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Oktober 1966 - Dunklhof

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Ich bin Bahnschüler.

Morgens stehe ich ungefähr um sechs Uhr auf und helfe meinem Vater beim Heizen der Kachelöfen, mindestens vier an der Zahl. Dazu zählen auch Wartezimmer und Ordination. Gerti, unser Dienstmädel, macht auch mit. Mausi ist um diese Zeit schon auf dem Weg zum Bahnhof. Sie muss eine Stunde nach Linz fahren, in die Kunstschule.

Jetzt im Herbst ist es noch nicht so kalt. Eine Ladung pro Ofen reicht. Manchmal heizen wir um diese Jahreszeit gar nicht. Dann jammern die Patienten im Wartezimmer und drängen sich aneinander wie die Hühner. Manchmal sitzen mehr als zwanzig Patienten auf den zwei Bänken im Wartezimmer. Die Luft ist dann entsprechend dick. Mittags, wenn alle draußen sind, wird durchgelüftet, weil dann der Warteraum unserer Gerti später als Schlafzimmer zur Verfügung steht. Da gibt es ein Klappbett für sie, das an der Wand steht und mit einem roten Vorhang zugehängt ist.

Seit ein paar Jahren haben wir fließendes Wasser im Haus und sogar eine Badewanne. Die Wanne steht neben dem Waschbecken in der Küche, mit einem Plastikvorhang vom Küchenbetrieb abgetrennt. Ich bin in letzter Zeit ziemlich gewachsen und muss mich stark verrenken, wenn ich sitzend in der Wanne dusche. Deshalb mache ich das auch nicht allzu oft, vielleicht ein- bis zweimal die Woche. Manchmal kommt mir der Duschkopf aus und ein Ladung Wasser landet in der Küche. Dann kreischt Gerti, die am Herd steht, und rüttelt wild am Duschvorhang.

Unsere Badewanne dient allerlei Funktionen.

Letzten Mai haben wir einen ganzen Kübel Maikäfer gesammelt und auf Empfehlung meines Vaters in die leere Badewanne gestellt. Er hat dann das Chloroform aus der Ordination geholt und die Tiere betäubt, genauso wie er es macht, wenn er einem Patienten einen faulen Zahn zieht. Da sich die Tiere länger nicht mehr gerührt haben, waren wir der Meinung, dass sie tot sind. Das waren sie nicht. Wir haben dann über viele Wochen immer wieder Tiere in der Küche gefunden. Die sind bis in die Schubladen vorgedrungen und haben sogar noch gelebt.

Letzte Weihnachten hat unser Vater einen lebenden Karpfen heimgebracht. Der stammte aus dem Teich eines seiner Patienten. Obwohl dieser Karpfen die ganze Visitentour auf dem Rücksitz, in Zeitungspapier eingehüllt, also im Trockenen, verbracht hat, hat er immer noch gezappelt, als ich ihn aus dem Auto geholt habe. Wir haben dann die Badewanne eingelassen und ihn da reingesetzt. Mein Vater hat gemeint, dass Karpfen häufig Rückenschwimmer seien, weil sich unser Karpfen immer auf den Rücken gedreht hat anstatt unterzutauchen. Jedenfalls hat er noch bis zum 24. Dezember in der Badewanne gelebt, volle zwei Tage. Wahrscheinlich ist er auch nur deshalb gestorben, weil ihn Gerti ins Waschbecken gehievt hat, um wieder duschen zu können. Beim Zähneputzen habe ich ihn dann immer etwas beiseite schieben müssen, damit er keine Zahnpasta abkriegt. Da war er dann wieder zeitweise im Trockenen, zumindest mit der Schwanzflosse, und das hat ihm wahrscheinlich nicht gut getan.

Einmal in der Woche habe ich am Nachmittag Schule. Jeden Mittwoch, Zeichnen und Handarbeiten. Immer an diesem Tag, also einmal pro Woche bin zum Mittagessen bei meiner Mutter.

Mittags um halb eins ist die Schule aus. Dann gehe ich die steile Kirchengasse hinauf zum Dunklhof, der nur wenige Minuten vom Gymnasium entfernt ist. Ich drücke das Tor auf und gehe zwischen den alten Mauern vielleicht zwanzig Meter leicht bergauf, bis ich im Innenhof stehe. In der Hofmitte gibt es eine Birke, darunter ein Bank aus Stein. Ich wende mich nach rechts und stehe vor dem Hauseingang. Alle Türen hier sind grün und haben weiße Streifenmuster. Die Haustür ist gewöhnlich offen. Eine steile Steintreppe führt hinauf bis zu einem schmiedeeisernen Gittertor. Rechts hängt eine schwarze Glocke mit Stange und Griff, zum Anläuten.

Bevor ich daran ziehe, sauge ich die Luft tief ein. Es ist ein Geruch, den es nur hier gibt. Ich finde, es riecht so ähnlich wie in der Kirche. Vielleicht wegen der dicken Mauern. Es herrscht vollkommene Stille. Obwohl ich schon häufig hier war, bin ich noch immer etwas aufgeregt.

Die Glocke ist hell und laut.

Dann fliegen die Türen und meine Mutter erscheint mit einem klappernden Schlüsselbund hinter der Gittertür. Sie umarmt und küsst mich, und wischt gleich wieder den Lippenstift von meiner Wange weg. Dann geht sie vor, ich hinter ihr her. Man tritt hier in eine andere Welt ein, das fühlt man. Es riecht weder nach gebohnertem Parkettboden wie in der Schule noch nach Würstelgulasch wie daheim.

Der Esstisch mit dem weinroten Tischtuch ist schon gedeckt. Drei kleine Schüsseln, drei Stoffservietten, drei Weingläser, Stäbchen. Heinrich erhebt sich aus seinem Polsterstuhl, der unter dem Fenster zwischen Büchern in einer Nische steht und begrüßt mich. Er hat wie mein Vater einen Schnauzbart, der aber schon grau ist.

Wir setzen uns zu Tisch.

Heute gibt‘s „chinesisch“. Das ist eins von den zwei Gerichten, die meine Mutter abwechselnd macht, wenn ich hier bin. Nächstes Mal wird es Polenta mit Kalbfleisch geben. Ich mag beides sehr gern. Ich glaube, Heinrich auch. Er macht von Zeit zu Zeit kleine Bemerkungen, alle ziemlich nett und etwas rätselhaft. So sagt er zu meiner Mutter „Jawohl Frau General“ wenn sie ihm aufträgt, den Wein zu holen. Oder wenn sie einen Patzen klebrigen Reis in unsere Schüsseln fallen lässt und dabei mit strenger Miene sagt „Chinesischer Reis muss kleben“, dann antwortet Heinrich wieder „Jawohl, Frau General“, und sieht mich dabei kumpelhaft an. Mir ist das immer ein bisschen peinlich. Ich mag Heinrich zwar irgendwie, aber sein Kumpel will ich nicht sein.

Dann wird die Stimme meiner Mutter plötzlich weich.

Heinrich, bitte Wein, sagt sie. Er geht dann zu einem alten Bauernschränkchen, sperrt es mit einem Schlüssel auf, den er aus seiner Hosentasche zieht und holt eine grüne Weinflasche hervor. Ich kriege Orangeade, die beiden Wein. Die Flasche wandert dann gleich wieder zurück ins Schränkchen.

Im Laufe der Zeit lerne ich mit Stäbchen zu essen.

Heinrich isst schweigsam, ich erzähle zwischendurch ein paar Anekdoten aus der Schule, während meine Mutter am Weinglas nippt.

Heinrich, noch ein halbes Glas, bitte, ... und er antwortet ... Jawohl, Frau General ... und schlurft ein zweites Mal zum Schränkchen. Ja, Heinrich schlurft. Ich glaube, das sind seine Schuhe. Die sind schwarz, riesig und sehen schwer aus. Heinrich selbst ist ziemlich klein, zumindest bin ich schon einen Kopf größer. Er trägt sehr weite dunkelgraue Hosen, die auf den Schuhen aufsitzen und Falten wie eine Ziehharmonika bilden.

Lang halten wir uns nicht beim Essen auf, dann verschwindet Heinrich in seinem Zimmer zum Mittagsschläfchen. Meine Mutter macht noch einen „Türkischen“ in ihrer winzigen Küche und ab geht es ins Atelier nebenan.

Das Atelier kommt mir fast so groß vor wie ein Tennisplatz. Vorbei an Heinrichs Zeichentisch peile ich das kleine Tischchen an, das am andern Ende des Raums vor einer riesigen Couch steht.

... Du bist doch jetzt schon sechzehn, sagt meine Mutter, darfst also rauchen.

Sie zündet sich eine Malboro an und bietet mir auch eine an. Ich lehne mich zurück in der Couch und blase den Rauch Richtung Balkendecke. Wir rauchen und trinken Mokka. Sie erzählt mir, was sie gerade dichtet und wie sie nach passenden Wörtern jagt.

Während sie so in ihre Welt versinkt, versinke ich in meine. Ich blicke durch eines der Fenster mit dem Eisenkreuz neben mir und beobachte die vorbeiziehenden Wolken am Himmel. Die Schule ist weit weg, auch mein Zuhause. Irgendwann kommt der Moment, wo die Mutter auf meiner Stirn ein paar Mitesser sieht, die sie dann mit ihren langen Fingernägeln ausdrückt. So vergeht die Zeit im Flug und gegen drei Uhr bin ich schon wieder in der Schule. Dann verschwindet diese andere Welt im Hintergrund. So richtig in der wirklichen Welt bin ich erst dann angekommen, wenn ich am frühen Abend das Würstelgulasch im Hausgang rieche. Und wenn mich dann Irmgard über die Schule ausfragt und mein Vater, leicht angeheitert vom Most der Bauern, von seinen Visiten zurückkehrt.

Dann weiß ich, wo ich bin.

Daheim.

Der Puppendoktor

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