etwas von einem Ort namens »Rangdredd« gehört und mit den Ereignissen am Morgen dieses Tages brachten sie die Angelegenheit auch nicht in Verbindung, zumal sie als Ursache für das, was mit den Knochen geschehen war, immer noch einen Spaßvogel vermuteten, oder jemanden, der Dr. Schreiner ärgern wollte.
Maren Kirchner hob ihren Arm und entblößte den Bluterguss.
„Mit den Knochen hat sich jemand einen Scherz erlaubt, aber das hier habe ich wirklich erlebt.“
„Was wollen wir jetzt tun?“, fragte einer der beiden Männer.
Inzwischen hatte Maren Kirchner ihre Fassung und ihre Resolutheit wiedererlangt.
„Helft mir, den Toten auf den Wagen zu legen“, forderte sie die beiden auf. „Dann bringen wir ihn in den Obduktionsraum.“
Torsten Benthin war unter anderem Aktenverwalter beim LKA und hatte häufig in dem muffigen Archiv im Keller des Amtes zu tun. Er mochte diesen Raum mit den teilweise schon recht verstaubten Ordnern und Kartons, die mit Unterlagen früherer Kriminalfälle gefüllt waren, nicht. In den trüben, engen Gängen zwischen den Regalen befiel ihn immer wieder eine gewisse Platzangst und manchmal glaubte er, dort keine Luft mehr zu bekommen. Aber seine übrige Arbeit in der Verwaltung der Behörde tat auch er gern, deshalb beschwerte er sich auch nicht. In den Jahren, in denen ihn seine Aufgaben immer wieder in das Aktenarchiv hinunterführten, hatte er verschiedenen Methoden entwickelt, dem Gefühl der Enge Herr zu werden. Glücklicherweise wurden die Fallunterlagen zunehmend digital gespeichert und so kamen immer seltener neue Ordner hinzu, die archiviert werden mussten. Am Nachmittag dieses Tages hatte er jedoch wieder einmal in den Kellern des LKA zu tun. Keiner kannte sich in dem Archiv so gut aus wie er, und er wusste gleich, wo er suchen musste.
Während er langsam durch den Gang ging und die Aufschriften der Kartons las, nahm er durch die Lücken hindurch einen Schatten auf der anderen Seite des Regals wahr. Er hielt sich ihm geräuschlos immer genau gegenüber. Unwillkürlich lief Torsten Benthin ein Schauer über den Rücken. Dieser Schatten stammte nicht von einem Menschen. Er fasste den Mut und blieb vor einer Lücke zwischen zwei Kartons stehen, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Und genauso verharrte dieser Schatten in dem anderen Gang. Benthin konnte durch ihn hindurch das nächste Regal sehen. Torsten Benthin fing an zu zittern. Plötzlich erfasste ihn ein eiskalter Windstoß und der Staub vieler Jahre, der auf den Kartons lag, blies ihm in die Augen. Er wurde mit dem Rücken gegen das rückwärtige Regal gestoßen und für einen kurzen Augenblick schwanden ihm die Sinne.
Als er wieder zu sich kam, lag er, immer noch an der gleichen Stelle, auf dem Boden. Von dem Phantom fehlte jede Spur. Torsten Benthin raffte sich auf und stürzte aus dem Raum. Draußen blieb er wie angewurzelt stehen. Da war eine Botschaft, an die er sich plötzlich erinnerte und sie hatte ihn mit dem Windstoß und dem Staub erreicht: Bringt uns zurück nach »Rangdredd«. Die Botschaft war eindringlich und unmissverständlich und sie kam von diesem Schatten. Doch – was bedeutete »Rangdredd«? Wer wollte dahin zurückgebracht werden? Nein, er konnte die Sache unmöglich bekanntmachen. Man würde ihn ja für verrückt erklären.
Das erste Mal behauptete er, eine Akte nicht gefunden zu haben. Wahrscheinlich, so meinte er, hatte sie jemand anderes schon vor ihm hervorgeholt und nicht wieder zurückgebracht. Und hoffentlich musste er so bald nicht wieder ins Archiv, dachte er.
Das war nicht der letzte Spuk, und bald wurden diese Erscheinungen so aufdringlich, dass sie von den Betroffenen nicht mehr verheimlicht werden konnten und den höheren Stellen zu Ohren kamen. Am dritten Tag, nachdem die menschlichen Überreste von der Beekwarf in die Gerichtsmedizin eingeliefert worden waren, begann der Spuk den Dienstbetrieb zu beeinträchtigen, da immer mehr Beamte nicht mehr bereit waren, bestimmte Räume zu betreten. Ernsthaft war noch keiner zu Schaden gekommen, aber die Botschaft, die mit diesen Geistererscheinungen einherging, wurde drängender: Irgendetwas wollte zurück nach einem gewissen »Rangdredd«.
Schon am ersten Tag hatte Kriminalhauptkommissar TenDegen von diesen Ereignissen erfahren und damit begonnen, sich seine Gedanken darüber zu machen. Besorgt stellte er stillschweigend fest, dass sich seine Befürchtungen anscheinend schneller bewahrheiteten, als er erwartet hatte. Aber noch war es zu früh, um seine Vermutungen zu äußern.
Erst als der Spuk ein unerträgliches Ausmaß erreicht hatte, schritt er ein. Er war schon seit zwei Tagen sicher, dass diese Erscheinungen erst aufhören würden, wenn sie dem Wunsch der Geister nachkämen und die Menschenknochen wieder zur Beekwarf zurückbrachten und dort bestatteten. Rangdredd war nichts anderes als das Anwesen Beekwarf, wie er aus der geheimnisvollen Aufnahme auf dem Anrufbeantworter geschlossen hatte und seit seiner Vision, verursacht durch die erste Schriftrolle, wusste. Aber er wusste genauso, dass die ganze Geschichte so unglaublich und ungeheuerlich war, dass die Vorgesetzten davon nichts würden wissen wollen. Erst als der Leiter des LKA selbst Opfer des Spuks wurde, noch dazu auf eine ziemlich gemeine Art, war der Zeitpunkt gekommen, ihn von dem, was er nicht würde wissen wollen, zu überzeugen.
Noch nie hatten die Beamten den Chef des LKA, Georg von Hafenbrück, in einem so erschütternden Zustand gesehen. Er war nur noch ein Nervenbündel und saß blass und erbärmlich zitternd in seinem Bürostuhl. Die Unterlagen, die vor seinen Augen in weitem Bogen aus ihren Ordnern gerissen durch den Raum geflogen waren, lagen noch weit verstreut auf dem Fußboden. Die rote Farbe, in der die bekannte Botschaft auf den weißen Kacheln seiner Toilette erschienen war, während er sich am Waschbecken erfrischte, hatte sich als menschliches Blut erwiesen und die Dienstwaffe, die wie von Geisterhand geführt für einen Augenblick an der Schläfe des Polizeichefs geschwebt hatte, lag noch auf dem Schreibtisch. Das alles war für von Hafenbrück zu viel gewesen. TenDegen sah seinem Vorgesetzten den nahenden Nervenzusammenbruch deutlich an.
Jetzt haben sie aber übertrieben, dachte er. Andererseits wusste er aber auch, dass Georg von Hafenbrück in dieser Angelegenheit nur mit überwältigenden Argumenten zu überzeugen war, selbst seitens der Geisterwelt. Und was geschehen war, hatte tatsächlich etwas Überwältigendes.
TenDegen beschränkte sich darauf, seinem Vorgesetzten seine ehrliche Anteilnahme auszudrücken. Aber ihm war klar, dass er allein an der ganzen Misere schuld war, weil er trotz seiner berechtigten Befürchtungen die Überreste der Toten in die Gerichtsmedizin hatte bringen lassen. Von dort hatte sich der Spuk auf das LKA ausgebreitet.
Dieser Sachverhalt wäre seinem Chef jedoch zweifellos unvorstellbar gewesen. Nicht nur aus diesem Grund verzichtete er darauf, diese Tatsache zu erwähnen. Doch da es so war und er deswegen sozusagen dem Spuk ein Ende bereiten wollte, musste er alles daransetzen, von Hafenbrück zu überzeugen, die Knochen wieder zur Beekwarf zurückbringen zu lassen. Nach allem, was TenDegen gehört hatte, würde Dr. Schreiner dagegen kaum Einwände erheben.
„Es tut mir leid, was passiert ist“, sagte TenDegen möglichst mitfühlend zu seinem Chef. „Die Zustände sind fraglos unhaltbar geworden. Ich -.“
„Was sind das überhaupt für Zustände?!“, fuhr von Hafenbrück den Kriminalhauptkommissar an. „Seit drei Tagen geschehen hier Dinge, die es weder geben kann noch darf, und schon gar nicht in einem deutschen Kriminalamt. Wir sind hier doch nicht in einem englischen Spukschloss. Hinter diesen Vorfällen müssen doch ganz triviale, wenn auch ziemlich einfallsreiche Leute stecken.“
„Das können wir nicht bestätigen. Im Augenblick haben wir keine Hinweise auf die Mitwirkung unbekannter Dritter. Die Genanalysen des Materials und die Fingerabdrücke, die bei der Spurensuche auf der Beekwarf sichergestellt wurden, haben nur bestätigt, was wir vorher schon vermutet haben. Sie stammen entweder von der verschwundenen Familie, dem Postboten oder den ermittelnden Beamten des Husumer Reviers. Falls es so wäre, wie Sie sagen, hätten diese trivialen Zeitgenossen ihre Spuren schon in dem Wohnhaus der Benninghaus´ hinterlassen müssen, aber das war nicht der Fall. Es sei denn, sie wären mit bemerkenswerter Umsicht vorgegangen.“
TenDegen ahnte, was der Spuk für seinen Chef bedeutete. Alles, was in den letzten drei Tagen an unmöglichen Dingen geschehen war, rüttelte stark an seinem Weltbild. Ihm war klar, dass der Zornesausbruch seines Chefs nicht ihm persönlich galt, auch wenn er es verdient hätte, sondern eher dessen Verzweiflung entsprang, die Ereignisse nicht mehr erklären und, was für ihn schlimmer war, nicht mehr kontrollieren zu können.
Für TenDegen gab es allerdings eine gewisse Schwierigkeit, von Hafenbrück die Zusammenhänge zu erklären. Bisher hatte er nichts von der Vision erzählt, die ihm auf der Beekwarf zuteil geworden war, also konnte von Hafenbrück auch nicht wissen, was Rangdredd bedeutete. Mit Sicherheit hätte er auch die Erfahrung dieser Vision rigoros ins Reich der Phantasie verwiesen. So versuchte TenDegen sein Wissen wieder einmal durch seine heimatkundlichen Kenntnisse, die er unbestritten besaß, zu erklären, gepaart mit ein paar Schwindeleien.
„Ich verstehe Ihren Ärger“, sagte TenDegen. „Auch mir fällt es schwer, das Unerklärliche zu erklären und vielleicht lässt es sich auch nicht erklären.“ Das war natürlich nicht der Fall, aber TenDegen konnte seinem Chef nichts erklären, was jenseits von dessen Vorstellungskraft lag. Aber er konnte ihm einen Vorschlag machen, der dem Spuk ein Ende bereiten würde. „Bei meinen geschichtlichen Exkursionen ist mir bereits zwei- oder dreimal der Name Rangdredd begegnet. Er beschreibt den Ort einer frühzeitlichen, heidnischen Opferstätte. Es ist eine von zweien, die sich in der Gegend des heutigen Husums befunden haben sollen. Nach allem, was wir über die Beekwarf wissen, ist es identisch mit dieser Opferstätte. Offensichtlich gibt es jemanden, der alles daran setzt, dass die menschlichen Überreste wieder an ihrem alten Platz beigesetzt werden. Wer immer es ist und wie immer er es anstellt, was er anstellt, werden wir, fürchte ich, auch mit den ausgefeiltesten kriminalistischen Methoden nicht herausfinden.“
„Ich weigere mich zu glauben, dass er uns immer wieder an der Nase herumführen kann“, unterbrach ihn von Hafenbrück. „Es muss eine Möglichkeit geben, ihn dingfest zu machen.“
„Er verfügt über uns unbekannte Möglichkeiten“, wandte TenDegen ein. „Könnten wir sie erklären, gäbe es vielleicht eine Chance. Aber erinnern wir uns: eine Leiche, die für einen Augenblick zum Leben erwacht; ein Schatten, dessen Hauch einen Menschen bewusstlos werden lässt; eine Kaffeemaschine, die durch die Kantine schwebt und mit dem Kaffee den bekannten Schriftzug auf dem Fußboden hinterlässt; ein Seziertisch, der sich unter den Augen eines Gerichtsmediziners durch den Autopsieraum bewegt; Blut, das aus den Kacheln Ihrer Toilette quillt, und schließlich ihre Dienstpistole, die sich aus ihrem Safe befreit und sich wie von unsichtbarer Hand gehalten an ihre Schläfe setzt. Alles Dinge, die der gesunde Menschenverstand nicht begreift und die es eigentlich nicht geben dürfte. Und wir wissen nicht, was noch alles passieren wird, wenn wir die Botschaft ignorieren, die hinter allem steckt: Bringen wir die Knochen zurück zur Beekwarf. Sicher, der Fall wäre damit nicht aufgeklärt, aber ich bin sicher, wir hätten endlich wieder Ruhe. Und da es sich nicht um einen offiziellen Kriminalfall handelt, sondern nur um, sicher beunruhigende, aber vorübergehende unerklärliche Erscheinungen, müsste darüber nicht einmal eine Akte angelegt werden. Schließlich gehört die Untersuchung der Menschenreste auch nicht notwendigerweise zu den Ermittlungen im Fall Benninghaus. Zurück blieben lediglich die verblassenden Erinnerungen an diese Ereignisse. Deshalb mein Vorschlag: bringen wir die Knochen wieder zurück und geben ihnen ihre verdiente Ruhe. Soweit ich weiß, will sie auch niemand weiter untersuchen. Dr. Schreiner hat schon gestern die Arbeiten daran aufgegeben, nachdem ihm ein Totenschädel in den Finger gebissen hat. Das hat ihm wohl den Rest gegeben.“
Trotz seines psychisch zerrütteten Zustandes gelang von Hafenbrück ein Lächeln. Der Biss war sogar ziemlich heftig gewesen, denn der Finger des Doktors war blau und grün. Zuerst dachte der Amtsleiter an eine Unvorsichtigkeit des Gerichtsmediziners, aber der war dafür bekannt, dass er nur über einen sehr begrenzten Humor und über noch weniger Phantasie verfügte. Und das betraf natürlich auch mögliche Ausreden für begangene Ungeschicklichkeiten, obwohl es bei all den anderen unglaublichen Vorkommnissen dieses Mal keine bessere Ausrede hätte geben können. Wenn Dr. Schreiner also behauptete, ein Totenschädel hatte ihn gebissen und danach noch mit dem Unterkiefern geklappert, als würde er lachen, dann wollte von Hafenbrück es auch wohl glauben, wenn auch äußerst widerwillig.
Von Hafenbrück dachte nach. Alles in ihm sträubte sich zu akzeptieren, den Spuk auf diese Weise und ungelöst zu beenden. Aber TenDegen hatte Recht. Es wären vielleicht aussichtslose Ermittlungen und beim LKA hatten die Beamten genug andere Fälle zu bearbeiten. Da musste ein reibungsloser Dienstbetrieb aufrechterhalten bleiben und der war durch die schauerlichen Ereignisse alles andere als gewährleistet. Außerdem ließen sich Ermittlungen und damit die Bindung kriminalistischer Kräfte in einem Geisterfall an höherer Stelle nicht rechtfertigen.
„Also gut“, sagte von Hafenbrück schließlich. „Sehen sie zu, dass die Knochen verschwinden. Meinetwegen graben Sie sie dort wieder ein. Hauptsache in diese Behörde kehrt wieder Ruhe ein.“
Jemand, der die Zusammenhänge um diese Knochen nicht kannte, sollte den Transport übernehmen, entschied TenDegen. Er hoffte, dass ihn auf der Fahrt keine Spukerlebnisse erwarteten, weil die Geister der Ritualopfer ihren Willen ja durchgesetzt hatten. So beauftrage er einen Kieler Kurierdienst damit, die Kiste mit den Knochen auf das Anwesen in der nordfriesischen Marsch zu bringen. Der Fahrer wusste nicht, was er transportierte. Für ihn war es ein Auftrag wie jeder andere. Er holte die Kiste bei einer privaten Adresse ab und übergab sie auf der Beekwarf zwei Männern, die ihn bereits erwarteten. So brachte er ihn auch nicht mit dem LKA in Kiel in Verbindung.
Die beiden Männer auf dem Anwesen waren Polizisten in Zivil, denen die Existenz dieser Knochen bekannt war. Es war niemand anderes als Andreas Thorensen und Gerd Treesen. Für welche ungewöhnlichen Ereignisse beim LKA diese harmlos erscheinenden Knochen die Ursache waren, hatten auch sie nicht erfahren. Dem Revierleiter Hansen hatte TenDegen nur mitgeteilt, dass entschieden worden war, sie wieder in ihrem bisherigen Grab zu bestatten, da es aus bekanntem Grunde keine Angehörigen gab, die die Kosten für eine ordnungsgemäße Beerdigung übernehmen konnten und das LKA wollte es nicht. Und schließlich, so sagte er, waren sie von keinem heimatkundlichen Interesse und damit nicht »museumstauglich«.
Obgleich die beiden Husumer Polizisten es nur widerwillig taten, die Beekwarf war für sie inzwischen zu einem Anwesen geworden, um das man lieber einen großen Bogen machte, führten sie den Auftrag doch einigermaßen gewissenhaft aus und hofften, nie wieder etwas mit dieser Angelegenheit zu tun zu haben.
Der Spuk beim LKA konnte natürlich nicht verborgen bleiben und es dauerte nicht lange, bis erste Gerüchte in die Öffentlichkeit durchsickerten und die Presse und das Fernsehen darauf aufmerksam wurden.
Nachdem die ersten unvorsichtigen Äußerungen einiger LKA-Beamter auf diese Weise verbreitet wurden, erfuhren erstmals auch höhere Stellen bei der Polizei von den Ereignissen, aber die Schilderungen bei den internen Befragungen waren dermaßen absurd, dass ihnen keiner Glauben schenken wollten. Und so genügte es diesen Stellen zu unterbinden, dass weiterhin solche unsinnigen Geschichten über das Kriminalamt in die Welt gesetzt wurden. In der Folge wurde das komplette Personal zum Stillschweigen verpflichtet. Offiziell gab es keine Vorfälle der besonderen Art. Die einzige amtliche Pressemitteilung lautete, dass es keinen Spuk beim LKA gab und auch nie derartig lächerliche Vorfälle dort stattgefunden hatten. So blieben schließlich nur ein paar Gerüchte, die von den Medien bald nicht mehr für würdig gehalten wurden, erwähnt zu werden.
Als Folge dieser Ereignisse wollte bezeichnenderweise keiner der Beamten im LKA mehr etwas von dieser Angelegenheit wissen. Selbst das rätselhafte Schicksal von Kriminalhauptkommissarin Sabine Hainbusch-Vieth und Kriminalkommissar Veith Tolkien war durch die schaurigen Ereignisse in den Hintergrund getreten. Kriminalhauptkommissar TenDegen ermittelte natürlich weiter an dem Fall, aber jetzt verwendete er auch Methoden, von denen er seinen Chef nicht in Kenntnis setzte.