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Göring heißt jetzt Meier

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Als die Käthe-Kollwitz-Schule noch nicht Käthe-Kollwitz-Schule hieß, sondern Blücher-Oberschule4 und eine Bildungseinrichtung nur für Jungen war, wurde ich im Frühjahr 1943 dort in die 1. Klasse aufgenommen. Um aufgenommen zu werden, musste meine Mutter mich dem Rektor vorstellen. Das war damals Schulleiter i.V. Spindler, später Oberstudienrat Spindler, mein Biolehrer, genannt Spinne oder auch Bobbi. Bobbi – so hieß der Gorilla im Berliner Naturkundemuseum. Und ich wurde nach eingehender Befragung durch den Rektor in die 1. Klasse der Blücher-Oberschule für Jungen eingeschult.

Der Krieg dauerte, und die Bomben auf Berlin fielen immer öfter. Die Berliner nannten Göring jetzt Meier, denn so wollte der heißen, sollte auch nur eine einzige Bombe über Berlin abgeworfen werden. Wir wohnten damals in der Hufelandstraße 30, im Quergebäude, unsere Anderthalb-Zimmer-Wohnung hatte ihre Fenster zum zweiten Hof hinaus, und der grenzte an ein Hinterhaus in der Allensteiner Straße. Dort im Vorderhaus wohnte ein Spielkamerad von mir. Sein Vater betrieb einen Zwischenhandel mit Zutaten für Konditoreien und Bäckereien. Mein Spielkamerad versorgte uns, seine Spielkameraden, mit Marzipanstangen. Und dieser so großzügig handelnde Mensch wurde ein Opfer der ersten Luftmine, die über Berlin abgeworfen wurde. Die traf genau das Haus in der Allensteiner Straße, das an unseren zweiten Hof angrenzte.

Die Bewohner des gebombten Hauses saßen vorschriftsmäßig im Luftschutzkeller, die Luftmine zerriss die Hauptwasserleitung, der Keller wurde überflutet, die festverriegelten metallenen Luftschutzkellertüren verkeilten sich, die Bewohner des Hauses in der Allensteiner Straße ertranken. Granatsplitter in allen Größen zu sammeln und untereinander zu tauschen, das war damals für uns Knaben „in“, würde man heute sagen, für mich war das nach dem Bombentod meines Spielkameraden „out“.

Göring hieß weiterhin Meier, und die Bomben auf Berlin wurden immer mehr und immer größer. Und so ordnete die Schulbehörde im Prenzlauer Berg an, dass unsere Schule, im Zuge der seit einem Jahr praktizierten Kinderlandverschickung, in den Warthegau, einen von Deutschland okkupierten Teil Polens, umgesiedelt werden muss. Wir Schüler selbstverständlich mit.

Meiner Mutter war´s recht. Unseren Vater hatte das Vaterland an die Ostfront geschickt, mitzuwirken am vom deutschen Vaterland begonnenen Überfall auf die Sowjetunion. Mit den Zwillingen, 1940 geboren, konnte sie bei ihrer Tante in Liegnitz im Zuge der so genannten Evakuierung unterkommen. Reisen hat für Angehörige der „Unterschichten“ schon immer seinen besonderen Preis gehabt. Das Geld für eine Fahrkarte nach Liegnitz hätte sie im Frieden niemals gehabt. Und den Bruder Kalle hatte die KLV nach Ostpreußen reisen lassen.

Wir Blücher-Schüler sollten nach Litzmannstadt, dem polnischen Lodz, evakuiert werden, doch wir landeten in Kalisch. Kalisch? Wohin hatte es uns da verschlagen? Das schlaue Lexikon gab mir später noch einmal nähere Auskunft5:

Kalisz. Mittelpolnische Wojewodschaft. 6.512 km2. 650.000 Einwohner. Erstreckt sich über die Niederung des Flusses Prosna in der Tiefebene von Wielkopolska.

Vorwiegend Textilindustrie. Weiterhin: Lebensmittel-, Holzindustrie, Maschinenbau, Metallverarbeitung, Musikinstrumentenherstellung. Landwirtschaft: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, Schweinemast.

Kalisz. Bezirksstadt der gleichnamigen Wojewodschaft. Älteste Stadt Polens; 87.000 Einwohner.

Textil-, Chemie-, Lebensmittelindustrie, Maschinenbau. Theater, Museum; bauhistorisch wertvolle Altstadt (vorwiegend neoklassizistisch). Franziskaner-, Bernhardinerkloster.

Wir haben damals weder das Museum noch das Theater besucht, sondern wurden auf Panjewagen von Hilfsdienstwilligen, von den Reichsdeutschen höchst verächtlich als Wasserpolacken bezeichnet, nach Kreuzweg kutschiert, einem ehemaligen polnischen Lungenheilsanatorium. Und da gefiel es uns.

Nächtens mussten wir nicht in den Luftschutzkeller, es fielen auch keine Fliegerbomben, obwohl tagsüber hin und wieder amerikanische und englische Fliegerpulks über unser Lager hinwegdonnerten, gen Osten, vielleicht die Industrie um Litzmannstadt zu bomben. Deutsch und Englisch unterrichtete uns Erstklässler in der Oberschule Dr. Feist, der meinte, Englisch sei ziemlich einfach zu erlernen: „Hau du ju du, wiss´te wie ´nen Jummischuh!“ Mein Großvater kannte ihn von der Adventskirche und bezeichnete ihn als einen strammen Nazi.

Nachmittags hatten wir frei und tobten im weitläufigen Lagergelände, spielten Völkerball, oder unser Lagermannschafts-Fähnleinführer Günter Schabowski 6 hielt uns, wir saßen dann im Karree um ihn auf der Wiese hinter dem Hauptgebäude, aufmunternde Reden vom Endsieg. Das musste er wohl, denn eines Tages tauchte der HJ-Bannführer auf. Ein „von Glasenapp“ – schicke maßgeschneiderte braune SA-Uniform, schwarze blankgeputzte Stiefel – wir mussten antreten, er ließ vom Fähnleinführer sich melden, dass wir ‚flink wie Windhunde, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl‘7 seien, überhaupt kerngesund und voller Siegeszuversicht.

Der Bannführer blieb über Nacht. Am nächsten Morgen hatte mich unser Fähnleinführer auserkoren, des Bannführers Stiefel zu putzen und zu wienern. Das gefiel mir gar nicht. Ich putzte und wienerte, und den Rest der Tube drückte ich ins Innere der Stiefelschäfte. Danach fühlte ich mich wohler, nicht bedenkend, dass meine „mutige Tat“ auch ins Auge hätte gehen können.

Der Winter war kalt und schneereich und die Zufuhr elektrischen Fernstroms oftmals unterbrochen. Im Keller war eine Maschine installiert, die, drehte man ihr großes seitlich angebrachtes Schwungrad, elektrischen Strom erzeugte. Und so wurden wir, besonders wir, die Jüngeren, in den Keller delegiert, um Strom zu machen. Wir taten es gern, denn da unten war es warm. Und – oho! – nicht nur das. In einer Ecke hatte die Wirtschaftsleiterin, die Ehefrau unseres Deutsch- und Geschichts- und Englischlehrers Dr. Feist, ihre Kartoffel- und Mohrrübenvorräte stapeln lassen.

Die so genannten Pferdemohrrüben, gelb, groß und süß, wurden von uns besonders bevorzugt, denn die allmorgendlichen Mehlsuppen stillten nicht unseren Hunger, auch nicht fünf und mehr volle Teller davon.

Der Winter 1943/44 war schneereich. Um dem Fähnlein- und Lagermannschaftsführer Schabo zu zeigen, dass wir schnell wie Windhunde, hart wie Kruppstahl und drahtig, ich hab´s vergessen, wie drahtig wir sein sollten, jedenfalls also, dass wir des Führers Worte verstanden und ebenso wie Krupp und die Windhunde und ja eben das andere sein wollten, rollten wir uns nach der morgendlichen Katzenwäsche mit nacktem Oberkörper auf der schneebedeckten Wiese hinter dem Haus. Das Haus hatte im Obergeschoß, mehr als dieses gab es nicht, drei Schlafräume, Saal 1 im rechten Giebel, Saal 3 im linken, und der Schlafraum 2 lag gegenüber der Treppe, war kein Saal und wurde von den älteren Schülern bewohnt, die noch nicht als Flakhelfer einberufen waren, bereit zu sein, für Volk und Führer sich totschießen zu lassen. Der Stube 2 gegenüber waren rechts von der Treppe Waschraum und Toilette, von den Zöglingen aller drei Schlafräume genutzt, und links der Treppe war die Sanitätsstelle. Als ich nachts einmal zur Toilette musste, ich hatte Durchfall, huschte aus dem Sanitätszimmer, in dem nachts die Nachtschwester Dienst tat, ein Knabe in den Schlafraum 2. Als ich nach ungefähr fünfzehn Minuten wieder retour war, dasselbe, wieder eine weißgekleidete Gestalt, die eiligst aus dem Sanitätsraum in der Stube der Älteren verschwand.

Anfangs, also im Herbst 1943, hatte ich mein Bett im Saal 1. Dort hatten wir Erstklässler tagsüber auch Unterricht. Von einem Lehrer, einem Studienrat aus der Friedrichshainer Andreas-Oberschule, behaupteten seine Schüler, die gleich wir hier in Kreuzweg gelandet waren, er habe das Wasserauto erfunden. „Spinnen“ war ein beliebter Sport, die Zeit von der Nachtruhe bis zum Einschlafen erträglicher zu machen.

Gespenstergeschichten standen hoch im Kurs, von einigen meisterhaft ausgedacht. Im Spätherbst wurde ich im Zuge einer Umorganisation – aus der Schlafstube 2 mussten einige in den Saal 1 umziehen – in den Saal 3 verlegt.

Ich hatte Glück, bekam wieder das obere Bett vom Doppelstock-Bett. Mir schräg gegenüber „wohnte“ Heinz Huth. Der spielte gern und laut und einfallsreich „feiger Verrat Badoglio“. Dieser hatte nämlich als Ministerpräsident Italiens am 3. September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen, also mit unseren Todfeinden, den Amerikanern und Engländern und Franzosen.

Jungen im KLV-Lager: Immer hungrig und immer auf der Suche nach etwas zum Knabbern und nach Erlebnissen und Abenteuer.


Die 1. Klasse der Blücher-Oberschule aus Berlin 1943 im Kinderlandverschickungslager in Kalisch im damaligen Warthegau (Westpreußen), heute: Woiwodschaft Großpolen. Unter ihnen auch der junge August – der damals elfjährige Autor Hans Plaumann.

In den Freistunden nach Unterricht, Mittagsruhe und den Essenzeiten spielten wir im Winter im Essensaal, der dann zum Aufenthaltsraum wurde, Monopoly. Das Spielfeld und die Aktien dafür hatten selbsternannte „Insider“ gebastelt. Und wie in der realen kapitalistischen Ökonomie wurde hier im virtuellen Abklatsch gepokert, geblufft, gezockt, beschissen, betrogen, übervorteilt, bestochen, kurz geübt, was zukünftige Banker und Aktionäre so draufhaben müssen, um im realen Kapitalismus zu bestehen. Da ich dieses „Instrumentarium“ nicht so perfekt beherrschte wie einige andere Mitspieler, hatte ich das von der Bank mir zugeteilte Startkapital auch schnell und radikal verspielt.

Damals war ich darüber wütend, doch heute weiß ich es genauer, getreu dem bulgarischen Sprichwort:

Alles Schlechte hat auch was Gutes!

Schon damals also keimte in mir die abgrundtiefe Abneigung gegenüber einer Gesellschaftsordnung, in der ich heute lebe, oder auch prosaischer, damals wurde in meine Seele das Korn meiner antikapitalistischen Überzeugung gepflanzt. Später kamen noch viele Pflanzungen hinzu. Einer der wichtigsten für mich war Professor Hermann Duncker8. Er hat mit seinen Vorlesungen über dialektischen und historischen Materialismus, die ich 1948 gemeinsam mit einem Mitzögling aus dem KLV-Lager, Ingo Reschke, in der Volkshochschule in der Prenzlauer Allee besuchte, dieses damals gelegte Korn zum weiteren Wachsen gebracht.

In den Stunden nach dem Abendessen sammelten wir uns im Speisesaal und „Schabo“ las professionell aus dem Buch „Titanic: Die Tragödie eines Ozeanriesen“ oder er spielte auf dem Akkordeon, das er auf dem Tisch querlegte, so dass er tat, als spiele er Klavier. An der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß einer von uns Zöglingen und zog und schob den Balg, um dem Akkordeon die für das Spielen benötigte Luft zuzuführen.

Im Sommer tobten wir durch die weitläufige Tannen- und Fichtenschonung vor dem Haus. Wir glaubten, Hasen zu jagen, doch fangen taten wir keinen. Oder wir holten die unter den Fichten- und Tannensetzlingen von uns versteckten Schmöker heraus, in denen Max Schraut9 von den detektivischen Leistungen seines Freundes Harald Harst berichtete. Wir hatten uns die Hefte von einer Berliner Versandfirma schicken lassen, ohne Wissen der Lehrer. Sicher war sicher! Deshalb die geheimen Verstecke in der Schonung.

Der alte und der junge August

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