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Kapitel 2. Rückblick: Nach dem grossen Beben

1.

In den Monaten vor ihrem Zusammenbruch hatte Théra keine Zeit gehabt, um an sich selbst zu denken.

Erst war da dieses gewaltige Erdbeben, das ihre kleine Stadt erschütterte. Direkt im Anschluß ereignete sich dieser Vulkanausbruch, dessen pyroplastische Wolke die halbe Hochebene verbrannte. Die kleine Stadt, in der Théra mit ihrer Familie lebte, wurde nur einen glücklichen Umstand verschont. Fallwinde hatten diese Wolke in unbewohntes Gebiet gelenkt. Die einzige Verbindungsstraße zwischen der regionalen Haupstadt Cusco und ihrer kleinen Stadt Théluan war auf eine Breite von 1,5 Kilometern durch eine gewaltige Schlamm- und Gerölllawine verschüttet worden. Der ganze Abhang war ins Rutschen gekommen. Man hatte schweres Räumgerät einsetzen müssen, und man hatte die Strasse in diesem Abschnitt völlig neu bauen müssen, um die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln und Baumaterialien auf dem Landweg sicher stellen zu können. Lufttransporte mit Hubschraubern konnten nur die anfängliche Hilfe sicherstellen. Schon das war eine gewaltige logistische Meisterleistung.

Die Katastrophe hatte in der Region viele Menschenleben gekostet. In ihrer kleinen Stadt war nur durch Théras Gespür und Papas entschlossenes Eingreifen das Schlimmste verhütet worden. Der Staudamm war durch das Beben gerissen, doch der See war bereits vorher abgelassen worden. Die erdbebensicheren Wohnbauten von Théras Indioviertel hatten dem gewaltigen Beben widerstanden. Mehrere Hochhäuser, Banken, Einkaufsmärkte und viele Gebäude im Villenviertel waren allerdings eingestürzt. Die wirtschaftlichen Schäden in der Stadt waren immens. 350 Menschen waren allein in Théluan umgekommen. Auch die einzige Brücke über den Fluss war zusammengebrochen.

Viel schlimmer hatte es die Weltkulturerbe-Stadt Cusco getroffen, die auf der abgewandten Seite des Epizentrums lag. Dort waren über 15.000 Menschen gestorben. Eine ganze 350.000-Einwohner-Stadt war jetzt ohne ein Dach über dem Kopf, ohne Wasser und ohne Nahrung. Es war schlimmer, wie die Auswirkungen nach einem Flächenbombardement.

Théra hatte sich unmittelbar nach dem Ausbruch des Vulkans mit ihrer „zweiten Mutter“ Laura in Berlin kurzgeschlossen. Laura hatte als Geschäftsführerin der mächtigen „Stiftung zur Förderung unentdeckter Talente“ die nötigen Verbindungen, um eine weltweite Hilfsaktion zu starten. Während Papa in Peru die nationale Hilfe auf den Weg brachte, waren Théra und Laura in Berlin damit beschäftigt, die internationale Hilfe zu organisieren, soweit sie das konnten. Théras zweite Mutter Laura hatte sofort alle ihre Musikerfreunde um Mithilfe gebeten. Sie setzte sich mit dem Roten Kreuz, dem Technischen Hilfswerk, dem Fernsehen und mit politischen Organisationen zusammen.

Eine große Hilfe war die Unterstützung durch Théras Tante Fatima und die Hilfe von Théras Halbbruder Jens Faruk gewesen. Er hatte die Idee, dieses Lied zu komponieren, das in den Folgewochen überall auf der Welt zum Symbol für die Zerstörung und den dringenden Wiederaufbau der Region wurde, und alleine in den ersten zwei Wochen der Kampagne über 100 Millionen Euro in die Kassen des Hilfsfonds spülte.

Théra selbst war schon zwei Tage später wieder nach Peru zurückgekehrt. Dort hatte sie sich der Öffentlichkeitsarbeit gewidmet. Sie war zu diesem Zeitpunkt erst dreizehn Jahre alt, aber sie hatte diese besondere Gabe, um Menschen zu überzeugen. Sie trat im Fernsehen auf, sie sprach mit Zeitungen und dem Rundfunk. Sie holte ihre Schwester Clara zu Hilfe, die mit ihren blonden Locken und ihren blauen Augen in die Fernsehkameras weinte, und dann den Menschen Mut zusprach. Théra war in ihrer Familie nicht das einzige Ausnahmetalent.

Die blonde Clara hatte einen unglaublichen Erfolg bei den Menschen. Überall in Peru und in den Nachbaarstaaten wurde jetzt Hilfe organisiert. Viele Indios und viele Weisse schlossen sich zu einer wahren Bewegung für den Wiederaufbau zusammen. Cusco und Théluan waren immerhin nationale Kulturdenkmäler von internationalem Rang, und Cusco war darüberhinaus Provinzhauptstadt mit einer bis dato immensen wirtschaftlichen und religiösen Bedeutung.

Vor Ort waren eigentlich Théras Vater und ihr jüngerer Bruder Pesa die Initiatoren dieser Bewegung gewesen. Théra organisierte zunächst „nur“ die Öffentlichkeitsarbeit.

Die Stiftung erhielt das Privileg zur Verteilung der Hilfsgelder. Papa hatte Gelder für den Wiederaufbau von tatkräftiger Mithilfe abhängig gemacht. Keine Agonie, hatte er gefordert. “Spuckt in die Hande, packt an. Ihr könnt weinen, das Recht zur Trauer steht euch zu, aber ihr könnt auch arbeiten. Tut etwas für eure Zukunft.”

Théra und Clara baten über Fernsehen und Rundfunk überall um Mithilfe. So entstand eine regelrechte Euphorie des Wiederaufbaus.

Théras kleiner Bruder Pesa bewies sich als Praktiker und Organisator. Er und seine Indios aus der Siedlung, die in den letzten zwei Jahren so viel Spaß an Architektur und an Bauprojekten entwickelt hatten, organisierten die Hilfe vor Ort. Sie machten sich ihre Erfahrung zunutze.

Für alles, was das Bauen und Organisieren anbetraf, hatte der erst 10 Jahre alte Pesa ein unglaubliches Talent. Er hatte nicht die Fachkenntnis eines Ingenieurs, aber er war überzeugend und konnte Aufgaben zuteilen. Er hatte das richtige Gespür dafür, wer an welchem Platz gerade gebraucht wurde, denn auch er verfügte bereits über die geheimen Kräfte der Familie, wenn auch auf etwas anderen Gebieten als Théra und Clara.

Pesa wuchs in diese selbstgewählte Aufgabe regelrecht hinein. Er und seine vielen Freunde aus der Indiosiedlung sprachen sich für einen erdbensicheren Wiederaufbau aus. Sie halfen, wo sie konnten, durch eigene tatkräftige Mitarbeit, vor allem aber durch die Organisation der Hilfe durch andere. Die Bevölkerung der Region hatte bald einen eigenen Namen für sie gefunden: „Die Bau-Kids“. Nun ja. Eigentlich nannte man sie auf spanisch voller Hochachtung die „Grupo architectura del kids“.

Es war ein Phänomen. Die indianischen Kids im Alter zwischen sechs und achtzehn waren wie eine eingeschworene Gemeinschaft. Ihre Energie und ihre Fröhlichkeit wirkte ansteckend. Sie organisierten Lastwagen und Baumaterialien. Sie sprachen mit Hausbesitzern und Banken. Sie redeten mit den Obersten der Hubschrauberbrigaden und der Bodentruppen. Sie überzeugten Baufirmen und Handwerker. Wenn sich Widerstand zeigte, blieben sie freundlich, aber sie waren hartnäckig wie die Schmeißfliegen. Sie sprachen immer wieder vor, und sie hatten stets neue überzeugende Ideen.

Sie gingen mit Mauleseln und Werkzeugen hinauf auf die Hochebene und halfen den Indios beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser. Sie sprachen mit wohnungslos gewordenen Menschen. Sie redeten mit Jugendlichen, die nach den ersten Zerstörungen in Cusco angefangen hatten Leichen zu fleddern und in den Trümmern der Häuser zu wühlen, um zu plündern. Sie überzeugten diese Jugendlichen, beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Sie setzten sich dafür ein, dass straffällig gewordene und von der Polizei aufgegriffene Jugendliche verschont wurden, wenn sie soziales Engagement zeigen. Sie initiierten in der zerstörten Stadt Cusco weitere solcher Hilfsgruppen aus Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Im Südosten Perus entstand eine aktive indianische Bewegung, die sich nicht nur um zivile Projekte und die Infrastruktur kümmerte, sondern eben auch für die notwendigen Reparaturen an den antiken indianischen Kultstätten. Es ging nicht nur um Wohnungen, Decken und Essen, es ging auch um die Bewahrung der historisch gewachsenen Kultur eines ganzen Kontinents. Plötzlich begann man das indianische Erbe der Inkas in Cusco und der Thé Krieger in Théluan ganz neu zu definieren. Dieses historische Erbe war es, was dieses Land so einmalig machte. Man konnte sogar von der Wiege der südamerikanischen Kultur sprechen. Die Zeugnisse dieser Hochkulturen durften nicht untergehen.

Die Schulen in der kleinen Stadt Théluan waren während des Bebens zum großen Teil zerstört worden. Während professionelle Baufirmen die Schulen wiederaufbauten (Gesetze und Verordnungen verboten es den Kids, dort mitzuhelfen), hatten die Lehrer die Schule unter Zeltdächern ins Freie verlegt. Einige von Ihnen hatten beschlossen, die Bau-Kids auf die Hochebenen und nach Cusco zu begleiten. Allen voran die neu eingestellten Polytechnik-Lehrer und die Betreuer aus der Indiosiedlung.

Auch in Cusco entstand ein völlig neues Lernsystem. Die Lehrer halfen den Kids bei ihrer Arbeit. Sie lebten mit ihnen zusammen in Zeltstädten und organisierten Verpflegung oder Transportmittel. Einmal am Tag zogen sich alle zurück und lernten gemeinsam. Bald nahmen auch die Kids aus Cusco daran teil. Sie besprachen Bauprojekte und lernten Pläne lesen. Sie lernten schreiben und rechnen an konkreten Projekten.

Weil die Gebäude der Stadt weitgehend zerstört oder einsturzgefährdet waren, entwickelten sich die mobilen Schulen unter freiem Himmel. Anderswo gibt es so etwas wie Projektunterricht. Dies hier war ein Lernen direkt im Alltag und unter den Bedingungen der durch das Erdbeben zerstörten Region.

In Cusco gab es fast nichts mehr. Kein Wasser, keine Nahrung, kein Haus, keine Matratze und an Kleidung nur das, was man auf dem Leib trug. Alles, was man zum Leben brauchte, musste erst einmal organisiert werden.

Es gab Berge von Schutt. Hunderte Verschüttete mussten mit Spürhunden mühsam aufgefunden werden. Tausende von Leichen mussten begraben, und die drohende Cholera-Gefahr musste gebannt werden. Der Ministerpräsident verhängte kurzerhand den Ausnahmezustand über die Region und erließ in Cusco ein nächtliches Ausgehverbot, das nur für Hilfskräfte mit Passierschein aufgehoben wurde. Wie gut, dass er das Militär in Bewegung gesetzt hatte. Ohne die Hubschrauber, die Lastwagen, das schwere Räumgerät und die disziplierte Hilfe des Militärs hätten die Überlebenden und Verletzten das nie geschafft. Théra hatte das alles hautnah erlebt.

Besser war das in Théras kleiner Stadt Théluan. Dort hatte das Militär unter der Leitung des Kathastrophenschutzes von Anfang an alles im Griff. Die Indianische Mehrheit der Stadt organisierte unter der Führung durch Théras Mutter eine flächendeckende Hilfe. Sauberes Wasser hatten sie genug, und ärztliche Hilfe wurde in eilig aufgebauten Zelten garantiert, die Théras Mutter Alanque zusammen mit einem Team aus Ärzten und Sanitätern aus Deutschland einfliegen ließ.

Aus dem Ausland trafen bald weitere Hilfsgüter und Spezialisten ein. Kleidung und Schuhe, Zelte, Decken, Suppenküchen, Wasseraufbereitungsanlagen, Medikamente, Stromgeneratoren, Säcke mit Mehl, Bohnen und Reis, Sanitäter, Ingenieure, Katasthrophenhelfer und Ärzte.

Die Baukids hatten viel zu tun. Zusammen mit dem Militär waren sie bei der gesamten Hilfe federführend. Auch das war nur möglich, weil sich der Ministerpräsident für diese Gruppe und den Wiederaufbau einsetzte. Er besprach sich mit seinen militärischen Beratern. Der Großteil des Wiederaufbaus würde zwar durch Pioniereinheiten, Baufirmen und professionelle zivile Gruppen erfolgen, die dem Kathastrophenschutz unter Théras Vater Dennis unterstellt wurden, aber die Hilfe der Baukids war so etwas wie die Seele des Wiederaufbaus.

Die Mithilfe der betroffenen Bevölkerung war mindestens genauso wichtig. „Wir wollen hier kein Gefühl von Hoffnungslosigkeit“, verkündete der Ministerpräsident über den Rundfunk. „Wir brauchen jeden, der zwei Arme und zwei Beine hat, um zu helfen“. Der Ministerpräsident war ein gewiefter Taktiker. Er würde gewinnen, wenn er sich als populärer Präsident des Volkes bewies und eine Vorbildfunktion einnahm. Er traf mit seiner Beschwörung mitten in die Volksseele. Er fand Unterstützung bei der Landeskirche. In Cusco waren auch alle Kirchen und das Kloster zerstört worden, wie schon in den Jahren 1650 und 1950 zuvor. Diesmal war aber alles anders, denn Théras Vater organisierte mit Billigung des Präsidenten die Hilfe mit Weitblick und Zivilcourage.

In der Schule der Kids gehörten Ausdruck und Sprachgewandtheit zum Unterricht. Man musste mit Erwachsenen verhandeln, sie um Mithilfe bitten, oder sie freundlich überreden. Es gab viele soziale Projekte, wie die Versorgung von Kranken und die Betreuung von Kindern, die bei dem Beben ihre Eltern verloren hatten.

Viele der Indiomädchen aus Théras Viertel hatten sich dieser Gruppe spontan angeschlossen. Sie gingen in die zerstörten Krankenhäuser und sie organisierten Kinderbetreuung unter freiem Himmel. Sie gingen zu überlebenden Indios und weißen Schülern, brachten sie dazu, eigene soziale Gruppen zu bilden und hielten die Kommunikationsverbindungen aufrecht.

Man brauchte für diese Aufgaben in Cusco viel neues Wissen. Die Lehrer lernten in dieser Zeit mindestens genauso viel, wie die Schüler. Es war eine gewaltige Zweckgemeinschaft.

Théras Onkel, der Ministerpräsident des Landes, hatte in einer öffentlichen Ansprache an die Solidargemeinschaft aller Peruaner appelliert. Er hatte um jede erdenkliche Hilfe gebeten. „Manchmal müssen wir die bürokratischen Hürden überwinden, wenn schnelle Hilfe geboten ist“, hatte der Ministerpräsident gefordert. Das war natürlich auch eine indirekte Aufforderung an alle Abzocker, sich da jetzt einzumischen (auch wenn der Ministerpräsident das so nicht wollte), aber Dennis war sehr rigide, um unberechtigte Ansprüche abzuwehren, und die Schar der Krisengewinnler möglichst klein zu halten. Ganz war der organisierte Betrug in dieser Situation allerdings nicht zu verhindern, zumindest nicht in Cusco.

Während Théras Vater Dennis und viele Helfer die Hilfe in Cusco mit Absicherung durch das Militär organisierten, hatte Théras Mutter Alanque die Aufgabe übernommen, den Wiederaufbau in Théluan zu überwachen. Als Leiterin der Ausgrabung und als Direktoriumsmitglied der Stiftung besaß sie die nötige Position, um sich Gehör zu verschaffen. Dennis schlug sie als stellvertretende Leiterin des Katastophenschutzes vor. Alanque hatte längst einen guten Draht zum Ministerpräsidenten des Landes, und der hatte bestimmt: „Sie organisieren das jetzt. Ich weiß, Sie können das. Wenn es Probleme gibt, dann rufen Sie mich an. Auch die Pioniere und der zuständige Oberst in Ihrer Stadt werden Ihnen unterstellt. Sie haben die zivile Leitung für den Wiederaufbau in Théluan und die Versorgung der Menschen mit Trinkwasser und Nahrung. Die Stadt ist unser wichtigstes Aushängeschild für die Weltöffentlichkeit. Machen Sie was aus der Situation.“

Der Oberst der ursprünglich zum Schutz der Ausgrabung bestellten Brigade arbeitete seit Jahren vertrauensvoll mit Théras Mutter zusammen. Alanque bildete aus ihren indianischen Arbeitern zwei Gruppen. Eine musste die Schäden in den freigelegten Arealen der historischen Ausgrabung begutachten und beheben, die andere wurde eingesetzt, um in der Stadt mit anzupacken.

Schnell hatten die Zeitungen und das Fernsehen des Landes dieses Théma aufgegriffen und sie berichteten mit bewegenden Bildern über diese tatkräftige Jugendgruppe aus Buben und Mädchen, die Zerstörungen und den Wiederaufbau. Aus New York kamen etliche Vertreter der UNESCO angereist, um sich die Zerstörungen am Weltkulturerbe in Cusco und Théluan anzusehen. Sie waren so beeindruckt von der Arbeit der „Grupo Architectura del Kids“, dass sie für den sachgerechten Wiederaufbau der Weltkulturstätten sofort eine Summe von zwei Millionen Dollar auftrieben, obwohl die Kassen ziemlich leer waren.

Viele Architektur- und Ingenieurstudenten schlossen sich Pesas und Alanques Gruppe an. Die freiwillige Arbeit wurde ihnen in ihrem Studium als Praktikum anerkannt. Lehrerstudenten, Schwesternschülerinnen und andere konnten ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, das ihrer Ausbildung gutgeschrieben wurde und sich in den Zeugnissen positiv niederschlagen würde. Die schwere Winterarbeit würde sogar doppelt honoriert werden. Der Ministerpräsident hatte sich eigenhändig dafür eingesetzt.

Die „Grupo Architectura del Kids“ war schon lange keine ethnische Gruppe von Indios mehr. Viele weiße Jungen und Mädchen waren jetzt Teil dieser Bewegung für den nationalen Wiederaufbau Südost-Perus, wie das in den Zeitungen genannt wurde.

Über den Winter würden viele Arbeiten klimabedingt weitgehend eingestellt werden müssen. Dann begann die wirklich harte Arbeit um das langfristige Überleben der obdachlos gewordenen Menschen. Im Frühjahr würde Pesas Organisation diese erfolgreiche Projektarbeit dann fortsetzen.

Auch in der kleinen Stadt Théluan würde die Schule in Zukunft nicht mehr das sein, was sie einmal war. Diese Erfahrungen der Schüler waren Gold wert, und die Lehrer nahmen sich vor, die gemeinsamen Erfahrungen über den Winter in einem Buch zusammenzufassen, um das „Lernen im Projekt“ - wie sie das nannten, als Idee für andere Schulen anzuregen.

Viele obdachlose Kinder aus Cusco wurden über den Winter von Familien in Théluan aufgenommen. Die Siedlung der Indios wuchs schlagartig um 800 Kinder und Jugendliche an. Jede Familie nahm mindestes ein Kind auf, damit es ein Dach über dem Kopf hatte. Eine wahre Herausforderung für Eltern, Lehrer und Schüler.

2.

All das hatte auch einige Unruhe im Land ausgelöst. Die Indios fanden plötzlich Gehör. Der Ministerpräsident setzte sich für sie ein. Man sprach über die soziale Lage. Die Fernsehsender verbreiteten immer wieder eine indianerfreundliche Stimmung, ja Bewunderung. Das war nicht normal.

Die Weißen beherrschten in Peru das politische und wirtschaftliche Geschehen. Nicht alle spanischstämmigen Weißen waren mit dieser Entwicklung einverstanden. Es gab wichtige Männer und Frauen, für die Indios immer noch als „unwertes Leben“ galten, oder jedenfalls als Volk, das der herrschenden weißen Kaste an Intelligenz und Machtstreben weit unterlegen war. Indios konnte man benutzen. Sie leisteten Garten- und Hausarbeit, man konnte sie in die Bergwerke schicken und körperlich gefährliche Arbeiten verrichten lassen, und man konnte ihnen den Job jederzeit wieder wegnehmen. Die Indios machten das Geldverdienen einfacher, solange sie keine politische Stimme und keine Interessenvertretung hatten. Es hatte in der Vergangenheit sogar Zwangssterilisationen gegeben, um diese Bevölkerungsgruppe zu dezimieren.

Man wollte Schürfrechte und Land, aber man wollte den Indios nichts für die Nutzung ihres Landes zahlen, für das es nicht einmal eingetragene Rechte gab, sondern nur einen historischen Anspruch, der nicht einmal in den Grundbüchern stand. Dann war jedoch diese historische Stadt entdeckt worden, und die Großgrundbesitzer hatten nicht einmal die Möglichkeit gehabt, sich daran privat zu bereichern, weil die Stiftung von Théras Eltern dort alles kontrollierte und für eine vertragliche und gerechte Verteilung der Funde zwischen den Staaten Peru, Bolivien und der beteiligten Stiftung aus Berlin sorgte.

An solchen Katastrophen wie diesem Erdbeben konnte man viel Geld verdienen. Hilfgelder konnten unterschlagen werden. Man konnte überteuerte Serviceleistungen berechnen, man konnte minderwertige Baumaterialien verwenden und teuer verkaufen. An so einem Unglück konnte man mit etwas Geschick sehr reich werden. Leider machte ihnen der Ministerpräsident einen Strich durch die Rechnung. Das Militär hatte strikte Anweisungen. Fast alle Hilfsgelder liefen über diese Stiftung in Théluan und an diesen Direktor der Stiftung (Théras Vater Dennis) war nicht ranzukommen. Er galt als unbestechlich. Jedes einzelne Angebot und jede Rechnung wurde genau geprüft und die Arbeit und die Zusammensetzung der Baumaterialien wurde überwacht. Deutsche Gründlichkeit mochte ja etwas Positives sein, aber in dieser Konstellation fand man das als lästig.

Der Ministerpräsident des Landes war der führende Kopf der konservativen Partei, aber der gegenwärtige Kurs des Ministerpräsidenten war ihnen zu indianerfreundlich. Er kollidierte mit den egoistischen Gewinninteressen einiger wichter Familien. Eine konservative Volkspartei zu sein, bedeutet ja nun nicht, dass man auch eine Politik für die Indios in diesem Land machen musste. Jedenfalls konnte man doch nicht von der weißen Elite verlangen, dass sie ihre ererbten Privilegien der ungezügelten Bereicherung einschränken oder gar aufgeben müssten. Der Ministerpräsident stellte jetzt offensichtlich einige ihrer innersten Werte auf den Kopf, auch wenn sie sachlich noch nie zu rechtfertigen gewesen waren.

Einige dieser Familien hatten sich in Théluan sogar Grundbesitz gesichert. Sie hatten von dem Bauboom profitiert, manche als Makler oder als Finanzdienstleister, aber sie hatten in den letzten Jahren auch zusehen müssen, wie die Indios in dieser kleinen Stadt immer selbstbewusster wurden. Da musste man gegensteuern. Man wollte die Ausgrabung der „Heiligen Stadt“ in Théluan nicht unbedingt behindern. Sie lieferte ungeheuer viel Geld in die Staatskasse, aber die Familien wollten an diesem Ausgrabungsboom kräftig mitverdienen. Es gab da viele potenzielle Möglichkeiten, wie Leiharbeit, Unterschlagung oder auch Diebstahl. Nur blöd, dass diese Stiftung von Dennis ein Machtfaktor war, an dem man in Théluan nicht vorbeikam. Diese Stiftung musste aus der Sicht dieser Leute eine andere politische Richtung bekommen. Dieser Dennis und diese Leiterin der Ausgrabung, diese Indianerin Alanque mussten weg. Man hatte bereits mehrfach versucht, sie zu verunglimpfen, indem man ihnen Unsauberkeiten in der Abrechnung und illegale persönliche Bereicherung vorwarf, aber das hatte nichts geholfen. Aus dem Nachbarland Bolivien (einem Land, das von der Beteiligung an der Ausgrabung in Théluan genauso profitierte, wie Peru selbst) hatte es lautstarke Proteste gegeben. Der peruanische Präsident hatte sich durch die Vorwürfe aus dem eigenen Land sogar angegriffen gefühlt, und er hatte diese Unterstellungen schließlich unterbunden. Dem Landesrechnungsamt lagen Beweise vor, dass die Stiftung korrekt abrechnete.

Dieser Präsident hatte sich in den Augen dieser Ultrakonservativen zu weit aus dem Fenster gelehnt. Er war nicht mehr tragbar. Auch er musste weg.

Während der Wiederaufbau organisiert wurde, entstand eine wirklich gefährliche politische Bewegung. Sie war anfangs zahlenmäßig relativ klein, aber sie war mächtig, weil sie viel altes Geld vertrat. Es gab immer mehr Minister, hohe Beamte, Militärs, Polizisten, Richter, Journalisten und Fernsehleute, die jetzt den heimlichen Widerstand gegen diesen Ministerpräsidenten und gegen Dennis Stiftung organisierten. Popularität hin, Popularität her. Diese Art von Volkstümlichkeit wollten sie nicht mehr länger dulden.

Alles war schlimmer geworden mit dieser unseligen Heirat zwischen Sofia (der Tochter des Ministerpräsidenten) und diesem Mischling, diesem Para, der als Sohn von Dennis galt. Das war ein falsches Signal gewesen. Mochte der noch so geschickte Hände mit der Zucht und mit der Heilung von Pferden haben. Man hätte das verhindern müssen.

Ein Putsch dieser Ultrakonservativen hätte zu diesem Zeitpunkt diese ganze Solidargemeinschaft in Théras Tal in ernste Schwierigkeiten gebracht und nicht nur das. Die Drahtzieher scheuten nicht vor Mord und Totschlag zurück, wie das oft so ist, und sie warteten auf einen günstigen Zeitpunkt, um loszubrechen und die Macht im Land zu übernehmen. Ein einzelner Mord würde da nicht helfen, obwohl man solche Pläne bereits in der Schublade hatte. Dennis, Alanque und dieser Para standen bereits im Fadenkreuz. Killer waren bereits angeheuert. Man musste diese Sache nur noch gut organisiert durchziehen.

Die Bewegung rekrutierte sich aus Mitgliedern der konservativen Volkspartei. Der Widerstand gedieh heimlich, und die Gruppe gewann immer mehr (weiße) Anhänger, die im Untergrund schwerbewaffnete Milizen bildeten, und versuchten, neue Anhänger beim Militär und in der Polizei zu rekrutieren.

Sie hatten den Ministerpräsidenten lange gestützt. Er war ja durchaus kein Mann der Milde. Er hatte seine Karriere mit Weitsicht, mit Härte und Durchsetzungsgefühl geplant und organisiert. Dieser Präsident war ein gewifter Taktiker, und ein gefährlicher Mann mit vielen Verbindungen und viel Unterstützung bei den wichtigsten Militärkommandanten. Man musste vorsichtig sein.

Die Bewegung wollte die Partei nicht spalten. Sie wollte die Macht in einem Staatsstreich übernehmen, und es schien notwendig zu sein, dies bald zu tun. Man würde versuchen, die Macht mit einem Schlag und mit brutaler Gewalt an sich zu reißen. Man musste nur noch einige führende Militärs und Polizeichefs überzeugen, dann würden sie ihren Überraschungsangriff starten, und dann würden sie alle die Gegner mit einem großen Rundumschlag niedermachen. Man würde jedoch damit warten, bis die ausländischen Pressevertreter das Land wieder verlassen hatten, die nach dem Beben in der Region Cusco zu Hunderten herumschwirrten wie die Schmeißfliegen, um ihre Bilder zu machen.

3.

Als Erste hatte die Frau von Théras großen Halbbruder Para damals die Gefahr durch die Ultrakonservativen erkannt. Das war bereits, als sie Para geheiratet hatte. Para war ein Mestize (der Sohn einer Buschindianerin und eines Weißen) und Sofia hatte bemerkt, dass viele Parteifreunde ihres Vaters mit dieser Hochzeit nicht einverstanden waren. Das galt vielen als „Rassenschande“. Dabei war diese Einstellung völlig verlogen. Die weiße Elite hatte durchaus keine Bedenken, ein Indianermädchen zu schwängern, aber für weiße Frauen der gesellschaftlichen Elite galt es als Tabu, einen Indianer oder einen Mestizen zu heiraten. Das gehörte sich einfach nicht. Sofia hatte sich über dieses Tabu hinweggesetzt. Sie hatte sich über dieses “Gefühl” (denn anfangs war es nur ein Gefühl) mit ihrem Mann und mit ihrer Mutter besprochen, aber es dauerte, bis der Ministerpräsident des Landes über einige sichere Erkenntnisse verfügte. Die Gegner waren sehr vorsichtig. Viel wusste er nicht, und er kam mit seinen Nachforschungen nicht weiter.

Einige Wochen nach dem Beben hatte sich Sofias Vater schließlich vertraulich an Dennis gewandt. Vielleicht könne der in dieser Angelegenheit helfen. Das war vielleicht gerade noch rechtzeitig. Nach einem langen Gespräch im Familienkreis über die drohende Gefahr im Lande hatte Théra die Initiative ergriffen. Sie setzte sich dafür ein, dem Onkel beizustehen, und Théra nahm sich eine Auszeit, um diese Hilfe zu organisieren. Im Nachhinein gesehen, war es Théras Entschlossenheit, die ihrer Familie letztlich das Leben rettete.

Sie bat ihre Geschwister um Unterstützung. Ihre Schwestern Clara und Eva, ihre Brüder Pesa und Nils und ihre Halbschwester Ana Théla. Sie hatten alle diese übernatürlichen Fähigkeiten, die auch Théra hatte. Vielleicht nicht alle, aber doch die meisten. Nur Raoul Pelé war noch zu klein, und Théras kleiner Bruder Pesa entschuldigte sich. Er war fest in die Organisation der Grupo Architectura del Kids eingebunden. Er war unabkömmlich, aber er würde sich vorsehen.

Noch während Théra sich im Fernsehen für den Wiederaufbau einsetzte, und noch während ihr Bruder Pesa all diese Bautrupps in Gang setzte, widmete sich Théra bereits ihrer selbstgewählten Geheimaufgabe.

Théra und Ihre Geschwister setzten ihre Verwandlungskünste ein und sie fanden auf einem drei Monate dauernden „Feldzug“ heraus, dass da ein Putsch vorbereitet wurde. Sie mussten lernen, dass ihre Familie als Feind dieser Menschen galt. Sie fanden heraus, wer zu dieser innerparteilichen Opposition gehörte.

Théra und ihre Geschwister hatten das nicht ganz ohne die Hilfe und Erfahrung von Papa und ihrem großen Bruder Para zu Wege gebracht, aber die beiden Erwachsenen leisteten ihnen in dieser Sache nur Starthilfe, und halfen hin und wieder bei der Analyse von Fakten und Daten. Dennis und Para hatten ohnehin mit dem Wiederaufbau alle Hände voll zu tun. Sie vertrauten Théras Instinkt.

Sofia und ihre Mutter (die Frau des Ministerpräsidenten) waren für Théra eine grosse Hilfe. Sie hatten einen Anfangsverdacht. Sie nannten Namen. Sie kannten Orte, wo sich solche Leute gewöhnlich treffen. Golfclubs, Offiziersclubs, Presseclubs, Tennisclubs, einige Privatwohnungen und die Hinterzimmer einiger Cafés in der Hauptstadt.

Die ganze Spionageaktion war aber letztlich ganz die Angelegenheit der Kinder. Sie waren die Aktivisten bei diesem „Feldzug“. Es war ihr „Gesellenstück“.

Sie verwandelten sich in Tiere. Sie hörten Telefongespräche mit, sie wohnten, unsichtbar für ihre Gegner, geheimen Versammlungen bei. Sie fanden Bankverbindungen heraus, sie hörten, dass der Putsch an Ostern stattfinden sollte, wenn alle Verbindungen hergestellt sind, und wenn alle in der Kirche sind, oder bei den Prozessionen mitlaufen. Sie verrieten schließlich die Köpfe der Bewegung an Théras Onkel. Es war eine lange Liste von Namen.

Es war letztlich Glück, dass der Onkel sich Théras Argumenten beugte, auf sie hörte, und seine Geheimpolizei anwies, dieses Problem schnell und zügig zu lösen. Es war Glück, dass der Leiter dieser Behörde, ein Generaloberst Fernando Méndes auf der Seite des Ministerpräsidenten stand, und die Aktion so lange geheimhielt, bis sie zuschlugen.

4.

Der Ministerpräsident schickte seine Geheimpolizei in der Nacht des 24. Dezember aus. All die politischen Gegner in seiner eigenen Partei wurden verhaftet. Geheime Waffenlager wurden ausgehoben. Es gab keinen Haftbefehl und keinen richterlichen Erlass. Niemand wusste genau, was da passiert. Sie kamen mit Hubschraubern und schnellen Geländewagen. Überall im ganzen Land kreuzten plötzlich die schwarzen Garden in Begleitung von Mannschaftswagen und gepanzerten Fahrzeugen auf. Planen wurden zurückgerissen. Schwerbewaffnete sprangen heraus und stürmten Gebäude. Sie nahmen Menschen mit, sogar in Théras kleiner Stadt Théluan. Sie hatten gewartet, bis sich die Familien nach dem Kirchgang, nach den weihnachtlichen Gesängen und den Geschenken schlafen gelegt hatten. Dann hatten sie zugegriffen. Sie traten Türen ein. Sie zerrten Menschen aus ihren Betten. Sie rissen Telefonleitungen aus der Wand und beschlagnahmten Mobiltelefone und Laptops. Sie nahmen Schlüssel, Aktenordner, Notizbücher, Geld, Scheckkarten und Sparbücher mit. Sie waren brutal und untersagten jeden Hilferuf, oder gar die Einschaltung eines Anwaltes unter Androhung von Schlimmerem. Auch einige hohe Militärs und Geheimdienstoffiziere wurden Opfer dieser Maßnahme.

Die Garden besetzten zu gleicher Zeit und in derselben Nacht die Rundfunk- und Fernsehsender, und sie verhängten eine totale Nachrichtensperre. Mit den Gerüchten verbreitete sich die Angst. Ein aufständischer Oberst ließ in aller Eile eine Panzerdivision auf den Präsidentenpalast zurollen, aber die Aktion war spontan und unkoordiniert, und sie wurde blutig zerschlagen. Kampfhubschrauber mit Luft-Bodenraketen, und Bodentruppen mit panzerbrechenden Waffen kamen dem Präsidenten zu Hilfe. Einige Gebäude wurden in Brand geschossen, darunter der Justizpalast, aber auch die 10 Panzer gingen in Flammen auf, und die eilig zusammengetrommelte Truppe aus aufständischen Infanteriesoldaten wurde eingekreist, und musste sich schließlich nach heftigen Verlusten ergeben. Auch in anderen Städten kam es zu Scharmützeln, das Kriegsrecht wurde landesweit ausgerufen, und die Zivilisten gingen in Deckung.

Der Ministerpräsident hatte seinen Angriff minutiös vorbereitet. Anders als sonst vielleicht üblich, hatte er seine politischen Gegner nicht heimlich hinrichten lassen, und auch nicht für immer ins Gefängnis geworfen, wie man das in solchen Konflikten sonst manchmal tut. Er stellte sie kalt und isolierte sie politisch und wirtschaftlich. Sie wurden verhört. Sie wurden bedroht. Sie wurden geschlagen. Alle ihre Güter wurden beschlagnahmt, Gelder, Firmen, Landbesitz, aber sie wurden später wieder auf freien Fuß gesetzt. Nicht sofort, nein. Die Aktion dauerte ihre Zeit. Die Verschonung der Gegner war für ein südamerikanisches Land sogar höchst ungewöhnlich. Die linksliberale parlamentarische Opposition wurde sogar ganz in Ruhe galassen.

Was würde jetzt kommen?

Nach Rücksprache mit seinen engsten Mitarbeitern hatte der Ministerpräsident zwar das Leben der Gegner verschont, aber er hatte ein striktes Ausreiseverbot verhängt. Diese Leute sollten im Ausland keine Unterstützer mehr finden. Sie würden die nächsten Jahre unter strengen Auflagen leben, Meldepflichten einhalten und ständig beobachtet werden.

Wie leicht hätte die ganze Aktion ins Leere laufen können, durch Verrat oder durch Untreue.

Die wichtigsten Generäle des Landes hatten sich auf die Seite von Théras Onkel gestellt. Der Ministerpräsident hatte sie davon überzeugt, dass der gegenwärtige Kurs ihres Landeschefs dem Land in den nächsten Jahren noch viel Nutzen bringen würde. Viele neue Firmen hatten sich bereits in Peru niedergelassen, und das Ansehen Perus auf der politischen Weltbühne war durch die Ausgrabung in Théluan und die Unterstützung durch die UNESCO enorm gestiegen. Dieses Kapital wollte man nicht verspielen. Schließlich vertrat der Ministerpräsident immer noch konservative Werte und er lockte mit Pfründen. Er galt zwar inzwischen als wirtschaftsliberal, aber er war einer von ihnen, und durch ihre Unterstützung war er den Generälen zu neuem Dank verpflichtet. Das machte sie mächtiger als zuvor. Zunächst schien danach die Gefahr eines neuerlichen Putsches gebannt. Man würde sehen, ob sich daraus eine neue Bedrohung entwickeln würde. Die Militärkommandanten profitierten direkt. Sie bereicherten sich an den eingezogenen Vermögen der Inhaftierten. Das war kriminell, aber es geschah mit dem Wissen und der Billigung des Ministerpräsidenten. Trotz dieser Bestechung war das Ganze eine Aktion auf Messers Schneide.

Plötzlich schien die politische Situation des Landes sicher und stabil. Zumindest vordergründig.

Der Ministerpräsident konnte seiner Tochter Sofia endlich das Versprechen abgeben, die Indios in diesem Land Stück für Stück mit den gleichen Rechten auszustatten, die auch die Weißen haben. Nicht sofort, denn das würde unmöglich sein, dies den Generälen gegenüber durchzusetzen, aber Stück für Stück, und das würde noch einiges an taktischem Vorgehen erfordern, um die mächtige Kaste der Generäle nicht doch noch gegen sich aufzubringen.

Vielleicht war es sogar ein Glück, dass dieses Beben und der Vulkan den Südosten des Landes so schwer in Mitleidenschaft gezogen hatten. Erst das Beben hatte diese gewaltige Solidargemeinschaft ermöglicht, die während des Sommers auf Initiative von Théras kleinem Bruder Pesa entstanden war. Erst die Folgen des Bebens hatte diese ultrakonservative Bewegung zu einer Einheit geformt und sie zusammengeschmiedet. Aber es waren letztlich mehrere glückliche Umstände, die den Putsch der Ultrakonservativen verhindert hatten.

5.

Es war Théra gewesen, die ihrem Onkel all die Namen der Personen gegeben hatte. Es war Théra gewesen, die dem Onkel sagen konnte, an welche Generäle er sich wenden durfte, ohne die Gefahr, hintergangen zu werden. Ohne Théras Hilfe wäre die Aktion nicht denkbar gewesen.

Diese völlig überraschende militärische Operation war es allerdings auch, die Papa und Théras großem Bruder Para große Sorgen bereitete. Sie waren zwar grob informiert worden, dass etwas passieren wird, und sie hatten sich schon selbst vorbereitet, auf ihre Weise einzugreifen, aber sie hatten gehofft, dass der Ministerpräsident das Richtige unternimmt. Sie waren aber wirklich nur sehr grob informiert worden. Irgendetwas ging da hinter ihrem Rücken vor, und diese plötzliche Gewalt und diese Ungewissheit waren äußerst bedrohlich. Man muss wissen, woher der Wind weht, um sich wirksam schützen zu können.

Jetzt zeigte sich, dass die übergrosse Vorsicht des Ministerpräsidenten auch Gefahren in sich barg.

Als Dennis und seine Freunde die ersten Gerüchte hörten und die Panzerfahrzeuge in Théluan sahen, da waren sie sofort in Alarmstimmung und beriefen den Familienrat ein. Es wurden Wachen ausgeschickt, um alle Truppenbewegungen zu melden und die Indios notfalls in die Berge zu schicken.

Der Ministerpräsident war selbst für Dennis nicht zu erreichen. Die politische Säuberungsaktion konnte auch für die Familie in ihrem Tal gefährlich werden.

Papa hatte in den letzten Jahren zwar viele Dinge zusammen mit dem Ministerpräsidenten in Bewegung gesetzt, aber diese Gewalt war beängstigend. Was war, wenn der Onkel solche Geheimgarden auch gegen ihre Familie sandte, owohl sie durch die Heirat von Sofia und Para miteinander verwandt waren? Was war, wenn irgendein Oberst nicht linientreu war und seine Leute gegen Théras Familie in Stellung brachte? Was war schließlich, wenn die Situation kippte und der Onkel plötzlich selbst Opfer einer Intrige wurde, und andere sich solcher Mittel bedienten, um die Chance auf einen Zweiten reaktionären Putsch zu nutzen? Von Mama wussten sie, dass so etwas in Südamerika jederzeit möglich war. In jeder Krisensituation kriechen die Ratten sinnbildlich aus ihren Löchern, um sich zu bereichern.

Noch während die Aktion lief, beschloss Dennis, in Zukunft Informanten und Vertrauensleute in wichtige Positionen in der Hauptstadt zu schleusen, um rechtzeitig gewarnt zu werden. Die Zukunft ihrer ganzen Stadt würde davon abhängen, aber das würde dauern. Man brauchte jetzt Informationen. Jetzt musste man handeln, und Théra erklärte sich sofort bereit dazu. Sie verfügte über einen seltenen Instinkt.

Théra setzte sich dafür ein, dass der Onkel (mit aller Vorsicht) mehr Vertrauen verdiente. Der Onkel war es, der in diesem Land vieles ermöglicht hatte, was „ihre Familie“ in den letzten Monaten und Jahren geleistet hatte. Nach dem großen Beben und dem gewaltigen Vulkanausbruch hatte er dafür gesorgt, dass das Militär uneigennützig half. Er hatte dafür gesorgt, dass all die Studenten und Krankenschwestern kamen, um den Erdbebenopfern zu helfen. Er hatte dafür gesorgt, dass die Verwaltungen unbürokratisch halfen, und er hatte mitgeholfen, dass die in solchen Situationen unvermeidliche Korruption weit hinter dem zurückblieb, was man hätte erwarten dürfen.

Anderswo hätte das Militär die Überlebenden vielleicht ausgeplündert, und es hätte sich an den Hilfslieferungen bereichert. Es hätte Zigarette rauchend zugesehen, wie die Menschen auf offener Strasse krepiert wären.

Ohne die Hilfe des Militärs hätte es nach diesem Beben viel mehr Elend und Not gegeben. Es wären Seuchen ausgebrochen. Menschen hätten verhungern müssen. Théra rechnete es dem Onkel hoch an, dass er sich in dieser schwierigen Situation auf die Seite der Opfer gestellt hatte.

Théra glaubte nicht daran, dass der Onkel seine Garden unerwartet gegen Théras Familie schicken würde. Sie schüttelte den Kopf.

Sie sah die Besorgnis im Blick von Papa, Mama und Para. Sie verstand, was sie bedrückte, und sie beschloß, sich noch einmal einzumischen. Pubertät hin, Pubertät her. Es ging ums Überleben. Sie setzte sich sofort mit ihrer Tante in Verbindung, mit der Frau des Ministerpräsidenten. Während Dennis, Para und Alanque bereits Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, vergingen die ersten Tage nach Weihnachten jedoch ruhig und scheinbar ohne konkrete Gefahr.

Als Théra sich zwei Tage nach diesen Vorfällen mit ihrer Tante traf, da hatte ihr diese starke Frau mit viel Geduld zugehört. Dann hatte sie Théra erklärt, dass sie mit aller Vorsicht Vertrauen in den Ministerpräsidenten haben könne. Théra hatte die Hände der Tante gehalten. Sie war in ihren Kopf gekrochen und sie hatte gesehen, dass die Tante die Wahrheit sagte. Vielleicht würde einmal eine Situation eintreten, die alles veränderte, aber im Moment schienen ihre Familie und ihr Tal sicher zu sein. Die Tante war auf ihrer Seite, und dass die Tante nicht wusste, was da geschah, das war nicht anzunehmen. Sie hatte immer das Vertrauen ihres Mannes genossen.

Théra war beruhigt und sie teilte Papa und ihrem großen Bruder Para später mit, was sie gesehen hatte. Sie würden dennoch vorsichtig sein. Vielleicht war der Auftrag für ein Attentat auf ihre Familie ja nicht mehr zu verhindern gewesen.

An diesem zweiten Weihnachtsfeiertag geschahen für Théra zwei wichtige Dinge.

„Ich soll dir von meinem Mann ausrichten, dass er dir zu großem Dank verpflichtet ist“, sagte die Tante. „Durch deine Hilfe hast du einen offenen Bürgerkrieg verhindert. Es lässt sich nicht genau sagen, was passiert wäre, wenn wir deine Namensliste nicht gehabt hätten. Aber so viel ist sicher: wenn diese Leute massiv losgeschlagen hätten, dann hätte es Tausende von Toten gegeben. Mein Mann musste überraschend angreifen, um uns zu schützen. Er hat mir versichert, dass er diese Leute verschont. Er will ein Zeichen für Vertrauen setzen. In den letzten Jahren haben sich viele Indios auf die Seite meines Mannes gestellt. Wichtige Teile des Militärs halten ihm die Treue. Sie hätten sich den geplanten Putsch der ultrakonservativen Gegner nicht gefallen lassen. Das hätte in unserem Land Mord und Totschlag gegeben. Ich weiß von den Umsturzplänen an Ostern. Danach wären wir wohl alle nicht mehr am Leben, unsere gesamte Familie nicht, und auch viele unserer politischen Freunde.“

Sie sah Théra direkt an. „Ich spreche jetzt nicht nur von der Familie meines Mannes. Ich spreche auch von deiner leiblichen Familie, schließlich sind wir durch die Heirat von Sofia und Para miteinander verwandt. Für mich bedeutet das sehr viel. Vergiss das nicht.“

Sie fuhr fort: „Théra. Wir haben dir viel zu verdanken. Ich, mein Mann, meine Kinder, das ganze Land. Mein Mann möchte, dass du das weist. Er wird nie öffentlich Stellung dazu beziehen, weil er niemandem mitgeteilt hat, woher diese Liste stammt. Das bleibt unter uns. Aber mein Mann sagt, dass du von ihm jede Unterstützung bekommen kannst, die du dir wünschst. Es gibt jedoch ein paar Einschränkungen. Mein Mann wird sich nicht einseitig auf die Seite der Indios stellen. Er ist der Präsident aller Peruaner. Er hat gesagt, du sollst das wissen. Ich darf dir das sagen. Mit meinem Mann kannst du jetzt nicht sprechen. Er ist vorübergehend untergetaucht, zu seiner Sicherheit, und er koordiniert alle Maßnahmen von einem geheimen Ort, den nicht einmal ich kenne.“

Nach einer Gedankenpause fügte sie hinzu: „Ich meine, er ist wirklich der Präsident aller Peruaner. Auch der Leute, die jetzt verhaftet worden sind. Wir werden sie verschonen. Wir werden ihnen die Macht und die Geldmittel entziehen. Als Freunde werden wir sie jedoch nicht gewinnen. Niemals. Da müsste schon ein Wunder geschehen.“ Sie seufzte.

Théra nickte. Was die Tante sagte, klang für Théra sehr vernünftig. Sie atmete tief durch. „Wir werden noch oft miteinander sprechen, wenn du mir das erlaubst. Vielleicht als Tante und Nichte, vielleicht auch, weil du die First Lady bist, und ich ein kleines besorgtes Mädchen bin.“

Die Tante lachte Théra offen an. „Egal wie du das nennst. Du bist hier immer willkommen. Vergiss nicht, ich bin deine Freundin, aber man weiß nie so genau, wo der Wind einmal herweht.“

Dann kam das zweite wichtige Statement der Tante: „Jetzt will ich dir noch was privates sagen. Du bist ein taffes Mädchen. Aber du bist jetzt in einem Alter, wo du mit deinen Gleichaltrigen bald Probleme haben wirst. Nicht nur, weil du durch die Hormone verwirrt wirst, sondern auch, weil du etwas Besonderes bist. Ich spüre das. Du weist, dass ich meine Tochter liebe, aber es wäre schön gewesen, auch noch so eine Tochter zu haben, wie du das bist. Du sollst wissen, das du immer zu mir kommen kannst. Auch mit deinen privaten Sorgen.“

Théra nickte, aber sie vertraute sich der Tante in der Sache Pubertät nicht an.

Auch ihre übersinnliche Kraft konnte ihr da nicht helfen. Sie war ja gerade eine der Ursachen, dass sich Théra mit Gleichaltrigen nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge unterhalten konnte, die sonst beste Freundinnen untereinander auszeichnet.

6.

Niemand, der nicht zu Théras engster Familie gehörte, hatte bemerkt, dass Théras Berliner Geschwister Eva und Nils überhaupt in Peru gewesen waren. Nicht einmal Onkel Bübchen und Moses wussten davon, obwohl die sonst in alles eingeweiht wurden, was die Familie betraf.

Théra, Clara und die Kinder von Para waren nach der Operation in ihre kleine Stadt Théluan zurückgekehrt. Eva und Nils sprangen nach der Geheimoperation direkt nach Berlin zurück, denn auch sie hatten diese Kraft, den Raum zu überwinden, wie alle Kinder von Dennis und Para.

Die Kinder von Dennis hatten in diesem Sommer erstmals gemeinsam und wie eine eigenständige Geheimorganisation gehandelt. Sie hatten erlebt, was das Bündeln ihrer Kräfte bewegen kann. Sie würden das nächste Mal noch organisierter und noch sicherer vorgehen. Egal, welche Aufgabe sich dann stellte.

Sie hatten sich in Gefahr begeben und sie waren als Sieger aus der Situation hervorgegangen. Diese Erfahrung stärkte das Selbstbewusstsein.

Das Wissen um die Aufdeckung der Verschwörung blieb allerdings ein Geheimnis von Théras Familie und verließ diesen Kreis nie. Auch der Ministerpräsident verriet nie, wie er an diese wichtigen Informationen herangekommen war. Die ganze Geheimniskrämerei war sogar ein richtiger Schritt. Er schützte Théras Familie vor möglichen Racheakten.

Immerhin war Dennis so vorsichtig, dass er eine Gruppe von zwanzig absolut zuverlässigen Indios damit beauftragte, ihre Augen und Ohren offenzuhalten, und seine Familie rund um die Uhr zu bewachen, bewaffnet mit Walkie Talkies.

Théra dachte nach diesem Vorfall lange über Macht nach. In ihrer Familie gingen sie pfleglich mit ihrer Kraft um. Papa hatte stets von ihnen gefordert, ihre Macht nie zu missbrauchen. Langsam erkannte Théra, dass Macht eine dunkle Seite und eine Sonnenseite hatte.

So beschlossen Théra, Papa und Para die Ultrakonservativen weiter zu überwachen und sie würde auch ihren mächtigen Onkel von Zeit zu Zeit überprüfen. So viel Macht in einer Hand konnte nur gut gehen, wenn diese Macht nie missbraucht werden würde. Erstmals erhielt Théra eine vage Ahnung von Politik. Das ist ein Théma, das Jugendliche ihres Alters sonst überhaupt nicht interessiert. Bewusstes politisches Handeln war für Théra zu diesem Zeitpunkt noch viel zu abstrakt und viel zu weit entfernt. Théra hatte einfach aus dem Bauch heraus gehandelt, und sie hatte die richtige Eingebung gehabt.

7.

Der ganze Monat Dezember war für Théra nicht schön gewesen und auch ihr 14. Geburtstag war für Théra kein schönes Erlebnis. Die Pubertät und die Reaktion des Onkels auf den drohenden Putsch hatten Théra zugesetzt.

Dabei war in diesem Jahr so viel geschehen. Man könnte jetzt mit viel Hoffnung und Elan in die Zukunft blicken. Théra hätte jetzt viele weitere Aufgaben übernehmen können. Vieles war durch diese Solidarbewegung nach den Beben in Bewegung geraten, was vorher gestockt hatte. Viele Projekte mußten jetzt sinnvoll begleitet und weitergeführt werden, aber Théra wollte in diesen Wochen einfach nicht mehr.

Eigentlich konnte man sie verstehen. Es gibt immer einmal einen Punkt, wo man keine Kraft mehr hat und wo man nicht mehr will. Rückzug ist völlig legitim.

8.

Bereits vor Weihnachten waren die Wiederaufbauarbeiten in Théras kleiner Stadt weitgehend abgeschlossen worden, auch die Straße nach Cusco war längst wieder befahrbar.

Oben auf dem Berg hatte man die Schuttberge der eingestürzten Hochhäuser weggeräumt. Dort entstanden jetzt erdbebensichere Wohnanlagen nach dem Vorbild der Indiosiedlung. Die Einkaufszentren waren zum Teil abgerissen worden, und sie waren schon bald wieder geöffnet worden, um die Versorgung der Stadt sicherzustellen. Auch die zerstörten Schulgebäude waren wiederaufgebaut worden.

Théras jüngere Schwester Clara kannte diese Einflüsse der Pubertät noch nicht. Sie hatte viel zu tun. Clara half bereits im November und Dezember bei der Neuorganisation der Schule, und sie widmete sich auch der Pferdezucht ihres Bruders Para. Auch die Pferde verlangten nach ständiger Pflege und Aufmerksamkeit.

Théras kleiner Bruder Pesa war im Spätherbst mit seinen Bau-Kids aus Cusco zurückgekommen. Die Gruppe hatte sich langsam wieder in den Schulalltag eingeklinkt. Die Erfahrungen des Sommers mussten verarbeitet werden. Schließlich brachten sie noch 800 Kinder aus Cusco mit. Sie hatten ihre Eltern verloren und die Schule der Indios platzte jetzt aus allen Nähten. Dennoch waren erstaunlicherweise alle voller Leben und voller Enthusiasmus.

Nur Théra zog sich wieder zurück in ihre Art von Schneckenhaus. Théra sah alles, aber sie engagierte sich nicht mehr. Sie hatte Augen für Jungs, aber sie sah bald, dass es niemanden gab, zu dem sie eine intime Beziehung hätte aufbauen wollen. Nicht hier in Théluan. Selbst bei den Mädchen gab es niemanden, mit der Théra über ihre Probleme hätte reden wollen.

So entschloss sich Théra kurz nach Neujahr, ihre Schwester Clara einzuweihen. Vielleicht nicht in alles, aber doch in einiges.

Clara hatte schon längst darauf gewartet. Sie hatte ihre große Schwester beobachtet. Sie hatte ein paar Mal mit Papa und Mama über Théra gesprochen, aber die hatten nur geseufzt. Die Pubertät sei eine schwierige Zeit, Clara würde das auch noch erfahren.

Clara war zwei Jahre jünger als Théra. Sie verstand vieles von Théras neuen Nöten nicht aus eigenem Erleben, aber sie konnte gut zuhören, und sie beobachtete Théra jetzt viel genauer als vorher.

„Wenn du nicht mit Papa, Mama oder Para darüber reden möchtest“, sagte Clara, “dann solltest du vielleicht mal den Rat von Aussenstehenden einholen. Ende Januar werde ich mit Para nach Dubai fliegen. Komm doch einfach mit. Überlass Para und mir die Sache mit den Pferden und dem Reitunterricht für die Jungen des Emirs, und kümmere dich einmal ausschließlich um die Mädchen des Harems und deine Seele.“

Sie fuhr fort: „Die Frauen dort sind doch in diesen Dingen der Liebe erfahren. Sie können dir vielleicht mehr darüber sagen, was dich gerade bedrückt. Vielleicht können sie dir sogar helfen.“

Théra dachte lange darüber nach, dann nickte sie langsam und vorsichtig. Diese Frauen hatten nicht Théras Kräfte, aber sie hatten in ihrem Land eine besondere Rolle. Vielleicht würde ihr diese Gemeinschaft aus Frauen helfen können.

9.

Auch Dennis hatte Théra den ganzen Dezember über beobachtet. Er hatte sie ein paar mal in den Arm genommen, aber Théra hatte sich angefühlt, wie ein Stück totes Holz. Er sah das wirre Feuer in ihren Augen. Helfen konnte er nicht. Dieses Problem musste Théra selbst lösen. Es war ihr Leben.

Er hatte sich mit Théras Mutter besprochen und Alanque hatte sorgenvoll geseufzt. Théra war verschlossen wie eine Festung.

Als Théra in der zweiten Januarwoche den Wunsch äußerte, mit nach Dubai zu fliegen, da nickte Dennis. Er besprach sich mit Para und Clara und bat sie darum, ihre schützenden Hände über Théra zu halten. Théra brauchte jetzt ein stabiles soziales Netz.

Er ahnte, dass ein Ausbruch bevorstand und er sprang für zwei Tage nach Berlin, um Laura und die Freunde zu warnen. In so einer Phase konnte alles Mögliche geschehen. Es war eine wirklich gefährliche Situation. Es durfte nie passieren, dass Théra aus irgendeiner Laune oder Enttäuschung ihre Kräfte missbrauchte. Dann wäre der Teufel los. Gerade Théra mit ihrer außerordentlichen Macht brauchte jetzt eine Schar von Freunden, die ihr den nötigen Raum gaben, um diese schwierige Erfahrung zu bewältigen, und die sie stets beobachteten würden und sofort zur Stelle waren, um sie aufzufangen.

Dennis betete zu seinem verstorben Bruder Patrick, er möge Théra in dieser schwierigen Phase beistehen.

Gott sei Dank war diese Putschgeschichte glimpflich an ihnen vorübergegangen. Dennis hatte über Neujahr mehrere Geheimtreffen mit Sofias Mutter und dem Ministerpräsidenten gehabt, und er fand Théras Erkenntnisse voll bestätigt. Von diesem Ministerpräsidenten drohte ihnen derzeit keine Gefahr, und von den Generälen offenbar auch nicht. Dennoch hatten sie Glück gehabt, und Dennis erhielt ständige Berichte seiner eigenen Schutztruppe. Diese geheime Überwachung durfte nie einschlafen, denn Dennis wusste aus Erfahrung, dass Rache meist “kalt gegessen” wird, dann nämlich, wenn man wieder in den Alltag eingeklinkt ist, und die natürliche Vorsicht versiegt.

Man konnte sich jetzt mit aller Vorsicht wieder seinen wichtigen Aufgaben widmen. Auch der geregelte Fortgang der Ausgrabungen in Théluan gehörte dazu. Diese archäologische Fundstätte spülte immens viel Geld in die Staatskassen. Gerade in Zeiten der Krise war das überlebenswichtig, weil dieser ständige Zufluss von Reichtum wirtschaftliche und politische Stabilität sicherte. Durch die Funde waren viele Infrastrukturmaßnahmen und Projekte überhaupt erst finanzierbar geworden. Schließlich strahlte die Ausgrabung der alten Königsstadt als kulturelles Symbol eine ungeheure Kraft aus, weit über die Grenzen Perus.

So hatte die mit der Ausgrabung verwobene Situation einerseits die Putschgefahr durch die Ultrakonservativen heraufbeschworen, andererseits hatte sie die Familie von Théra beschützt. Es gibt Menschen, die sagen: in jeder Krise steckt auch die Chance für einen Neuanfang.

Der Ministerpräsident wusste jedenfalls genau, was er an Dennis und Alanque hatte. Die beiden sicherten dem Land einen steten Strom an Reichtum, der sich für alle bezahlt machte. Zwar hatte sich die Stiftung vertraglich zusichern lassen, 1/3 der Funde für sich zu beanspruchen, aber diese Stiftung investierte einen Großteil des Geldes direkt oder indirekt in soziale Projekte und in Infrastrukturmaßnahmen. So bekam der Staat tatsächlich einen Großteil des Stiftungsanteils wieder zurück, obwohl der Stiftung Steuerfreiheit zugesichert worden war.

Dann war da noch diese ungeheure Werbewirkung. Ohne Dennis und seine Stiftung hätte es diesen Einfluss auf die internationale Meinung nie gegeben. Von überall her kamen Menschen, um sich diese Ausgrabung persönlich anzusehen. Sie spülten wiederum neues Geld in die Staatskassen. Auf Auktionen bei Christies und anderen Häusern erzielten die Funde immense Preise, und wenn Sammlungen aus der Ausgrabung auf Weltreise gingen, um in verschienenen Städten ausgestellt zu werden, dann bildeten sich dort lange Schlangen von Interessenten.

Es war einfach notwendig, diesen Dennis und diese Stiftung zu schützen, und der Ministerpräsident hatte alle wichtigen Generäle überzeugen können, diesen Schutz, wenn notwendig, auch mit militärischen und polizeilichen Mitteln zu sichern.

Die wilden Zeiten der Théra P.

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