Читать книгу Schuldig geboren - Hans Schaub - Страница 7
ОглавлениеMax
Über sechzehn Stunden dauerte die Eisenbahnfahrt von Basel nach Utrecht. Grosse Traurigkeit hatte Max erfüllt. Sich von seiner Schwester und seinem Bruder zu trennen, war ihm schwergefallen. Drei Tage vor der Abfahrt war der Vater verschwunden, Max hatte sich nicht von ihm verabschieden können. Einzig das Abenteuer der langen Bahnfahrt milderte seinen Abschiedsschmerz. Der Gemeindeschreiber hatte ihm das Leben in Holland in den schönsten Farben beschrieben. Er sei ihm sogar etwas neidisch, denn er sei selbst noch nie ausserhalb der Landesgrenze gewesen. Während der ganzen Zugfahrt drückte Max kein Auge zu. Er wollte sich nichts entgehen lassen, nichts verpassen. Alles war ihm neu; die Bahnhöfe, wo sich Leute von Freunden und Familie verabschiedeten, andere, vom Zug kommend, empfangen wurden. Ein Treiben, das er sich auf dem einsamen Hof in den Jurahöhen nicht hatte vorstellen können. Dann das Rangieren der Dampfloks, die Pfeiftöne vor der Abfahrt und unterwegs. Dem aufgeweckten Jungen war dies neu und unbekannt.
Der Zug erreichte Utrecht am frühen Morgen des 10. Novembers 1930. Auf dem Bahnsteig nahmen ihn Tante Anna und ihr Mann in Empfang. Hinter ihnen hertrottend, den Karton mit seinen wenigen Habseligkeiten unter dem Arm, ging’s zum vor dem Bahnhof stehenden leichten Einspänner. Vom Mann wurde er auf den auf der Brücke des Wagens liegenden Strohballen gehievt. Anna und ihr Mann setzten sich auf den Bock, und in leichtem Trab ging’s stadtauswärts. Noch im Stadtgebiet, legte sich Max aufs Stroh und schlief bald ein. Weder die Kälte noch das Rumpeln über die vielen Schlaglöcher hielten ihn vom Schlaf ab. Vor dem Hof des Onkels, wie Max Annas Gatte fortan nennen musste, wurde er von der Tante unsanft geweckt. Während ihr Mann die Pferde versorgte, brachte Anna den schlaftrunkenen Max ins Haus. In der Dunkelheit nahm er kaum etwas von der neuen Umgebung wahr. Tante Anna setzte ihm in der Küche ein Glas mit warmer Milch vor, das er in einem Zug leerte.
«Max», belehrte ihn seine Tante, «in unserem Haus danken wir immer unserem Schöpfer für alles, was er uns schenkt, nie wieder wirst du etwas trinken oder essen, bevor du dem Herrn für seine Gaben gedankt hast.» Zu müde von der Reise, nahm Max die Ermahnung kaum wahr. Vom Gespräch seiner Tante mit ihrem Mann, der mittlerweile in die Küche getreten war, verstand er kein Wort. Die Tante führte ihn in eine Dachkammer, wo er sich vor deren Augen ausziehen und ein langes Nachthemd anziehen musste. Noch während des von der Tante gesprochenen Nachtgebets fiel er in einen tiefen Schlaf.
Für Max begannen sieben Jahre im Kreis seiner Tante und deren Glaubensgemeinschaft. Mit dem Makel eines Kindes, entsprungen einer unheiligen und ohne kirchlichen Segen gelebten Ehe. Dem einer abtrünnigen Mutter und eines dem Teufel zugewandten Vaters in Sünde gezeugt und geborenen, musste Max durch die harte Schule der Glaubensgemeinschaft. Nichts war wie zuvor. Schluss mit den kleinen Freiheiten, die sich Max und sein Bruder während der langen Jahre, als die Mutter krank im Bett gelegen war, genommen hatten. Jetzt, in der Obhut und unter der Kontrolle der Tante, musste er sich täglich waschen und saubere Kleidung tragen, die aussah wie die der anderen Kinder der Täufer-Gemeinschaft. Allein schon diese radikale Umstellung seiner Lebensumständen barg genügend Zündstoff. Die auf pingelige Sauberkeit achtende Tante ermahnte ihn ständig, es setzte Strafen ab, Ohrfeigen und nicht selten Stockschläge auf den Hintern. Für die Körperstrafen war der Onkel zuständig. In der Gemeinschaft war dieser hoch geachtet und als Verkünder der Heiligen Schrift angesehen. Für die brutale Züchtigung mit einem Stock fand er genügend Bibelzitate, mit denen er sein Handeln rechtfertigte. Während er auf Max einschlug, zitierte er seine biblischen Weisheiten.
Max musste ein grobes, auf Zucht und Ordnung basierendes Regime über sich ergehen lassen. Seine Zieheltern hatten die Absicht, aus ihm ein gläubiges Mitglied der Gemeinschaft zu machen. Bis zur Taufe als Erwachsener sollte er ein den Lehren der Täufer folgender, gläubiger Christ werden. Die ihm bei seiner Ankunft unverständliche Sprache lernte er in kurzer Zeit. Es dauerte nur wenige Monate, bis er in der Schule den Lehrern folgen konnte. Die anfänglichen Sprachprobleme und die Abweichungen vom Lehrplan in der Schweiz bedingten die Zurückstufung um ein Schuljahr. Keine Nachricht, kein Brief von seinem Bruder oder von Elsi erreichten ihn. Max litt, er hatte Heimweh nach seinem Zwillingsbruder. Er sehnte sich zurück auf den Hof, auf dem sie zusammen gespielt und herumgetollt hatten. Nur zu gerne hätte er das strenge Leben in Holland gegen die Mühen auf dem väterlichen Hof, den Schmutz und die nicht voraussehbaren Launen seines Vaters getauscht.
Gut drei Jahre lebte Max auf Tante Annas Hof, als sich die Stimmung in der Gemeinschaft verdüsterte. Fremde Männer von Täufergemeinden aus dem Schwarzwald in Deutschland kamen zu Besuch. Dann folgten deren Familien mit ihrem Hab und Gut nach und fanden Unterschlupf bei ihren holländischen Glaubensbrüdern. Auch auf Tante Annas Hof zog eine Familie ein. Max musste seine kleine Kammer mit drei Buben der Zugezogenen teilen. Ein zweites Bett wurde ins Zimmer gestellt, sodass sich immer zwei ein Bett teilen mussten. Auch Mädchen gehörten zur Familie der Zugezogenen. Für sie wurden im Schlafzimmer ihrer Eltern Strohsäcke als Schlafunterlagen bereitgestellt. Zu den durch die Enge im Haus aufkommenden Spannungen gesellte sich die von den Geflüchteten geschürte Angst vor Verfolgung.
Wenige Jahre zuvor hatten in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht übernommen. Alle Organisationen und Gemeinschaften, die sich deren Weltanschauung verweigerten, wurden verfolgt. Die Täufer anerkannten wohl die Obrigkeiten, verweigerten jedoch jeglichen Militärdienst. Deshalb wurden sie als pazifistische Organisation verfolgt, Militärdienstverweigerer ins Gefängnis oder zur Umerziehung in Lager gesteckt. Es blieb ihnen nur die Flucht.
Der Aufenthalt in Holland sollte nur ein vorübergehender sein. Sie glaubten, dass der Schöpfer ein derart menschenverachtendes Regime nicht dulden und es bald vernichten würde. Die Zuversicht, auf ihre Höfe zurückkehren zu können, schwand, je länger sie von dort weg waren und die Angst, selbst in Holland von den Nazis verfolgt zu werden, stieg. Irgendwann entschied der Rat der Ältesten, Tante Annas Mann nach Amerika zu schicken. Mit dortigen Glaubensbrüdern sollte er die Übersiedlung der Verfolgten in die USA vorbereiten. Nach drei langen Monaten kehrte er mit der guten Nachricht zurück, dass die Täufergemeinde in Amerika alle Flüchtlinge aufnehmen werde und gegenüber dem Staat die für die Einreise notwendigen Bürgschaften leiste. Die Flüchtlinge verkauften ihren holländischen Brüdern alle Geräte, die sie nicht mit dem Schiff, das sie nach Pennsylvanien bringen sollte, mitnehmen konnten.
Auch nach dem Wegzug der Flüchtlinge blieben Spannung und Verunsicherung bestehen. Den Täufern war es nicht gestattet, ein Radio zu besitzen. Mit diesem Teufelsding würden Schund und Unzüchtiges, Musik und unmoralische Gedanken verbreitet. Doch in Anbetracht der besonderen politischen Lage erlaubte der Rat der Ältesten dem Onkel und Prediger, ein Rundfunkgerät zu kaufen und zu installieren. In der Küche sitzend, hörten Anna und der Onkel die Nachrichten von Radio Hilversum. Manchmal durfte Max mithören. Immer beunruhigender wurden die Meldungen. Das Elsass und die Tschechei waren von Deutschland besetzt und ins Reich «heimgeholt» worden.
1937, an einem Spätsommertag: Max war mit seinem Onkel auf dem Feld beim Kartoffelgraben, als der Dorfpolizist auf dem Feld erschien. Er überreichte dem Onkel eine Verfügung der Behörde, die besagte, dass der Schweizer Bürger Max das Land innerhalb von zehn Tagen zu verlassen habe.
Davon wollte der Onkel nichts wissen und beschimpfte den Überbringer der Verfügung. Es sei nicht das einzige derartige Schreiben, das er in diesen Tagen zustelle, gab ihm der Polizist gelassen zurück.
Seit Max in Holland bei seinen Verwandten lebte, hatte er keine Kontakte mit Schweizer Behörden. Nun musste er seinen Onkel zum Schweizer Konsulat begleiten. Mit dem Fahrrad fuhren sie zum Bahnhof nach Utrecht und weiter per Bahn nach Den Haag. Die grosse, lebhafte Stadt mit Autoverkehr und Strassenbahnen beeindruckten das Landei Max. Erstmals war er in einer Grossstadt. Immer wieder blieb er hinter dem voraneilenden Onkel zurück. Die hellen Schaufenster der Geschäfte weckten seine Neugier und liessen ihn staunen. Doch den Onkel trieb es vorwärts zum Konsulat.
Nach über einer Stunde des Wartens im Vorzimmer empfing der ältere, wohlgenährte Konsul die beiden Besucher. An der Kleidung, die die beiden trugen, erriet er, welcher Glaubensgemeinschaft sie angehörten. Bevor sich der Onkel über die von den holländischen Behörden erlassene Verfügung beschweren konnte, musste er sich vom Konsul eine scharfe Rüge anhören. Sieben Jahre habe er sich nicht gemeldet. Auf Briefe und Ermahnungen wegen der ausbleibenden Berichte über den aus der Schweiz aufgenommenen Jungen habe er nie geantwortet. Es scheine, dass er nicht wahrhaben wolle, dass der Junge ihm und seiner Frau zur Obhut und nicht als ihr Eigentum überlassen worden war. Mit richtiger Führung sei Max nun in einem Alter, in dem er auf eigenen Beinen stehen könne. Zudem werde Max militärdienstpflichtig, ein weiterer Grund, an die Heimkehr in die Schweiz zu denken. Unter dem Protest des Onkels übergab ihm der Konsul einen Notpass und eine Fahrkarte von Utrecht nach Basel. Er habe den Zug, der in vier Tagen fahre, zu nehmen. In Basel solle er sich bei der Grenzpolizei melden, die würden für seine Weiterfahrt besorgt sein.
Der Onkel schaute den Konsul mit kalten, strafenden Augen entrüstet an. Als friedliebender Täufer durfte er seine Wut und Verachtung nicht offen zeigen.
«Warum», fragte er, «sollten wir Ihren Behörden über das Leben des Jungen berichten? In unserer Gemeinschaft ist alles getan worden, um aus dem Jungen einen gläubigen, unserer Gemeinschaft dienenden Menschen zu machen. Jetzt, wo bald die Zeit kommt, in der er sich den Schriften unseres Herrn unterordnet und sich taufen lassen wird, soll er wegziehen?»
Sollte der junge Mann dieser Glaubenslehre folgen wollen, könne er das auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz tun, gab ihm der Konsul zu verstehen. Sicher habe seine Frau genügend Kontakte zu Täufergemeinden in der Schweiz. Dagegenzuhalten, fehlten dem Onkel die Argumente. Grusslos verliessen die beiden das Konsulat und machten sich auf den Weg zurück zum Bahnhof.
Seine Freude über diese obrigkeitliche Verfügung durfte Max nicht offen zeigen. Endlich ausbrechen aus der Familie, ausbrechen aus der freudlosen Gemeinschaft. Sein Leben selbst bestimmen. Bis zur Abfahrt in die Schweiz musste er versuchen, vordergründig die Sorgen der Täufer um seine Zukunft ohne den Schutz der Gemeinschaft zu teilen. Für die Rückreise waren keine grossen Vorbereitungen zu tätigen. Seine Habseligkeiten fanden Platz in einer etwas grösseren Schachtel als der, mit der er sieben Jahre zuvor angereist war. Der Abschied fiel kühl aus. Tante Anna ermahnte ihn zur Dankbarkeit für die Aufnahme bei ihr und überreichte ihm die Adresse der Täufergemeinde, in der sie selbst aufgewachsen war. Dort würde er sicher wohlwollend aufgenommen werden.
Vom Ältesten der Gemeinschaft erhielt er zehn Gulden als Reisegeld. Mit dem Einspänner fuhr ihn der Onkel zum Bahnhof nach Utrecht, wo er Max kurz angebunden verabschiedete und ohne auf den Zug nach Basel zu warten wieder zurückfuhr.
Die Zeit bis zur Abfahrt nutzte Max auf seine Weise. Bei einem Barbier liess er sich den flaumigen Bart rasieren. In einem Kleiderladen erstand er sich ein buntes Hemd. Das Weisse, das ihn als Täufer kennzeichnete, liess er im Laden zurück. Den Hut, ein weiteres sichtbares Zeichen der Täufer, schenkte er einem Bettler, der vor dem Bahnhof herumlungerte. Bei der Einfahrt des Zuges unterschied ihn sein Äusseres nicht mehr von den anderen mitreisenden Jünglingen.
Auf der Fahrt nach Basel fand Max erstmals Zeit, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Ohne die alles bestimmende Tante, den Onkel, der all seine Handlungen dem Rat der Ältesten unterstellt hatte. Jetzt lag es an ihm, die Initiative zu ergreifen. Mit nichts als einer Schulbildung in Holland musste er einen Einstieg ins Berufsleben finden. Er würde die meisten von der Lebensgemeinschaft der Täufer eingetrichterten Verhaltensweisen ausblenden und sich den Anforderungen des Lebens stellen müssen. Er wollte erfahren, wie es war, sich ohne schlechtes Gewissen zu vergnügen. Auch wurde er sich bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie man mit dem weiblichen Geschlecht umging. Nach der Ankunft wollte er als Erstes seine Schwester Elsi, seinen Bruder und dann den Vater besuchen. Vor dieser Begegnung fürchtete er sich. War er immer noch so aufbrausend, wie er ihn in Erinnerung hatte? War es nun möglich, mit seinem Vater ein Gespräch von Mann zu Mann zu führen?
Mit dem ausdrücklichen Hinweis, sich unmittelbar nach der Ankunft in Waldenburg auf der Gemeinde zu melden, hatte ihm ein Grenzbeamter im Bahnhof Basel seine Fahrkarte übergeben.
«Da kommt er ja, unser Fliegender Holländer», rief der Gemeindeschreiber, als Max sich, wie ihm aufgetragen war, bei ihm meldete. Dass man ihn als Holländer ansprach, konnte er verstehen, aber unter einem «fliegenden Holländer» konnte er sich nichts vorstellen. In der Schule der Täufer waren Themen zur Mystik oder der Musikkunst tabu und schon gar nicht im Lehrplan gewesen. Er hatte anderes Wissen. Zu fast jedem Ereignis kannte er einen passenden Bibelspruch.
Seit dem Wegzug von seinem Heimatort war der alte Gemeindeschreiber in Pension gegangen. Ein junger, aufgeweckter Mann aus dem Nachbardorf war an seiner Stelle. Er bat Max, sich zu setzen und fragte wissbegierig nach seinen Erlebnissen in Holland. Sein Interesse war echt. Nur selten waren Leute aus seinem Bekanntenkreis ins Ausland gereist. Noch wenigere lebten mehrere Jahre dort. Max erzählte, wie die Holländer und im Besonderen die Täufer lebten, von ihren Gebräuchen und Essgewohnheiten.
In all den Jahren in Holland hatte Max keine Kontakte zu seiner Schwester, dem Bruder und dem Vater gehabt. Keine Nachricht war zu ihm gelangt. Denn Tante Anna hatte alle an ihn adressierten Briefe ungeöffnet vernichtet. Dies beschäftigte ihn ebenso wie die Frage, was er in naher Zukunft tun werde, ob er eine Arbeit finden oder einen Beruf erlernen könne.
Der Gemeindeschreiber klärte ihn über die sich ergebenden Fragen auf. Solange er minderjährig sei, bestimme die Gemeinde, was er zu tun habe. Seinem Vater sei das Sorgerecht für ihn und seinen Bruder entzogen worden. Sein Bruder Ruedi lebe nach wie vor als Knecht beim Verwandten auf dessen Bauernhof. Seine Schwester Elsi sei seit bald einem Jahr im Nachbardorf mit einem Lehrer verheiratet. Im gleichen Dorf, aus dem auch er stamme. Er kenne den Lehrer sehr gut, seine Schwester könne stolz sein, einen so tüchtigen Mann gefunden und zu seiner Frau erkoren worden zu sein. Der Vater sei dem Alkohol verfallen. Alle bürgerlichen Rechte habe man ihm entzogen. Er wohne in einer von der Gemeinde zugeteilten, kleinen Dreizimmerwohnung. Als Gemeindearbeiter sei er zuständig für den Unterhalt der Wege auf dem Friedhof und hebe die Gräber aus für verstorbene Mitbürger.
Man habe für Max eine Lehrstelle im Unternehmen des Doktors gefunden. Allerdings frage er sich jetzt, wo er so vor ihm stehe, ob die von der Behörde getroffene Berufswahl richtig gewesen sei. Er sei klein und schmächtig, magerer als Lehrlinge in seinem Alter. An seinen Händen könne man schon erkennen, dass er auf dem Feld gearbeitet habe, hingegen erwarte er von einem künftigen Schmid eine kräftigere Statur. Den vom Gemeindevorsteher abgesegneten Entscheid zur Berufslehre konnte der Gemeindeschreiber jedoch nicht umstossen. Er solle sich am kommenden Montag beim Portier in der Fabrik melden. Dort würde er zum Personalchef weitergeleitet.
Die Gemeinde habe schon sehr viel Geld ausgeben müssen für ihn und seine Familie. Er erwarte, dass er dies anerkenne und sich sittlich benehme, mahnte er den verdutzten Max. Er könne in der Wohnung seines Vaters wohnen. Mit dem Lehrlingslohn von fünfundzwanzig Franken könne er für sein Essen und Trinken aufkommen. Jeweils im Frühjahr und im Herbst erhalte er von der Gemeinde dreissig Franken, damit könne er sich Kleider und Schuhe kaufen. Und man erwarte, dass er sich nicht in Wirtshäusern aufhalte und er sich, sollte die Gemeinde dazu aufrufen, zu Fronarbeiten melde.
Viele sich für zuständig haltende Leute hatten an zu vieles gedacht. Über seinen Kopf hinweg, ohne ihn um seine Meinung zu fragen, hatten sie über ihn bestimmt. Er wollte weder Schmid werden, noch konnte er sich vorstellen, in der gleichen Wohnung wie sein Vater zu hausen. Was konnte er gegen die Bevormundung tun? Max war bei den Täufern zum Gehorsam erzogen worden. Selbst über scheinbar unwichtige Dinge hatte der Rat der Ältesten entschieden. Aufbegehren oder gar Widerstand leisten führten zu schweren Strafen. Jede und jeder fürchtete die harten Gerichte, die Ermahnungen an einzelne Gemeindemitglieder, die der Prediger vor dem Ende des Sonntagsgottesdienstes verlas. Ein Stigma für alle, die davon betroffen waren. Bedrückt und unschlüssig verliess Max das Gemeindehaus und begab sich zu seinem künftigen Wohnort.
Es war später Nachmittag, die Fenster der Wohnung geschlossen. Max öffnete die unverriegelte Tür. Fürchterlicher Gestank schlug ihm entgegen. Nie zuvor hatte Max eine derartige Unordnung wie die in den Räumen seines Vaters gesehen. Er ging davon aus, dass der Vater noch bei der Arbeit war und erst gegen Abend nach Hause kam. Er war bestimmt darüber informiert worden, dass sein Sohn aus Holland zurückkehrte.
Zuerst öffnete Max die vor Schmutz blinden Fenster und liess frische Luft in die Wohnung. Je mehr er sah, umso übler empfand er den desolaten Zustand. Tante Anna hingegen war eine pingelig saubere Frau. Ihr Haus war stets fast klinisch sauber. Wehe dem, der Schmutz hereinbrachte. Selbst ihr Mann, der als Prediger redegewandt und eine hohe Stellung in der Gemeinschaft eingenommen hatte, fürchtete die Schimpftiraden seiner Frau, wenn er das Haus schmutzig betrat. Jedermann hatte seine Schuhe und Arbeitskleider vor dem Eingang auszuziehen und das Haus erst nach gründlichem Händewaschen zu betreten. Und jetzt das! Ungewaschene Leibwäsche, stinkende Socken, das seit Monaten nicht mehr gewechselte Bettzeug schwarz und steif vor Schmutz. In der kleinen Küche lag das wenige Geschirr verschmutzt im Spültrog. Auf der Anrichte standen leere, verkrustete Konservendosen. Im übervollen Abfalleimer «lebte» es. Würmer und Käfer taten sich am Abfall gütlich.
Max begann in der Küche. Er spülte Geschirr und Pfannen. Richtig sauber wurde keins von beiden, denn es gab weder Abwasch- noch Scheuermittel. Den Lärm, den Max mit seinem Wirken erzeugte, hörte die im oberen Stock wohnhafte Hausbesitzerin. Was sich da unten tue, fragte sie sich und schlurfte die ausgetretene Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Max erschrak beim Anblick der ungepflegten, mit langen, dünnen Haaren unter der Tür stehenden Frau. Er kannte sie aus der Zeit, als er noch im Städtchen zur Schule gegangen war. Mit seinem Zwillingsbruder und anderen Schulkindern waren sie der Frau nachgerannt und hatten sie als Hexe beleidigt. Sie wiederum hatte den Kindern wüste Verwünschungen nachgerufen. Und jetzt stand die Hexe vor ihm. Korpulent, in roten Pluderhosen, einer schmutzigen blauen Bluse, die nackten Füsse in Filzpantoffeln, auffällig geschminkt. Mit ihrer für eine Frau auffällig tiefen Stimme sprach sie Max an: «Du bist es, der da rumort? Eigentlich hatte ich erwartet, dass du mich, wie es sich gehört, erst begrüssen und dann in die Wohnung gehen würdest. Es scheint, dass man in Holland vergessen hat, dir Anstand beizubringen. Nun, wie du siehst, bin ich da und du wirst künftig unter dem gleichen Dach wie die ‹Hexe› leben müssen.» Dabei lachte sie und machte ein freundliches Gesicht. «Komm mit nach oben, junger Mann, ich mache uns erst einen Tee.» Langsam stieg sie die Treppe hoch, der noch etwas verdatterte Max hinterher. Er folgte ihr in die unaufgeräumte, aber saubere Küche. Während sie Wasser aufsetzte, befragte sie ihn über seine Reise. «Du bist sicher müde von der langen Fahrt und solltest dich ausruhen. Etwas Schlaf würde guttun und dir die Kraft verleihen, die du in den kommenden Tagen sicher gebrauchen kannst.» Ganz perplex von der unerwarteten Freundlichkeit der Frau bedankte sich Max für den Tee und das süsse Gebäck, das sie ihm vorsetzte. Bevor er da unten ein Auge zumachen könne, müsse er aufräumen und putzen. In dieser Unordnung und dem Schmutz, der einem Saustall gleiche, könne er nicht schlafen.
Die alte Frau betrachtete ihn eine Weile stumm und begann dann zu reden: «Max, wir werden künftig im gleichen Haus miteinander leben, dein Vater ist unzuverlässig, ein Säufer und Flegel. Wäre ich nicht auf die Mieteinnahmen angewiesen, wäre dein Vater schon längst aus der Wohnung geflogen. Ich freute mich, als der Gemeindeschreiber deine Rückkehr ankündigte. In diesem Haus gab es seit über dreissig Jahren, als meine kleine Tochter starb, nie mehr junge Menschen. Du musst nicht mit deinem Vater in der stickigen Wohnung leben. Du kannst in die Mansarde, ins ehemalige Zimmer meiner Tochter ziehen. Bei mir kannst du essen, dafür will ich kein Geld. Und ab sofort bin ich für dich Tante Luise.»
Welch unerwartete Wende! Die Perspektive, ein zwar bescheidenes, aber sauberes und ihm freundlich gesinntes Zuhause zu haben, konnte Max kaum fassen. Er folgte Tante Luise in die Mansarde hinauf. Das Zimmer war schlicht, in lieblichen, über die Jahre verblassten Farben gestrichen. Halt das Zimmer eines jungen Mädchens. Daneben eine Toilette und ein Waschbecken. Luise nahm wortlos die grosse Puppe, die sie drei Jahrzehnte zuvor auf das gemachte Bett gesetzt hatte, an sich. Keine Frage, Max nahm das Angebot, dort zu wohnen, begeistert an.
Luise machte sich daran, das Bett frisch zu beziehen und schickte Max hinunter, um seine Sachen zu holen. Er habe einen langen Tag hinter sich und brauche jetzt viel Schlaf, bis zum nächsten Tag wolle sie ihn deshalb nicht mehr sehen.
Max fand den Schlaf nur schwer. Die vielen Eindrücke der langen Reise beschäftigten ihn, der Empfang auf der Gemeinde, wo fremde Leute über seinen Kopf hinweg bestimmt hatten, was er künftig zu tun habe. Ihm graute immer noch vor den Zuständen, die er in Vaters Wohnung angetroffen hatte. Dann dank der «neuen» Tante Luise doch noch die Wende zum Guten. Wie würde sein Vater reagieren, wenn er erführe, dass er oben im Haus unter den Fittichen von Tante Luise lebte? Vor der Begegnung mit seinem Vater fürchtete er sich noch mehr als zuvor. Allmählich fiel er vom Grübeln in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Er hörte nicht den Streit seines Vaters mit Luise. Volltrunken war er nach Hause gekommen, hatte die geöffneten Fenster und das gespülte Geschirr vorgefunden. Doch keiner war da. Dass sein Sohn an diesem Tag aus Holland zurückkäme, hatte man ihm gesagt. So war es naheliegend, dass dieser sein «Unwesen» in der Wohnung getrieben haben musste. Er ahnte, dass Luise in diese Sache verwickelt war. Laut schimpfend polterte er an ihre Tür und wollte wissen, was da vor sich gehe. Sein Sohn sei oben im Mansardenzimmer, wo er schlafe und künftig auch wohnen werde. Sie könne es dem Jungen nicht antun, in seiner Wohnung, die wie ein Schweinestall aussehe, leben zu müssen. Albert war nicht dumm, sogar in seinem Rausch sah er nur Vorteile, wenn er nicht mit Max zusammenleben musste. Auch er fürchtete sich vor der Begegnung mit seinem Sohn. Als ihm der Gemeindeschreiber mitgeteilt hatte, dass Max mit ihm zusammen wohnen würde, schienen ihm Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Sein Sohn war ihm entfremdet. Als Bub waren er und sein Zwillingsbruder der Mutter zugetan. Nur wenn es um Handreichungen und Mithilfe auf dem Feld oder im Wald ging, waren die beiden mit dem Vater zusammen. Sonst kannten sie ihn nur als aufbrausenden, die Mutter beschimpfenden Grobian. Wie hatte sich sein Sohn unter der Obhut seiner Schwägerin Anna zum jungen Erwachsenen entwickelt? Hatte ihn der Virus der Sekte befallen und war er ein Frömmler geworden? Oder war er durch die spartanische, aufs Notwendige reduzierte Lebensweise der Täufer gestählt und kräftig geworden?
Beleidigt und weiter schimpfend hatte sich Albert in seine Wohnung zurückgezogen. Die Begegnung von Vater und Sohn sollte am folgenden Tag stattfinden.
In einem weichen, etwas miefigen alten Sessel sitzend, erzählte der neue Hausbewohner Luise von seiner Zeit in Holland. Sie hatte ihn zum Essen eingeladen und danach aufgefordert, sich im Wohnzimmer mit ihr zu unterhalten. Im grossen, mit alten Möbeln überstellten und dicken Vorhängen verdunkelten Raum brannten Kerzen. In einer Ecke stieg duftender Rauch aus einem Behälter. Eine Wand in Luises Wohnzimmer war von Büchern verdeckt. Nicht wie üblich in einem Gestell stehend, sondern aufgeschichtet zu hohen Türmen, die bei der geringsten Erschütterung zu fallen drohten.
Erstmals in seinem Leben fühlte sich Max vis-à-vis einer älteren Person auf gleicher Höhe. Luise redete mit ihm wie mit einem Erwachsenen. Sie fragte und fragte nach, wenn sie etwas nicht richtig verstand. Luise gefiel es, sich mit einem jungen Mann, der einiges erlebt hatte, zu unterhalten.
Eine gute Stunde schon sassen die beiden im Wohnzimmer, als Luise gewahr wurde, dass sich jemand in der unteren Wohnung aufhielt. Der Lärm, den Albert verursachte, schien ihr ungewöhnlich. Nicht laut, nichts Erschreckendes. Möbelstücke wurden verschoben, die Fenster geöffnet und Wasser plätscherte aus dem Hahn.
In der vergangenen Nacht hatte sich Albert vorgenommen, seine Bleibe aufzuräumen und zu säubern. Vor seinem Sohn wollte er nicht als verelendeter, im Sumpf lebender Vater erscheinen. Ein klein wenig Stolz war ihm nach all den Demütigungen, die er nach Lindas Tod hatte erleiden müssen, geblieben. Er war nach seiner Arbeit auf dem Friedhof, wo er verwelkte Blumen von den Gräbern abgeräumt hatte, auf direktem Weg nach Hause gegangen. Den ganzen Tag hatte er nur Süssmost und Wasser getrunken. Er begann, die in der Wohnung herumliegende Wäsche einzusammeln und die Bettwäsche abzuziehen. Er brachte diese einer Frau, die in einer der hinteren Gassen fremder Leute Wäsche wusch. Er reinigte das am Vortag von Max vorgespülte Geschirr. Aufmerksam auf das Tun wurde Luise, als Albert sein Bett verschob, um den sich darunter angesammelten Schmutz zu kehren.
«Komm Max, wir gehen gemeinsam nach unten und schauen, was dein Vater treibt», sagte Luise. Langsam stiegen sie die Treppe hinunter. Erst nachdem auf ihr Klopfen an der Wohnungstür kein «Herein» zu hören war, öffnete Luise die Tür. Das Unerwartete war im Gang. Albert putzte die Wohnung! Geistesgegenwärtig fragte Luise, ob er Hilfe benötige. Vorerst blieb Albert stumm, sah zu Luise und bemerkte den hinter ihr stehenden Max. Auch er war erstaunt, seinen Vater beim Putzen zu überraschen. Unbeholfen streckte er ihm die Hand zum Gruss hin. Albert drückte sie und sagte mit zaghaftem Lächeln: «Jetzt gibt es zwei Stoll in Waldenburg. Der eine unten, der andere oben im Haus von Luise. Bestimmt haben wir noch Gelegenheit, über das eine oder andere zu reden.» Und mit einem Anflug von Stolz fügte er bei: «Im Moment ist es ungünstig, ich bin dabei, den seit Monaten verschobenen Frühjahrsputz zu machen.»
Das war’s. Sogar Luise, sonst nie um einen Spruch verlegen, fand nicht die richtigen Worte. Nur ein «Dann mach das», brachte sie hervor, nahm Max bei der Hand und kehrte zurück ins obere Stockwerk. Max fühlte sich trotz der abstrusen Begrüssung erleichtert. Nicht mit seinem Vater in den gleichen vier Wänden, dafür in der angenehmen Gesellschaft der etwas schrulligen Tante Luise leben zu dürfen, liess ihn seine Zukunft rosiger erscheinen als je zuvor.
Im Schopf hinter Luises Haus hatte sich allerlei Gerümpel angesammelt. Einen alten Brennhafen mit allem, was zum Brennen von Schnaps notwendig war, hatte sie dort nach dem Tod ihres Mannes eingelagert. Überall mit Spinnweben überzogen, lag dort auch dessen altes Velo. Daran erinnerte sich Luise und schickte Max, es hervorzuholen, zu reinigen und fahrtüchtig zu machen. Nach einer gründlichen Reinigung schmierte Max mit im Schopf gefundenem Schmieröl die Kette und pumpte die schlaffen Reifen auf. Alles war in bester Ordnung, einzig das Glühbirnchen der Lampe war defekt.
Mit diesem Velo fuhr Max am dritten Tag nach seiner Rückkehr ins Nachbardorf. Er suchte das Haus, in dem Elsi mit ihrem Mann lebte. Elsi erkannte ihren Bruder erst auf den zweiten Blick, unerwartet stand er vor ihrer Haustür. Niemand hatte sie über dessen Rückkehr aus Holland informiert. Überwältigt vor Freude, sich nach den langen Jahren der Trennung wieder zu sehen, umarmten sie sich. Ein Jahr zuvor hatte Elsi geheiratet, jetzt trug sie ihren von der Schwangerschaft dicken Bauch stolz vor sich her. Oft hatte sie an Max geschrieben, Tante Anna hatte die Briefe stets ungeöffnet ins Feuer geworfen. Auch direkt an sie adressierte Briefe hatten dasselbe Schicksal erlitten und wurden nie beantwortet. Kontakte zu seiner Familie hätten das Ziel, aus Max ein überzeugtes Mitglied der Täufergemeinschaft zu machen, gestört.
Den ganzen Nachmittag tauschten sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen der vergangenen Jahre aus. Elsis Mann Peter kam dazu. Hocherfreut, seinen Schwager kennenzulernen und von seinem Leben in Holland zu hören. Zuvor hatte er von niemandem aus erster Hand gehört, wie das Leben ausserhalb der Schweiz war. Nachdenklich stimmten ihn Max’ Erzählungen, dass Leute wegen ihres Glaubens hatten fliehen müssen. Fliehen aus ihrer Heimat, Hab und Gut zurücklassend. Die Nachrichten aus dem nahen Deutschland beschäftigten jeden, doch selbst erlebte Schilderungen, wie die von Verfolgten, hinterliessen einen tieferen Eindruck als Nachrichten aus Radio und Zeitungen. Der Nachmittag verging mit Gesprächen über ihre Familie und politischen Diskussionen. So bedrohlich wie sein Schwager hatte Max die politische Lage nie empfunden. Sein Wissen beschränkte sich auf die hin und wieder gehörten Nachrichten von Radio Hilversum und die Kommentare des Predigers. Seine Erfahrungen mit den geflohenen Glaubensbrüdern hatte er nicht in die allgemeine politische Lage einordnen können. Erst Peter hatte ihm geholfen, die Augen zu öffnen und künftig Nachrichten und Meldungen richtig einzustufen.
Erst spät am Abend kehrte Max – ohne Licht – durch die Dunkelheit mit dem Fahrrad zurück in sein neues Zuhause. Niemand hätte damals geahnt, dass nur zwei Jahre später alle Velofahrer ohne Licht oder mit blauer Farbe verdunkelten Lampen unterwegs sein mussten. Max traf Luise noch wach an. Den ganzen Tag hatte sie ihr Wohnzimmer vom sich über Jahre ausgebreiteten Mief befreit. Die dunklen Vorhänge waren weg, stärkere Birnen in den Lampen erzeugten ein helles Licht. Nach langen Jahren der Trauer um ihre Tochter war mit Max neues Leben in ihre Wohnung eingekehrt. Ungläubig stand Max vor ihr, es schien ihm, dass mit seiner Rückkehr der Putzteufel im Haus eingekehrt war. Erst sein Vater, dann Luise; offenbar war es beiden gut bekommen, aus dem gewohnten Trott, der Lethargie des Nichtstuns, der Langeweile der Tage, der Trauer um Vergangenes gerissen zu werden. Luise empfing ihn und sagte: «Max, ich bin so glücklich, dass du bei mir wohnst. Ohne es zu wollen, hast du mir neuen Mut und Lebensfreude gebracht, ich habe zu einem neuen Sinn in meinem Dasein gefunden. Komm, wir feiern.» Sie öffnete eine Flasche Rotwein und schenkte sich und Max ein Glas ein. «Wir müssen behutsam nippen, seit dem Tod meiner Tochter habe ich nie mehr Wein getrunken, und du bist bei den Täufern wohl auch kaum in den Genuss von Alkohol gekommen.»
Am Montag früh begab sich Max in die Fabrik. Der Portier hatte ihn erwartet und meldete sein Eintreffen telefonisch der Personalabteilung. Er solle sich direkt zur Schmiede begeben, beschied ihm der Portier. Der Schmiedemeister Karrer werde ihn über die in der Fabrik geltenden Gepflogenheiten ins Bild setzen. Durch das Labyrinth der Gebäude ging Max den vom Portier beschriebenen Weg zu seiner neuen Wirkungsstätte. Der Lärm aus dem Gebäude, in dem sich die Schmiede befand, war unüberhörbar. Geschwärzte Aussenmauern, die Fenster blind. Qualmender Rauch drang durch den Schornstein über dem Dach. Ein metallisches Hämmern wies ihm den Weg durch die weit geöffneten Tore. Drinnen vom Russ geschwärzte, pechige Wände, heisse Luft und der ausserhalb des Gebäudes gedämpfte, furchterregende Lärm des Dampfhammers. Ein grosser, kräftiger Mann mit dunkler Brille und Béret-artiger Bedeckung auf dem Kopf kam Max entgegen. «Da bist du also, unser neuer Lehrling. Für einen bereits Achtzehnjährigen siehst du schmächtig aus», schrie er durch den Lärm und ging vor Max durch eine Tür ins Innere des Gebäudes. Hier was es etwas weniger laut als in der Schmiede, wo eine Unterhaltung kaum möglich war.
«Du bist also der Maxli Stoll», begann er, «der Sohn des Dorfsäufers Albert. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht mit deinem Vater streite. Schmieden gibt Durst, und diesen lösche ich am Abend in einem der Lokale, in dem auch dein Vater seine tägliche Ration Schnaps säuft. Streitsüchtig, wie der ist, vergeht kein Tag, an dem er sich nicht mit einem anderen Wirtshausbesucher zankt. Seit ich ihn im Löwen persönlich die Kellertreppe hinuntergeworfen habe, hält er sich mit seinen Flüchen und Anfeindungen gegen mich etwas zurück. Ich sage es dir im Guten, damit du weisst, dich zu benehmen: Tu, was ich dir auftrage, sonst lernst du meine starken Arme und Hände kennen. Wenn ich dich so sehe, scheint es, dass du eher ein Schwächling bist, dir müssen noch Muskeln wachsen.»
Er erklärte Max, dass er zu Beginn seiner Lehre vorerst leichtere Arbeiten zugeteilt erhalte. Arbeiten, die das Wachstum seiner noch unterentwickelten Muskeln unterstützen würden. Seine Arbeitszeit dauere von Montag bis Freitag von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, unterbrochen von einer Mittagspause von einer Stunde und einer Znünipause von einer halben Stunde. Am Samstag habe er von sieben bis mittags die Schmiede aufzuräumen und zu putzen. Am Nachmittag erhalte er, mit den anderen Lehrlingen der Fabrik, Unterricht in Berufskunde.
Karrer zeigte ihm den Raum, wo er sich umziehen und waschen konnte und wies ihm den Spind zu, in dem er seine persönlichen Sachen aufbewahren konnte. Dann übergab er ihm ein paar Holzschuhe und eine schwere Schürze aus Leder. So ausgerüstet führte er ihn nach draussen in den Lärm der Schmiede.
Die leichte Arbeit, von der Karrer gesprochen hatte, bestand im Hochtragen von Säcken mit Holzkohle ins oberste Geschoss. Durch eine trichterförmige Öffnung musste er die Holzkohle in ein Silo schütten. An die fünfzig Säcke trug Max an diesem ersten Morgen als Lehrling die vier Treppen hoch. Nur unterbrochen von der Znünipause. Zusammen mit den beiden anderen Lehrlingen und den fünf Arbeitern sass er auf einer Holzbank hinter der Schmiede. Hungrig und im Stillen Tante Luise dankend, verschlang er das Butterbrot, das sie ihm vor dem Weggehen zugesteckt hatte. Max kannte die beiden anderen Lehrlinge aus der Zeit, als er im Städtchen zur Schule gegangen war. Der eine, im gleichen Alter wie er, war bereits im dritten Lehrjahr, der Zweitjahr-Stift war ein Jahr jünger als er. Der Aufenthalt in Holland hatte ihn zwei Jahre Rückstand zu den Gleichaltrigen gekostet. Zu reden gab es auf der Znünibank nicht viel, der hinter ihnen leerlaufende Dampfhammer dröhnte zu laut, als dass ein Gespräch möglich gewesen wäre.
Gegen Mittag wurde es plötzlich still. Karrer hatte den Dampfhammer abgestellt. Die Fabriksirene, von der das Signal zur Mittagspause ertönte, hatte Max nicht gehört. Der Oberstift zeigte ihm, wie man mit Sandseife, die sich in einem Behälter über dem Waschtrog befand, die Hände sauber kriegt. Auch sagte er ihm, dass er sein Gesicht nicht zu waschen brauche, denn die von der Schmiede hätten in der Kantine einen eigenen Tisch. In der Tat, in der Kantine, wo über hundert Arbeiterinnen, Arbeiter und Lehrlinge ihr einfaches Mittagessen einnahmen, war ein Tisch für die Schmiedearbeiter bestimmt. Schwarz bemalt, war nicht klar erkennbar, ob der Tisch gereinigt und sauber oder mit Russ verschmutzt war. Er war sauber.
Die anstrengende Arbeit hatte Max hungrig gemacht, vom kräftigen Eintopf liess er sich zweimal schöpfen. Hier, ohne den Dauerlärm des Schmiedehammers, wollten die neuen Arbeitskollegen ihre Neugierde stillen und stellten Fragen. Wie die Leute in Holland lebten und was diese ässen. Er solle doch einige Worte holländisch reden. Max war zum Mittelpunkt der einfachen Leute geworden. Willig gab er Auskunft und erzählte von dem, was seine Kollegen hören wollten. Fragen zu seiner Tante und den Täufern versuchte er auszuweichen. Karrer machte es gleich klar: «In meiner Schmiede wird nicht gestündelt, und solltest du jemals der Versuchung erliegen und von den Heiligen reden, wirst du meine Fäuste kennenlernen.»
Max wehrte ab, diese Gefahr bestehe nicht. Während der ganzen Zeit bei seiner Tante habe er sich innerlich gegen die strengen Regeln des altväterischen Glaubens gewehrt. Im Umfeld seiner Tante sei es ihm eine Qual gewesen, standhaft zu bleiben. Dauernd habe er sich verstellen und zum Schein auf die gepredigte Lehre eingehen müssen. Von all dem sei er geheilt. Sein heftiger Ausbruch, die starke Abneigung gegen die Kirche, beeindruckten seine Zuhörer. Diese einfachen Gemüter fühlten, dass der Junge schwere Zeiten hinter sich hatte und zollten ihm Respekt.
Nach der Mittagspause musste Max die Filtermatten des Rauchfilters ausblasen und waschen. Die klebrige Masse aus Russ, Pech und Wasser brachte er vor dem nach Hause gehen nicht ganz vom Körper. Erst als er aus der Badewanne, in die ihn Luise gesteckt hatte, gestiegen war, fühlte er sich wieder wie ein menschliches Wesen.
Er verschlang das Essen, das ihm Luise auftischte und sank dann müde auf das Sofa im Wohnzimmer. Erst spät am Abend konnte er ihre Neugier befriedigen und über seinen ersten Arbeitstag berichten. Zu schaffen machte ihm nicht die Schwere der Arbeit, davon konnte man sich erholen und wieder zu Kräften kommen. Vielmehr beschäftigten ihn die Sprüche über seinen Vater, das Stigma, der Sohn eines Säufers und Versagers zu sein. Luise verstand seine Sorge: «Da musst du durch, zeig den Leuten, dass du aus anderem Holz geschnitzt bist! Setze dich durch, bis du deine Ziele erreicht hast. Verschaffe dir Respekt durch ehrliches, fleissiges Arbeiten. Und meide die Wirtshäuser, die Lokale, in denen dein Vater verkehrt. Denn dort wirst du bald in die Streitereien deines Vaters hineingezogen und in den gleichen Topf, in dem er schmort, geworfen werden.»
Auch der zweite Tag in der Schmiede war nicht leichter, doch Max verspürte in den Reihen seiner Arbeitskollegen eine gewisse Anerkennung. Ohne zu murren hatte er die am Vortag zugewiesenen Arbeiten ausgeführt. Tätigkeiten, vor denen sich alle scheuten. Er hatte den Test bestanden. Von nun an musste er einem Schmied, der ihn nach und nach in die Geheimnisse des Handwerks einführte, zudienen.
Der Berufskundeunterricht am Samstagnachmittag brachte sein schulisches Defizit aus der Täuferschule zutage. In der Schule der Täufer war ein Gemisch aus Schweizerdeutsch und Schwäbisch gesprochen worden, auch die Predigten und biblischen Unterweisungen waren in diesem Kauderwelsch gehalten. Im Unterricht wurden, auf Anordnung der holländischen Behörden, die weltlichen Fächer in Holländisch erteilt. Die Lehrkräfte waren von den Täufern angehalten worden, möglichst wenig über naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu lehren.
Mit seinem ungenügenden Deutsch und den fehlenden Grundlagen in Naturkunde und Physik konnte er deshalb dem Unterricht in der Berufskunde kaum folgen.
Wieder einmal war es Tante Luise, die Max auf eine naheliegende Idee brachte. Der Mann seiner Schwester Elsi könne ihm helfen, das Fehlende nachzuholen. So verbrachte Max zwei Abende pro Woche mit seinem Schwager, dem es sichtlich Spass bereitete, sein Wissen dem Bruder seiner Frau weiterzugeben. Nach und nach baute Max sein Bildungsdefizit ab und konnte sich mit seinen Mit-Lehrlingen auf gleicher Ebene bewegen.
Das Angebot von Tante Luise, bei ihr zu wohnen und zu essen, hatte für Max einen vorerst nicht beachteten Effekt. Für die Beherbergung und das Essen wollte sie keine Entschädigung. So blieb von seinem Lehrlingslohn viel mehr, als er gedacht hatte. Er konnte sich Kleider und Schuhe kaufen und kam zu einer anständigen Garderobe. Neu ausgestattet, mit etwas Taschengeld im Hosensack, besuchte er an einem lauen Sommerabend das Tanzfest des Turnvereins. Er mischte sich unter die Jungs, mit denen er die ersten drei Schulklassen besucht hatte. So sehr er sich darum bemühte, er fühlte sich in dieser Gruppe ausgeschlossen. Ob bewusst oder unbewusst, es bestanden unsichtbare Barrieren. Niemand wies ihn ab, er war geduldet, doch in die kleinen Geheimnisse der Gruppe weihte ihn niemand ein. Noch weniger als mit den gleichaltrigen Burschen kam er mit den Mädchen zurecht. Wie sollte er sie ansprechen, über was reden? Die ihm in der Jugendzeit eingetrichterten Regeln zum Umgang mit dem weiblichen Geschlecht blockierten und hemmten ihn. Mädchen waren an ihm interessiert, solange sie ihre Neugier über seine Zeit im Ausland befriedigen konnten. Chancen für eine nähere Bekanntschaft mit einem der Mädchen gab es keine. Bald wurde ihm klar: Er war der Abkömmling eines Säufers, der nur dank der hehren Hilfe von Dr. Baldinger nicht verlumpt war und von der Unterstützung der Gemeinde lebte. Er war einer, der wie ein Kohlensack von der Arbeit kam. Von so einem wollten die Mädchen nichts wissen. Max zog sich zurück, unterliess es, Feste und Dorfveranstaltungen zu besuchen. Sein Taschengeld gab er für den Zug nach Basel und regelmässige Zoobesuche aus. Hin und wieder besuchte er an Sonntagen seinen Bruder. Doch auch mit ihm kam er nicht zurecht. Zu verschieden war das Umfeld, in dem die beiden die vergangenen Jahre gelebt hatten. Die langen Winterabende verbrachte er meist im Wohnzimmer mit Lernen für die Berufskunde oder einem Kartenspiel mit Luise.
Max blieb ein Einzelgänger. Mit keinem seiner Arbeitskollegen konnte er sich anfreunden. Auch nach einem Jahr in der Lehre errötete er immer noch, wenn in der Znünipause zotige Witze erzählt wurden. Wurde über das Aussehen, die Figur oder den Gang einer Frau diskutiert oder gelästert, vermied er es, sich am Gespräch zu beteiligen. Eher wandte er sich von der Gruppe ab, als dass er das Risiko einging, sich zu blamieren.
Vom Gemeindeschreiber erfuhr Max, dass seine Tante Anna, ihr Mann und die anderen Familien der Gemeinschaft der Täufer, aus Holland geflohen waren. Sie waren den wenige Jahre zuvor aufgenommenen Glaubensbrüdern aus Deutschland nach Pennsylvania im Osten von Amerika gefolgt. Selbst im liberalen Holland sei die Angst vor Verfolgung zu gross geworden. Zu viele junge Männer hätten in den Monaten zuvor den in Holland zur Pflicht gewordenen Militärdienst verweigert.
Auch nach über einem Jahr unter dem gleichen Dach wohnend, fand Max keinen Zugang zum Vater. Trafen sie sich zufällig, blieb es bei belanglosen, nichtssagenden Wortwechseln. Nach der Säuberungsaktion seiner Wohnung hatte Albert sich über eine längere Zeit mit Trinken zurückgehalten. Er hatte sich regelmässig gepflegt, sauber gehalten und erschien zunehmend gesünder und kräftiger. Doch er hatte es sich längst mit zu vielen im Städtchen verscherzt und sich zerstritten, nur wenige aus nichtigem Anlass nicht beleidigt und beschimpft. Jedermann versuchte, sich von ihm fernzuhalten, keiner traute ihm. Er hatte seinen Ruf zementiert und blieb ausgestossen. Nach wenigen Monaten verfiel er wieder in sein altes Laster und begann bereits vor der Mittagszeit zu bechern.
Sechzehn Monate nach Max’ Rückkehr aus Holland, im September 1939, brach der Zweite Weltkrieg aus. Nazideutschland hatte einen Vorwand gefunden, Polen zu überfallen und das Land in kurzer Zeit überrollt und besetzt.
Eine Unachtsamkeit des Schmiedemeisters Karrer war der Auslöser des Unfalls, den Max fast einen Monat nach Kriegsbeginn erleiden musste.
Der Dampfhammer in der Schmiede sollte gewartet werden. Routinemässig mussten die grossen Gleitlager, in denen der Hammer in schlagende Bewegungen gebracht wurde, ausgewechselt werden. Eine Arbeit, die schon Karrers Vorgänger einmal im Jahr gemacht hatte. Jeder Handgriff war bekannt. Karrer hatte es sich zu seinem persönlichen Sport gemacht, diese Unterhaltsarbeit mit jedem Jahr in kürzerer Zeit hinter sich zu bringen. Mit dem an einem Balken unter dem Dach aufgehängten Hebezug musste Max den schweren Hammer aus seiner Halterung anheben. Alles schien wie geplant und schon oft ausgeführt zu verlaufen, als mit lautem Getöse der alte, verrusste Balken, an dem der Hebezug hing, brach. Der Schmerzensschrei, den Max ausstiess, als der Hammer seine linke Hand zerquetschte, ging im Lärm der zusammenkrachenden Holzkonstruktion unter. Schwarzer Staub und Russ verdunkelten den Raum. Alle flüchteten aus der Schmiede nach draussen in Sicherheit. Einzig Max, die zerquetschte Hand unter dem heruntergestürzten, schweren Hammer eingeklemmt, konnte nicht entkommen.
Dann wurde es still. Kein Maschinenlärm, kein Ventilator war zu hören. Der Strom war unterbrochen, ein Kurzschluss hatte die Hauptsicherung zum Schmelzen gebracht.
Aus den Nachbargebäuden kamen Leute gelaufen, einer alarmierte die Betriebsfeuerwehr. Ohne Licht tappten sich zwei beherzte Arbeiter behutsam über die am Boden liegenden Trümmer in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Durch den sich langsam legenden Staub verbesserte sich die Sicht, endlich stiessen sie auf Max. Man musste kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass die Hand unter dem Hammer kaum zu retten war. Ihr Ruf nach einem Arzt wurde von den vor Ort versammelten Feuerwehrleuten weitergeleitet. Ein Retter, der nach einem Hilfsmittel für die Befreiung des eingeklemmten und laut stöhnenden Max suchte, fand den unter einem Balken liegenden Karrer. Feuerwehrleute brachten hell leuchtende Karbidlampen und bargen den leblosen Körper des toten Schmiedemeisters. Eine weitere Gruppe versuchte, mit Stemmeisen und einer Stockwinde den schweren Hammer so weit anzuheben, dass sich die zerquetschte Hand von Max befreien liess. Nach über einer halben Stunde konnte er, auf einer Leiter liegend, aus den Trümmern getragen werden. Draussen wartete der Arzt. Eine von ihm verabreichte Morphiumspritze liess den Verunfallten rasch in einen Dämmerzustand fallen.
Im Spital, in das Max auf dem Lieferwagen der Firma liegend eingeliefert worden war, konnte sich der Arzt erst nicht entscheiden. Würde es ihm gelingen, die Hand zu retten oder musste sie amputiert werden? Erst am Tag nach der Einlieferung und einer weiteren gründlichen Untersuchung kam er zum Schluss, dass eine Operation wenigstens Daumen und Zeigefinger retten könnte.
Nach sechs Wochen und drei Operationen durfte Max das Krankenhaus verlassen.