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Weiße Haie, Hamburger See-Elefanten, springende Tiger und Versteckspielen
ОглавлениеNun war Nordrhein-Westfalen nicht gerade erfreut über das Ergebnis dieses Experiments mit Schülern der neunten Klasse, da ja hier mehr als deutlich wurde, dass Fachwissen als Basis zur Lösung der Aufgaben und der nachzuweisenden Kenntnisse so gut wie kaum vonnöten war. Nordrhein-Westfalen muss sich aber nicht grämen, die zuständigen Behörden in dem einen oder anderen Bundesland schaffen das schier Unmögliche, nämlich derartige Aufgabenstellungen in ihrer fachlichen Anspruchslosigkeit noch zu toppen.
Ende des Jahres 2012 wurde in Hamburg eine vielbeachtete Studie der erstaunten Öffentlichkeit vorgestellt, in der die Kompetenzen und Einstellungen der Hamburger Schülerinnen und Schüler überprüft wurden (KESS 12 = zwölfjähriger Abiturjahrgang). Die zentralen Aussagen dieser behördenintern durchgeführten Studie fanden deutschlandweite Beachtung. Die Leistungen der Hamburger Abiturienten des ersten G8-Jahrgangs von 2011 seien nicht nur in Englisch, sondern auch in Mathematik und den Naturwissenschaften mindestens so gut und teilweise sogar besser als die der Abiturienten von 2005 nach neunjähriger Schulzeit. Gleichzeitig konnte die Abiturientenzahl deutlich erhöht werden (plus 33 Prozent). Nach Angaben des Bildungssenators räumte die Studie gleich mit zwei Vorurteilen auf: »Es gibt deutlich mehr Abiturienten, obwohl das Niveau nicht gesunken ist. Und: Die Schulzeitverkürzung G8 am Gymnasium hat nicht geschadet, sondern zu diesem Erfolg beigetragen.«1 Der Studienleiter Ulrich Vieluf gab in einer kontroversen Diskussion in der »Tageszeitung« an: »Wir führen in Hamburg zunehmend mehr Kinder zum Abitur und erhöhen damit den Faktor Bildung für die Volkswirtschaft.«2 In der Berichterstattung wurde dieses Ergebnis als Sieg der Verkürzung der Schulzeit von G9 auf G8 gewertet. »Turbo-Abiturienten lernen besser«, konnte man nahezu einheitlich der teilweise auch sichtlich erstaunten Presse entnehmen.3 Die Ergebnisse nicht nur dieser Studie widersprechen allein schon dem gesunden Menschenverstand, sofern der vor lauter Studien nicht schon längst verloren gegangen ist. Man kürzt eine Ausbildung um ein Jahr und stellt das Ergebnis als Optimierung der Bildung mit deutlich verbesserten Leistungen dar. Anscheinend geschehen nicht nur in Hamburg immer noch Zeichen und Wunder im deutschen Bildungswesen nach PISA.
Es ist oft mehr als erstaunlich, wie Studien und ihre Ergebnisse heutzutage als der endgültige Beweis für die Beantwortung von allen möglichen Fragestellungen gelten und als Wort Gottes aufgenommen werden. Eine erste Überprüfung der KESS-12-Studie, die die Kompetenzen und Einstellungen der Hamburger Schülerinnen und Schüler behördenintern überprüft, ergab dann auch wenig überraschend, dass dort gar keine Zentralabituraufgaben oder auch mündliche Teile der Abiturprüfung getestet wurden, wie man eigentlich nach der frohen Botschaft aus Hamburg hätte erwarten können. Es wurden Aufgaben aus den TIMS-Studien (Trends in International Mathematics and Science Study) der neunziger Jahre für die Naturwissenschaften – teilweise auf Mittelstufenniveau – und aus dem TOEFL-Test (Test of English as a Foreign Language) eingesetzt, die mit den gültigen Lehrplänen und der Allgemeinen Abiturprüfungsordnung gar nichts zu tun haben und auch methodisch keineswegs überzeugen.4 Die von einer Gruppe von Fachmathematikern, Fachdidaktikern und Fachlehrern durchgeführten Analysen zum fachlichen Niveau der Hamburger Zentralabituraufgaben der entsprechenden Jahre in Mathematik und Biologie ergaben folglich ein ganz anderes Bild.5 6
Auch in Hamburg steht im Fach Biologie der Themenbereich Ökologie hoch im Kurs. In Schülerkreisen genießt insbesondere die Ökologie mittlerweile den Ruf eines »Laberfachs«. Ähnlich wie in mittlerweile vielen Bundesländern nimmt auch hier die Populationsökologie einen breiten Raum ein. So mussten sich 2005 die Schüler mit dem Thema »Seehundbestand« beschäftigen. Im Vergleich mit einer ähnlichen Aufgabe von 2010 – 2011 bis 2013 gab es in Hamburg im Fach Biologie kein Zentralabitur – enthielt diese aber deutlich weniger Informationsmaterial, und der Schüler musste zumindest in Teilaufgaben eigenes Fachwissen einbringen, ohne das die Aufgaben nicht vollständig hätten gelöst werden können. Die Aufgabe von 2010 – mittlerweile bekannt als »Die Hamburger See-Elefanten« – ist komplett in »Zeit Online« mit Erwartungshorizont eingestellt,7 und es lohnt sich, diese Aufgabe einmal näher zu betrachten. Sie ist nach dem bekannten Muster der Streifenhörnchen-Aufgabe konzipiert und enthält ausführliche Informationen und Grafiken. In der ersten Teilaufgabe erhält der Schüler im Material neben einem ausführlichen Informationstext erst einmal eine einfache Grafik zu deren Populationsentwicklung (s. Abb.).8 9
Abbildung 2: Entwicklung der See-Elefanten-Population auf der südlichen Farallon-Insel im Zeitraum von 1999 bis 2001
Die erste Teilaufgabe lautet nun, die Populationsentwicklung an Hand dieses Materials zu beschreiben und zu begründen. Der Beschreibung ist Genüge getan, wenn der Schüler aus dem Kurvenverlauf erkennt, dass die Population der See-Elefanten in den Jahren von 1998 bis 2001 jeweils zwischen 800 und 1200 Tieren schwankt und dass im ersten Quartal jeweils der Anstieg und im letzten der Abstieg erfolgt. Das sollte jeder Siebtklässler mühelos erkennen können. Im zweiten Teil der Frage ist nach der Begründung gefragt. Zur Begründung können wir aus dem ausführlichen Informationsmaterial folgende Textstellen wörtlich entnehmen und erfüllen den Erwartungshorizont vollständig: Die Jungtiere werden nach 11 Monaten Tragzeit etwa im Januar geboren, ungefähr drei Wochen nach der Geburt paaren sich die Weibchen erneut mit den Männchen. Während dieser Zeit leben die Jungtiere in ständiger Gefahr, von den aggressiven Bullen erdrückt zu werden. Sie bleiben knapp drei Monate an Land, müssen dann das Schwimmen und den Beutefang erlernen. Dabei laufen sie Gefahr, selber gefressen zu werden.10 Diese Angaben schreiben wir entweder wortwörtlich ab oder formulieren sie um. Sie enthalten die komplette Lösung entsprechend den Vorgaben im Erwartungshorizont. Damit haben wir bereits 30 Prozent der Abituraufgabe vollständig gelöst. Überraschenderweise wird diese Analyse von der Behörde bestätigt. Im Erwartungshorizont heißt es wörtlich: Der Operator »beschreiben« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die geforderte Lösung direkt aus dem Material herauszulesen ist, entspricht dies dem Anforderungsbereich I. Der Operator »begründen« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die geforderten Argumente dem Material direkt zu entnehmen sind, entspricht dies dem Anforderungsbereich II.11 Es bleibt festzuhalten, dass wir entsprechend dem verwendeten Operator Beschreiben weder Strukturen, Sachverhalte noch Zusammenhänge unter Verwendung der Fachsprache in eigenen Worten wiedergegeben haben. Erst recht nicht haben wir den Sachverhalt auf Gesetzmäßigkeiten und kausale Zusammenhänge zurückgeführt, wie dies durch die Verwendung des Operators zwingend gefordert ist.
In der nächsten Teilaufgabe soll der Schüler die Schlüsselkompetenz der Grafikinterpretation anwendungsorientiert nachweisen. Konkret sollen die Aussagen der beiden Abbildungen 3 und 4 interpretiert werden.12 13
Ähnlich wie bei den Streifenhörnchen geht es erst einmal darum zu erkennen, wer hier der Räuber und wer die Beute ist und wer in welchem Gebiet wen jagt. Schon die Abbildungsbeschriftungen weisen eigentlich genau aus, wer hier hinter wem her ist. Sollten wir das übersehen haben, können wir auch hier wiederum nach dem Ausschlussprinzip vorgehen. See-Elefanten dürften kaum Haie oder Schwertwale angreifen oder fressen, das ist Alltagswissen, das schließen wir mithin aus. Dass Haie Schwertwale fressen oder umgekehrt, ist ebenso eher unwahrscheinlich. Also bleibt nur noch die Möglichkeit übrig, dass die Haie und Schwertwale wohl die Jäger und die See-Elefanten die Beute sind. Diese sensationelle Erkenntnis traut die Hamburger Behörde ihren eigenen Abiturienten aber anscheinend nicht mehr zu. Es könnte ja sein, dass es noch Schüler gibt, die aufgrund einer Leseschwäche den Text oder die Abbildungsbeschriftung nicht richtig verstanden haben oder nicht wissen, wie ein Schwertwal, ein weißer Hai oder ein See-Elefant aussehen. Für die letztgenannten werden dann drei Fotos dem Informationsmaterial auf dem Niveau von Kinder- oder Jugendbüchern hinzugestellt, indem vor allem der Hai mit geöffnetem Maul auch dem letzten Zweifler klar entgegenzuschmettern scheint: »Hallo, ich bin der weiße Hai und auf keinen Fall die Beute!«
Abbildung 3: Angriffshäufigkeit der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten innerhalb der drei Regionen (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)
Abbildung 4: Beutewahl der Schwertwale und Weißen Haie im gesamten Bereich vor der südlichen Farallon-Insel (Beobachtungen in den Jahren 1999 bis 2001)
Aufgeweckte Schüler haben die beiden Grafiken schnell beschrieben. Ein einfaches Ablesen der Säulendiagramme – der weiße Hai jagt bis zu 80 Prozent vornehmlich in der Tiefenwasserregion, während der Schwertwal die Flachwasserregion bevorzugt – erfüllt den Erwartungshorizont vollständig. Für die Beschreibung der Abbildung 4 ist auch nicht gerade eine Meisterleistung erforderlich. Da Haie laut Abbildung 3 in tieferen Regionen jagen, fangen sie die dort befindlichen erwachsenen Tiere der See-Elefanten, da die Jungtiere sich ja noch in der Flachwasserregion aufhalten. Da die Schwertwale in erster Linie in der Flachwasserregion jagen, fressen sie halt die dort befindlichen Jungtiere und Jährlinge, die noch nicht ins offene Meer können. Auch das sollten aufgeweckte Siebtklässler erkennen können. Selbst wer dies nicht hinbekommt, ist noch lange nicht verloren. Schließlich gibt es ja noch das ausführliche Textmaterial, und da werden wir schnell fündig. Fressfeinde der See-Elefanten: Die bevorzugte Beute beider Räuber waren in diesem Gebiet See-Elefanten. Die meisten Angriffe der Schwertwale und Weißen Haie auf See-Elefanten fanden innerhalb der drei Regionen statt, allerdings mit unterschiedlicher Jagdstrategie, und: Erwachsene See-Elefanten sind nachtaktiv, sie schwimmen in der Abenddämmerung in Richtung offenes Meer und kehren in der Morgendämmerung an Land zurück. Jungtiere und Jährlinge (1 – 3 Jahre alte Tiere) nutzen die Strandregion und die Flachwasserregion den ganzen Tag.14 15 Dies sind nun die nächsten 20 Prozent der vollständigen Lösung, und die Behörde bestätigt unsere Analyse: Der Operator »darstellen« weist auf die Anforderungsbereiche I–II hin. Da die Lösung direkt aus dem Material abgelesen werden kann, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich I.16
Die Aufgaben c und d entsprechen diesem Schema. In Aufgabe c soll der Schüler die beobachtete Koexistenz von Schwertwal und Hai erklären. Dies ergibt sich aus der Aufgabe b), die wir ja gerade ausführlich analysiert und in der wir die Lösung zu c schon ansatzweise enthalten haben: Weißer Hai und Schwertwal kommen sich bei ihren Beutezügen nicht in die Quere, weil sie in unterschiedlichen Regionen ihrer Beute nachstellen. Dies steht genauso im Informationsmaterial. Spätestens in Teilaufgabe d hätte man entsprechend dem Operator Erklären erwarten müssen, dass der Schüler zu einem Sachverhalt ein selbstständiges Urteil unter Verwendung von Fachwissen und Fachmethoden formulieren und begründen17 soll und ihm auch die Chance eröffnet wird, die ganze Breite seines in der Sekundarstufe II erworbenen Fachwissens zu diesem Themenbereich nachweisen zu können, um daraus auf weitere populationsdynamische Entwicklungen in der Zukunft zu schließen. Im Gegenteil, es reicht jedoch aus, wenn der Schüler im Rahmen der Beurteilung einer Aussage zur langfristigen Prognose der Populationsentwicklung an Hand der vorgegebenen Grafiken wiederholend feststellt, dass es regelmäßige Populationsschwankungen im Beobachtungszeitraum gibt, die Zahl der Tiere sich um 1000 einpendelt und dass solche Populationen in der Regel stabil sind und in Zukunft wohl auch bleiben.
Auch hier wird unsere Interpretation durch die Angaben der Behörde zu den vom Schüler einzubringenden Leistungen voll bestätigt: Der Operator »erklären« weist auf die Anforderungsbereiche II–III hin. Da die Erklärung eng an den vorgegebenen Informationen erfolgt, entspricht die geforderte Leistung dem Anforderungsbereich II.18 Für die letzten beiden Aufgabenteile erhalten wir die nächsten 50 Prozent der zu vergebenden Punkte.
Im Gegensatz zur Streifenhörnchen-Aufgabe, in der zumindest in einer Teilfrage grundlegendes Fachwissen einzubringen war, kann diese Aufgabe komplett durch »Lesekompetenz« gelöst werden. Dafür muss auch hier niemand am Biologieunterricht teilgenommen haben. Diese Zentralabituraufgabe ist reiner Mittelstufenstoff und war zu Zeiten der Lehrpläne mit Fachinhalten auch dort angesiedelt.
Berlin verwendet ähnliche Aufgaben mit ausführlichen Informationsmaterialien, die nach dem bekannten Schema abzuarbeiten sind. In der Aufgabe des Leistungskurses von 2013 »Invasion der Dornenkronensterne« geht es um die These, dass die massenhaft eingewanderten Dornenkronen-Seesterne für das Absterben weiter Teile des Großen Barriere-Riffs verantwortlich sind. Die erste Frage dazu lautet dann: Beschreiben Sie interspezifische Beziehungen im Großen Barriere-Riff.19 Dazu erhält der Schüler einen ausführlichen Text im Material A, aus dem alle im Erwartungshorizont eingeforderten »Kompetenzen« nachzuweisen sind: verschiedene Beispiele für Räuber-Beute-Verhältnisse (Korallenpolypen – Kleinstlebewesen, Tritonshorn – Dornenkronen-Seestern, Harlekin-Garnelen – Dornenkronen-Seestern …) – Konkurrenz zwischen Räubern der Dornenkronen-Seesterne: Tritonshorn, Raubfische, Harlekin-Garnelen – Symbiose zwischen Grünalgen in Korallenpolypen und den Korallenpolypen.20 All dies ist selbstverständlich direkt dem Material zu entnehmen, das zusätzlich noch andere Informationen enthält. Der Schüler geht also auch hier auf die bekannte Ostereiersuche. Man könnte den Schülern in Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Berlin und Bremen u. a. zum bevorstehenden Abitur jeweils raten, das gesamte Material als Lösung einfach abzuschreiben. Die korrigierenden Lehrer hätten aufgrund der Vorgaben gar keine andere Chance, als hier gegebenenfalls die zu erreichende Maximalpunktzahl zu vergeben, für die obige Teilaufgabe zehn Punkte.
Unter der Prämisse, dass die Aufgabenstellung in den Abiturarbeiten vor Einführung des Zentralabiturs von den Fachlehrern entsprechend ihren jeweiligen Unterrichtsschwerpunkten auf ihre Schüler zugeschnitten wurde, ist unbestritten, dass vom Schüler ein Basiswissen einzubringen war, dessen fachliche Qualität in der Darstellung ein entscheidendes Beurteilungskriterium darstellte. Auch waren hier die höherwertigen Anforderungsbereiche wie Bewertungen, Deutungen und Kritik nur auf der Grundlage von Fachwissen möglich. Dies galt grundsätzlich für alle Bundesländer. Die Problematik solcher Aufgabenstellungen ist dann auch eine andere. Nicht die Themenbereiche sind falsch gewählt, vielmehr ist das umfangreiche Arbeitsmaterial mit den darin enthaltenen Lösungen der eigentliche Kritikpunkt. Selbst die vorliegende Aufgabe zur Populationsökologie beispielsweise der Streifenhörnchen bekäme einen anderen Anspruch, wenn das Arbeitsmaterial lediglich die Grafiken mit den Aufgabenstellungen ohne zusätzliches Informationsmaterial enthielte.
Die Aufgabenformate leiten sich aus den bekannten, in der alten Lernzieldebatte der siebziger Jahre entwickelten Anforderungsbereichen ab, wie der Reproduktion (»Beschreiben Sie zusammenfassend …«), des Transfers (»Vergleichen Sie … ») und der Kritik (»Analysieren Sie …«, »Erklären Sie …«). Hinzu treten nun die mit den Bildungsstandards geforderten höheren Fähigkeiten des eigenständigen »Entwickelns von Arbeitshypothesen zur Erkenntnisgewinnung, der darstellenden Kommunikation und der praktischen Bewertung«. Damit wird – nimmt man das wörtlich – ein hoher Anspruch an die Schüler formuliert. Schon das vermeintlich Einfache einer beschreibenden Zusammenfassung stellt eine beträchtliche Leistung dar, geht es doch um die Verdichtung eines Textes, die das Wesentliche bewahrt und es mit eigenen Worten ausdrückt. Erst recht ist das bei allen wirklich analytischen Tätigkeiten der Fall. Der Schüler soll erklären, was die Wissenschaft als Erkenntnis anbietet. Das geht nicht ohne das Verstehen der Sache. Dieser Anspruch wird dem Anschein nach mit den Bildungsstandards noch weiter gesteigert. Wenn Schüler solche Kompetenzen nachweisen sollen, müssten die Aufgabenformate dazu angetan sein, ihnen auch die selbständige Entwicklung von Hypothesen abzuverlangen. Die konkrete Aufgabenstellung sowie deren Rahmung und Füllung mit dem beiliegenden Material zeigen aber, dass keine Rede davon sein kann, dass die Schüler solche Fähigkeiten tatsächlich nachzuweisen haben. Es soll in Wirklichkeit nichts erklärt und analysiert, sondern immer nur reproduziert werden, was bereits im Text des Aufgabenmaterials steht. Die Rhetorik der Aufgaben und das umfangreiche Arbeitsmaterial wirken dabei auf den ersten Blick höchst anspruchsvoll. Dahinter verbirgt sich das Gegenteil: die Reduktion der Aufgabe auf einfachste Informationsentnahme. Die Aufgabe fordert nicht ein, was sie vorstellt. Eine solche Form der Kompetenzorientierung springt als Tiger und landet als Bettvorleger.
Gibt es auch Zentralabiturarbeiten mit einem akzeptablen fachlichen Niveau? Wie neueste Analysen von Zentralabituraufgaben im Fach Biologie aus Mecklenburg-Vorpommern zeigen, gibt es die tatsächlich. Mit Lesekompetenz ist dort kein Blumentopf zu gewinnen. Auf den ersten Blick sieht man, dass die Aufgaben bis zu 80 Prozent weniger Textmaterial enthalten, wie neuere Analysen eindeutig belegen.21 Außerdem sind die themenbereichsübergreifenden Aufgabenstellungen fachlich deutlich anspruchsvoller. 2012 beschäftigt sich die Aufgabenstellung auf erhöhtem Niveau in Mecklenburg-Vorpommern im Themenbereich »Biodiversität und Lebenserscheinungen im Meer« mit dem Thema »Ökologische Beziehungen und Stoffwechselaktivitäten bei Algen und Bakterien«.22 Schon allein vom Titel her ist dies ein anderes Kaliber als »See-Elefanten« oder »Rabenvogelstreit«. Solche Aufgabenstellungen mit Anteilen aus der Zell- und Stoffwechselbiologie sind nicht nur in NRW, Bremen und Hamburg strengstens untersagt. Nicht nur dort sind die Themenbereiche der Biologie meist auf drei Themen zusammengeschrumpft: Ökologie, Evolution und Genetik. Neurobiologie kam in Nordrhein-Westfalen in den letzten zehn Jahren nur zweimal vor. Bremen schießt den Vogel ab und verlangt in seinem Zentralabitur mit Ökologie und Genetik nur noch zwei Themengebiete von ursprünglich mindestens sechs. Hier liegen ganz offensichtlich Welten zwischen den jeweiligen fachlichen Anforderungen. Die grundlegenden Bereiche Zellbiologie und Stoffwechselbiologie sind in den meisten westlichen Bundesländern längst aus dem Kanon entfernt worden. Der Grund liegt auf der Hand: Ohne biochemische Kenntnisse sind diese Aufgaben nicht zu lösen. Das wiederum steht den angestrebten hohen Abiturientenquoten im Weg.
Betrachten wir nun die Aufgabe aus Mecklenburg-Vorpommern genauer. In der ersten Teilaufgabe muss der Schüler eine Pflanzenzelle zeichnen und mindestens sechs Zellbestandteile beschriften. Dazu erhält der Schüler kein Informationsmaterial. Entweder der Schüler kennt eine Pflanzenzelle und deren Bestandteile, oder er muss passen. Diese als Einstieg einzubringende Leistung entspricht dem korrekt angegebenen Anforderungsbereich I. In Teilaufgabe 2 wird vom Schüler eine Analyse einer Grafik verlangt, aus der ersichtlich ist, dass aufgrund der Sonneneinstrahlung und Temperaturerhöhung die Algenproduktion in den Sommermonaten höher ist. Er muss wissen oder aus dem Material schließen, dass Phosphate und Nitrate die dafür verantwortlichen Pflanzennährstoffe sind. Dies bekommt er keineswegs im Text vorgegeben. In Teilaufgabe 3 wird vom Schüler erwartet, dass er mindestens zwei ökologische Folgen benennt, die sich aus der Massenentwicklung von Algen ergeben. Informationsmaterial dazu, aus dem er die Antworten entnehmen könnte, gibt es wiederum keins. Teilaufgabe 4 hat nun allerhöchstes fachliches Niveau, und es ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass diese Frage in mindestens zehn von 15 Bundesländern von den dortigen Schülern nicht mehr beantwortet werden kann, weil derart grundlegende Fachinhalte aus dem Themenkanon sowohl der Qualifikationsstufe als auch aus dem Zentralabitur längst verbannt worden sind.
Der Schüler erhält im Material Experimente zum Ablauf der Photosynthese einer Algensuspension. Um die Aufgabe ohne irgendwelche Informationsvorgaben entsprechend dem Erwartungshorizont lösen zu können,23 muss der Schüler die biochemischen und molekularbiologischen Grundlagen der Photosynthese mit der Kopplung von lichtabhängigen und lichtunabhängigen Reaktionen komplett präsent und verstanden haben, ansonsten ist eine Anwendung auf die konkreten Versuche und deren Deutung nicht möglich. Hier sind zusätzlich prozessbezogene Kompetenzen auf der Basis von Fachinhalten zu erbringen.
Auch in Hessen gibt es den Themenbereich »Ökologie und Stoffwechselbiologie«, wodurch in jedem Fall ein anderes fachliches Niveau erreicht wird. Reine Populationsökologieaufgaben kommen auch dort nicht vor. Außerdem muss der Schüler zumindest in den ersten meist materialunabhängigen Teilfragen nachweisen, dass er fundierte Kenntnisse zum Thema als Wissensgrundlage mitbringt. Schaut man sich eine Aufgabe des Jahres 2015 aus diesem Bereich zum Thema »Stoffkreisläufe in mikrobiellen Matten« einmal näher an, lautet die erste Aufgabe: Beschreiben Sie den Ablauf der lichtabhängigen (nichtzyklischen) Reaktionen der Fotosynthese grüner Pflanzen. Das24 muss man wissen. Dazu gibt es kein Informationsmaterial. Da die weiteren Teilaufgaben sich weiterführend mit diesem Thema beschäftigen, ist der Nachweis von grundlegendem Fachwissen vonnöten. Auch der vom Schüler eingeforderte Vergleich mit den Stoffwechselvorgängen bei farblosen Schwefelbakterien weist fachlich ein hohes Anforderungsniveau auf und könnte niemals von Neuntklässlern bearbeitet werden.
Nicht nur in Hamburg, Berlin, Brandenburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen sind derartige Aufgabenstellungen mittlerweile unbekannt, da es dort nicht erlaubt ist, materialungebundenes Fachwissen beim Schüler vorauszusetzen. Der Einsatz der Aufgaben aus Mecklenburg-Vorpommern würde in diesen Ländern sofort den Sturm der Kultusministerien nach sich ziehen. Nicht, dass die Schüler in diesen Bundesländern weniger intelligent sind oder weniger können, man traut es ihnen nicht einmal mehr zu. Hohe Abiturquoten, Abiturdurchschnitts- oder -bestnoten oder gar das Bestehen der Prüfung insbesondere in Schulformen außerhalb des Gymnasiums wären unkalkulierbar. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass auch dort noch viele Lehrer die Schüler nach wie vor auf fachlich hohem Niveau unterrichten, wenngleich auch hier seitens der Praktiker Klagen über den von oben vorgegebenen fachlichen Niveauverlust in den letzten Jahren unüberhörbar geworden sind. Selbst Fachdezernenten, die für die Aufgaben letztlich zuständig sind, quittieren aufgrund dieser Nivellierung teilweise entmutigt den Dienst und lassen sich frühzeitig in den Ruhestand vesetzen, um dafür nicht mehr die Verantwortung tragen zu müssen. In diesen Ländern sind dann auch nicht die Lehrer schuld an derartigen Lesekompetenzaufgaben, die sie im Auftrag der vorgeschalteten Behörden erstellen müssen. Sie bekommen von dort strikte Vorgaben gemacht, wie die Aufgaben zu verfassen sind. Für die Erstellung der Aufgaben von 2017 haben gerade die entsprechenden Schulen umfangreiche Kriterien mitgeteilt bekommen, nach denen sich die Aufgabenstellungen zu richten haben. In Nordrhein-Westfalen wird dort explizit vorgeschrieben, dass selbst die reproduktiven Teile des Anforderungsbereichs I – also die fachlichen Grundlagen – keineswegs von den Schülern abverlangt werden dürfen, sondern immer aus dem Informationsmaterial zu erschließen sein müssen: Die Teilaufgaben haben direkten Materialbezug. Auch Reproduktionsaufgaben müssen sich auf das Material bzw. eine Materialvorgabe beziehen.25 Immerhin erhalten die Lehrer dort neuerdings den Hinweis, dass Lösungselemente in den Aufgabenstellungen oder Texten vermieden werden sollen.
Auch in Bayern können zell- und stoffwechselbiologische, neuro- und soziobiologische Themen sowie solche zu Genetik und Evolution vorkommen. In einigen Teilfragen tauchen in Bayern zumindest teilweise Sachfragen auf, die dem Material nicht zu entnehmen sind. So lautet beispielsweise eine Teilfrage zum Thema »Honigbienen« aus dem Zentralabitur von 2014 knapp: Die Honigbienen nutzen Honig als Wintervorrat. Beschreiben Sie ausgehend von Glucose die wichtigsten Schritte des aeroben Stoffabbaus und geben Sie an, wo diese in der Zelle lokalisiert sind.26 Das muss man wissen, Informationsmaterial gibt es dazu keins. Wie in Mecklenburg-Vorpommern kommt also auch hier eine Kombination von Ökologie und Stoffwechselbiologie mit einem deutlich höheren fachlichen Anspruchsniveau vor. Eine genaue Bewertung des Schwierigkeitsgrades ist leider nicht möglich, da Bayern trotz mehrfacher Bitten die Erwartungshorizonte zu seinen Zentralabituraufgaben nicht zur Verfügung gestellt hat. Wer die Aufgaben im Abitur in Bayern von der Zeit vor oder um die Jahrtausendwende noch kennt, weiß jedoch, dass es seit der Umstellung auf materialgebundene Aufgaben seit 2007 auch hier zu einem deutlichen Rückgang der fachlichen Anforderungen gekommen ist. Die bayerischen Abiturienten erhielten noch in den achtziger und neunziger Jahren zu Recht einen Bonus auf ihre Abiturnote gegenüber allen anderen Bundesländern.
Thüringen verwendet seit Jahren einen materialungebundenen und einen materialgebundenen Teil in der Zentralabiturprüfung und hat ebenfalls die Gebiete Zellbiologie, Stoffwechselbiologie und Neurobiologie regelmäßig mit im Programm. Aufgaben wie Fertigen Sie eine beschriftete Skizze eines Mitochondriums an. Erläutern Sie an einer Struktur dieses Organells den Zusammenhang zwischen Bau und Funktion aus der Abituraufgabe von 201427 dürfen in vielen alten Bundesländern ohne zusätzliche Informationsmaterialien so nicht mehr gestellt werden.
Die Aufgaben im Fach Biologie in Mecklenburg-Vorpommern sind nicht nur wegen ihres hohen fachlichen Anspruchs beispielhaft. Sie beinhalten immer auch fachübergreifende Fragestellungen sowie vom Schüler in der Abiturprüfung selbst durchzuführende Experimente, Letztere gibt es auch in Thüringen im Zentralabitur. Diese Art von anspruchsvollen Zentralabiturprüfungen und der dahinter zu vermutende Fachunterricht garantieren die notwendige Kohärenz mit dem Fach Biologie, wie es an der Universität betrieben wird. Lesekompetente Ostereiersuche ist dort unbekannt, und immer mehr Studierende in den ersten Semestern reiben sich verwundert die Augen, wenn sie sich gerade in den Bachelor-Studiengängen zuerst einmal das grundlegende Fachwissen aneignen müssen, das dann auch in den entsprechenden Prüfungen als Basis für ein sinnvolles Studieren nachzuweisen ist. Ganz im Gegensatz zu den beschriebenen Lesekompetenzaufgaben, die einen anderen fachunabhängigen Schwierigkeitsgrad besitzen, indem sie vom Schüler die möglichst schnelle Abarbeitung von bis zu fünf Seiten Material auf fachlich bedenklichem Niveau ähnlich einer Gebrauchsanweisung mit den stets gleichen Routineverfahren abverlangen. Die nachgewiesene Routinekompetenz ist eine reine Methodenkompetenz und benötigt beliebig gegeneinander austauschbare Inhalte nur als Beiwerk. Grundsätzlich trifft diese Entwicklung auch auf alle anderen Fächer zu. Das Fach Geschichte ist besonders davon betroffen.28
Derzeit werden die Zentralabituraufgaben für die Fächer Mathematik und Biologie von sieben Bundesländern analysiert. Daran beteiligt ist eine Gruppe von rund 25 Fachprofessoren und im Fach ausgewiesenen Fachdidaktikern und Fachlehrern, die ohne Forschungsauftrag und Forschungsgelder die Analysen in Eigenregie durchführt, die Ergebnisse könnten ja möglicherweise den eingeschlagenen Bildungsmainstream der Big Player OECD, Bertelsmann Stiftung, EU, BMBF und die empirische Bildungsforschung in Frage stellen. Wieso nur sieben Bundesländer? Man kann es sich schon denken. Eine freundliche Anfrage an alle Kultusministerien der Bundesländer mit der Bitte, die Zentralabituraufgaben und deren Erwartungshorizonte in digitaler Form für wissenschaftliche Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen, ergab in einer ersten Runde, dass nur ein einziges Bundesland bereit war, dieser Bitte direkt nachzukommen (Mecklenburg-Vorpommern). Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat ihren Mitgliedern empfohlen, lediglich die Aufgabenstellungen, nicht aber die Erwartungshorizonte verfügbar zu machen. Das KMK-Schreiben lautet wie folgt:29
Die Ministerien haben sich darauf verständigt, dass sie Ihnen die Abituraufgaben – soweit dies mit vertretbarem Aufwand leistbar und in den Ländern rechtlich zulässig ist – übermitteln werden. Von einer Übermittlung der Erwartungshorizonte und Bewertungshinweise wird dabei abgesehen. Aufgrund von verschiedenen Kontextvariablen in den Ländern kann ein formaler Vergleich dieser Erwartungshorizonte und Bewertungshinweise nicht zu validen Ergebnissen führen. So geben z. B. einige Länder für die Abiturprüfung keine normativen Erwartungshorizonte heraus, sondern Lösungshinweise, die nur eine grundsätzliche Orientierung bieten und die große Breite an Möglichkeiten von Antworten in der Abiturprüfung nicht abbilden können.
Man kann sich leicht vorstellen, dass eine fachliche Analyse der Aufgabenstellung zu keinen validen Ergebnissen führt, wenn man die Erwartungshorizonte nicht kennt. Darüber hinaus scheint Deutschland inzwischen außerordentlich forschungskompetente Kultusminister und Ministerialbeamte zu haben, die offensichtlich in der Lage sind, darüber zu befinden, welche Forschung Sinn ergibt und welche nicht. Das war längst nicht immer so. Einst konnten Professoren einmal selbst entscheiden, woran sie denn forschen wollten, und das war ihr Alleinstellungsmerkmal. Genau deshalb hatte man sie ja seinerzeit zu Professoren berufen.
Nach einem erneuten Schreiben mit Hinweis auf das Informationsfreiheitsgesetz und einem zu befürchtenden Druck durch Teile der Presse haben dann immerhin sechs weitere Kultusministerien eingelenkt, neben den Aufgabenstellungen auch die Erwartungshorizonte zu liefern: Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Thüringen. Die restlichen Bundesländer haben entweder gar nichts (Berlin, Saarland, Bremen, Sachsen) oder nur die Aufgaben geliefert (Bayern, Brandenburg, Niedersachsen). Baden-Württemberg hat nach langem Hin und Her die Aufgaben freundlicherweise in Papierform in einem Riesenpaket – ohne Erwartungshorizonte – zur Verfügung gestellt. Letzteres erleichtert vergleichende Analysen mit ansonsten digitalem Material ganz erheblich. Einige Länder haben sehr kreative Lösungen vorgeschlagen. Für das Bundesland Sachsen wurde folgendes mitgeteilt:30
Die von Ihnen gewünschten Abituraufgaben der Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch, Latein, Biologie, Geschichte und Geographie der letzten zehn Jahre können Ihnen in Form von pdf-Dateien zur Verfügung gestellt werden. Dazu ist seitens des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus (SMK) vorgesehen, in einer Nutzungsvereinbarung Nutzungszweck und Personenkreis der Nutzer näher zu bestimmen und die Erstattung notwendiger Auslagen zu vereinbaren. Nach Ihrer Zustimmung können wir Ihnen die gewünschten Aufgaben im Monat September zukommen lassen. Grundlage für die vorgesehene Höhe der Auslagenerstattung ist: 9. Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums der Finanzen über die Bestimmung der Verwaltungsgebühren und Auslagen (Neuntes Sächsisches Kostenverzeichnis – 9. SächsKVZ), Anlage 6 zu § 1 Nr. 4, Schreibauslagen nach § 13 Sächs VwKG, Tarifstelle 2. Ausfertigung und Abschrift in elektronischer Form 2,50 € je Datei. Die Pauschale von 2,50 € bezieht sich auf eine pdf-Datei pro Fach und Anforderungsniveau (Grundkursfach oder Leistungskursfach) in einem Jahr.
Die Bremer Senatorin für Kinder und Bildung bevorzugt eine andere innovative Lösung:31
In Ihrem Schreiben äußern Sie ein Interesse an Lehrerhandreichungen und Erwartungshorizonten und berufen sich gleichzeitig auf das Informationsfreiheitsgesetz. Ich bitte daher, auch um ein Missverständnis auszuschließen, zunächst um Mitteilung, ob ich Ihr Schreiben als Antrag auf Bescheidung gemäß § 7 Absatz 1 Bremer Informationsfreiheitsgesetz (BremIFG) werten soll, und erlaube mir in diesem Zusammenhang den Hinweis, dass ein solcher Bescheid unter Umständen gebührenpflichtig wäre. Falls Sie einen solchen Antrag stellen möchten, würde ich Sie zudem bitten, Ihren Antrag gemäß § 7 Absatz 1 Satz 2 BremIFG hinreichend bestimmt zu fassen, da ich nur so Ihren Antrag sachgerecht bearbeiten kann. Erst wenn Ihr konkretisierter Antrag vorliegt, kann ich im Detail prüfen, ob einem Auskunftsanspruch Ausschlussgründe oder Rechte Dritter (z. B. wegen des Schutzes geistigen Eigentums gemäß § 6 BremIFG) entgegenstehen. Nur der Vollständigkeit halber verweise ich in diesem Zusammenhang bereits jetzt auf § 8 BremIFG, danach ist in jedem Fall bei Beteiligung Dritter diesen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben und eine etwaige dem Antrag auf Informationszugang stattgegebene Entscheidung ist ihnen später auch bekannt zu geben. Erst wenn die Entscheidung dem oder den Dritten gegenüber bestandskräftig geworden ist oder die sofortige Vollziehung angeordnet worden ist und seit der Bekanntgabe der Anordnung zwei Wochen verstrichen sind, könnte dann der Informationszugang gewährt werden.
Selbstverständlich war auch Berlin nicht dazu bereit, die erbetenen Unterlagen für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung zu stellen. Man bittet freundlich um Überlassung der bereits geschriebenen Zentralabiturarbeiten und der Lehrerhandreichungen, die für nichts mehr benutzt und auch nicht mehr eingesetzt werden, und scheint in ein Wespennest getreten zu sein. Auch NRW hatte bei der Publikation der Streifenhörnchen-Experimente mit Neuntklässlern mögliche Zitierungen aus dem mit Passwort geschützten Bereich des Ministeriums untersagt, mit dem aufschlussreichen Hinweis, dass man an derartigen Untersuchungen durchaus interessiert sei. Bedingung dafür wäre aber, vorher im Gespräch die Vorgehensweise und vor allem auch die Handhabung der Ergebnisse abzusprechen.32 Auch das ist nichts Neues, selbsterfüllende Prophezeiungen sind im drittmittelgesteuerten Forschungsbetrieb unter Berücksichtigung der Interessenlage der Auftraggeber auch im Hochschulbereich längst gängige Praxis. Jedenfalls scheint sich die Überlassung von Zentralabiturarbeiten und den Lösungsvorschlägen auf offiziellem Wege noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuzögern. Das »Handelsblatt« titulierte die generelle Verweigerungshaltung der Bundesländer zur Veröffentlichung ihnen anscheinend unliebsamer Daten zu Recht als »Kartell der Verblödung«. Anscheinend sei es den Politikern egal, wenn man auf das Bildungsniveau von Mexiko zurückfalle, so die Autorin.33
Nach den derzeitigen, noch längst nicht abgeschlossenen Analysen scheint sich eine sicherlich wenig überraschende Tendenz anzuzeigen: Je fachlich anspruchsvoller die Zentralabiturarbeiten, desto geringer die Abiturientenquote in den entsprechenden Bundesländern, wobei berücksichtigt werden muss, dass aufgrund unterschiedlicher Regelungen in den einzelnen Bundesländern die Zentralabituraufgaben nur zwischen 24 und 32 Prozent der gesamten Abiturnote ausmachen. Der deutlich überwiegende Anteil stammt aus den Vornoten der Qualifikationsphase und der mündlichen Abiturprüfung. Ganz offensichtlich scheinen aber auch diese Noten in direkter Korrelation zu den Ergebnissen der Lesekompetenzaufgaben im Zentralabitur von den gleichen Bundesländern ebenfalls auf teilweise deutlich erhöhtem Niveau verteilt zu werden. Betrachtet man die Ergebnisse der Zentralabiturarbeiten im Vergleich zu den Ergebnissen vor ihrer Einführung, stellt man fest, dass die Noten nicht nur im Fach Biologie durchweg besser geworden sind. Die Notenstufe »Ungenügend« wird gar nicht, die Note »Mangelhaft« nur noch in wenigen Ausnahmefällen vergeben (Blackout des Prüflings unter anderen). Den Einser-, Zweier- und Dreierbereich erreichten bereits im Zentralabitur 2009 landesweit an Gymnasien in NRW über 90 Prozent der Schüler, an vielen Gymnasien sind es 100 Prozent, für Gesamtschulen und Gymnasien zusammen immerhin noch 80 Prozent (diese Daten werden in Nordrhein-Westfalen den Schulen im passwortgeschützten Rückmeldungsbereich zur Verfügung gestellt). Die Zahl der Bestnoten in den Zentralabiturarbeiten (14 und 15 Punkte) nimmt dagegen überraschenderweise ab. Eine Befragung von sehr guten Schülern liefert dafür die Erklärung. Sie können einfach nicht glauben, dass die im Arbeitsmaterial bereits vorgegebenen Informationen für die Beantwortung ausreichen. Die sehr guten Schüler wiederholen sie nicht, sondern vermeiden Redundanzen, in der Folge fehlen ihnen Punkte. Eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der Thematik verwehrt die Aufgabenstellung oder fließt in die Bewertung aufgrund des genau formulierten Erwartungshorizontes kaum ein. Ein wiederholendes Variieren der Informationen aus den Texten reicht aus, von einem wissenschaftspropädeutischen Anspruch findet sich kaum noch eine Spur. Der kritische Blick in die Aufgaben zeigt eindeutig: Es findet eine Nivellierung der Ansprüche statt, die Scheitern weitgehend ausschließt, aber auch Leistungen nicht mehr herausfordert.