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1.

Heulend tollten die Winde über das kleine Dorf. Es waren stürmische Märztage. Schon über eine Woche kam der Föhn lärmend und polternd von Süden über die hohen Berge. Seit Abend war der Sturm umgesprungen und brüllte und schrie nun von Norden über die Ebene her.

Bellend sprang er durch die sternhelle Nacht, um die Häuser und Gehöfte herum, auf die Dächer hinauf, ritt eine Weile auf dem First, sich dann wieder in die Straßen stürzend, um mit scharfen Pfoten den Sand aufzuscharren und hoch in die Luft zu schleudern.

Dann wieder verkroch er sich tückisch, lauerte mit gierigen Augen und kam mit einer Wut angesprungen, so heftig, so unerwartet, dass es schien, als risse er alles nieder.

Das war ein Heulen und Bellen, ein Pfeifen und Knarren und Quieken und Poltern und Kreischen, dass man sein eigenes Wort nicht hören konnte. Kaum hatte man den Mund geöffnet, riss es einem schon der rasende Sturm aus den Zähnen.

Im unteren Dorfe hatte einer seine Bodentür nicht verschlossen. Der Knecht vergaß es wohl, als er Heu für die Pferde herabholte. Das war eine Nachlässigkeit, und die mochte der Sturm nicht leiden. So sprang er gerade gegen sie an. Ein paarmal sprang er so gegen sie, doch als sie sich nicht rührte, hielt er ein, schlich in die Seite – hei! und nun bekam er sie zu fassen! Wie sie schrie! Wie sie in den Angeln quiekte! Immer wieder schlug er sie mit dröhnendem Gepolter in die Pfosten.

Dort hatte einer die Dachluken nicht geschlossen! Ich will euch Ordnung halten! Und wohl zwanzig Hunde sprangen in das Heu und Stroh und wühlten mit scharfen Pranken.

Dann wieder fegten sie durch die Dorfstraßen, rüttelten an den Fenstern und pressten ihre feuchten Nasen an die Scheiben, dass sie leise knisterten.

Die Bauern hatten die Lichter ausgelöscht und lagen längst in ihren Ehebetten. Nur oben im Dorfe brannte noch ein Licht in einem kleinen Hause. Das machte die Winde neugierig. So sprangen sie fort um das Haus.

Die Turmuhr hatte längst die Mitternachtsstunde geschlagen, doch das Licht brannte noch immer. Regungslos saß die Heßin am Lager ihrer Tochter. Breit kroch ihr Schatten über das rotgestreifte Bettzeug die Wand hinauf.

Krampfhaft hielt das Mädchen die Hand der Mutter umklammert. Immer wieder traten ihr dicke Schweißperlen auf die fieberheiße Stirn. Wie ein Wurm krümmte sie sich. Es mussten arge Schmerzen sein, die sie litt, denn schreckhaft entstellte sich ihr schönes junges Gesicht. Doch keinen Augenblick wandte sie den Blick von ihrer Mutter. Zuckend riss es ihr die Hand auf und ab, die die Alte hielt. Hernach war es vorbei. Mit müdem, bleichem Gesicht lag sie in den Polstern. Sogar die Augen fielen ihr zu. Tief gekrümmt, als trüge es eine schwere Last, saß das Weib am Bett. Stumpf waren ihre Gedanken, so stumpf wie die Schatten dort in der Ecke. So brütete sie vor sich hin. Manchmal hob sie den Kopf und horchte nach dem Winde.

Gegen drei Uhr war es Zeit. Hastig nahm sie ihr dickwollenes Umhängetuch, legte es über Kopf und Schultern und eilte die sternhelle Straße hinab. Der Sturm sprang von allen Seiten an ihr in die Höhe und lief gegen sie an, dass sie sich vorneigen musste, um nicht umgeworfen zu werden. Wie Fahnen schlugen ihre Röcke. Sie hatte nicht weit; beim fünften Haus blieb sie stehen und hämmerte mit ihrer knochigen Faust ans Fenster. Eine kleine Weile, und die alte Anna Finckh kam aus der Tür. Sie hatte gewusst, dass es heute Nacht sein würde, und sich mit den Kleidern ins Bett gelegt.

*

„Is's schou sou*) weit?“, schrie die Hebamme. Barbara Heß nickte. Eilig kämpften sich die beiden Weiber durch den Sturm.

Stunde um Stunde verging, doch das Mädchen konnte nicht gebären. Immer ärger kamen die Wehen, immer lauter schrie sie auf – o wie sie schrie, viel lauter als der Sturm! Ihr schönes Gesicht glühte im hellen Fieber, die Augen glänzten wie zwei Feuer.

„Schtearb'n mecht i, schtearb'n“, wimmerte sie fortwährend, „i holt's nimma aus! Schtearb'n – – – Schtearb'n …“

„Weg'n dem muaß oan's net glei schtearb'n wolln, Purgi“, beruhigte die Finckhin die Kranke. „Sou is's schou vül'n gonga, und i hob' s' nou olwei' duarchibrocht.“

Immer wilder ging der Atem der Kranken, immer wirrer wurden ihre Reden. Dazwischen Schreie wie von einem gepeinigten Tier.

Als das die Heßin hörte, bekreuzigte sie sich. Unaufhörlich bewegte sie den Mund im Gebete. –

Als es zu dämmern begann, kam das Kind.

Als es zu dämmern begann, war das siebzehnjährige Mädchen tot. Still haben sie das arme Mädchen zu Grabe getragen, hart fiel die Märzerde auf den schlichten Sarg. Das waren bittere Zeiten für Mutter Heß!

In aller Herrgottsfrüh, am Tage Josef des Nährvaters, hasteten Barbara Heß und die korpulente Angererbäuerin mit einem dicht vermummten Bündel noch vor dem Morgenläuten der Kirche zu. Dort und da wandte ein früher Kirchengänger den Kopf nach ihnen. Aber der junge Morgenwind, der eben von den Wäldern über die Flur ins Dorf gestiegen kam, war neugierig und wollte wissen, was im Bündel war. Als er ein winzig kleines Menschenwürmlein drinnen fand, kam der Schelm über ihn und er blies dem Schläfer in die Nasenlöcher.

Als der Säugling darauf zu niesen begann, was die hastende Angererbäuerin hörte und mit einem herzhaften „Helf Gott!“ begleitete, sprang der Wind die Straße hinab und hielt, während er weiter hinuntertrollte, Ausschau nach neuerlichem Schabernack.

Vor dem Taufbecken im Gotteshaus sah die kleine Heidenseele, die mit aller Sorgfalt in die christliche Gemeinschaft aufgenommen wurde, mäuschenstill mit vergissmeinnichtblauen Augen auf den alten, die Zeremonien vollziehenden Priester.

Nach der Frühmesse, nachdem er in der Sakristei den weißen Chorrock abgelegt hatte, holte der weißköpfige Pfarrer Bonifazius Altmann aus dem gewaltigen Barockschrank, in dem die jahrhundertealten, abgegriffenen Schweinslederfolianten standen, das letzte Taufmatrikelbuch heraus, schlug es auf und schrieb mit seiner noch immer klaren und schönen, nur ein wenig zitterigen Schrift hinein: Täufling: Wolfgang, unehelicher Sohn der verstorbenen Walpurga Heß.

So war nun die Wittib allein mit dem Säugling. Das Kind aber schrie stundenlang. Es war, als hätte es die Schreie seiner toten Mutter im Ohr. Und die Großmutter konnte nicht um ihn sein. War sie doch Witwe und musste verdienen. Nun erst recht! So war es denn ein Glück, dass sie in den Linnauerleuten liebe Nachbarn hatte. Die Großahne, ein altes weißköpfiges Weiblein, das schon manches Kind in ihrem Leben großgezogen hatte, nahm sich untertags, wenn die Heßin bei den Bauern in Arbeit stand, des kleinen Knäbleins an.

Zeitweilig, wenn das Kind gar zu arg im Nachbarhaus schrie, humpelte die Achtzigjährige hinüber, brachte es in Ordnung oder gab ihm zu trinken. Bevor sie ging, steckte sie ihm noch den Zuzl ins Mäulchen, ein Leinwandfleckchen mit eingebundenem, in Kaffee getauchtem Brot, das sie vorerst in ihrem zahnlosen Mund gehörig weich mummelte. Wie gierig der Kleine daran zu saugen begann! Leise machte sich die Alte sodann wieder davon.

So lag das Bübchen mutterseelenallein im Hause und hörte nichts in seiner Wiege als das kreischende Ticken der alten Pendeluhr.

Abends aber, wenn die Großmutter aus der Arbeit kam, nahm sie den kleinen Jungen aus dem Korb und wiegte ihn behutsam in ihren Armen. Wie er sich darüber freute! Und sie redete viel zärtliches, täppisches Zeug auf ihn ein, wie das Mütter in ihrer überquellenden Liebe immer tun, band ihn auf und ließ ihn mit den Füßen strampeln. Dabei bemühte sich das kleine Menschlein auch wohl, seine Zehlein in den Mund zu bekommen. Wie warm der Großmutter Lachen klang, wenn ihm dies gelungen war.

Ja, Großmutter Heß hat wieder lachen gelernt. Hart und schwer ist bisher ihr Lebensweg gewesen; zwei Männer hat man ihr auf den Gottesacker getragen. Zwei brave Männer obendrein! Sie ist aber nicht verbittert geworden, die harte Schicksalsfaust hat sie nicht kleingekriegt. Wohl hat sie ihr den Rücken fast nach vorn gebeugt, doch sie hat bald wieder den Kopf zu heben begonnen. Voll tiefem Vertrauen hat sie auf ihren Heiland geschaut und auf die teure, segensschwere Heimaterde – und da ist sie wieder steil und gerade gegangen wie in ihren besten Jahren. Weil sie aber ein tiefes Gottvertrauen in sich barg und alles in Seine Hände legte, empfing sie auch gefasst, was aus ihnen kam, und hat sich so bis in ihre ältesten Tage ein frisches Herz und ein schönes volles Lachen bewahrt. Das Lachen, das da sagt: Wir sind in Gottes Hand.

So freute sie sich denn bald aus vollem Herzen des Bübchens.

Vier Wochen nach der Taufe war Ostern. Am Ostersonntag, nachdem Barbara Heß aus der Frühmesse heimgekommen war und nach dem Kind gesehen hatte, ging sie unter den wärmenden Strahlen der Sonne ins goldgrüne Gras hinaus und pflückte beim fröhlichen Sang der Meisen, Zeisige und Rotkehlchen und dem schmelzenden Geflöt der gelbschnabeligen Schwarzamseln einen köstlichen Strauß Frühlingsblumen.

Heimgekommen, reihte sie alle die dunkelblauen Veilchen, hellen Leberblümchen, schneeweißen Buschwindröschen, eierdottrigen Hahnenfüße und Butterblumen sowie die kleinen rotgeränderten Gänseblümchen um das süße Köpfchen ihres kleinen Enkelbuben, legte ihm ein großes herzförmiges Blatt auf die linke Brustseite und zwängte ihm eine langstielige, mehliggelbe Himmelschlüssel in das verklammte Fäustchen.

So tat sie, während vom Turm die Glocken zur frohgemuten Auferstehung jubelten und mit ihren hellen Tönen den Ostersegen über das Dorf ausschütteten, den ihnen der Heilige Vater in Rom auf ihren Heimflug mitgegeben und den sie eifrig über die schneegekrönten Gipfel und eisigen Firne der Alpenkette nordwärts getragen hatten.

Sie sang dazu das Lied: „Der Heiland ist erstanden, befreit von Todesbanden“ und bat dabei den neuerstandenen Heiland, dass er das kleine Büblein da in der Wiege segnen und ihm ein leichteres Leben schenken möchte, als es die Sippe der Heßleute und der Neumayrs, aus denen sie selbst ersprossen war, allzeit gehabt hatten.

Und sich auf das Büblein niederbeugend, das mit himmelblauen Augen und roggengelbem Haarflaum in seinem bunten Blumenkrönlein mit der Himmelschlüssel im Fäustchen regungslos auf sie sah, so dass die einsame Frau nicht wusste, ob dies aus Freude an den Blumen oder ihres Osterliedes wegen war, küsste sie es herzhaft, machte ihm die heiligen Zeichen des Kreuzes auf Stirnchen, Mund und Brust und sprach dazu: „Im Namen Gottes des Vaters, sei allzeit gesund; und des Sohnes, führ immer einen Lebenswandel, dass Gott dich gern als Seinen Sohn ansieht; und des Heiligen Geistes, find dich im Leben gut zurecht und sei von Ihm geführt zu einem guten End', Amen!“

Seht, so ist Barbara Heß, die Taglöhnerin, das arme Weib, das ihr Lebtag nichts anderes gehabt hat, als ihre fleißigen Hände, ihren frohgemuten Sinn und ihre Frömmigkeit und nie etwas davon wusste, dass sie in ihrer Seele eine Dichterin war.

Als der Sommer kam und die Sonne warm auf die Felder schien, tat sie das Kind morgens in einen Korb und führte es auf einem Karren ins Freie. Hier stellte sie den Korb in den blumigen Wiesenrain, deckte ein Tuch darüber und ging an die Arbeit. Da hörte das Kind wieder den Sang der Vögel und das lustige Lachen der Taglöhner.

So ging der Sommer hin und immer mehr wuchs der Kleine aus der Wiege. Großmutter nahm ihn oft auf den Arm und ging mit ihm in den Stall zu den Ziegen. Wie da seine Hände bebten vor Lust und Freude, wenn die braven Tiere meckerten. Mit gierig gekrallten Fingern und stoßendem Körper verlangte er sie zu greifen. Da stieß er dann jedes Mal Laute aus, dass die Geißen verwundert den Kopf in die Seite legten und nach dem Buben guckten, der der Großmutter schier vom Arm springen wollte.

Oder sie führte ihn zu ihren Blumen. Es waren Großteils Pelargonien und Fuchsien, die beliebten Topfpflanzen aller Bauerndörfer, die in allen Farben prangten. Die Blumen waren ihre Freude. Auf stufenartigen ansteigenden Treppen standen sie an der Schmalseite des Ziegenstalles, die nach dem Häuschen wies. Wie all die bunten Farben dem Kleinen in die Augen sprangen! Fiebernd verlangte er nach ihnen. Gab sie seinem Drängen nach und hielt sie ihn zu den Blüten, patschte er blitzschnell in das lockende Wunder und begann mit krampfigen Fingern zu wühlen und zu zausen, bis das letzte Blättchen seinen Fäusten entglitt.

An Sonntagen waren sie gewöhnlich hinter dem Hof, im Gras des ansteigenden Obstgartens. Da saß Barbara Heß. Den geblümten Rock hochgeschürzt, lehnte sie an einem der Baumstämme. Der Kleine hockte in ihrem Schoße und Großmutter ließ ihre dunklen Augen bald auf den segensschweren Fluren, bald auf den nahen, niederen Bergzügen ruhen. Wie der Wald lockte! Und wie blau der Himmel war. In ihm hingen die Lerchen und ließen ihr helles Jubilieren wie Rosenkranzperlen auf die Erde niederrieseln. Wie köstlich still war es. Echte Dorfsommersonntagsstille. Zeitweilig unterbrach das kurze Gekläff eines Hundes den Frieden. Das war alles.

Wie ausgewechselt war das Kind. Hatte es früher ununterbrochen geschrien, so spielte es nun stundenlang, ohne nur das Mäulchen zu verziehen.

So konnte die Großmutter ungestört ihren Gedanken nachgehen. Viel dachte sie an die tote Mutter ihres Enkelkindes. Was war die einst für ein schmuckes, frohes Mädchen gewesen! Den ganzen Kopf voll Lieder und übermütiger Streiche. Sie sah auf das niedere Schindeldach des Nachbarhauses, das so tief in ihrem Hof hing, dass man sich draufsetzen konnte. Wie oft war das schelmische Ding mit bloßen Beinen das Dach hinaufgeklettert wie eine Katze. Wie die Sonne jetzt auf das Dach sprang! Es war ein heißer Tag. Behaglich puddelten sich die Hühner in den Sand des Hofes. Mit Wohlgefallen sah sie eine Weile dem Federvolk zu, dann sinnierte sie weiter.

Auf den First des Daches hatte sich eine Amsel niedergelassen. Schwermütig flötete sie ihr Lied. Lange ließ die Heßin den Blick auf dem Vogel haften. Plötzlich flog er davon. Lautlos schlich eine semmelgelbe Katze über das Dach des Nachbarhauses. Leise beugte sich die Heßmutter über den Kleinen, der gerade hohes Gras abrupfte, strich ihm ein paarmal mit der schwieligen Hand über das Haar, herzte und küsste ihn und sprach vielliebe gute Worte in sein waches Seelchen hinein. Mit hellen Augen lachte er zu ihr auf und wollte durchaus die ihren haben. Fortwährend griff er danach. Da blies ihm Großmutter in die Nase. Das aber mochte er gar nicht leiden. Wild fuchtelte er mit beiden Fäustchen herum und presste sie tollpatschig in sein Gesicht. So spielten sie eine Weile; hernach setzte sie ihn wieder auf ihren Schoß.

Allmählich kam der Abend aus den Bergen gestiegen, schritt über die Felder und trat ins Dorf. Nun stand Mutter Heß auf und machte sich daran, die Geißen zu füttern und zu melken. Bald darauf war es im Hause still. Tief gingen die Atemzüge der beiden Schlafenden. Nur die alte Perpendikeluhr hielt treue Wacht.

Durch die laue Sommernacht klangen die eintönigen, schwermütigen Lieder der Burschen.

Der Bauernstudent

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