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Die lustige Welt der Streifenhörnchen

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Streifenhörnchen sind vor allem in Nordamerika weit verbreitet. Sie kommen dort in bis zu 25 verschiedenen Arten vor. In den Nationalparks im Osten der USA begegnet man meist dem Streifenbackenhörnchen, während seine nächsten Verwandten vornehmlich den Westen der USA besiedeln. Gemeinsam ist allen eine charakteristische Streifung, von der sie auch ihren Namen haben. Fünf schwarze Streifen verlaufen in Längsrichtung auf grau- bis rotbraunem Untergrund und werden durch weiße oder graue Streifen unterbrochen. Sie gehören zur Familie der Hörnchen und zur Ordnung der Nagetiere und ernähren sich von Früchten, Samen und Nüssen. Die tagaktiven Tiere werden je nach Art bis zu 25 Zentimeter groß, der buschige Schwanz inbegriffen. Obwohl sie gut klettern können, findet man sie meistens am Boden. Sie leben in unterirdischen Bauen und halten in den nördlichen Gebieten der USA Winterruhe, die sie in milderen Gegenden auch unterbrechen können. Streifenhörnchen sind Einzelgänger und kommen nur zur Paarung zusammen. Die kleinen putzigen und flinken Tiere erfreuen sich beim Menschen großer Beliebtheit. In vielen der großen Nationalparks der USA fressen sie Nüsse oder andere Nahrungsmittel aus der Hand der Besucher. Im Amerikanischen heißen sie chipmunks.

In der Filmwelt wurden die beiden von Walt Disney geschaffenen Comic-Streifenhörnchen in dem oscarnominierten Kurzfilm »Chip an’ Dale« bereits Ende der vierziger Jahre weltweit berühmt, als sie sich dort mit keinem Geringeren als Donald Duck anlegten. Ahörnchen (Chip) war der klügere und clevere von beiden, während Behörnchen (Dale) für Aufgedrehtheit und Tollpatschigkeit stand. Später wurden ihnen eigene Serien gewidmet. In Deutschland wurden sie Anfang der neunziger Jahre als Chip und Chap einem breiten Publikum in der US-amerikanischen Trickfilm-Reihe »Chip und Chap – die Ritter des Rechts« bekannt.

Wahrscheinlich aufgrund ihrer Popularität sind sie 2009 sogar in den wissenschaftlichen Olymp einer kompetenzorientierten Zentralabiturarbeit im Leistungskurs Biologie in Nordrhein-Westfalen aufgestiegen. Dies berücksichtigt eine der grundlegenden Forderungen der neuen Bildungskonzepte, nach denen der Unterricht – und in der Folge natürlich auch die Prüfungen – einen Alltagsbezug zum Leben der Schüler1 haben soll und die Inhalte unter Berücksichtigung ihrer Nützlichkeit ausgewählt werden. Man verspricht sich davon höhere Lernerfolge und deren Anwendung im praktischen Leben. Nun haben die meisten Bundesländer erst im Laufe des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends nach und nach Zentralabiturarbeiten eingeführt, die gegenüber den bisherigen dezentralen Verfahren gleich mehrere Vorteile garantieren sollten. Die bis dahin von den Lehrern für ihre Schüler selbst erstellten Aufgaben sollten der Vergangenheit angehören, eine mögliche intensive Vorbereitung der Schüler auf die den Lehrern bekannten Themen sollte unmöglich gemacht werden und eine bessere Vergleichbarkeit der Ergebnisse aller Abitur vergebenden Schulen garantiert sein. Gleichzeitig ging man davon aus, dass kompetenzorientierte Aufgabenformate ein gleichbleibend hohes Qualitätsniveau und eine gerechtere Zuordnung von Studierenden zu gewünschten Studiengängen an den Hochschulen gewährleisten. All dies sollte letztlich auch zu einer besseren Vergleichbarkeit der Zentralabiture der Bundesländer führen. Diese Ankündigungen stießen in der Öffentlichkeit auf breite Zustimmung, während so mancher Lehrer zu Anfang teilweise erhebliche Bedenken hatte, ob denn seine Schüler in der Lage seien, derartig anspruchsvoll angekündigte Zentralabituraufgaben zu lösen.

Bei der Neukonzeption der Zentralabituraufgaben hat es in nahezu allen Bundesländern erhebliche Abweichungen von den bisherigen Aufgabentypen gegeben. Dazu reicht bereits der Blick eines Laien auf die neuen Formate. Lange Textpassagen mit vielen Grafiken und Diagrammen lassen die Aufgaben auf den ersten Blick als sehr anspruchsvoll erscheinen und unterscheiden sich von den Abiturarbeiten vor der Einführung des Zentralabiturs mit ihren relativ knapp bemessenen Materialien und Aufgabenstellungen deutlich. Entsprechend müssen die Schüler gerade zu Beginn der Bearbeitung einen nicht unerheblichen Zeitaufwand dafür ansetzen, die vielfältigen und teilweise ausführlichen Texte in den Informationsmaterialien erst einmal zu sichten. Dafür wird ihnen eine entsprechend lange Vorbereitungszeit zugebilligt, bevor die eigentliche Bearbeitung beginnen kann. Auch die Aufgabenstellungen zu den Materialien sind im Gegensatz zu den relativ kurzen und konkreten Fragen der früheren Arbeiten in der Regel sehr allgemein gehalten.

Zu Anfang traten sowohl bei Lehrern als auch bei Schülern Verständnisschwierigkeiten auf, worin denn nun die eigentliche Leistung bestehe, um derartige Aufgaben erfolgreich lösen zu können. Die den Lehrern zur Korrektur der Arbeiten überlassenen Erwartungshorizonte in Form von Lehrerhandreichungen, nach denen die Klausuren zu korrigieren sind, zerstreuten dann aber die anfänglichen Zweifel sehr schnell. Nach den ersten Durchgängen des Zentralabiturs, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen ab 2007, hörte man viele Lehrer klagen, die Arbeiten seien fachlich teilweise »unterirdisch«, die Schüler müssten in erster Linie Lesekompetenz nachweisen, denn viele Antworten seien bereits im Text enthalten. Die früher vom Schüler in die Abiturprüfung einzubringenden und nachzuweisenden fachlichen Grundlagen seien weitgehend aus den neuen Aufgabenformaten verschwunden. Die Lösung vieler solcher Aufgaben sei schon Neuntklässlern möglich, die verstehend lesen könnten.

So kam man auf die Idee, die Nagelprobe durchzuführen und eine neunte Klasse eine derartige Zentralabiturarbeit schreiben zu lassen. Obwohl seitens des Kultusministeriums für derartige Untersuchungen keine Genehmigung zu erhalten ist – es sei denn, man spricht die Vorgehensweise und besonders die Handhabung möglicher Ergebnisse vorher ab –, fanden sich dennoch Lehrer bereit, ein solches Experiment an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen unter Berücksichtigung der formalen Vorschriften durchzuführen. Auf den ersten Blick vermessen, fiel die Auswahl im Fach Biologie von 2009. Das Thema und die fachlichen Grundlagen waren den Schülern nicht bekannt. Dennoch gaben alle Schüler umfangreich beschriebene Klausurbögen ab, so dass davon auszugehen war, dass die Schüler die Aufgabenstellung verstanden und auch ernst genommen hatten. Das Ergebnis übertraf sogar die Erwartungen aller an dem Versuch Beteiligten. Von 27 Schülern kamen nur vier über die Note »Mangelhaft« nicht hinaus, 14 Schüler erreichten die Notenstufe »Ausreichend«, fünf Schüler landeten im Dreierbereich, drei Schüler schafften gar ein »Gut«, und ein Schüler erhielt die Note »Sehr gut«.2

Wie war das möglich? Um nun besser nachvollziehen und bewerten zu können, was im Zentralabitur in vielen Fächern in immer mehr Bundesländern zu leisten ist, versuchen wir im folgenden eine Lösung für die erste von vier Teilaufgaben für diese den Schülern vorgelegte Zentralabiturarbeit gemeinsam zu erarbeiten. Sie stammt aus dem Teilgebiet der Populationsökologie, einer Disziplin, die das Verhalten von Populationen in der freien Natur und ihre wechselseitigen Beziehungen untersucht. Populationsökologie scheint zudem eines der Lieblingsthemenbereiche im Zentralabitur zu sein, kommt es doch bis heute als durchgehendes Thema alljährlich vor und wird von den Schülern mit Abstand am meisten gewählt. Konkret geht es in der Aufgabe um die uns nun bekannten Streifenhörnchen. Das Thema der Aufgabe lautet: Wie wirken sich Mastjahre und Parasiten auf Nagetierpopulationen aus? Dazu erhält der Schüler unter der Überschrift Streifenhörnchen-Populationen und Zecken für die Teilaufgabe 1 folgendes Informationsmaterial und die nachfolgende Grafik:

In den Laubwäldern Nordamerikas leben Streifenhörnchen (Tamias striatus). Sie ernähren sich vor allem von Samen, insbesondere von Eicheln. Wenn die Eichen sehr viele Eicheln haben, spricht man von »Mastjahren«. In solchen Mastjahren ist die Überlebensrate von kleinen Nagetieren im Winter allgemein höher. Streifenhörnchen sind die bevorzugten Wirte von parasitischen, blutsaugenden Zecken (Ixodes scapularis). Die Zecken saugen in ihrem Leben dreimal Blut: erst als Larve, dann nach der Häutung als Nymphe und nach einer weiteren Häutung schließlich als erwachsenes Tier, das ein größeres Säugetier als Wirt sucht. Die Entwicklung dauert mehr als ein Jahr. Anschließend erfolgen Paarung und Eiablage.

Im amerikanischen Bundesstaat New York wurden in einem Langzeitprojekt über acht Jahre in einem Laubwald die Eichelmenge, die Zahl der Streifenhörnchen und die Zahl der Zeckennymphen untersucht. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis.


Abbildung 1: Zeitlicher Verlauf der Eichelmenge (Eicheln auf einem Quadratmeter), der Populationsdichte der Streifenhörnchen (Anzahl Individuen pro 2,25-Hektar-Fläche) und Zeckennymphen (Anzahl Individuen pro 100 Quadratmeter) im Bundesstaat New York, USA

Die vom Schüler zu bearbeitende Aufgabe 1 lautet nun: Beschreiben Sie zusammenfassend die Veränderungen der Eichelmenge, Streifenhörnchen-Population und Zeckennymphendichte, und erklären Sie die möglichen Ursachen der Schwankungen (Material A).3

Für die erfolgreiche Lösung dieser Aufgabe ist es besonders wichtig, dass der Leser auf keinen Fall versuchen sollte, sich an irgendwelche biologischen Fakten aus seiner Schulzeit zu erinnern, die vielleicht noch rudimentär vorhanden sind. Das wäre kontraproduktiv und würde eine erfolgversprechende Lösung massiv behindern. Wir konzentrieren uns ausschließlich auf den Text, die Aufgabenstellung und die Grafik. Entsprechend der Aufgabenstellung wird vom Schüler zuerst einmal die Beschreibung der Veränderung der Eichelmenge, der Streifenhörnchenpopulation und der Zeckennymphendichte erwartet. Schauen wir uns dazu die Kurven an, können wir, ohne viel nachzudenken, diese ganz einfach wie folgt beschreiben: Alle drei Kurven schwanken in dem angegebenen Zeitraum von 1993 bis 2002 mehr oder weniger stark, wobei die Kurve der Eicheln 1994, 1998 und 2001, die Kurve der Streifenhörnchen 1995 und 1999 und die Kurve der Zeckennymphen die höchsten Werte 1996 und 2000 erreicht. Selbstverständlich kann man das auch anders formulieren, beispielsweise dass die Kurven der Eicheln, der Streifenhörnchen und der Zeckennymphen hinauf und wieder hinunter gehen und in den entsprechenden Jahren Höhepunkte oder Tiefpunkte aufweisen. Dies reicht erst einmal vollständig aus, da der verwendete Operator Beschreiben noch keine Erklärung oder Analyse der Kurvenverläufe verlangt. Operatoren wie beschreiben, analysieren diskutieren, bewerten, erklären u. a. werden in der Einheitlichen Prüfungsanforderung in der Abiturprüfung (EPA) den drei Anforderungsbereichen I–III je nach ihrer Wertigkeit zugeordnet. Schauen wir uns den Erwartungshorizont an, nach dem die Lehrer die Arbeiten zu korrigieren haben, so finden wir dort folgende Angaben: Der Prüfling beschreibt zusammenfassend die Kurvenverläufe in Abb. 1, dass z. B. die Eichelmenge stark schwankt und in den Jahren 1994, 1998 und 2001 Maxima zu erkennen sind, die Zahl der Streifenhörnchen ebenfalls stark schwankt und die Maxima in den Jahren 1995 und 1999 liegen, die Zahl der Zeckennymphen gleichfalls stark schwankt und die Maxima in den Jahren 1996 und 2000 liegen.4 Hier haben wir also ohne viel Aufwand einen Volltreffer gelandet und verbuchen die ersten sechs Punkte dieser Teilaufgabe auf der Habenseite. Verwundert sind wir schon ein wenig, da der Operator Beschreiben entsprechend der EPA definiert, dass der Schüler Strukturen, Sachverhalte oder Zusammenhänge strukturiert und fachsprachlich richtig mit eigenen Worten wiedergeben kann.5 Welche Strukturen, Sachverhalte oder sogar Zusammenhänge hier wiederzugeben sind, bleibt wohl allein den Verantwortlichen für diese Aufgabe vorbehalten.

Nun werten wir diese Teilfrage als schülerfreundlichen Einstieg in die Zentralabiturarbeit. Schließlich sind die Schüler am Tag des Zentralabiturs auch mit einer gewissen Nervosität behaftet, und ein einfacher Einstieg in ein Thema erleichtert sicherlich die Bearbeitung der nachfolgenden Aufgabenteile mit deutlich höher ausgewiesenem Schwierigkeitsgrad. Im zweiten Teil der Aufgabe verspricht schon die Benutzung des Operators Erklären einen deutlich höheren Anforderungsbereich. Der Schüler soll einen Sachverhalt auf Regeln und Gesetzmäßigkeiten zurückführen, sowie ihn nachvollziehbar und verständlich machen, so die Definition des Operators in der EPA.6 Wie gehen wir nun vor? Wir müssen herausfinden, wer hier die Beute und wer der Räuber ist, oder einfacher gesagt, wer wen frisst. Dazu schauen wir uns die Kurven einmal genauer an. Abgebildet sind Streifenhörnchen, Eicheln und Zeckennymphen. Die müssen irgendwie etwas miteinander zu tun haben, das wissen auch Neuntklässler. Jetzt können wir nach dem Ausschlussprinzip der Sendung »Wer wird Millionär« erst einmal feststellen, wer wen ganz sicher nicht frisst. Dass die Eicheln die Streifenhörnchen oder die Zeckennymphen fressen, ist eher unwahrscheinlich, das schließen wir aus. Dass die Zeckennymphen die Eicheln fressen oder an ihnen Blut saugen, ist auch mehr als fraglich, und auch die Streifenhörnchen dürften sich wohl kaum von Zeckennymphen ernähren oder an ihnen schmarotzen. Wir legen uns also fest: Streifenhörnchen fressen Eicheln, und Zeckennymphen parasitieren an den Streifenhörnchen. Die dargestellten Kurven müssen diese Abhängigkeit aufzeigen, und tatsächlich kann man leicht herausfinden, dass 1993 die Zahl der Eicheln stark zunimmt – es war wohl ein besonders gutes Jahr für die Produktion von Eicheln – und zeitversetzt um ein Jahr auch die Zahl der Streifenhörnchen, die jetzt mehr zu fressen hatten und sich dadurch auch besser fortpflanzen konnten. Dass wiederum zeitversetzt um ein Jahr die Zahl der Zeckennymphen ansteigt, liegt auf der Hand, stehen ihnen doch nun erheblich mehr Streifenhörnchen für einen Befall zur Verfügung. Da die vielen Streifenhörnchen die Eicheln bis 1996 weitgehend gefressen hatten, geht deren Zahl in der Grafik zurück und wiederum zeitversetzt auch die Zahl der Streifenhörnchen, die ja jetzt nicht mehr genügend Nahrung fanden. Entsprechendes gilt für die Abnahme der Zeckennymphen als direkte Folge des Rückgangs der Streifenhörnchen. Ab 1996 gibt es dann wieder mehr Eicheln, und zeitversetzt beginnt das ganze Spiel von vorne. Die Kurven der Eicheln, Streifenhörnchen und Zeckennymphen schwanken also regelmäßig. Die nicht immer ganz gleichen Kurvenverläufe könnte man noch darauf zurückführen, dass Streifenhörnchen sich nicht ausschließlich von Eicheln ernähren, Zeckennymphen nicht ausschließlich Streifenhörnchen befallen und es gute oder weniger gute Eicheljahre gibt.

Schauen wir uns nun den Erwartungshorizont für den zweiten Teil der Prüfungsaufgabe an, so lautet dieser: Der Prüfling erklärt mögliche Ursachen der Schwankungen, dass z. B. die Streifenhörnchen u. a. Eicheln fressen, in Mastjahren mit besonders vielen Eicheln die Überlebensrate von Streifenhörnchen im Winter höher ist, und deshalb die Zahl der Streifenhörnchen zeitversetzt mit der Zahl der Eicheln (Nahrungsangebot) schwankt.7

Genau das haben wir ja aus der Abbildung interpretiert. Dennoch fällt uns plötzlich auf, dass wir diese Erwartungen ja irgendwo schon einmal gelesen haben, und bei einem Blick auf den vorgegebenen Text zur Aufgabe fällt es uns wie ein Schleier von den Augen. Unsere Vorgehensweise der Kurveninterpretation nach dem Ausschlussprinzip hätten wir uns also komplett sparen können, es steht nahezu alles für die Beantwortung der Frage Notwendige bereits im Text des Informationsmaterials.

Der dritte Teil der Erwartungen bezieht sich auf das Verhältnis von Streifenhörnchen und Zeckennymphen. Nehmen wir an, dass wir im Leistungskurs Biologie nicht gerade zur Spitzengruppe der besten Schüler gehört haben und uns der Begriff Zeckennymphen unbekannt ist. Zecken kennen wir, aber was sind Zeckennymphen? Wir müssen ins Informationsmaterial schauen und werden schnell fündig. Dort ist der Unterschied zwischen Zecken und Zeckennymphen genauestens erklärt. Im Erwartungshorizont – wir ahnen es schon – finden wir dann auch die nicht wirklich überraschende Beschreibung: Der Prüfling erklärt mögliche Ursachen der Schwankungen, dass z. B. Streifenhörnchen die Wirte von Zeckennymphen sind, deshalb die Zahl der Zeckennymphen zeitversetzt mit der Zahl der Streifenhörnchen schwankt.8 Halten wir folgendes fest: Ohne jegliches Fachwissen lässt sich die erste Teilaufgabe mit der Vergabe von 20 Punkten vollständig durch Ab- oder Umschreiben des Informationsmaterials lösen. Die Kurvendiskussion hätte man sich weitgehend sparen können, es reicht aus, die vorgegebenen Texte auf die Fragen hin zu sichten. Insofern weisen Lehrer ihre Schüler ausdrücklich darauf hin, das Informationsmaterial ausführlich zu lesen, da viele Antworten dort bereits vorgegeben sind. Schulleiter empfehlen vor Beginn der schriftlichen Zentralabiturarbeiten ihren Schülern ausdrücklich: »Wenn ihr Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Fragen haben solltet, schreibt notfalls das gesamte Informationsmaterial ab oder um. Für ein ›Ausreichend‹ oder ein ›Befriedigend‹ wird das allemal reichen.« Auch die anderen drei Teilaufgaben weisen einen zumindest ähnlichen Aufbau auf, wobei in einer Teilfrage aber immerhin erwartet wird, dass die Prüflinge die erste und zweite Lotka-Volterra-Regel kennen, die nicht im Informationsmaterial vorgegeben ist. Diese Regel bestätigt eigentlich nichts anderes, als dass die Individuenzahlen von Räuber und Beute bei ansonsten konstanten Bedingungen periodisch und zeitversetzt schwanken und die durchschnittliche Anzahl von Räuber und Beute über einen längeren Zeitraum konstant bleibt. Auch das haben einige Neuntklässler genauso oder ähnlich wiedergegeben, ohne allerdings die ihnen unbekannte Regel zu erwähnen.

Kurz nach Erscheinen des Artikels in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (FAZ) über dieses Experiment unter dem Titel »Nivellierung der Ansprüche«9 erschien im »Manager Magazin« eine Glosse unter dem Titel dieses Buches: »Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen«. Nachdem der Autor die Untersuchung in der neunten Klasse und deren Ergebnis kurz vorgestellt hatte, kam er zu folgender Bewertung:

Wir beim »Manager Magazin« hingegen sehen uns dem aufklärerischen Ideal des unaufhaltsamen Menschheitsfortschritts verpflichtet und meinen deshalb: Wenn 14-jährige Buben und Mädchen inzwischen Abituraufgaben für 18-Jährige bestehen können, dann ist das eine gute Sache. Offenbar wurde endlich die langjährige Forderung von Wirtschaftsverbänden erfüllt, nach der sich die Gymnasialbildung stärker an den Erfordernissen der Unternehmen ausrichten müsse (…) Bildungsforscher Klein mag wüten, doch die Abiturienten werden es den Kultusbeamten schon noch danken, dass sie so gut auf Schlüsselqualifikationen im Konzernmanagement vorbereitet wurden. Zum Beispiel wenn sie später als Vorstandsassistent eine Vorlage zu schreiben haben, die sich jeglicher eigener Gedanken enthält, dafür aber exakt die Meinung des Chefs wiedergibt. Oder wenn die jungen Menschenkinder bei einer Strategieberatung anheuern und ohne jede Fachkenntnis in ein Sanierungsprojekt geworfen werden. Dann gilt es bekanntlich binnen weniger Tage eine makellose PowerPoint-Präsentation zu entwerfen, in der man all jene Sparvorschläge zusammenfasst, die man zwischenzeitlich zwischen Kantine, Kopierer und Kaffeeküche aufschnappen konnte. Und wie sollten sich Abiturienten ohne entsprechendes schulisches Training in jenem konzerntypischen Verbrüderungsritual zurechtfinden, das sich Jour fixe nennt, und in dem es bekanntlich darum geht, die Aussagen des Vorredners mit minimalen Variationen zu wiederholen. So lange, bis endlich alles gesagt ist, und zwar von allen. Professor Klein, verlassen Sie Ihren Elfenbeinturm, stellen Sie sich der Realität!10

Vom Streifenhörnchen zum Nadelstreifen

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