Читать книгу Evolution des Glaubens - Hans Reiner Preuß - Страница 6
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Einleitung
Evolution und Religion
Es liegt im Wesen einer Theorie, die die Entstehung aller Arten umfassend erklären will, dass sich das Interesse zunehmend auf die Entschlüsselung der menschlichen Evolution konzentriert hat und sich dabei immer mehr einzelnen Bereichen zuwendet. Brachte das 19. Jahrhundert vor allem sozialdarwinistische Gesellschaftstheorien hervor, werden mit dem Aufkommen der Soziobiologie1 verstärkt Anstrengungen unternommen, die sich in der Kultur niederschlagende geistige und psychische menschliche Ausstattung als evolutionär entstanden und genetisch verankert zu erklären.
So will die evolutionäre Erkenntnistheorie die stammesgeschichtlichen Grundlagen menschlichen Denkens und Erkennens erforschen2. Es wird angenommen, dass sich die menschliche Erkenntnisfähigkeit in Anpassung an die vorhandene Welt entwickelt hat und deshalb auch zuverlässige Informationen über die Welt gewinnen kann. Die Art und Weise, aber auch die Reichweite menschlichen Denkens gelten als genetisch festgelegt.
Evolutionäre Ethik3 geht von der inzwischen gut begründeten Annahme aus, dass menschliches Moralverhalten biologische Wurzeln hat und in instinktgesteuerten einfachen Formen (Protomoral) schon im Tierreich vorhanden ist. Nicht nur der Egoismus, der der individuellen Selbstbehauptung dient, auch der Gemeinschaft ermöglichende und damit das Überleben der Art sichernde Altruismus hat einen genetischen Anhalt. Dieses doppelte Erbe mit seinem Konfliktpotential ermöglicht „gemischte Verhaltensstrategien“4 und ist die „evolutionsstabile“ Grundlage für den weiteren Ausbau menschlicher Moral. Der Menschheit aller Geschichtsepochen und aller Kulturen ist aufgrund dieser ererbten Mitgift stets und immer wieder die Aufgabe gestellt, ego und alter in ein angemessenes, gemeinschaftsfähiges und -verträgliches Verhältnis zu setzen. Die natürliche Basis bedarf des menschlichen Bewusstseins, um sich zur Humanethik fortzubilden. Die Entwicklung der Ethik in der kulturellen Evolution setzt zunehmendes moralisches Bewusstsein voraus, was wiederum zunehmende Einsicht in die Notwendigkeit der Gestaltung des Individual- und des Zusammenlebens voraussetzt.
Durch die Soziobiologie ist auch die Debatte um den Ursprung und die Funktion von Religion neu belebt worden. Religion als etwas spezifisch Menschliches, in allen Kulturen Nachweisbares muss also im Prozess der Hominisation entstanden sein. Ihre Anfänge sind nicht datierbar, reichen aber mit Sicherheit sehr viel weiter zurück als die ältesten bekannten Kultzeugnisse5. Hier verspricht nun die Genetik einen neuen Zugang zum Rätsel Religion. Sicher ist allgemein richtig, dass auch religiöse Äußerungen auf genetischen Voraussetzungen beruhen müssen. Aber die Annahme eines spezifischen Religionsgens bleibt bislang hypothetisch6. Nach diesem Verständnis würde Religion von hoministischen Frühphasen an in der menschlichen Erbmasse tradiert und wäre damit, wie es naturwissenschaftlichem Interesse entspricht, auch materiell dingfest gemacht7.
Die These von bioevolutionären Wurzeln von Religion zieht die Frage nach der Funktion von Religion nach sich. Sie wird in der Regel dahingehend beantwortet, dass Religion sozialisationsfördernd sei und somit ihren Anhängern einen Überlebensvorteil verschaffe bzw. verschafft habe8. Diese positive Einschätzung von Religion hat ältere soziologische Theorien, die Religion häufig nur als „Legitimierungsideologie“ für die bestehende Sozialordnung9 verstanden, weithin abgelöst.
Typisch für diese Art der Religionserklärung ist, dass man Religion als Gesamtphänomen sehen und auf einheitliche Grundgegebenheiten zurückführen möchte. Das aber bleibt angesichts des breiten Spektrums der realen Religionslandschaft schwierig.
Auch wenn Religion nur als Produkt der kulturellen Evolution verstanden wird, ist ihre Rückführung auf eine Funktion problematisch. Ohne Zweifel ist Religion für die Bildung und Stabilisierung von Gemeinschaften von großer Bedeutung10, aber sie hat auch eine nicht zu unterschätzende individuelle Komponente11. Eben das hat die Entwicklung in Europa zunehmend deutlich gemacht. In Mittel-West-Europa hat die Bindekraft von Religion nachgelassen und wird vielfach als rein subjektiver Faktor gesehen. Religion hat wahrscheinlich mehrere Funktionen, die sich im Laufe der Geschichte wandeln oder unterschiedlich stark betont sein können.
Die Schiene der allgemeinen Theoriebildung zur Entstehung und Funktion von Religion soll hier nicht weiter verfolgt werden. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die christliche Religion und fragt nach der Entwicklung ihres Glaubensgutes in den zweitausend Jahren ihres Bestehens. Das Christentum ist eine religiöse Spätform, die eine lange vorchristliche Religionsgeschichte voraussetzt, was Christen durch die Rezeption des Alten Testaments immer auch ein Stück weit im Blick hatten. Grundsätzlich kann natürlich auch das Christentum Bausteine zu einer allgemeinen Religionstheorie beisteuern. Es ist nicht die ganz andere, in seinen Gehalten von anderen Religionen eindeutig zu unterscheidende Religion. Das Christentum beruft sich wie andere Religionen auf eine Stiftergestalt und ein heiliges Buch, teilt transzendentale Grundannahmen, Passageriten oder ethische Grundregeln mit vielen Religionen, und es unterliegt wie alle Religionen der Veränderlichkeit. Seine spezifische Entwicklung vollzog und vollzieht sich innerhalb einer spezifischen kulturellen Entwicklung.
Es soll gezielt der Frage nachgegangen werden, wie der christliche Glaube innerhalb des Prozesses der kulturellen Evolution evolviert. Nach bescheidenen Anfängen und der Frühzeit als Minderheitenreligion, die sich immer wieder Verfolgungen ausgesetzt sah, hatte das Christentum als Staatsreligion mit seinem Glaubensgut jahrhundertelang eine stark gesellschaftsprägende Funktion, die sich aber mit dem Weltkundigerwerden der abendländischen Gesellschaft abschwächte und dazu führte, dass sich nun umgekehrt christliches Denken und Glauben mehr und mehr der gesellschaftlichen Weiterentwicklung anpassten.
Die christliche Dogmen- und Theologiegeschichte ist längst bis ins Detail erforscht und häufig dargestellt worden. Es gibt jedoch keine Arbeiten, die die Entwicklung christlicher Glaubensvorstellungen als evolutionären Prozess zu verstehen versuchen. Weder christentumskritische Autoren noch christliche Theologen haben sich dieser Aufgabe gestellt. Nach den langen und heftigen Auseinandersetzungen mit der Darwin’schen Naturerklärung und der mühsam erreichten Anerkennung der kosmischen und biotischen Evolution unter Theologen, ist die Übertragung des im Sinne Darwins verstandenen Evolutionsgedankens auf die christliche Glaubensgeschichte unterblieben. Heilsgeschichtliche, teleologische Konzepte, die aber in der deutschsprachigen Theologie schon lange nicht mehr en vogue sind, können sich nicht auf Darwin berufen.
Die vorliegende Abhandlung versucht dem evolutionären Prozess in zentralen Bereichen des Glaubens und der Ethik nachzuspüren und versteht sich darüber hinaus als theologische Annährung an das große Thema Evolution. Dabei ist die Absicht der Normierung neuer Lehren schon vom Ansatz her ausgeschlossen. Es kann nur darum gehen, das Naheliegende zu denken und zuzulassen. Die anstehenden Fragen sind so gravierend, dass sie wohl nur im längeren Diskurs zu breiterer theologischer Lösungsakzeptanz führen können. Auch muss vor übertriebenen Erwartungen gewarnt werden. Die Evolutionstheorie ist weder der Generalschlüssel für Religion überhaupt noch der für das christliche Glaubensgebäude. Sie kann aber zum Verständnis der Religionsgeschichte beitragen.
Aufgezeigt werden im Folgenden nicht Entwicklungslinien des Christentums weltweit. Die Arbeit konzentriert sich geographisch auf Deutschland und das Europa westlicher Prägung, also auf den Teil der Welt, in dem die Evolution des Christenglaubens weit fortgeschritten ist. Nicht untersucht wird die institutionelle Entwicklung der Kirchen.
Die Frage, wie das Glaubensgut seit seinen biblischen Anfängen evolviert hat, kann nicht allein durch Betrachten der kirchlichen Lehrentwicklung oder theologischer Entwürfe beantwortet werden, da Kirche und Theologie überwiegend am Festhalten oder Wiedergewinnen der reinen Lehre interessiert waren. Die Veränderung der Glaubensgedanken ist vielmehr ein Prozess, der sich in der Gesamtbevölkerung vollzieht, weil er eng verknüpft ist mit der sich verändernden allgemeinen Lebensauffassung in der kulturellen Evolution. Dabei spielt die fortschreitende Erforschung der Welt und ihrer Bedingungen eine zentrale Rolle. Auch der Einfluss der kritischen Geschichtswissenschaft in diesem Prozess ist nicht gering anzusetzen. Weitaus massiver haben aber die Naturwissenschaften Denken und Leben des modernen Menschen geprägt und seinen Glauben verändert oder in Zweifel und Unglauben verwandelt. Entsprechend verlor die stark im geschichtlichen Denken verwurzelte christliche Theologie an Einfluss auf die Glaubensentwicklung der Bevölkerung.
Verbreitet ist die Annahme, dass für die pluralistische Gesellschaft von heute auch der Glaubenspluralismus typisch sei. Diese These sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei aller religiösen Vielfalt durchaus weit verbreitete Trends im Bereich des Glaubens gibt. Der Prozess der religiösen Evolution ist an solchen Trends abzulesen, während die verschiedenen Einzelmeinungen nur den Unterprozess von trial and error anzeigen.
Die in Deutschland von den Kirchen in Auftrag gegebenen Umfragen zur Glaubenssituation sind nicht in der Absicht gemacht worden, die Evolution des Glaubens zu erforschen oder gar lehrmäßig zu berücksichtigen, sondern dienten vor allem der Bestandsaufnahme12. Dagegen sollten die Umfragen des Magazins DER SPIEGEL wohl das Vorurteil stützen, das Christentum sei im Begriff zu verschwinden13. Alle Umfragen haben belegt, was in groben Zügen jeder weiß und an sich selbst oder seiner Umwelt beobachten kann: Die religiösen Einstellungen großer Teile der Bevölkerung haben sich gegenüber früheren Zeiten verschoben. Die Umfragen verdeutlichen die Trends, zeigen aber auch, dass älteres Glaubensgut nicht ausgestorben ist. Die Evolution des Glaubens erfolgt nicht als einlinige Entwicklung in der Gesellschaft, sondern kommt durch Auseinandersetzungen voran.