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November 1966 - Doppelwelt
ОглавлениеAllerseelen. Und 20°C im Schatten!
Heute fällt der Nachmittagsunterricht aus. Gelegenheit zum Besuch der Gräber, heißt es. Trotzdem gehe ich wie immer am Mittwoch in den Dunklhof, weil meine Mutter nicht wissen kann, dass nachmittags keine Schule ist. Es ist nicht ihre Welt.
Wir haben zwar ein Telefon, aber ich rufe sie extrem selten an. Eigentlich nie. Ich mag es nicht, wenn mir alle beim Telefonieren zuhören können. Ich muss dann vielleicht ins Telefon sagen – hallo Mutti – und Mama hört vielleicht zu. Wie peinlich!
Irmgard nennen Mausi und ich schon längst ‚Mama‘, weil wir vor sieben Jahren noch ein Schwesterchen dazugekriegt haben, die Andrea. Für Andrea ist es die ‚echte‘ Mama. Unsere ‚echte‘ Mama nennen Mausi und ich ‚Mutti‘. Gottseidank spricht Mama nie über Mutti und Mutti nie über Mama. Auch unser Vater nimmt das Wort ‚Mutti‘ praktisch nie in den Mund. Zumindest nie, wenn Mama in der Nähe ist. Er fragt mich beispielsweise, ... bist du morgen wieder im Dunklhof? und sagt nicht, ... bist du morgen bei Mutti? So ist es mir auch viel angenehmer, weil ich mir sonst ein bisschen wie ein Verräter vorkäme, der Mama gegenüber.
Das Wetter an diesem Allerseelentag ist ungewöhnlich warm, sodass meine Mutter, nach Polenta und Kalbfleisch, Wein und Mokka, und einer Marlboro im Atelier, die spontane Idee hat, mit mir einen Autoausflug zu machen.
Ich ahne, was auf mich zukommt. Ablehnen ist zwecklos und so füge ich mich.
Während ich mich in der Riesencouch verkrieche, macht sie ihre Vorbereitungen. Heinrich wird aus seinem Mittagschlaf geholt. Er muss das Garagentor unten im Hof und die große Flügeltür hinaus in die Kirchengasse öffnen. Meine Mutter hat sich inzwischen umgezogen und steht jetzt in ihrer Sportwagenkluft vor mir. Dazu gehört eine beige Cabriohaube, die über die Ohren geht und unterm Kinn mit einem Lederriemen festgemacht ist. Dann fingerlose lederne Handschuhe, die bei den Fingerknöcheln Löcher haben. Eine große dunkle Sonnenbrille und viel roten Lippenstift. Ein schwarzer, enganliegender Pulli mit V-Ausschnitt. Das V reicht beinahe bis zum dunkelblauen Lackgürtel, der ihre Levis festhält. Zu meiner Überraschung hat sie ultraflache Leinenschuhe an.
... den Kamelhaarmantel hab ich im Wagen,
meint sie und holt mich aus meinem Versteck. Sie wirft mir eine riesige graue Wolljacke zu.
... die brauchst du gegen den Fahrtwind,
sagt sie, und sieht mir ungeduldig zu, wie ich mich in dieses graue Unikum hineinquäle. Zu allem Überfluss hat diese Jacke auch noch einen Wollgürtel, den sie mit einem heftigen Ruck über meinem Bauch verknotet, sodass mir fast die Luft wegbleibt.
Bevor ich hinter ihr die steile Steintreppe zum Hof hinuntergehe, werfe ich noch im Vorbeigehen einen flüchtigen Blick in den großen Spiegel am Flur. Ich komme mir richtig beschissen vor. Mein Kopf schaut kaum oben aus der Jacke heraus, während die Jackentaschen fast auf Kniehöhe herumbaumeln.
Wieder so ein Edelteil vom Heinrich, denke ich resigniert. Bei ihm werden wohl nur mehr die Schuhspitzen rausschauen! Diese Vorstellung gibt mir komischerweise wieder etwas Oberwasser – Kraft, die ich jetzt dringend nötig habe!
Die beiden Flügel des Garagentores im Hof stehen weit offen. Da steht der offene Austin Healy in der Garage, geduckt unter dem gotischen Gewölbe wie ein Hermelin, der gerade zum Sprung auf mich ansetzt. Inzwischen gibt es auch schon einige Zuschauer, die dieses Spektakel von den Arkaden des Innenhofes aus mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Sie wohnen auf der gegenüberliegenden Seite und beobachten uns mit Argusaugen.
Am Beifahrersitz ziehe ich mich, soweit es geht, in die Wolljacke zurück. Im Fußraum finde ich eine Wollmütze, die ich mir mit Todesverachtung tief in die Stirn ziehe.
Meine Mutter hat beim Rückwärtsfahren aus der Garage eine eigene Technik. Sie benützt keine Spiegel und dreht sich auch nicht um. Sie hört auf die Zurufe ihrer Umgebung. Alle Mitbewohner des Hofes beteiligen sich.
... Geht, geht, geht, ... mehr links einschlagen, gnä‘ Frau ... nein anders herum, ... weiter, weiter, stopp, gnä‘ Frau, stopp! Vorwärts, rechts einschlagen ... geht, geht ... halt! Sehr gut! Bravo, gnä‘ Frau!
Nach ein paar Minuten hat sich der Wagen in Richtung des Hofausgangs zur Straße ausgerichtet. Der Schweiß tropft mir aus den Achselhöhlen ins Hemd. Jetzt nähern wir uns mit heulendem Motor der offenen Torausfahrt zur Kirchengasse. Diese steile Gasse ist eng und erlaubt den Verkehr in jeweils nur einer Richtung. Deshalb gibt es am Anfang und Ende dieser Gasse Ampeln, die das regeln. Die können wir aber nicht sehen, weshalb wir uns auf die Anweisungen der Passanten verlassen müssen.
Inzwischen haben sich einige Fußgänger entlang der Gasse wie Dominosteine aufgereiht und versuchen, uns beim Rausfahren zu helfen. Ich hoffe inständig, dass wir das Glück haben, rechts abbiegen zu können. Das geht nur, wenn der Verkehr von unten nach oben strömt. Leider deuten uns die Passanten mit heftigen Armbewegungen an, dass wir uns schnell dem Verkehr von oben nach unten anschließen sollen. Meine Mutter lässt den Motor aufheulen und unter dem Applaus der Zuschauer, vorwiegend Männer, geht es – zu meinem größten Leidwesen - nicht hinaus aus der Stadt, sondern hinunter in Richtung Epizentrum, Stadtplatz.
Wir fahren gefährlich nahe an meiner Schule vorbei und dann über die Steyr-Brücke in die Enge Gasse. Meine Mutter fährt hier im Schritttempo und verscheucht die Fußgänger vor ihr, indem sie den Motor aufheulen lässt. Ich drücke mich ganz flach in meinen Ledersitz und meide jeden Blickkontakt mit den Passanten. Die sind uns manchmal so nahe, dass ihre Einkaufstaschen gegen unser Blech schlagen. Unser Stoffdach ist nach hinten zusammengerollt und die Seitenfenster sind weggeklappt. Mir kommt vor, als ob ich sogar den feuchten Atem der Passanten im Nacken spüre, wenn sie sich mit neugierigen Blicken zu mir hereinbeugen. Bevor wir auf den weiten Stadtplatz kommen, gibt es einen Zebrastreifen. Meine Mutter ignoriert ihn. Gerade will ich mich ein bisschen aufrichten, da nähert sich unser Physiklehrer dem Zebrastreifen, offensichtlich mit der Absicht ihn zu überqueren. Ich verschwinde, so weit wie möglich, schlagartig im Fußraum. Immer wieder hat er mich in den letzten Wochen in der Physikstunde gefragt, wie denn eine magnetische Spule funktioniere. Nie konnte ich ihm irgendetwas Vernünftiges antworten.
Nie!
Und jetzt scheucht ihn meine Mutter, die in dieser Kleinstadt fast jedermann kennt, über die Straße, indem sie mit der flachen Hand aufs Außenblech ihrer Tür schlägt und dabei hopp-hopp ruft.
Ich könnte sterben vor Scham!
Erst außerhalb der Stadt tauche ich langsam wieder aus dem Fußraum auf. Wir fahren zur Schneiderin nach Wolfern. Ich soll mir dort einen männlichen Strickpulli anmessen lassen, meint meine Mutter. Kein Widerspruch von mir. Schlimmer als das Stadterlebnis kann es eigentlich gar nicht mehr kommen.
Das Häuschen der Schneiderin liegt in einer kleinen Siedlung. Die Buben von der Straße versammeln sich um den Healy, während meine Mutter im Rückspiegel ihre Lippen neu anmalt. Die Tür halb geöffnet, schwirren die Kinder um unser Auto wie die Bienen um den Honigtopf.
... wie schnell geht er? ... ist das Leder? ... hat das Auto gar kein Dach? ... warum hat die Frau so rote Lippen? ... bist du ein Autostopper?
Die Schneiderin hat uns offensichtlich schon bemerkt und tritt vor die Tür. Dann verschwinden wir drei im Haus.
Beim Abmessen bin ich kooperativ. Meine Mutter hat das Kommando.
... Steh gerade, ... Bauch rein, Brust raus, ... lass die Schultern fallen.
Ich lasse alles mit mir machen. Sogar die Farbe der Wolle ist mir egal. Ich fühle mich zwischen all den Wollknäueln geschützt und endlich von der Außenwelt etwas abgeschirmt.
Weil es schon früh dunkel wird, will mich meine Mutter diesmal ausnahmsweise bis nach Hause fahren.
Das hat noch gefehlt!
In mir läuten alle Alarmglocken. Vielleicht ist es dann schon dämmrig, wenn sie mich vor unserer Haustür absetzt. Ich mag nicht unter Mamas Augen aus dem Healy steigen. Allein schon bei dem Gedanken daran muss ich schlucken.
Die Fahrt von Wolfern zurück nach Steyr ist eisig kalt. Meine Finger sind so steif, dass ich mir schwer tue, die Mütze noch weiter über die Ohren zu ziehen. Nach einer halben Stunde Fahrt bin ich komplett durchgefroren, obwohl die Heizung voll aufgedreht ist. Es wird aber nur im Fußraum warm. Der Fahrtwind pfeift so laut um unsere Ohren, dass kein Gespräch möglich ist. Das ist auch gut so, denn meine Mutter setzt beim Fahren ihren ganzen Körper ein. Sie zerrt am Schaltknüppel, dass es nur so kracht und wenn sie plötzlich bremst, wirft es uns beide nach vorn. Ihren Kamelhaarmantel hat sie bis zum Kinn hochgezogen und stopft nach jedem Schaltmanöver mit ausladender Bewegung ihr flatterndes Halstuch in den hochgeschlossenen Kragen. Einmal macht sie am Straßenrand abrupt halt und nimmt bei laufendem Motor einen kräftigen Schluck aus dem Flachmann, den ich ihr aus dem offenen Handschuhfach reiche.
Kurz vor unserem Dorf erwischt uns dann ein Wolkenbruch.
Wie sich schnell herausstellt, hat meine Mutter noch nie das Verdeck des Healy selber zugemacht. So stehen wir neben dem Wagen und hoffen, dass jemand kommt.
Es kommt aber niemand.
Nach ein paar Minuten hört der Regen schlagartig auf. Wir sind beide klatschnass. Das Gesicht meiner Mutter glänzt wie aus Bronze. Wir fahren die paar Kilometer zu unserem Dorf. Mit klappernden Zähnen steige ich zwanzig Meter vor unserem Haus aus. Offensichtlich wollte sich meine Mutter auch jede Peinlichkeit ersparen. Sie nimmt noch einmal einen kräftigen Schluck aus dem Flachmann und fährt dann mit quietschenden Reifen zurück in ihren Dunklhof.
Ich fühle mich ausgelaugt. Ich werde aus der einen Welt ausgespuckt und in die andere hineingeschleudert. Welche ist die meine, frage ich mich, während ich die zwanzig Meter bis zu unserem Gartentor zurücklege. Da rieche ich schon das Würstelgulasch.
Meine Welt?