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2. Kapitel
Die Grundstruktur christlicher Religion
Eine Vorstellung von Evolution gab es zur Zeit der Entstehung des Christentums nicht, und das blieb so während des größten Teils der christlichen wie auch der jüdischen Geschichte. Es ist selbstverständlich, dass die christlichen Grundgedanken von der Entstehung der Welt und dem Sinn der Geschichte völlig andere sein mussten, als sie die Evolutionstheorie nahe legt. Wenn auch die altchristliche Weltsicht keineswegs archaisch zu nennen ist, so beruht doch ihre Ausformung in der Spätantike auf aus heutiger Sicht relativ geringer Weltkenntnis und Weltbeherrschung. Daher die starke Ausrichtung auf die Transzendenz und das Haltsuchen in festen Ordnungen.
Die Grundstruktur christlicher Religion ist der Glaube an zeitlos gültige Heilsereignisse oder Wahrheiten. Als göttliche Offenbarungen sind und bleiben sie unumstößlich. In der Bibel ist dieser Glaube massiv vorgegeben. Ist es für das Alte Testament durchgehende Wahrheit, dass Israel Gottes auserwähltes Volk ist und trotz aller Irrwege und daraus folgender göttlicher Strafen bleibt (Jer 31, 3), so wird im Neuen Testament Jesus Christus als die letztgültige, ewige Offenbarung Gottes verkündigt.
Das Neue Testament ist überall christozentrisch, weil es von dem Glauben durchdrungen ist, dass sich im Fleisch gewordenen göttlichen Sohn Gottes Erlösungswille ein für alle Mal manifestiert hat. So wird immer wieder die bleibende, unaufhebbare Bedeutung Christi betont. „Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ heißt es Hebr 13, 8. Der johanneische Christus sagt von sich: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh 14, 6). Die synoptische Apokalypse lässt Jesus sagen: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Mk 13, 31 par). Das Kreuzesopfer ist „ein für alle Mal“ (Hebr 7, 27) dargebracht. Dieser Vorstellung von der ewig gültigen Christusoffenbarung, auf die sich der Mensch fest verlassen kann („Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt“ Mt 28, 28), aber auf die er sich auch verlassen muss, um der Erlösung teilhaftig zu werden, korrespondiert der Glaube an den sich gleich bleibenden Gott. Schon das Alte Testament bringt den Glauben an Gottes Unwandelbarkeit an sich, aber auch und gerade in seinem Verhältnis zu den Menschen immer wieder zum Ausdruck. Gottes Thron bleibt immer und ewig (Ps 45, 7); der Bund, den Gott mit Menschen schließt, ist ewig (Gen 17, 19; Jes 54, 10). Seine Gnade währt ewig und seine Wahrheit für und für (Ps 100, 5). Gott ist die immerwährende, verlässliche Instanz, bei der die Menschen „Zuflucht finden“ „für und für“ (Ps 90, 1f.). Solche und ähnliche Aussagen begegnen häufig in den Psalmen. In Gebetstexten sprechen Menschen ihr Vertrauen aus, dass Gott das menschliche Bedürfnis nach Beständigkeit verkörpert. Im Neuen Testament erhält das Gottvertrauen seine christologische Spitze. Gott hat in Christus das verlässliche Fundament gelegt (1. Kor 3, 11) und den allzeit tragenden „Eckstein“ (z. B. Eph 2, 20) gesetzt.
Aber nicht nur in seinen Heilsoffenbarungen ist Gott die absolut verlässliche Instanz. Auch seine ethischen Weisungen haben bleibende Gültigkeit. Auch die Zehn Gebote, die Mose am Berg Horeb empfangen hat, sind göttliche Offenbarung. Alle göttlichen Gesetze der Gerechtigkeit sind von ewiger Dauer (Ps 119, 160). Im Neuen Testament erfolgt die Konzentration auf das Liebesgebot, das wiederum in Christus kulminiert, weil sich in ihm sowohl die ewige Liebe Gottes geoffenbart, als auch das Vorbild menschlicher Liebe dargestellt hat.
Aber auch die Ordnungen der Natur gelten als von Gott festgelegt. Gott hat am Anfang alles fertig geschaffen und für gut befunden und wird daran nicht rütteln, „solange die Erde steht“ (Gen 8, 11). Die Welt besteht aus der fest „gegründeten“ Erde (z. B. Ps 104, 5) und der „Feste“ des Himmels (Gen 1, 6ff.). Die Ordnungen des Himmels und der Erde sind so fest und verlässlich wie Gottes Bund mit seinem Volk (Jer 33, 25f.).
Die Adaption griechisch-ontologischer Philosophie durch christliche Theologen hat die statische Gottesvorstellung weiter verstärkt. Ist Gott das höchste Sein, so folgt daraus sein ewiges Gleichsein. Für Thomas v. Aquin etwa ist Gott vollkommen, unendlich und unveränderlich. Aber auch der voluntaristische Ansatz, den Luther bevorzugt, rechnet mit Gottes ewigem und unveränderlichem Willen1.
Dieses Denken, das mit vom unveränderlichen Gott ein für alle Mal festgelegten Ordnungen und Wahrheiten rechnet, prägte die abendländische Geschichte im Allgemeinen und die Kirchengeschichte im Besonderen. Man glaubte sich in einer Welt, die von Gott in allem Wesentlichen vorgegeben war. Die Kirchen verstanden sich als Hüter der ewigen Wahrheiten und haben zur Abgrenzung von anderen, als falsch erachteten Lehren Glaubensnormen festgelegt. Das beginnt in der alten Kirche mit der Festlegung des Kanons, wodurch der Glaube an die Bibel als Behälter von Gottes ewigem Wort gefestigt wurde. Es entstanden verbindliche Formulierungen des Credos. Durch Konzile wurden die Bekenntnisse zur Trinität und zur Zweinaturenlehre festgeschrieben. Im Mittelalter, aber auch noch in der Neuzeit wurde Stein um Stein des Lehrgebäudes der katholischen Dogmatik aufgeschichtet. Auch die Reformatoren erkannten schnell, dass einfache Formeln wie „solus Christus“ oder „sola scriptura“ nicht ausreichen, um den Wahrheitsanspruch der neu entstehenden Kirchengebilde abzusichern, und schufen als biblischen Extrakt genauere Festlegungen in Gestalt von Bekenntnisschriften, während die katholische Kirche schließlich die bleibende Unantastbarkeit ihrer Lehren mit dem Unfehlbarkeitsdogma zementierte. Im 20. Jahrhundert schärft die protestantische Barmer Theologische Erklärung in Abgrenzung von völkisch-nationalsozialistischem Gedankengut noch einmal die zeitlose Gültigkeit der Christusoffenbarung ein.
Die statische Gottes-, Welt- und Werteauffassung verträgt sich mit der Vorstellung einer Entwicklung, solange diese nur als Heilsgeschichte verstanden wird. Denn Gottes Offenbarungen erfolgen in der Zeit, aber nicht zeitgleich. Das Handeln Gottes ereignet sich in der Bibel in einem zeitlichen Nacheinander. Auf die Schöpfung Gottes am Anfang folgt nach dem Sündenfall in christlicher Vorstellung das Erlösungshandeln Gottes. Im Alten Testament vorhergesagt, erscheint der Erlöser, als die Zeit erfüllt war (Gal 4, 4), und vollbringt sein Erlösungswerk am Kreuz und mittels Auferstehung. Nach einer kurzen Phase zu Beginn des Christentums, in der man das Reich Gottes bzw. die Wiederkunft Christi nahe wähnte (Jesus, Paulus), setzte sich besonders seit Lukas die Vorstellung vom Christusgeschehen in der Mitte der Zeit durch, so dass sich die Kirche etablieren und ausbreiten konnte. Die vom göttlichen Heilshandeln geleitete Geschichte erreicht ihr Ziel am jüngsten Tag mit der endgültigen Scheidung der Erlösten von den Verdammten.
Ein Geschichtsverständnis im modernen Sinn gibt es in biblischer Zeit und lange Zeit danach nicht. Nicht die Geschichte als solche oder als ganze ist im Blick, sondern einzelne Ereignisse werden als gott-menschliche Beziehungsereignisse gedeutet. Die vielen „Geschichtsbücher“ Israels im Alten Testament konzentrieren sich auf die Heilsereignisse der Bundesschlüsse, des Exodus und der Landnahme und schildern das oft den Bund brechende Verhalten des auserwählten Volkes und seiner Vertreter. Im Neuen Testament interessieren an der Geschichte eigentlich nur das Heilshandeln Gottes in Christus und die Reaktion der Menschen darauf.
Das in der Bibel angelegte Nacheinander von „Heilstatsachen“ hat in der Folgezeit immer wieder zu genauer ausgearbeiteten heilsgeschichtlichen Konzepten geführt. Darunter ragen hervor der Entwurf von Augustin („De Civitate Dei“) und die Dreizeitalterlehre des Joachim von Fiore (12. Jahrhundert). Mit dem Aufkommen der kritischen Geschichtswissenschaft in der Neuzeit ist zwar der Glaube an eine Heilsgeschichte rückläufig, erreicht aber andererseits im 19. Jahrhundert bei konservativen Theologen wie Johann Tobias Beck, Johann Christian K. von Hofmann oder John Henry Newman noch einmal einen Höhepunkt. Auch der Ausdruck Heilsgeschichte kommt erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf2. „Die Geister der Geschichtswissenschaft hatte man in den Dienst der heilsgeschichtlichen Deutung nehmen wollen. Aber sie erwiesen sich als mächtiger“3. So erlischt nach einem letzten Aufflackern im 20. Jahrhundert, etwa bei O. Cullmann4, unter dem Druck der Geschichtswissenschaft das theologische Interesse an Heilsgeschichte.
In einem Punkt erwies sich jedoch bis ins frühe 20. Jahrhundert das heilsgeschichtliche Denken als außerordentlich wirkmächtig. Es ist die eschatologische Vorstellung, dass die Geschichte einem Endziel zustrebt. Gewiss ist es in der Neuzeit nicht mehr oder nicht mehr nur die biblische Geschichte, die das geschichtsphilosophische und -theologische Denken leitet. Der Horizont weitet sich und führt manchmal, jedoch nicht häufig, auch zur Einbeziehung der Naturgeschichte (z. B. bei Richard Rothe oder Pierre Teilhard de Chardin), und das Aufkommen der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung im Verein mit den Erkenntnisfortschritten der Naturwissenschaften lassen die Geschichtsdeutung innerweltlich und universal werden. Aber die Grundidee einer finalistischen Entwicklung hält sich zäh, sei es dass man sie als von Gott vorgegeben oder als unpersönliches, endogenes Prinzip glaubt. Idealistische wie materialistische Philosophie halten über die Schulhäupter Hegel und Marx hinaus noch lange am Glauben an eine zielgerichtete Entwicklung fest5. Auch die frühe Soziologie ist von der Idee, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung nach inhärenten Eigengesetzlichkeiten vollzieht, bestimmt (Auguste Comte, Herbert Spencer). Der Fortschrittsoptimismus übertrug sich auf die Geschichtsdeutung und nährte den Glauben, dass sich im Geschichtsverlauf Vernunft, Sittlichkeit, Freiheit oder auch die klassenlose Gesellschaft durchsetzen würden.
Die statische Welt- und Lebensauffassung, die die christliche Gesellschaft so viele Jahrhunderte dominierte, war evolutionsgeschichtlich gesehen „richtig“, so lange Weltkenntnis und Geschichtsbewusstsein gering und das Lebensrisiko sehr hoch waren. Nur der Glaube an verlässliche Wahrheiten und feste Strukturen machte das Leben erträglich. Dass die Menschenwelt nicht nur auf der Stelle tritt, wurde freilich schon durch den Fortgang der Geschichte zunehmend deutlicher gesehen, und mit der kopernikanischen Wende rückte auch die Dynamik des Kosmos ins Blickfeld. Aber neben dem Erkennen von Entwicklung und Bewegung konnte sich die Überzeugung, dass es unverrückbare Grundlagen, zumindest aber ein vorgegebenes Ziel gibt, noch lange halten. Doch letztendlich erschütterte die Evolutionstheorie Darwins die Grundfesten christlich-abendländischen Denkens nachhaltig, weil sie deren Gegenteil nachweisen konnte und die Wirklichkeit als offenen Prozess verstehen lehrte. Dass nicht nur die Naturgeschichte, sondern auch die Menschengeschichte ein offener Prozess und nicht etwa die Entfaltung eines vorgegebenen Programms ist, ist allerdings die Einsicht, die sich zuletzt durchsetzte.