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3.

Martin Löns lässt mit warmem Lächeln seine Augen auf den hellen Kinderköpfen ruhen.

Es ist eine stattliche Zahl, die ihm heute die Mütter zugeführt haben! Und das erfahrene Auge des alten Lehrers liest aus ihren blanken Fensterchen schon ihre ganze Schulzeit.

Der dort, mit den munteren Augen und der spitzen Nase, das wird einmal ein Schelm, aber klug und gutmütig. Ja, sicher ist es so! Wie stolz er auf seine weiße Halsmasche zu sein scheint! Er kennt ihn genau; es ist der Nutz, Franz Nutz, des Schuhmachers Sohn. Wen kennt er nicht! Wenn man zwanzig Jahre in einem Dorfe sitzt, kennt man jede Seele.

„Gefällt dir deine Masche, Nutz?“

„Ja, Hearr Leahra! Die hat miar meini Mudda kauf'n miss'n.“

„Kaufen hat sie sie dir müssen? Ja, warum denn?“

„Dass i schön bi, Hearr Leahra!“

Mit warmem Lachen nickt ihm Martin Löns zu. Und weiter geht sein Blick über die Kinder. Es sind viele helle Augen darunter, voll Offenherzigkeit auf ihn gerichtet, und voll eines Vertrauens, so rein und schön, wie es nur Kinder in diesem Alter haben können. Und mit heißem Herzen sagt er sich, dass sie sich in ihm nicht getäuscht haben sollen. Wie die Märzsonne hell durchs Fenster hereinscheint, so will er seine Liebe in ihre Herzen tragen.

Da sieht er zwei ernste himmelblaue Augen auf sich gerichtet, die ihn unverwandt ansehen. Prachtvolle Augen, denkt er bei sich. Der Junge wird mir einmal keine Schande machen. Es liegt eine Feierlichkeit in dem Gesicht, die zu sagen scheint: Nun kann's beginnen, ich will's schon packen! Und die großen, ruhigen Augen setzen dazu: Großmutter hat gesagt, hier gibt es viel zu schaffen, so will ich mich fest umsehen.

Der Lehrer frug ihn: „Bist du gern zur Schule gekommen, Wolf?“

Der Junge nickt nur, aber das jähe Aufflammen in seinen Augen sagt ihm alles.

„Nun setz dich nur, Wolf, wir werden gut miteinander auskommen! Gelt?“

Wieder das tiefe Aufleuchten in den Augen des Buben.

„Was machst du, Barte!?“, ruft er einen Knirps an, der mit vollen Backen kaut.

„'n Opfi iss i!“

„Ja, darf man denn in der Schule Äpfel essen?“

„I hob' an Hunga“, führt der Kleine als schlagende Begründung an.

Martin Löns steigt auf die Treppe, sich von hier an die Klasse wendend: „Ihr seid jetzt in der Schule, Kinder, und da darf nicht jeder tun, was er will, und sitzen, wie er will. Deshalb will ich euch nun zeigen, wie ihr sitzen müsst.“

Und bald liegen hundert emsige, tatenlustige Hände auf die Bänke gefesselt.

Gott, was soll das werden, wenn man nimmer mit den Füßen bimmeln kann, denkt Klaus Löffler. Und er muss sich überzeugen, ob's noch geht. Ja, gottlob es geht noch. Oh, es geht gut, es geht gewaltig gut! Bald ist das Bürschchen in hellem Zappeln und würde so fortgezappelt haben, hätte ihm nicht plötzlich Jochen Nihl, sein Nachbar, eine Maulschelle hineingehauen.

Klaus Löffler begann zu plärren, und Jochen Nihl sagte: „D' Hax'n schlank'lt a olweil.“ Und das hatte er nicht leiden gemocht. Das gefiel Martin Löns, und so schaffte er mit ruhigen Worten Ordnung.

Es waren aber kaum ein paar Minuten vergangen, da musste sich der Lehrer schon wieder an die beiden wenden, da sie anscheinend in einen heftigen Wortwechsel geraten waren, bei dem sich besonders Jochen Nihl sehr entrüstet zeigte.

„Was ist denn, Jochen?“, wandte er sich an diesen.

Der fuhr empört auf:

„Ear sogt, i soll eahm 'n Oarsch lekka!“

„Aber Klaus, wie kannst du so etwas sagen, schämst du dich denn nicht?“

Klaus Löffler zog das Genick ein wie ein Igel, der beim Äpfelstehlen ertappt wurde.

Jochen Nihl aber ereiferte sich weiter:

„I tua eahm oba net 'n Oarsch lekka, oba mein Voddan sog' i's! Dear wiard eahm an schou lekka, oba mit an Hoselnussstecka!“

Als Martin Löns hierauf die aufwiehernde Klasse beschwichtigt hatte, wurde das Aufstehen geübt. Als das ging, sagte der Lehrer: „Wir haben in der Schule viel zu lernen. Zum Lernen aber brauchen wir den lieben Gott, denn wenn uns der liebe Gott nicht hilft, können wir nichts lernen. Deshalb wollen wir zu Gott beten, dass er uns in der Schule hilft.“

Martin Löns faltete die Hände, und als volle Stille herrschte, schlug er mit der Linken das Kreuz. Weil aber die Kinder das Sichtbare genauso nachmachen, wie sie es mit ihren scharfen Augen sehen, und vom Denken noch wenig geplagt werden, machten sie alle ganz folgerichtig mit der rechten Hand das Kreuz.

Nun wurde das Gebet geübt, und bald klang es sicher den Worten des Lehrers nach:

Im Namen Gottes fang ich an,

Mir helfe Gott, der helfen kann.

Wenn Gott mir hilft, wird alles leicht,

Wo Gott nicht hilft, wird nichts erreicht.

Drum ist das Beste, was ich kann:

Im Namen Gottes fang ich an!

Als hernach Martin Löns daran war, die Namen der Schüler zu verlesen, beobachtete er, dass sich Karl Schnellinger in der ersten Bank bei jeder Gelegenheit umdrehte, wo er sich unbemerkt wähnte. Das war ihm schon früher aufgefallen. Er sah auch mit demselben Blick, wie Franz Nutz greulich in der Nase bohrte, Bartel weiter nach seinem Apfel lugte – ja, würgte er denn nicht bereits wieder, der Range! –, Tiefenböck mit Teufner unter der Bank im Handgemenge lag und Löffler seinem Widersacher die Zunge zeigte. Und von hinten in all das Gewirr hinein das ernste Gesicht mit den großen blauen Augen Wolf Heß'.

„Was hast du denn nur?“, wandte er sich an Schnellinger.

Der sah nun seine Zeit gekommen und bat mit seinen treuherzigen Bernsteinaugen: „Du, Leahra, loß 'n Wolf vira sitz'n, neb'n den da g'freit 's mi net.“

„Ja, warum willst du Wolf Heß bei dir haben?“

„Mir san olweil beinond, woaßt, Leahra.“

„Und da wollt ihr in der Schule auch beieinander sitzen?“, wandte er sich an Wolf. Dessen Augen begannen wieder aufzuflackern.

So kam Wolf Heß in die erste Bank zu seinem Freund. Sie sind nun beisammen gesessen, bis sie aus der Schule traten.

Alsdann mussten die Kinder selbst ihren Namen sagen. Matthias Edlinger rappelte ungelenk in die Höhe, und als er stand, wusste er ihn nicht. Ratlos sah er auf den Lehrer. Während ihm dieser seinen Namen suchen half, bemerkte er, wie sich Klaus Löffler zu Boden bückte, die Schultasche auf den Rücken schwang und den Gang hervorkam.

„Ja, wo willst du denn hin, Löffler?“, redete ihn Martin Löns an.

„I geh' hoam, dös Sitz'n is ma scho z'fad.“

Nur mit Aufbietung aller pädagogischen Milde konnte er den starrsinnigen Bauernjungen von seinem Entschlusse abbringen.

Als der Bub bereits in der Bank war, wollte er sich doch noch einmal vergewissern: „Du, Leahra, is 's bold aus? D' Muadda hot g'sogt, miar kriag'n heit Zwetschk'nknedI.“

Und die Gelegenheit zu diesem Fest wollte er sich durchaus nicht entgehen lassen.

Lachend beruhigte ihn der Lehrer, darauf wandte er sich wieder an die Klasse. „Jetzt gebt acht, Kinder! Weil ihr so brav gewesen seid, will ich euch eine Geschichte erzählen! Es war einmal ein Knabe, der war noch klein wie ihr, und der hieß Heinrich.“

Da bohrte Heinrich Rottensteiner seine Finger in die Luft und piepste in die Klasse:

„Hearr Leahra, i tua aa Heinrich hoaß'n!“

Dann setzte er sich beruhigt nieder.

Martin Löns fuhr fort: „Weil er noch klein war, spielte er jeden Tag, die kleinen Kinder haben ja sonst nichts zu tun. Aber schon immer dachte er an die Schule. Er freute sich schon sehr darauf und wollte stets mit den Großen in die Schule gehen. Der Vater sagte ihm auch, wenn er brav wäre, dürfe er dies bald. Und als der Tag herankam, kaufte ihm der Vater eine schöne Tasche, die war aus schwarzem Leder, an den Rändern war sie mit grünem Leder geputzt und mit gelben glänzenden Nägeln beschlagen, und führte Heinrich zur Schule. Der Herr Lehrer zeigte ihm seinen Platz, und Heinrich ging fleißig in die Schule. Kam er ins Schulhaus, nahm er schon draußen auf dem Gang die Mütze ab, ging ruhig hinein, gab dem Herrn Lehrer die Hand und sagte laut: ,Grüß Gott, Herr Lehrer!', nahm Platz und wartete. Er war ein artiger Knabe! Und wenn der Herr Lehrer etwas erzählte, schaute er immer auf ihn.“

(Franz Nutz war schon wieder tief in der Nase.)

„Deshalb wusste er stets alles, lernte gut und machte seine Aufgaben flink fertig.

Und jeden Tag hatte er seine Hände und das Gesicht gewaschen und auch die Kleider und Bücher waren sauber und ohne Schmutz und Flecke. Er war auch ein reiner Knabe!

Deshalb hatten ihn auch alle sehr lieb:

Wollt ihr es auch so machen wie der kleine Heinrich?“

„Jaja“, rief die ganze Klasse.

Eifrig zeigte Franz Nutz auf.

„Was willst du, Nutz?“

„Du, Leahra, da Nosko hot an Dreck in dö Oahrwasch'l!“, triumphierte er mit reiner Forscherfreude.

Das kränkte den Kleinen dermaßen, dass er laut zu plärren begann. Nun musste Martin Löns ihn erst beruhigen, hernach fuhr er, auf seine Geschichte zurückkommend, fort: „Seht, darum merkt euch den Spruch:

Artig, flink und rein

Müssen Kinder sein.“

Hell klangen die Kinderstimmen durch die Schulstube. Mittlerweile ist es Zeit geworden, und so sagt Martin Löns: „Nun soll die Schule aus sein.“

Er hat noch nicht ausgeredet, ist Klaus Löffler bereits wieder aus der Bank und will fortstürmen.

„Hoho“, ruft der Lehrer, „Klaus Löffler, Mutters Zwetschkenknödel sind noch nicht weichgesotten. Erst wollen wir noch dem lieben Gott danken, dass er uns in der Schule beim Lernen geholfen hat.“

„Dös is jo ka Learna“, stellt Franz Nutz aus.

„Was ist denn dann Lernen?“

„Mei Bruada hot g'sogt, so muaß ma lerna: Eins und eins is zwei.“

Martin Löns konnte das Lachen nicht verbeißen. Das war also heute nach der Ansicht des kleinen Knirpsen kein Unterricht gewesen, weil das Schreckliche nicht vorgekommen war, das ihm sein Bruder vor Augen gestellt hatte: Eins und eins ist zwei!

Nachdem sie noch ein kurzes Gebet gelernt, führte sie Martin Löns auf die Straße und sah ihnen mit warmen Augen nach, wie sie eilig nach allen Seiten auseinanderstoben.

*

Und die Zeit ging dahin.

Die Fäuste der Buben wurden immer fester, die Zöpfe der Mädchen immer länger.

Franz Nutz sagte lange nimmer wie am ersten Schultag, dass das kein Lernen sei, Edlinger wusste nun nicht bloß seinen Namen, sondern konnte ihn längst in Kurrent- und Lateinbuchstaben hinmalen, und Jochen Nihl vertrug sich noch immer nicht mit Klaus Löffler, genau wie am ersten Tag, als er diesem eine Ohrfeige ums Maul geschlagen.

Jochen Nihl konnte sich das erlauben, er war stämmig wie ein junger Baum. Nur einer gab ihm nichts nach: Wolf Heß. Der Bub wurde groß und stark, dass Großmutter oft sagte: „Ja, Woif, wonnst d' sou weida tuast, woxt ja pfei'grod 'n Himmi eini!“

Sie haben sich einmal gemessen, die beiden, reden gilt nichts unter Jungen; man muss wissen, wer der Stärkere ist. So musste der Bauernsohn vom Boden aufstehen. Seit der Zeit sind sie enge Freunde geworden. Und immer mitten zwischen beiden Karl Schnellinger. Sie haben manchen Streich ausgeheckt in jenen Jahren. In der Schule aber waren sie stets die Ersten und Wolf obenauf.

Martin Löns hatte seine helle Freude an dem Jungen. Wenn er in der Schule saß, gab es für ihn keinen Spaß. Unverwandt hingen seine blauen Augen an den Lippen des Lehrers, als wollten sie jedes Wort einsaugen.

Barbara Heß brauchte in jenen Jahren nimmer um Holz zu gehen. Ja, da war der Wolf gewissenhaft! Gleich nach der Schule machte er sich auf den Weg in den Wald. Es hat Jochen Nihl Freude gemacht, für die gute Frau, die oft auch auf seines Vaters Hof arbeitete, und in deren Stube er nun ein häufiger Gast war, und die er bald lieb hatte wie seine eigene Mutter, schwere Holzbürden auf seinem Rücken heimzutragen.

Hernach blieb noch immer Zeit genug, oh, viel zu viel für lungernde Jungen! Warum soll es nicht gesagt werden, dass sie es waren, die dem alten, freundlichen Pfarrer seine ersten Marillen stahlen? Sie brauchten nur den Regengang hinter des Nihl­bauern Scheune hinaufklettern, sich aufs Dach setzen und mit den Händen über die Gartenmauer langen. War das nett? Nun, das war's gewiss gerade nicht, denn Nihls Obstgarten war selber größer wie der des Pfarrers, aber wer wird als Junge so reizlos Obst essen! Na, und warfen sie vielleicht nicht jedes Mal gewissenhaft die Kerne über die Mauer in den Garten hinein?

Wolf Heß und Karl Schnellinger taten das ruhig, obwohl sie in jenen Tagen schon allmorgendlich bei der Frühmesse ministrierten. Auch das Glockenläuten besorgten sie früh und abends. Raimund Bartel, der Mesner, überließ es ihnen gern, denn früh konnte der Schneidermeister dafür noch ein Weilchen im Bett bleiben, und abends brauchte er nicht so verzwickt pünktlich aus dem Wirtshaus heimeilen.

Einmal, im Sommer, kam ihnen die Lust, Boot zu fahren. Weil es aber im ganzen Dorf keines gab, schleppten Sie Großmutter Heß' viereckigen Waschtrog zum Wehr des Baches bei den großen Mühlweiden, setzten sich hinein, Wolf auf der einen, Jochen Nihl auf der anderen Seite, und begannen zu rudern. Es war ein gefahrvolles Unternehmen; deshalb war Karl Schnellinger auch gern auf dem Land geblieben. Unter den bedrohlichsten Schwankungen und Armverrenkungen fristeten sie sich fort. Nun waren sie in der Mitte. Das Schiff ging ruhig. Es stand ihnen nun ganz frei, mit steigendem Mut sich auszumalen, dass sie auf einem gewaltigen Fluss dahinführen oder gar auf hoher See. Jochen Nihl, der dem Teufelszeug nicht traute, dachte noch immer nur das eine: Wenn wir hineinfliegen, sind wir bis auf den Hals im Wasser. Sonst dachte er nichts. Wolf Heß aber kam ins Denken, und das war nicht gut und wurde sein Übel. Sie hatten kürzlich in der Schule von Christoph Kolumbus, seiner abenteuerlichen, kühnen Seefahrt und den rothäutigen Indianern gelernt, und so malte er sich aus, wie der Strom sie abwärts trüge, weit, weit fort von der Heimat in ein fernes Land. Als sie dort mit dem gewaltigen Schiff landeten, warfen sich die Eingeborenen ihnen zu Füßen, und sie waren Könige.

Karl Schnellinger hockte am Ufer, hatte die Füße hochgezogen, die Augen angestrengt auf sie gerichtet, und dachte auch. Er dachte aber nur unausgesetzt das eine: Wann plumpsen die zwei hinein? Nun, es war nicht schön und durchaus nicht kameradschaftlich von ihm, dass er so dachte, aber er war nun ein­mal auf ein Vergnügen bei der Sache erpicht, und das konnte doch nicht das Vergnügen sein!

Er sah, wie Jochen Nihl von unten nach ihm hinüberblinzelte. Den Kopf konnte er nicht heben, denn er musste auf die kleinste Schwankung des Fahrzeuges lauern. Eine tiefe Falte grub sich in seine Stirn. Ja, es war auch keine Kleinigkeit! Das hätte er denken sollen, mehr nicht, nein, bei Gott, kein Wort mehr hätte er denken sollen! Er aber setzte dazu: Wenn man die Verantwortung über so viele Menschenleben hat. Und der Gedanke ließ ihn nimmer los. So brach das Unheil über sie herein. Er bohrte seinen Blick zwischen Wolfs Beinen in das Dunkel unter dem Sitzbrett. Wolf war gerade daran, seinen Fuß auf das eroberte Land zu setzen, und Karl Schnellinger lauerte mit gesteigerter teuflischer Gier. Es mag sein, dass der Seeheld eine gebieterische Bewegung machte – es lassen sich ja nicht alle Dinge eines großen Mannes aufzeichnen –, Tatsache aber ist, dass sie beide plötzlich auf einen Augenblick unter dem Wasser verschwanden und Schnellinger vor Vergnügen zu brüllen begann wie ein Nebelhorn.

Triefend und schnaufend kamen sie ans Land gekrabbelt mit verzwickt ernsten Gesichtern. Karl hockte noch immer am Ufer und stöhnte vor Behagen. Das aber behagte Jochen Nihl gar nicht, und nun, sich auch seiner teuflischen Blicke von vorher erinnernd, dachte er nicht lange, sondern langte mit derben Fäusten zu und warf den Kerl ins Wasser. Jetzt platzten die beiden anderen los. Doch Karl verstand Spaß, und so standen sie bald alle drei beieinander und wieherten wie junge Rosse, während ihnen die Wasserbächlein beim Hals hinein- und bei den Hosenbeinen hinausliefen.

Nicht immer aber waren sie allein am Bache. Jedes Jahr, wenn das Frühjahr kam, versammelten sich ganze Scharen unten am Ende des Dorfes im Wasser, schleppten Steine zusammen, stachen Rasenstücke aus und bauten Dämme, oft weit über Meterdicke, mit vielen Schleusen. Und bald klapperten eine Unmenge kleiner Hämmerchen, durch die Bolzen der kleinen Wasserräder in Bewegung gesetzt. Es war ein schönes Spiel. Doch was fesselt Kinder auf die Dauer? Und so schlugen sie sich bald in die Wälder, dort ihr Unwesen treibend.

Später, als es wärmer wurde, holte sie wieder der Bach. Helle Haufen nackter Kerle tollten an den grasigen Ufern, schrien und lärmten und patschten im Wasser im Wettspiel mit den Enten und Gänsen. Ganze Nachmittage lang sprangen sie so durch Wasser und Sonne.

Seit alters her kamen die Kinder des Nachbarortes nach Eggendorf in die Schule. Seit alters her entspannen sich unten am Wasser zwischen den beiden Dörfern die heftigsten Kämpfe. Mitte Juli war's, als neuerlich die ersten Schimpfworte nach längerer Friedenszeit fielen. Einer hatte Jochen Nihl einen Hund geheißen. Der fletschte die Zähne, als er es hörte, und bot seine Getreuen auf. Wolf Heß arbeitete den Kriegsplan aus. Aber keiner rührte sich. Was das zu bedeuten haben mochte, dachten die Fremden. Doch sie sollten nicht lange im Unklaren bleiben. Als sie tags darauf lärmend und großmäulig im Wasser herumtollten, kamen behutsam Wolf Heß und Karl Schnellinger geschlichen. Auf dem Bauche kamen sie angekrochen, vorsichtig hinter jedem Strauche Deckung suchend. Von Gebüsch zu Gebüsch schnellten sie, helle Abenteuerlust in den Augen. Hinter dem großen Weidenbusch hatten die Badenden die Kleider liegen; jedes Wort konnten jene vernehmen, das die Arglosen sprachen.

Nun waren sie bei den Kleidern. Mit hastigen, flinken Fingern rafften sie Hemden und Hosen zusammen, machten kehrt und fegten, die Köpfe tief über die Bündel geneigt, gleich tollen Jagdhunden, dem Versteck zu, hinter dem Jochen Nihl mit seiner Schar lag. Mit breitem Grinsen wurden sie empfangen. Laut auf­lachen war verboten. Nur Rudolf Tiefenböck konnte sich nicht halten; doch warf er sich in kluger Geistesgegenwart auf den Boden und schnaubte ins Gras hinein wie ein Ferkel, das im Mist bohrt. Klaus Löffler und Raimund Bartel weinten förmlich Tränen des Dankes, so durchdrungen waren sie von der Aufgabe, die ihnen beiden zugedacht worden war. Mit rührender Sorgfalt griffen sie nach den Kleidern. Und nun ging's los! Jeder einen Stecken in der Hand, kamen sie angesprungen wie ein Rudel rasend gewordener Wölfe. Gellend klang ihr Geheul an die Ohren der Badenden. Wie der Sturm fegten sie daher. Wolf Heß und Jochen Nihl immer ein paar Längen voran. In hellem Schreck sahen sie die Aufgestörten nach ihren Kleidungsstücken stürzen. Wie kleine Teufel sprangen sie herum, planlos suchend und schimpfend. Schon aber brachen die Ältesten Äste von den Weidenbäumen. Doch was half es. Wie Sturmböcke eines Landsknecht­heeres prallten die Eggendorfer auf die nackten Leiber, und was sie nicht gleich über den Haufen stießen, bekam ihre Fäuste und Stecken zu spüren. Widerstand war vergebens, das sahen die Überrumpelten, und so nahmen sie zu ihren Beinen Zuflucht. Der Beine haben sie sich nicht zu schämen gebraucht. Wer aber doch zurückbleiben wollte, wurde durch einen gutgezielten Hieb unzweideutig belehrt, dass für ihn nur in der Weite das Heil zu suchen wäre.

Den Eggendorfern aber schien es gar nicht zu tun ums Handgemenge. Ganz trunken waren sie von der Verfolgung. Es war etwas Herrliches, so zu laufen, zu fliegen und vor sich her die keuchende Schar zu treiben. Wolf Heß brüllte von Zeit zu Zeit wie ein Besessener. Mitten im Lauf sprang er hoch, und schon sauste sein Stecken wieder auf einen Rücken nieder. Bis ins Nachbardorf jagten sie die nackten Jungen. Wie eine Schar Füllen sprangen sie die Dorfstraße hinein. Lachend und johlend sahen ihnen die Verfolger durch die dicke Staubwolke nach.

Einstweilen hatten auch Klaus Löffler und Raimund Bartel ihre Arbeit getan. Hoch oben in dem Gezweig eines alten Eichenbaumes hingen sie bunt durcheinander, all die Hosen und Hemden der Verprügelten. An jedem Ast ein Stück. Wie ein gro­ßer Kirchweihbaum stand er da.

Lachend und lärmend zogen sie heim. Das war der große Julitag, von dem sie noch nach Jahren mit Stolz sprachen.

Aber nicht immer war ihr Tun so lärmend und ungebändigt. Gleich wieder hieß es ein andermal das Haus hüten, wenn alles auf dem Felde stand, oder es gab Holz klein zu machen und in Stöße aufzuschichten. Besonders gern hatte es Wolf, wenn er mit Jochen Nihl aufs Feld fahren konnte. Da saßen sie dann auf dem Leiterwagen, die Zügel in den Händen, glaubten zu fahren und fühlten doch dunkel, dass sie gefahren wurden. Aber gerade das machte den Reiz aus. Abends durften sie die Pferde in die Schwemme reiten. Stolz trabten sie das Dorf hinunter zum Wehr. Wie Affen klebten sie auf den breiten Ackergäulen.

In jene Jahre fielen auch zwei Ereignisse, die, von keinerlei Bedeutung für das Leben im Dorf, hier doch aufgezeichnet werden müssen, da sie der Jugend genug Stoff zum Lachen und Spötteln boten, und in so kurzen Zwischenräumen aufeinanderfolgten, dass es den Anschein hatte, als habe die Hand der Vorsehung den tieferen Sinn wieder einmal bewahrheiten wollen, der in dem Sprichwort liegt, das da heißt: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Es war im Hochsommer, an einem heißen Julitag, und das ganze Dorf war beschäftigt, das goldene Korn von den Feldern einzubringen. Ringsum im Tal und auf den Hängen sah man hochbeladene Erntewagen, die schwankend und knarrend dem Dorf zustrebten. Da fehlte natürlich die Jugend nicht, und Wolf Heß war, wie immer bei solchen Dingen, mit Jochen Nihl auf dessen Vaters Feld.

Ein zweiter Leiterwagen wurde gebraucht, und da von den Großen keiner abkömmlich war, setzte man die zwei Buben auf den schwerfälligen, breitrückigen Ackergaul, Jochen vorn, Wolf hinten. Jochen nahm die Zügel und Wolf schlang die Arme um seines Vorreiters Leib. Mächtig mussten sie die Beine spreizen, dass die Hosen knackten, krampfhaft drückten sie die bloßen Fersen in den unförmigen Leib ihres Reittiers.

Der alte Nihl gab ihnen noch ein paar Anweisungen, riet, das Pferd im Schritt gehen zu lassen, klatschte dem braven Ross auf das glänzende Hinterteil, und los ging die Fahrt!

Mit mächtig gehobenem Gefühl zogen sie dahin. Männlich stolze Regungen waren es, die ihre Brust schwellten. Und wäre in jenen Tagen in der Schule etwas von den kühnen Helden des frühen deutschen Mittelalters an ihr Ohr gedrungen, sie hätten sich bei diesem Ritt sicherlich für Tristan oder Parzifal gehalten. Nur dann und wann, wenn der Gaul in eine Furche trat und sich durch die Erschütterung ihr Gleichgewicht merklich zu verändern drohte, kam ihnen für den Augenblick etwas in die Kehle gefahren, das sie in dem dunkel niedergehaltenen Bewusstsein bestärkte, dass sie nicht ganz die Herren der Situation seien. Krampfhaft bohrten sie dann ihre Fersen in den dicken Leib, Jochen dabei bestrebt, sich den Hals des Tieres als Stütze zu erwerben, während Wolf seine Arme derart energisch um seines Freundes Magen spannte, dass diesem die Eingeweide aufwärts zu steigen drohten. Und dazu machten ihre Gesäße ebenso lebhafte wie vorsichtige Orientierungsverschiebungen, bis sie beide wieder im richtigen Gleichgewicht saßen.

Als sie so ein gut Stück geritten waren, kam Wolf Heß eine der abendlichen Erzählungen des Nihlschen Großknechtes ins Gedächtnis, der den Buben von seiner Dienstzeit bei den kaiserlichen Dragonern in Krakau erzählt und ihnen geschildert hatte, wie sie, bei dem von ihrem Rittmeister kommandierten Galopp, den Pferden die Sporen in die Weichen getrieben hätten und die Tiere mit ihnen fortgeflogen wären wie Pfeile. Und so kam Wolf, angeregt von diesem Erinnerungsbilde, der stolze, aber unselige Gedanke, es doch ein wenig mit einem ganz gelinden Trab zu versuchen. Jochen Nihl, der die Verantwortung der Sache trug und die Breite und Dichtigkeitsverhältnisse der Hand seines Vaters vollauf kannte, wollte davon anfänglich nichts wissen. Als ihm aber Wolf immer mehr zusetzte, war er einverstanden.

Das Pferd wurde nun durch Wort und Tat aufgefordert, seine Verkehrsbeschleunigung etwas zu vergrößern, schien aber für ein solches Ansinnen nicht das leiseste Verständnis zu haben.

Ärgerlich begann Jochen Nihl am Zügel zu reißen. Wolf Heß aber löste vorsichtig die eine Hand vom Leib seines Freundes, ballte sie zu einer Faust und bearbeitete mit ihr die Flanke des Tieres.

So brachten sie denn den Gaul nach einigem Widerwillen, welchen ihm die Überwindung des Trägheitsmoments verursachte, in einen gelinden Trab. Als das ganz flott zu gehen schien, stupfte der Nachreiter das Tier immer lebhafter, und dieses, nun einmal in Bewegung, schickte sich zu einem so ausgiebigen Lauf an, dass sein ganzer Körper dröhnte und derart ins Schwanken kam, so dass zu ihrem heillosen Schreck die Reiter sich bald ihres Haltes beraubt sahen.

Wolf drückte wieder in der erwähnten beklemmenden Art seines Vormannes Gedärm, Jochen schrie, und als das Schreien nichts helfen wollte, begann er die Zügel immer mehr anzuspannen, doch all das bewirkte nur, dass das Schwanken immer bedrohlicher, und wie Wolf Heß bald mit Entsetzen bemerkte, der Rücken des Pferdes immer kürzer wurde! Was immer in seiner Macht lag, wurde versucht. Vergebens. Schon spürte er, dass nicht nur die Mähre ein Ende hatte, sondern auch das Ende ihrer Heldenmäre bedrohlich bevorstand. Keiner sprach ein Wort, da jeder zu sehr auf das Kommende sein Augenmerk richten musste. Wolfs Hinterteil spürte bereits freie Luft, haltlos rutschten seine Schenkel über die spiegelglatten Schenkel des gutgenährten Tieres; gleich würde er mit dem Bauch über dem Schwanz hängen.

Wie es nun kam, ob gewollt aus richtiger Erkenntnis der Sachlage, oder bedingt durch ein Gefühl gänzlicher Hilflosigkeit, es ist schließlich gleich in Anbetracht der klar zutage getretenen Tatsache, die Wolf Heß, die Beine hoch in der Luft, das Maul vor Schreck weit offen, unten auf dem Rain des Feldweges zeigte, der Rücken ganz wesentlich festgehalten von der Anziehungskraft der Erde.

Es vergingen einige Minuten, bis Wolf zu dem klaren Schlusse kam, dass es am besten sei, sich wieder vom Boden zu erheben. Inzwischen war es Jochen Nihl nicht nur möglich geworden, wieder eine etwas würdigere Reiterhaltung einzunehmen – denn während Wolf immer mehr ziehend und rutschend nach hinten abgeglitten war, hatte Jochen, alle ästhetischen Momente völlig außer Acht lassen müssend, die Hände energisch um den Hals des Gaules geschlungen, und war dabei so sehr aus der Steile gekommen, dass Bauch und Nase buchstäblich platt auf dem Pferderücken lagen –, sondern es war ihm auch gelungen, das Tier in gelassenen Schritt zu bringen. Scheltend und wetternd kam Wolf nachgelaufen und wurde nun von seinem Freund, dem jetzt erst recht der Kamm zu steigen begann, nicht nur weidlich ausgelacht, wie er so neben dem Pferde zottelte, sondern auch noch obendrein mit spöttischen Bemerkungen aufgefordert, doch wieder hinten aufzusteigen. Wolf drohte zwar, dass er eine Rute abbrechen und damit das Pferd in eine Bewegung setzen würde, die ihn ebenfalls aus seiner Höhe herunterholen würde, tat es aber nicht, da es ihm klar einleuchtete, dass man das Tier nicht allein heimlaufen lassen konnte, wenn es auch dies ebenso gut getroffen hätte. So lief er denn nebenher und dachte auf Vergeltung für den Spott.

Die sollte nicht allzu lange auf sich warten lassen und noch obendrein ganz von selber kommen.

Der alte Nihl hatte auf dem Viehmarkt in der Stadt einen Ochsen gekauft, der ihm besonders gefallen hatte, und da er etwas störrisch schien, sollten ihn die beiden Buben allein auf das Stoppelfeld am Hang treiben, bei der Bergstraße, auf dem Luzerne in die Höhe schoss. Die Ausfahrt vollzog sich anstandslos. Und oben der Klee schien dem Ochsen ebenfalls keine Veranlassung zu Unwillen zu geben. Da sollten sich plötzlich die Verhältnisse durch ein ganz nichtssagendes Getier zu äußerst aufregenden und komplizierten gestalten. Ruhig weidet der Ochs. Behaglich und ein wenig träg liegen die Buben im Klee und haben Stängel im Mund.

Der Mensch ist nur ein Mensch. Und es gibt zweierlei Willenshandlungen: freiwillige und unfreiwillige. Sie entspringen ebensolchen Trieben. Jochen Nihl war plötzlich von einem letzteren ergriffen und musste sich hinter ein nahes Gebüsch zurückziehen, unweit dem ein Zwetschgenbaum stand.

Wolf lag weiter träg im Gras.

Da hörte er mit einem Mal das zornige Summen und Sieden einer Wespe, die offenbar von dem gefräßigen Langhorn in ihrem Honigtrunk gestört worden war.

Das Rind hob den Kopf und schielte auf den gereizten schwarzgelben Stachelträger. Der machte noch ein paar zornige Umkreisungen und war eben im Begriff, sich neuerlich auf dem Honigfässlein niederzulassen, als der Ochs unglücklicherweise ebenfalls sein Maul auf dieses Gras- und Blumenbüschel senkte.

Diese neuerliche Störung war der Wespe zu bunt. Giftig bohrte sie ihren Stachel in das nasse Maul des Rindes.

Ebenso erschreckt wie wütend vor Schmerz fuhr der Ochs auf, sprang mit den Vorderbeinen brüllend in die Höhe und stürmte los, gerade auf Wolf Heß zu. Entsetzt rappelte der sich in die Höhe und suchte sein Heil in dem, wie schon erwähnt, bereits besetzten Busch.

Das Tier kam schnaubend hinterher, Wolf suchte seine weitere Rettung in der Flucht, Jochen Nihl aber, der durch eine etwas unbequeme Lage seiner heruntergelassenen Hose sich an diesem Laufe nicht beteiligen konnte, bereits aber das drohende Knacken brechender Zweige hörte, sprang auf und humpelte gebückt, die Hose wie einen großen Henkeltopf haltend, auf den nahen Pflaumenbaum zu, an dem er in höchster Angst, da sich das wütende Tier nun nach ihm wandte, in die Höhe sprang und sich eben mit erhobenen Füßen um den Ast klammern wollte, als er an einem gewaltigen Ruck verspürte dass sich seine Hose in eigenmächtiger Entscheidung von seinem Leib trennte. Und sah auch schon den rasend davonstürmenden Ochsen, sein Beinkleid im Gehörn.

Sprachlos, mit flatterndem Hemd, hing er, jenen Geschöpfen gleich, die der struppbärtige, augenbuschige Engländer Darwin höchst peinlicherweise als die Vorfahren des Menschengeschlechtes bezeichnet hat, am Aste. Und wäre vielleicht noch eine Weile so hängengeblieben, wenn nicht Wolf, stöhnend vor Lachen, auf ihn zugesprungen wäre und ihn eingeladen hätte, sich doch zu ihm herunter zu bemühen, da er diese Lage auf die Dauer weder bequem noch praktisch finden könne.

Gallig vor Zorn, untermischt mit Ärger, nun nichts mehr dem Kameraden vorauszuhaben, sondern womöglich noch lächerlicher dazustehen, eilte er mit nackten Beinen und wehendem Hemde dem Durchgänger nach, der sich inzwischen beruhigt hatte und neuerlich gelassen seinem Geschäfte des Pflanzenfraßes oblag, mit einem Mahlen und Mantschen, dass die Kinnladen bebten.

Vorsichtig nahm ihm Jochen die Hose aus den Hörnern. Sie bot einen traurigen Anblick: zwei mächtige Löcher, genau im Gesäß, und die Hosenröhren klaffend aufgerissen.

Einem arg zugerichteten spanischen Stierkämpfer gleich hielt Jochen Nihl an diesem Abend seinen wenig rühmlichen Einzug ins Dorf. Doch muss zur Anerkennung Wolf Heß' gesagt werden, dass er sich alle Mühe gab, für denkbar günstigste Rückendeckung zu sorgen, indem er sich auf ihrem Gang durch das Dorf peinlich dicht hinter den Fersen des arg Hergenommenen hielt.

Als Wolf hernach in der großen Bauernküche in denkbar getreuester und lebhafter Wiedergabe Bericht erstattete, kam es zu einer solchen Lachsalve, dass Bauer und Bäuerin allen Zorn vergaßen und Jochen, der sich mittlerweile in eine andere Hose einlogiert hatte, auf lange den Namen Stierkämpfer erhielt.

*

So ging die Zeit dahin. Die Kinder lärmten durch die Straßen geradeso wie es die Eltern getan hatten, und Wolf Heß war keiner von den Zahmsten. Doch sind weder Großmutter noch Lehrer an dem Jungen irr geworden. Man brauchte nur in seine strahlenden blauen Augen zu schauen und verstand den ärgsten Streich. Mit seiner ganzen Liebe hing er an den beiden. Es ist selten vorgekommen, dass er der Großmutter abends nicht entgegenging, und nie, dass er ihr etwas verschwieg. Wenn sie auf den Boden stiegen, um sich ins Heu zu betten – sommers schliefen sie stets auf dem Boden –, beichtete er der alten Frau alles so offen und schlicht, dass ihn Barbara Heß am Schlusse seiner Geständnisse jedes Mal in ihre Arme nahm und küsste.

„Du sollst ja lusti sei, Woif“, schloss sie gewöhnlich, „früah g'nua kimmt ja 's Leb'n mit seina Hiart'n; oba tua nia was, wos diar on d' Eahr geht!“

Traulich plaudernd lagen sie noch eine Weile eng beieinander im Heu. Durch die Ritzen lugte die helle Nacht. Manchmal ging ein Leuchten durch die Fugen, das kam von einem Stern, der über dem Dach stand. Und leise wob die Nacht. Wie still es auf dem Boden sein konnte! So still, dass man die Nacht hörte. Es hätte wenig gefehlt und man würde das Laufen der Spinnen vernommen haben. Und diese wohltätige Ruhe, erfüllt vom Duft des Heus! Großmutter hatte einen guten Schlaf. Bald erkannte Wolf an ihren gleichmäßigen Atemzügen, dass sie schlief. Nun war er ganz allein in der Finsternis. Mit gespanntem Ohr lauschte er in das Dunkel. Ein Giebelbaum knackte. Wie scharf sein Ton in die Luft schnitt! Dann ging ein Schlürfen über das Dach, so leise und behutsam, dass es nur dem schärfsten Gehör vernehmlich war. Ein leises Knistern dort und da auf den Schindeln. Eine Katze war's, die den Giebel entlang schlich. Darauf war es wieder still, nachtstill. Wie die bläulichen Fäden des Mondes in die Ritzen schossen! Dass sie nicht auf den harten Schindeln aufstießen! Ob sie sich wohl umbiegen würden, wenn es einmal danebenginge? Warum die Fäden keine Spinne holte und in der Ecke in ihr Netz verwob? Ein königliches Netz müsste das sein! Dann würden alle Spinnen kommen und sich das leuchtende Nest besehen. Sie würden dann wohl sicher neidisch werden und auch Mondfäden fangen für ihre Nester. So sann der Knabe im Halbschlummer. – Was war das? Hatte es nicht deutlich geklirrt? Einen Augenblick horchte er scharf in die Nacht, dann wusste er es: Unten im Geißstall hat eine Ziege an der Kette gerissen.

Und wieder ist es still, dachbodenstill …

Von fern her dringt der heisere Schrei eines Nachtvogels. Grell und klagend. Ganz unheimlich ist der Schrei. Und immer wieder klingt er durch die Nacht. Wie oft er schreit, denkt Wolf und beginnt zu zählen. Zwischendurch blickt er aufmerksam auf die hellen Mondfäden, ob nicht eine Spinne an ihnen heruntergleitet und sie holt.

Mitten in diesem Horchen und Schauen ist er eingeschlafen und hat weitergeträumt von riesigen Spinnen und großen dunklen Nachtvögeln.

*

„Jausenzeit!“

Hell tönt die freundliche Stimme der Oberlehrerin von der Haustür in den Garten.

Martin Löns steckt die Stichschaufel in den Boden und wendet sich an den Jungen: „Komm, Wolf, wir wollen in die Stube gehen. Mutter mag es nicht leiden, wenn der Kaffee kalt wird.“

Wolf Heß ist kein seltener Gast im Schulhaus. Der alte Lehrer hat den geweckten, alles mit frischem Geiste aufnehmenden Jungen lieb, von ganzem Herzen lieb, und Wolf Heß ist selig in dieser Liebe. So hat ihn Martin Löns immer mehr zu sich gezogen, und der Bub ist stolz darauf.

Häufig arbeiten sie im Obst- und Gemüsegarten, und es macht dem elfjährigen Jungen Freude, seinem Lehrer nichts nachzugeben.

„Wie weit seid ihr denn gekommen?“, fragte die freundliche Frau während des Kaffeetrinkens.

„Das dritte Viertel werden wir heute noch fertigkriegen, nicht, Wolf?“ Der kaute an seinem Honigbrot und nickte. „Und morgen komme ich gleich früh, wenn Großmutter in die Arbeit geht, und werfe den Mist über die letzte Breite.“

„So eilig wird's aber doch nicht sein“, lachte die Lehrersfrau.

„Wir haben zu Hause schon vor drei Tagen Kohl gesetzt!“ Damit wollte der Knabe sie von der Dringlichkeit überzeugen.

Als es gegen Abend ging, hatten sie den Fleck umgestochen und gemistet.

„Komm, wir wollen zu den Bienen gehen!“, sagte Martin Löns. „Das Abendbrot ist noch nicht fertig.“

Das hörte Wolf Heß gern. Er war noch immer der alte! Da gab es kein Tier oder Blümlein, das ihn nicht interessiert hätte. Und gar die Bienen, von denen ihnen der Lehrer schon so viel des Wunderbaren erzählt hatte! Das war ein Surren und Schwirren vor dem Bienenhaus; dreißig Stöcke standen hier über- und nebeneinander, und vor jedem Flugloch drängten sich die schwerbeladenen, vom Felde heimkehrenden Arbeitsbienen.

Martin Löns bekam ein ganz anderes Gesicht, wenn er bei seinen Bienen stand. Es schien, als liebkose er jedes der emsigen Tierchen mit seinen warmen Blicken. Ja, nun war er ganz der Bienenschulmeister, wie ihn die Leute im Dorf nannten.

Dicht hatten sie sich von der Seite an den Stock gemacht.

„Komm, Wolf“, sagte der Lehrer, „wir wollen nun die Tierchen betrachten, die bei dem obersten Loch einfliegen! Da, siehst du die kleine Arbeiterin? Eben macht sie die letzten Flügelschläge! Nun sitzt sie auf dem Flugbrett und verschnauft eine Weile. Sieh dir nur einmal die Hinterbeine an! Ganz klumpig sind sie vom hellen Gold!“

„Ja, Herr Lehrer, das ist der Blütenstaub, den sie sammelte.“

„Nun ist sie ausgeruht und kriecht ins Flugloch. Siehst du die Bienen dahinter, ja? Das sind die Torwächter. Die haben die Aufgabe, scharf zu wachen, dass kein Honigräuber in den Stock kommt. Wagt es dennoch einer, fallen sie in rasender Wut über ihn, und hundert giftige Stacheln bohren sich in seinen Leib. Das ist ein heißer Kampf, wie am Tage der Drohnenschlacht. Unser Bienchen aber kriecht getrost zwischen ihnen durch die Wabenwand hinauf, wo die leeren Zellen sind.“

„Ich kann nur das eine nicht begreifen, Herr Lehrer, dass die kleinen Tiere gar nicht ermüden.“

„Das glaub ich dir gern, Jung', und siehst du, gerade dies ist so einfach. Die Biene ist ein kleiner Luftballon, weißt du. Du hast doch das Adernnetz in den Flügeln gesehen? Nun ja, freilich. So höre: Wenn die Biene losfliegen will und die Flügel breitet, pumpt sie Luft in diese Adern – die Adern sind nämlich hohl –, und das Tierchen fliegt nun dahin, leicht wie ein Luftschiffchen.“

Wolf richtete seine großen Augen voll Verwunderung auf den Schulmeister.

„Nicht wahr, da staunst du! Ja, Mutter Natur arbeitet wundervoll! Schau, wie sie alle heimwärts eilen! Das ist ein Flügelschwirren! Sieh nur, wie ihre Flügel im Abendschein glänzen! Das werden die letzten sein! Sie sind wohl zu weit hinausgeflogen auf die Wiesen und eilen nun sehnsüchtigen Herzens ihren Lieben zu. Wer weiß, wie ihre kleinen Herzchen schlagen. Wie froh sie sein werden! Elend hätten sie sterben müssen, wären sie nicht zum Stock gekommen.“

„Sie wären wohl draußen in der kalten Frühlingsnacht erfroren“, sprach Wolf, mit versonnenen Augen auf die kleinen Tierchen blickend.

„Sie wären vor Sehnsucht umgekommen!“

„Vor Sehnsucht?“

„Ja, Wolf, vor Sehnsucht! Die Bienen können nur leben, wenn sie einander sehen, wenn sie sich ein liebes Wort zurufen, sich mit ihren zarten Fühlern liebkosen können. Verfliegt sich jedoch eine und kommt nimmer heim, packt sie so schreckliche Sehnsucht nach dem trauten Gesumm, nach der seligen Nähe all der warmen Bienenkörperchen, dass sie elend und todtraurig stirbt.“

„Wie schön das ist!“ In tiefer Rührung sah Wolf auf zwei hastig angeflogen kommende Arbeitsbienen.

„Wie sie aufs Brettchen stürzen! Schauen Sie nur, Herr Lehrer! Sie ruhen gar nicht. Und wie hurtig sie dem Flugloch zukriechen! Die sind wohl schon recht in Herzensnot gewesen.“

Es waren die letzten. Eine Weile horchten sie aufmerksam auf das dumpfe Brausen, das aus dem Stocke kam, dann begann Martin Löns wieder zu reden: „Nun ist Feierabend in der Natur. Die Vögel sitzen auf ihren Zweigen, selbst die Mücken beenden ihren Tanz, und im Stall liegen die Tiere, und die Müdigkeit macht ihre Augen immer kleiner. Nur das Gezirp der Grillen tönt durch die Stille des Abends. Die können noch leicht eine Weile aufsitzen und musizieren, haben sie sich doch tagsüber wenig geplagt. Horch nur, wie ihre Töne grell durch das Dämmern klingen! Und doch könnt ich auch sie nicht missen, die lieben, faulen Musikanten. Ich glaube, es wäre gar nicht recht Feierabend, wenn ich nicht ihr eintöniges, wohlig trautes Gezirp hörte. Den Bienen aber geht's nun wie Arbeitsfrauen. Tausende von jungen Larven liegen in ihren Zellenwiegen, wollen gefüttert sein und ihr Schlummerlied haben. Und weil keine Deckchen über ihren nackten Körpern liegen, stellen sich Hunderte Bienen auf die Waben, nimmermüde ihre Flügel rührend, um sie warmzuhalten.

Und die kleinen Würmchen schlafen ein und haben keine Ahnung, dass sie einem schweren, harten Leben entgegenwachsen, das keinen Sonntag kennt. Arbeit, Arbeit, immer nur Arbeit, und am Ende den Tod, das ist ihr Los. So tragen es ihre Pflegemütter, so werden auch sie es tragen. Und wie diese werden sie dem lieben Gott dankbar sein, dass es so ist. –

In einem Winkel liegen die Drohnen beisammen, ihre Onkel, lärmen, singen unschöne Lieder und stechen ein Fässchen um das andere an, sie mit nimmersatten Kehlen leerend. Sie kümmern sich nicht um den Schlaf der Wiegenkinder. Nur wenn ein Bote der Königinwache kommt und ihnen mitteilt, dass ihr Gejohle bis an die königlichen Gemächer dringt, dämpfen sie ihre Stimmen. Später verstummen auch sie. Still ist's nun im Staate; nur das leise Wehen der Flügel rauschte geheimnisvoll durch die Nacht.

Tief drinnen aber, im Allerheiligsten des Stockes, thront die Königin, hingebungsvoll von der Palastwache und ihrer engsten Leibwache umgeben, die in unverwandter Aufmerksamkeit ihr jeden Wunsch ablauschen und jeden ihrer Befehle auf das Gewissenhafteste erfüllen. In hoher Weisheit lenkt sie ihr Volk. Und da alle blindlings folgen und nur dieses eine Wohl, das Wohl der Gesamtheit im Auge haben, und hässliche Ichsucht jedem Einzelnen von ihnen völlig unbekannt ist, herrscht in ihrem Staate auch jene Ordnung, Eintracht und jener gesegnete Frieden, den die Menschen trotz all ihrer Klugheit nie erreichen.

Und unermüdlich legt sie ihre Legionen von Eiern, denn die Lebenszeit der Bienen ist eine kurz bemessene.

Damit nun aber genügend Wiegen und Speicher für den köstlichen goldenen Lebenswein vorhanden sind, hängen sich ganze Scharen von Arbeitsbienen zu Trauben an die oberen Ränder der Wabenrahmen. Stundenlang hängen sie so, ohne sich im Leisesten zu rühren. Und während du denkst, dass sie schlafen, geben sie sich einer angestrengten Aufgabe hin, die der einer eierlegenden Henne ähnelt, oder einer Wolke, die zu regnen oder zu schneien beginnt. Denn durch das dichte Zusammengepresstsein der vielen Bienenleiber entsteht eine so große Wärme, dass die kleinen Körperchen sich erhitzen, und diese Hitze bringt geheimnisvolle Drüsen in Tätigkeit, so dass plötzlich ein ganz seltsames Naturschauspiel eintritt: Winzig kleine weiße Flöckchen beginnen sich von der Bienentraube zu lösen und tanzen, wirbeln und fallen so dicht zu Boden, wie wenn im Stock drinnen ein arges Schneegestöber angehoben hätte. Und siehe, die Schneeflöckchen sind ganz kleine, winzige Plättchen und Schüppchen aus Wachs.

Und unten stehen Scharen anderer Arbeiterinnen bereit, die nehmen diese kleinen Wachstäfelchen zwischen ihre Kiefer, kauen und kneten sie, steigen mit ihnen in die leeren Holzrahmen hinein und beginnen den Bau der Wiegen und Honigtöpfe. Und denk dir, das Wunder: So viele von ihnen an der Arbeit sind – und ob sie es auch das erste Mal in ihrem Leben tun – es entstehen immer nur sechseckige Waben.

Und so wenig sich dabei auch nur eine Biene irrt, ebenso ist seit Ewigkeit her keine einzige Biene von dieser strengen Form abgewichen. Und siehst du, Wolf, wenn der Mensch nicht so flüchtig und gottfern geworden wäre, sondern hinter allem Geschehen das Leben und hinter diesem das Rätsel des Lebens: das Gesetz des Lebens, schauen würde, dann müsste er sich gar bald fragen: Woher hat die Biene ihr ungelerntes, vom ersten Augenblick ihres Daseins an gekonntes Wissen? Und wer hat diese und gerade diese Sechseckform für das Bienenhaus ausgedacht?

Wer senkt seit Ewigkeit dieses Gesetz in die Brust jeder Biene?

Die heutige Zeit ist flüchtig geworden, sie fragt nicht mehr nach dem Woher und Wieso. Ihr genügt, dass es so ist. Das aber ist das große Unglück unserer Zeit, das immer mehr zur Seelen- und Gottlosigkeit führt.

Einmal aber da war es anders. Da haben die Menschen nicht gesagt: Es ist eben so und damit Punktum! Sondern sie sind in tiefer Ehrfurcht vor Tier und Blütenkelch und Stern gestanden und haben die Urfragen gestellt: Wieso ist das alles? Wo kommt es her? Wer hat es gemacht? Warum ist es da? Wo geht es hin?

Und siehst du, mein liebes Kind, so sind unsere Ahnen bis zum Urgrund alles Lebens vorgedrungen und haben ihn nicht nur tief gefühlt, sondern gekannt diesen Urgrund und haben ihn Gott genannt.

Denn siehe, Wolf, nichts in der Natur ist aus sich selbst. Alles muss einmal einen Anfang haben, muss erdacht und gebaut worden sein, und der große Bauherr aller Geschöpfe ist eben der liebe Gott.“

Augen und Ohren Wolf Heß' hingen wie gebannt an den Lippen des Lehrers. Wie Wurzeln der Pflanze das Wasser, so sog er begierig jedes Wort in seine weit offene Seele. Solche Worte, die Martin Löns häufig zu ihm sprach, bildeten und formten gar wundersam das aufgeschlossene Gemüt des Taglöhnerjungen, und er konnte es bei aller Begierde kaum erwarten, bis er daheim in der Stube, auf der Hausbank oder oben auf dem Heuboden seiner Großmutter getreu davon berichten konnte.

„Und so hat unsere Vorfahren auch die Frage ernst beschäftigt, warum die Biene gerade in diesem Sechseck ihr doppeltes Lebenshaus: die Wiege und die Vorratskammer baute. Und wenn sie natürlich auch nicht ergründen konnten, warum Gott für dieses Lebenshaus das Sechseck und nicht den Kreis, das Quadrat, den Rhombus oder sonst eine Form bestimmte, so haben sie dafür doch ein anderes gefunden: – dass nämlich auch die vom Himmel zur Erde niederfallende Schneeflocke in diesem Sechseck kristallisiert, oder besser gesagt, aus drei Balken besteht, die sich wunderbar in die sechs Ecken der Bienenzelle hineinfügen, so dass diese Zelle das Haus und die Schneeflocke das Gerüst dieses Hauses darstellt.“

Der Lehrer nahm sein Notizbuch aus der Tasche, das er immer bei sich trug, zeichnete erst die drei sich in einem Mittelpunkt verschneidende Balken der Schneeflocke, und verband hernach die sechs Enden derselben mit den sechs gleichlangen Linien der Bienenzelle. Wolfs blonder Schopf fuhr wie ein Falke nach dem Blatt; sein heller Geist nahm dabei jedes Wort und jede Linie unauslöschlich in sich auf.

Martin Löns aber fuhr fort:

„Da Bienenzelle und Schneeflocke so wundersam zusammenpassen, haben die Frühväter unseres Blutes von der emsigen Biene die Kunde geprägt, dass sie nicht von der Erde stamme, sondern vom Himmel gekommen sei.

Und da sie schon vordem ungezählte Male über das Rätsel des Lebens nachgegrübelt hatten, so schauten sie eines Tages in der Schneeflocke und der Bienenzelle das ihnen beiden gemeinsame Gleichnis oder Bild vom großen, geheimnisvollen Ablauf des Lebens, der immer und überall der gleiche war: – dass das Leben aus dem Geheimnis kommt; dass es eine Weile da ist und sich seines Daseins freut, und dass es hernach wiederum in das Geheimnis verschwindet.

Und sie entdeckten so das ungeheure dreigliedrige Urgesetz des Lebens, dem die ganze Schöpfung Untertan ist, das Gesetz vom Werden, Sein und Vergehen. Dergestalt, dass der von links emporstrebende Balken das Werden jedes Geschöpfes anzeigt; der senkrechte Balken das zwischen Erde und Himmel stehende Sein; und der nach rechts hinabweisende Balken das Vergehen.“

Löns führte den Blei erklärend über die drei Balken aus den Ecken der Bienenzelle. Wolf Heß' Augen verschlangen förmlich die Bewegungen des Bleistiftes.

„Und siehst du“, fuhr der Lehrer fort, diese riesenhafte Gottesgewalt, die das ganze All, die ganze Schöpfung, umschließt – und die sich in diesem Dreibalkengerüst offen kundgibt –, nannten unsere Frühväter die ,Trägerin des Alls', die heilige ,All-Umgreiferin', die ,All-Hegerin' oder in der Sprache unserer germanischen Vorväter: die heilige ,Hagall'.

Und sie schnitten aus diesem Schneeflockengerüst und den sechs Mauern der Bienenzelle – welche beide, wie ich dir zeigte, die Macht über alles Leben in sich tragen – ihre heiligsten Siegel, die Runen, heraus, welche die Zeichen ihrer Laute, ihrer Schrift und ein Drittes in sich bergen, das du noch nicht erfassen kannst.“

Andächtig lauschte der Bub den Worten, die eine immer größere Weitung für ihn bekamen.

„Und wenn ich so über diesen wundersamen Bienenstaat nachdenke“, sprach Martin Löns weiter, den Buben dabei vergessend, und immer tiefer in die ungeheueren Rätsel des Lebens hineingelockt, „dann kommt mir stets ein ganz eigentümlicher Gedanke: dass jede Biene wie ein Stern am Himmel ist und alle Bienen zusammen das ganze Weltall sind. Und die Königin in ihrer Mitte die Gottheit ist, die das ganze Weltall schafft, zusammenhält und lenkt.“

Der Lehrer schwieg. Seine Augen waren verloren in die Feme gerichtet. Atemlos lauschte der Bub, das Herz klopfte in der Brust, dass es fast hörbar pochte. Nach einer langen Weile fuhr der Versunkene mit dunkler, fast geheimnisvoll flüsternder Stimme fort:

„Und es steigt da immer wieder auch dieser andere Gedanke vor mir auf, der nicht von mir weichen will: Dass die einzelne Biene trotz ihrer wundervollen Wesenhaftigkeit gar nicht das Geschöpf Biene selber ist, sondern dass erst alle Bienen eines Stockes zusammen dieses geheimnisvolle Tier bilden!

Und dass darum jede einzelne Biene nichts anderes und ganz dasselbe ist, was in unserem menschlichen Leib ein Blutkörperchen ist, von dem wir wissen, dass es ein zellenartiges Lebewesen ist, das aber trotz seiner Geschlossenheit und Lebendigkeit doch nur ein winziges Teilchen des großen Geschöpfes Mensch darstellt.

Und es erklärt sich dann auch das ansonsten unfassbare Wunder dieses bis zur Lebensaufopferung reichenden, bedingungslosen, von keinem einzigen Glied der Gemeinschaft je durchbrochenen Pflicht- und Ordnungsgefühles, und dieses unbeschreiblich weise, einheitlich und streng geschlossene Zusammenspiel aller einzelnen Bienen des Staates, in welchem sich jedes Teilchen der Gesamtheit bedingungslos ebenso der Lebensnotwendigkeit des Tieres Biene beugt, wie alle Blutkörperchen dem Gesetz und der Notwendigkeit des Geschöpfes Mensch.

Und es ist dann nicht nur diese ungeheure Pflichthingabe jeder einzelnen Biene verständlich, sondern auch, warum sie elend zugrunde gehen muss, trotzdem sie ein völlig geschlossenes Wesen scheint, wenn sie sich von ihrem Stocke verliert. Sie muss außerhalb des Gesamtleibes des Bienenstaates oder des großen Tieres Biene ebenso kläglich sterben wie jedes Blutkörperchen, das aus dem Leib eines Menschen rinnt.

Und es ist somit die Bienenkönigin, die vom Stock so heiliggehalten wird, noch weit mehr als die Eierlegerin und Fortpflanzerin der Art; sie ist dann im Leibe dieses großen, rätselhaften Tieres Biene deren Herz und Gehirn, also der Motor und der Herr.“

Die Stimme des Lehrers verstummte.

Wolf Heß hing am Mund des Schweigenden wie an dem eines Zauberers.

Endlich erwachte Martin Löns aus seiner tiefen Versunkenheit. Und des Jungen an seiner Seite gewahr werdend, sprach er mit verlorenem Lächeln, die Augen auf das Bienenhaus gerichtet, den Arm um den Nacken seines Lieblingsschülers legend: „Komm, Jung', wir wollen in die Stube gehen!“

Drinnen sitzen sie jedes Mal noch eine Weile plaudernd um den Abendtisch, bis Wolf mit der Bemerkung, nun nach seiner Großmutter sehen zu müssen, von ihnen Abschied nimmt. Leise ein Lied durch die Zähne pfeifend, eilt er ins obere Dorf. In der Stube wartet Barbara Heß schon auf ihr Enkelkind. Haarklein muss er ihr erzählen, was sie heute getan, welche Worte die Lehrersleute zu ihm gesprochen, und ihr Herz wird weich vor Stolz und Glück.

Und nun ist die Zeit da, wo sich die Großmutter auf Geschichten freut. Wolf geht zum Kasten, entnimmt ihm ein Buch – er bekommt sie vom Lehrer –, Großmutter sieht nach der Lampe, dann beginnt er zu lesen. Ihr hättet Wolf lesen hören sollen! Wort um Wort packen seine scharfen Augen. Da kann sich kein Buchstabe drücken oder ein anderer in Übermut einschleichen. Was sie sehen, das sehen sie und das lesen sie. Großmutter sagt, so gut hätten ihre beiden Männer selig zusammen nicht lesen können wie der Bub. Und wie schön er betonte! Schier andächtig saß sie und horchte. Das war nun die Stunde, auf die sie sich freute. Wolf wusste das, und er hätte sich um keinen Preis der Welt abhalten lassen, Großmutter um diese Freude zu bringen.

Davon wusste Martin Löns. Und wenn sie zu dritt nach dem Abendbrote gemütlich um den Tisch saßen, blinzelte er seiner Frau zu; und sie wusste: Gleich würde Wolf Heß aufstehen und bescheiden gute Nacht sagen. Er bekam stets einen Gruß für Großmutter mit, und darauf wartete er so freudig wie sie. Froh ging er alsdann durch die Tür. Mit warmem, leisem Lächeln sahen ihm die beiden Leute nach.

„Es ist eigentlich ein Jammer, dass solch ein tüchtiger Kerl nicht studieren kann!“, schloss Martin Löns häufig sein Nachsinnen.

„Ja – und nein! Wer weiß, ob er nicht glücklicher und zufriedener bleibt im stillen Frieden seines Dorfes. Wer weiß, ob du ihn nicht entwurzeln würdest, ginge er einst aus ihm.“

„Du hast recht, Frau, hart ist das Leben zwar, aber voll Segen und Frieden. Und was das Wichtigste ist: Er ist innerlich reich! Ihm offenbaren sich Dinge und Geheimnisse in der Natur, die ein anderer Sterblicher ein Leben lang nicht erblickt. Ich bin oft starr, was der Junge zu sehen vermag, und so tue ich meinerseits alles, um die zarten Knospen seines Seelenbaumes unauffällig immer mehr zu lockern. So wird der innere Reichtum ihm einen festen Boden unter die Füße geben und ihn nie herabsinken lassen zum dumpfen Arbeitsknecht. Aus seinem Holz werden die vielen unbekannten Künstler des Lebens geschnitten, die der heimliche Schatz unseres Volkes sind. – So aber, wer kann es sagen, ob er Wurzeln schlagen könnte draußen in der Welt. Ich möchte es nicht auf mein Gewissen laden, ihn einst wiedersehen zu müssen mit Augen, aus denen die helle Sucherfreude gewichen ist, um einer Düsterkeit Platz zu machen, die nicht nur in ihnen allein liegt.“

Sinnend sieht Martin Löns vor sich hin. „Und doch“, fährt er nach einer Weile fort, „sähe ich den Jungen für mein Leben gern auf der Schule! Ich glaube, Menschen wie er werden überall mit dem Leben fertig, weil sie imstande sind, sich eine innere Welt zu bauen. Und ist das Leben in dieser Welt nicht eigentlich das wahre, wirkliche Leben? – Und siehst du, Martha, wie reich würde diese Welt in der Brust des Jungen werden, könnte er sein scharfes Auge durch das Reich unserer Wissenschaft dringen lassen.“

„Es ist hart zu raten, Martin.“

„Nun ja, es hat ja auch noch Zeit. Auf jeden Fall aber will ich ihn fest an mich halten und ihn fernerhin unmerklich führen. Was dann kommen soll, wird kommen.“

Verständnisvoll nickte ihm seine Frau zu. –

So war Wolf Heß überall. Früh stand er auf dem Turm, die Glocke ziehend, dass ihr traulicher Klang hell in den Morgen tönte, hernach kniete er in der Kirche vor dem Altar, Gott und seinem Priester dienend, dann saß er in der Schule neben Karl Schnellinger mit großen Augen, die immerwährend eines neuen Wunders gewärtig waren. Nun, und fütterte er nicht etwa mittags die Geißen? Wer stand in der schwarzen Küche und brannte ihren Trank ab? Das darf euch nicht wundernehmen! Wolf würde nur lachen, sagtet ihr ihm das. Was war denn schon dabei! Wasser und Mehl fest gerührt und gebrüht, das war alles. Das ist doch kinderleicht. Nein, ihr müsst ihm nichts sagen. Er würde die Hände in die Hosentaschen stecken und die Augenbrauen hochziehen. Und das wäre ärger, als wenn er euch verlachte.

Und was würdet ihr sagen, wenn er hierauf den Melkeimer nimmt und zum Stalle geht? Um Himmels willen nur keine großen Augen! Er würde sich verächtlich umdrehen. Es war doch alles so selbstverständlich. Den Schemel zur Geiß, das Euter gewaschen, darauf den Melkeimer zwischen die Knie geklemmt, die Striche mit ein wenig Schmalz linde gemacht – und strulle, strulle sprang die Milch in das Gefäß. Er würde sicher befremdlich tun, fändet ihr das schwer. Hatte es ihm nicht Großmutter gründlich gezeigt? Und war er nicht im elften Jahr? Na also! Ihr seht, ihr könnt ihn nicht aus seinem Gleichgewicht bringen.

Und nach dem Essen; da hättet ihr wohl wieder die Augen rund gemacht. Es wird doch nicht einer unter euch sein, der ihn vielleicht gar verlacht hätte! Tut es nicht! Er würde vorsichtig den abgewaschenen Teller ins Schaff mit dem kalten Spülwasser stellen und euch fragen, ob ihr auch eine alte schneeweiße Großmutter habt, die sich allein mühen und plagen muss. Er würde euch dann den Rücken kehren und stehenlassen und weiter das Geschirr reinigen.

Nach der Nachmittagsschule hinwieder könnt ihr ihn sehen, wie er mit seinen beiden Freunden, Karl Schnellinger und dem Bauernsohn Jochen Nihl, zum Walde geht, Holz heimzutragen. Blickt sie nicht groß an, wenn sie schwere Bürden auf den Rücken heimwärts schleppen. Es wäre nicht unmöglich, dass sie euch geringschätzig ansehen. Karl Schnellinger wäre es imstande, euch vom Walde her die lange Nase zu zeigen. Wollt ihr euch die lange Nase zeigen lassen?

Ja, das Leben ist ernst, wer aber sorgfältig zuguckt und nicht sieht, dass es trotzdem, ja vielleicht gerade deshalb, schön ist, der gilt da nichts, der wird verlacht.

Und stehen sie nicht hernach am Bach? Kriechen sie nicht immer noch die Pfarrhofmauer hinauf? Und wer ersinnt all die tollen Streiche? Wer führt sie aus? Meint ihr, das käme alles nur so zugeflogen? Und kannten sie nicht auch schon die Karten? Wenn einer den Vierziger in der Hand hat und ein As, meinst du da, er dreht nicht zu? Na, hör einmal! Das getrauen sie sich noch alle Tage.

Oft wirst du sie auch ohne Wolf sehen. Dann ist er bei Martin Löns. Du kennst doch Löns, den Dorfschulmeister! Da graben sie, pflanzen sie, schneiden und putzen die Bäume des Obstgartens, nehmen Früchte ab oder schauen nach den Bienen.

Du hättest neulich Wolf Heß hören sollen! Sagt er da plötzlich, als sie den heimeilenden Bienen zugucken: „Wissen Sie, Herr Lehrer, dass ich auf was gekommen bin?“ „Na, auf was denn“, fragte Martin Löns. – „Dass die Bienen an jedem Tage nur auf eine Art von Blumen fliegen!“ Nun hättest du das Gesicht des Schulmeisters sehen sollen. Dann hat er den Jungen gefasst und in seinen Armen gedrückt, dass er quieken hätte müsse, wär's nicht Wolf Heß gewesen.

Ja, seht, so ist er eben, der Bub. Ernst und toll und scharfsinnig.

Und all das Tagesgeschäft überschläft er nachts friedlich neben Großmutter auf dem Boden im Heu, und er hat es besonders gern, wenn Regen kommt und der melodische Tropfenfall seine wundertrauliche Musik aus dem Holz der Schindeln schlägt.

Der Bauernstudent

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