Читать книгу Der Bauernstudent - Hans Sterneder - Страница 6
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Als die Herbststürme kamen und das bunte Laub von den Bäumen schüttelten, musste der Bub wieder im Hause bleiben. Geduldig saß er in der stillen Stube, die für ihn voll tausend Wunder war. Auf allen vieren kroch er über die mit weißem Sand bestreute Diele. Bald langsam und bedächtig, bald in voller Eile. Dass das nur möglich war! Grunzlaute stieß er vor tiefem Behagen aus. Dann setzte er sich nieder und bedachte die Sache. Was doch der Mensch für ein Wunderding war. Was der alles konnte! Nein, es war nicht zu glauben! Und um sich's zu beweisen, dass es doch so sei, ließ er sich wieder auf die Hände und begann von Neuem zu kriechen in allen Gangarten.
Später hat er sich unter das Bett geschoben und die Geheimnisse seines Dunkels erforscht. Auch an den Spucknapf, der ungebraucht mit mehligen Sägespänen in der Ecke steht, noch aus der Zeit des Urahns her, ist er geraten und hat seinen Inhalt untersucht. Und was es da nur für spaßige Risse im Boden gab! Da konnte man die Finger hineinstecken und die ganze Stube entlang schieben. So sah er mit seinen klugen blauen Augen in seiner Welt rastlos herum, wie Kinder es tun, die alles selber erobern müssen. Einmal hatte Großmutter vergessen, die Tür des Wäschekastens zu schließen. Sie stand wohl nur eine Handbreit offen; aber als der Blick des Kleinen auf ihn zu ruhen kam, sah er sofort, dass da etwas nicht in Ordnung war, kroch hin, machte bedächtig und mit Verwunderung die Tür auf und begann mit immer mehr wachsendem Staunen Großmutters Wäsche auf den Boden zu häufen. Was doch so ein Ding alles in seinem Bauche barg! Ob ihm das Großmutter zum Essen gegeben hatte? Und ob er nun wohl Hunger hatte? Wie groß so ein Bauch war! Er muss dortmals arg ins Sinnen gekommen sein, denn als Barbara Heß heimkam, lag er im Kasten drinnen und schlief.
Später einmal hat er auch den Perpendikel der alten Stockuhr zu fassen gekriegt, und als darauf das ewige Gekreisch aufhörte, brachte er es richtig mit dem Ding da in Zusammenhang.
So kam und ging der Winter. Und als es Frühjahr wurde, lief der Bub und hatte basse Freude darüber. Was die Großmutter glücklich war! Wenn er nun allein in der Stube spielte und die warmen Sonnenstrahlen hell durchs Fenster tanzten, bekam er jedes Mal Lust, sie zu fangen. Von der Seite schlich er sich gegen sie und tappte nach ihnen. Weil er sie so aber nicht bekam, wollte er höher hinauf; und so kroch er mit vieler Mühe auf die alte Truhe beim Fenster. Wie er da hinaussah, erblickte er im Hofe die scharrenden Hühner, und das Verlangen, mit ihnen zu spielen, ließ ihn das Fangen der goldenen Seilchen vergessen. Wie der Knirps hinuntergekommen ist, das weiß er selber nicht. Er hat eine Weile geheult, hernach hat er sich auf die Hühnerjagd gemacht. Es ist ihm sauer geworden. Er hat geschimpft; oh, er hat viel geschimpft in seiner unverständlichen Art an jenem Tage! Verdrossen hat er sich auf den Staffel gesetzt und ist eingeschlafen. Die Hauskatze hat mit eingezogenen Pfoten neben ihm gewacht.
So fand ihn Barbara Heß, als sie abends aus der Arbeit kam. –
Und die Zeiten gehen und kommen.
Der kleine Wolfgang hat längst seine ersten Höschen bekommen und schon ein Paar wirklicher schöner Schuhe an den Absätzen schief getreten. Die Hände tief in die Hosensäcke gebohrt, die Füße breitspurig auseinandergestellt, so steht er in Hof und Garten und guckt in die Welt.
Oh, die Welt sah ganz anders aus von der schwindelnden Höhe zweier Schuhabsätze! War Großmutter einmal weiter weg in Arbeit, musste der Bub zu Hause bleiben. Er spielte dann im Hof, machte wohl auch die ersten Versuche, aufs Nachbardach zu klettern – eine Katze hatte ihn dazu angeregt – oder er schlüpfte den Regengang auf der anderen Seite entlang.
Diese Schlucht zwischen den beiden unbemörtelten Hausmauern aus Feldsteinen und roten Ziegeln war eine ganze, gruselige Welt für sich. Was es da an großen, verstaubten Spinnennetzen, alten, hochbeinigen, gespenstisch zappelnden Spinnen, toten Fliegen, laufenden Käfern mit schwarzen, glänzenden Buckeln, grauen Mauerasseln unter den roten Ziegelbrocken und langen, träg sich fortschleppenden Regenwürmern gab, das war gar nicht auszuschöpfen. Die reine Gruselkammer war dieser schmale Schlupf.
Hatte er sich durch ihn jedes Mal hindurchgeforscht und durchgeschauert, stand er vor einem Zaun mit einem bunten Gärtchen davor, und über dieses weg sah er auf die Straße und die nächsten Bauernhäuser. Hier lungerte er oft lange Zeit und sah, was sich im Dorfe zutrug.
Abends stand er jedes Mal auf dem Feldweg oben, der den Garten von dem Ackerland trennt, und spähte mit blanken, himmelblauen Augen über den weiten Feldkreis bis an die dunklen hohen Wälder. Hier hielt er nach der Großmutter Ausschau. Und wenn er sie kommen sah, er erkannte sie schon aus der Ferne, lief er ihr mit gehobenen Armen entgegen, schob seine kleine Hand in ihre, und lebhaft plaudernd stapfte er mit ihr dem Hause zu.
Oft nahm ihn die Alte auch mit ins Feld. In jener Zeit ist er zum ersten Mal mit einem Wagen gefahren und hat auch die Wunder der großen Bauernhöfe gesehen. Wie der Vierjährige die Augen aufriss, wenn ihn Barbara Heß den Kuhstall mit seinen vielen Tieren sehen ließ und er all das Futterraufen, Mantschen und Kettenklirren erlebte! Und dann die Rosse! Die gewaltigen Rosse, die wie Berge vor ihm standen, nein, wie Gebirge, und wie grollende Donner schnaubten und wie Blitze stampften. Wie der Kreuzschnabel im Käfig beim alten Flickschuster sprang sein Herz jedes Mal vor Lust und Schaudern in seinem Brustkasten herum, wenn er im Stall vor den Rossen stand.
Und die vielen Schweine! Großmutter hatte gar keine Kühe und Schweine. Wenn er einmal groß ist, dann will er auch Kühe und Schweine haben. Und ein Ross, ein ganz großes Ross. Auf das wird er sich mit der Großmutter setzen und durch die Welt reiten.
Aufmerksam sah er dem Knecht beim Anspannen zu – ja, das musste alles besehen sein, wollte man wissen, wie es dabei zuging! Und bald darauf rasselte der Leiterwagen los mit Knecht, Buben, Großmutter und den übrigen Arbeitsleuten. Das waren stets lustige Fahrten.
Draußen, während Großmutter arbeitete, hockte er sich auf den Wegrain, sah ihnen zu oder trieb sich spielend auf den Ackergrenzen herum. Besonders gern setzte er sich mitten in die prangenden Wiesen, fügte bunte Blumen zu einem Strauß zusammen, guckte in die Sonne und wurde es nicht müde, auf die hohen Bergriesen zu sehen, die tief in das reine Blau des Himmels ragten. Und weil ihm nie jemand törichtes Zeug vorsagte, kannte er auch kein Bangen. Ruhig nahm er jeden Käfer und Wurm in die Hand und spielte mit ihm. Da bekam er auch einmal eine Ameise zu fassen. Doch sie verstand keinen Spaß und biss zu. Das aber erschien dem kleinen Wolf, der nie einem Tier Leid zufügte, als arger Frevel; kaltblütig suchte er das krabbelnde Tierchen aus dem Grase, nahm es zwischen die Finger und drückte es platt. Seither quetschte er jede Ameise tot, die er sah. Großmutter hat er davon nie etwas gesagt. Später, als er groß war, hat er seine Kindertorheit sehr bereut und vorsichtig seine Stiefel über jede Ameisenstraße gesetzt, der er begegnete.
Ein andermal fand er das erste Grillenloch. Ohne Bedenken steckte er den Finger in die kleine Erdbehausung. Weil diese aber keinen Grund bekam, riss er einen langen Halm ab und steckte ihn in das Loch. Wie der Halm hineinkroch! Das wollte ja kein Ende nehmen! Entsetzt prallte er zurück. Ganz kalt lief's ihm für einen Augenblick über den Rücken. Ja, was war denn nur das! Ein schwarzer kleiner Teufel kam aus dem Dunkel der Höhle gefahren, mit zwei gewaltigen Hörnern vorn am Kopf. Doch der Schreck verging, und als das Tierlein die Gelegenheit benutzte, um in das Loch zurückzukriechen, begann er es mit aller Hingebung von neuem herauszukitzeln.
Hei, wie der schwarze Teufel springen konnte! Das war eine feine Jagd! Was waren die Käfer dagegen doch für plumpe Kerle! Seitdem hatte er eine Leidenschaft: Er konnte kein Grillenloch sehen, ohne sich nicht eilends nach einem Halm umzutun und mit der gesammeltsten Aufmerksamkeit seinem Jagdgeschäfte nachzugehen. Stundenlang kroch er die der Abendsonne zugekehrten Ackerböschungen ab und delogierte, delogierte. Einmal, mitten in der Arbeit, trug sich's zu, dass zwei Grillen bei ihrem unfreiwilligen Wandergang zu nahe aneinandergerieten – und eh sich's der Junge noch versah, waren sie im wärmsten Handgemenge. Ja, konnte denn so etwas auch vorkommen? Wolf traute seinen Augen nicht. Wie sie gegeneinander sprangen! Wie sie sich schüttelten und bissen! Das war ja toll! Heiß ging es her. Lange währte der Kampf. Plötzlich legte sich der eine auf den Rücken und streckte die Beine. Der wollte sich wohl verstellen! Vorsichtig nahm er ihn bei einer der hochgestreckten, stahlbläulich schimmernden Schienen. Nein, es war ihm voller Ernst; leblos hing er in der Luft. Wie sein glattes Körperchen in der Abendsonne glänzte!
Und dann kam mit einem Schlag das ganz Wunderbare. Irgendwo begann eine Grille und alle stimmten sofort wie auf ein verabredetes Zeichen mit ein, so wie in der Kirche beim Hochamt, wenn die Geiger und Flötenbläser zum Konzert ansetzen, und im Nu war das ganze Land in den süßen, sanften Schleier eines einzigen Grillengezirps eingewoben.
Dann legte sich der kleine Bub mit angehaltenem Atem auf den Bauch und lauschte mit vor Andacht klopfendem Herzen auf die Töne, die ringsum zwischen Gras und Blumen aus den sonnenwarmen Böschungen quollen.
So hat sich Wolf manche Stunde vertrieben. Kaum dass er die Großmutter hörte, wenn sie vom Felde her zum Jausenbrot oder zur Heimfahrt rief. In diesem ständigen Auf-sich-angewiesen-Sein wuchs er innig mit der Scholle und ihren tausend Schönheiten und Wundem ineinander und bekam ein Auge für Dinge, die anderen Menschen oft ein Leben lang verborgen bleiben. Und weil er so mit einem ewigen Verwundern in den hellen Augen zur Mutter Natur kam, gab sie ihm mit vollen Händen. Ihm unbewusst noch, legte sie schon dortmals einen Schatz in seine Brust, der später stark sein Leben und seine Entwicklung bestimmen sollte: eine große, tiefe Liebe zur Natur und seiner Heimaterde.
*
Der Winter war streng. Halbe Tage lang blieb Wolf im Bette liegen und verkroch sich unter dem schweren Federbett. Ganz geduldig blieb er darin liegen und jagte die Gedanken nur so vor sich her. Wenn es ihm aber einmal langweilig zu werden begann, streckte er behutsam das nackte Bein in die kalte Stubenluft, sich auf diese Art die Versicherung holend, dass es doch nirgends so schön sei, als unter der hohen wohligen Federlast. Ja, es war zu behaglich in Großmutters breitem Bett! So blieb er bis Mittag liegen, dann und wann den Kopf wie eine große Weinbergschnecke behutsam aus dem riesigen Federngehäuse reckend und in das tolle Treiben der Schneeflocken blinzelnd. Um elf kam die Alte aus der Arbeit; da musste er aus dem Bett. Ein wenig schnappernd und zitternd, stand er mit hängender Kinnlade und vorgeneigtem Körper in der Stube und war ganz gedankenarm. Nur manchmal ließ er einen Fluch los. Doch zerriss er ihn vorsichtig zwischen den Zähnen. Waren die Geißen gefüttert, verließen sie beide das Haus. Wolf ist viel in Kuhställen gesessen den Winter durch. Zu Hause war es kalt in der Stube – Großmutter musste Holz sparen –, in den Ställen aber war es warm, dunstig warm. Und in einer Ecke lehnten sicher ein paar Bündel Stroh, die legte er nebeneinander und streckte sich darauf. Nun sah er den Tieren zu. Oh, man konnte manches sehen, wenn man stundenlang regungslos hinter den Rücken der Kühe lag. Gedankenloses und Drolliges und hin und wieder auch solches, was gerade nicht sonderlich schicklich, aber notwendig schien. Und wie angenehm der Geruch war! Sagte nicht Großmutter stets, der Kuhgeruch sei gesund? In vollen Zügen atmete er ihn ein. So lag er in den Ställen durch den Winter.
Als der März wieder mit seinen Winden von den Bergen her angestürmt kam, wurde der Knabe fünf Jahre. –
Es war um die Zeit der Obstbaumblüte. Die Wiesen und Gärten standen im frischen Grün, an den Zäunen dufteten die Veilchen, die Vögel sangen dazu ihre schmetternden Lieder, und wo es nur immer anging, durchwirkte der Löwenzahn die grünen Teppiche mit seinen prachtvollen Goldstickereien.
Da kam eines Tages Barbara Heß' zweite Tochter aus der Stadt. Diesmal nicht auf Besuch; sie blieb. Wolf sah die beiden oft mit verweinten Augen. Besonders am ersten Abend hatte Großmutter viel geweint. Weil er aber keine rechte Antwort auf seine Fragen bekam, ließ er es. Tagsüber war er nun mit der Tante zusammen. Die kam ihm höchst seltsam vor. Stundenlang konnte sie in der Stube sitzen und vor sich hinstarren, immer unverwandt auf einen Fleck. Oder sie nahm den Kleinen plötzlich in ihre Arme, drückte ihn fest an die Brust und fing zu weinen an. So bekam Wolf, der Tränen nicht leiden mochte, eine immer größere Scheu vor dem Mädchen. Schließlich ging er gar nicht mehr in die Stube. Den ganzen Tag trieb er sich draußen herum.
Es mochte etwa am zehnten Tage sein, seit das Mädchen heimgekommen. Im Garten standen die Apfelbäume im feenhaftesten Rosakleide. Bald, nachdem Großmutter das Haus verlassen hatte, schickte das Mädchen den Buben ins Dorf hinunter zum Krämer. Er trottete behaglich die sonnige Straße hinab und war froh, aus dem Hause zu sein. Er machte es sich auch gar nicht eilig. Bei jedem Hoftor sah er hinein, blieb wohl auch eine Weile stehen, blickte den Ochsenwagen nach und betrachtete die Kinder, die zur Schule gingen. So kam er endlich zum Krämer, stellte sein Verlangen und machte sich auf den Heimweg. Ob heuer die roten Pfingstrosen wieder so schön blühen würden und die hohen Malven an der Mauer und die Stöcke mit den fliegenden Herzen, dachte er, als die Tür des kleinen Vorgartens ins Schloss fiel. Rasch trat er in die finstere, brandig riechende Küche, auf deren offenem Herd über einem schwachzüngelnden Feuer der große angerußte Kupferkessel an der alten Kette hing. Weißglänzend schimmerte das dicke Rauchpech am uralten, mächtigen Trambaum auf, als das Licht des Tages in das Dunkel huschte. Wolf sah herum. Die Tante war nicht hier. In der Stube war sie auch nicht. Auch im Hofe nicht. Vielleicht war sie in den Ziegenstall gegangen. Die Tür war von außen geschlossen. Wo mochte sie nur sein? Ratlos sah Wolf vor sich hin.
Da kam ihm ein Gedanke. Sie konnte in den Garten gegangen sein. Hier, mitten in all dem Osterwunder, er traute seinen Augen kaum, sah er das Mädchen an einem über und über mit Blüten besäten Apfelbaum hängen. Leise schaukelte ihr Körper am untersten Ast hin und her. Entsetzt starrte der Kleine auf die Tote, und doch sah er die Bienen ruhig von Blüte zu Blüte fliegen – er hatte vielleicht noch nie so gut Bienen von Blüte zu Blüte fliegen sehen! –, hörte das Lied der Vögel, und sogar den braunen Käfer sah er den Stamm hinaufklettern. Oh, es entging ihm nichts! Und dennoch sah sein Auge ununterbrochen mit weit geöffnetem Blick auf die Erhängte. Es schien, als ob das Grässliche seine Sinne vervielfacht hätte. Darauf aber packte ihn ein derartiges Entsetzen und eine solche Angst, dass er wie ein kopfscheu gewordenes Fohlen mit schlagender Brust so wild durch den Hof fegte, dass er die in der Sonne brütenden Hühner beinahe niedergetreten hätte. Wie ein abgeschnellter Bolzen flog er, am ganzen Leibe zitternd, durch Stube und Feuerküche hindurch und auf die Dorfstraße hinaus, dieselbe in wildem Galopp hinab und zum Dorf hinausbrechend, dass eine riesige Staubfahne hinter ihm nachwehte. Draußen sprang er wie ein gehetzter Hase querein über Wiesen und Äcker, bis er die arbeitende Großmutter gewahr wurde, der er mit gestikulierenden Armen und keuchender Brust unverständliche Laute entgegenschrie.
Als die Heßin den rasend feldein laufenden Buben sah, eilte sie ihm, von furchtbarer Ahnung gepackt, mit schlagender Brust entgegen, schon von weitem seine gellenden Schreie vernehmend: „Groußmuadda, d' Nani hengt am Baam!“
Die Leute sahen, wie sie die Hände über dem Kopf zusammenschlug und dann zu laufen begann, dass der kleine Bub ihr kaum zu folgen vermochte.
Den ganzen Weg wimmerte und jammerte sie in sich hinein, dazu laut schluchzend: „Nani, wos hast denn 'ton, wos hast denn deina olt'n Muadda on'ton!“
Doch als sie im Garten stand, kam kein Wort des Vorwurfs mehr über ihre Lippen. Unaufhaltsam strömten ihre stillen Tränen. Nur manchmal ein Röcheln, das klang, als steinige jemand ein Tier tot. Wie ihr aber die Nachbarsleute das Mädchen vom Baum heben halfen und es im Grase lag, stieß die Unglückliche einen Schrei aus, so furchtbar und gellend, dass es schien, als entwiche mit ihm die Seele. Bewusstlos stürzte sie über die Tote. Als das der kleine Wolf sah, meinte er, nun wäre auch die Großmutter gestorben, und in seiner grenzenlosen Angst begann er zu schreien und an ihr zu zerren und sie zu bitten, sie möge doch aufstehen, möge nicht sterben, ihn nicht allein lassen, dass es allen Umstehenden eisig kalt bis zum Herzen stieg.
Und Barbara Heß hörte den armen Jungen. Sie raffte sich auf und drückte ihn krampfhaft an sich. Nun stand sie wieder fest und steil. Sie war ja nicht ganz geschlagen, nicht ganz verlassen. Gott hatte ihr ja den lieben Buben gegeben.
Regungslos saß sie die ganze Nacht bei der Toten. Der Bub war nicht von ihrer Seite wegzubringen gewesen und nicht von ihr gewichen und schließlich zu ihren Füßen eingeschlafen.
Was mag Barbara Heß in jener Nacht gedacht haben? Endlos war sie, und immer wieder flog Bild um Bild ihres harten, schweren Lebens an ihr vorbei. Alles, alles hatte ihr der Tod genommen: die drei Männer erst und nun die Töchter. Nur der Bub zu ihren Füßen unten war ihr geblieben. In Bitterkeit schrie es in ihrem Innern auf: Willst du mir auch den noch nehmen? – Dann aber erschrak ihre fromme Seele aufs Tiefste, und die Hände wie schützend über das schlafende Enkelkind haltend, faltete sie sie zu heißem Gebet, Gott arg angehend, den Kleinen in Seine Hände legen zu dürfen und ihr dies Letzte, das ihr noch geblieben sei, ein Lebtag zu behüten und zu lassen.
Und endlos ging die Nacht. Was war das dort? Hing dort nicht ihre Tochter am Baum? Das war doch alles nur Spuk! Ihr Kind lag ja vor ihr im Bett, starr und kalt. Aber doch, sie sah es ganz deutlich: Leise bewegte sich die gestreckte Gestalt hin und her. Ging denn der Wind? Sie spürte doch nichts. Und was war das? Um des Himmels willen! Krochen da nicht hässliche schwarze Raupen den Stamm hinauf? Immer neue! Endlos an Zahl! Wie scheußlich sie sich bogen! Hatten die Eile! Wie sich ihre Rücken krümmten! Nun schoben sie sich den dicken Ast hinüber, an dem ihre Tochter hing. Was sollte das, heiliger Gott, was sollte denn das! Schon spannte sich die erste die Schnur hinunter. Ein eiskalter Schauer ging über Barbara Heß. Heftig bogen sich ihre Schultern nach vorn. Nur noch einen Augenblick und die Raupe würde ihre hässlichen nackten Füße auf den Kopf der Toten setzen. Und dann würden sie alle kommen, alle würden sie dasselbe tun, alle ihre nackten Beine auf den Kopf ihrer Tochter setzen.
Entsetzt schlug sie die Hände vor das Gesicht. Und wie sie so dasaß, die Hände in die Augen gedrückt, wusste sie es: die Schande, die Schande! Nun kamen sie erst, die peinigenden, nagenden Gedanken. Wie sie sich ins Herz fraßen und bohrten! Was muss die Frau in jener Nacht gelitten haben! Sie, die nie auch nur einen Heller unrecht erworben, die ihre Kinder ordentlich und gottesfürchtig erzogen hatte, musste das an ihrer Tochter erleben! Dass sie sich doch im Mutterleib an der Nabelschnur erhängt hätte, wie Tiefenböck Lenas kleiner Wurm! Dann aber sah sie das Mädchen vor sich, wie es so frisch und froh mit ihrer Schwester durch die Kindheit gesprungen war, immer gut und lieb und brav. Und wie schön sie hatte singen können! Wie ging doch gleich ihr Lieblingslied, das sie so schwermütig weich zu singen verstand?
Ich ging im Walde so für mich hin,
Um nichts zu suchen, das war mein Sinn …
Ja, das war's! Deutlich schien es der Alten, als höre sie das feine, süße Kinderstimmchen. Wie aus weiter Ferne kam's – wohl vom Garten her. Sie würde es sicherlich besser vernehmen, wenn die alte Stockuhr nicht so laut ginge. Immerfort tönte ihr das Lied im Ohr. Fern, fern und doch so deutlich. Lang saß sie so da, lauschend den Kopf vorgeneigt. Hernach bat sie Gott inbrünstig, Er möge ihr die harten Worte verzeihen. Nein, nein, es war doch zu schön gewesen, dass sie zwei solch liebe Dinglein besessen hatte!
Und wieder wanderten ihre Gedanken zu dem kleinen Wolf, der still und ruhig zu ihren Füßen schlief, und noch einmal ging sie Gott hart an, ihn ihr gesund zu erhalten und gut und brav.
Draußen graute es allmählich. Regungslos wie ein Bildstock saß Barbara Heß.
Im Stall begannen die Ziegen zu meckern. Entschlossen stand sie auf; die Geißen sollten zu ihrem Recht kommen. Dabei wurde auch Wolf munter. Schlaftrunken wischte er die Augen; dann stand auch er auf den Beinen. Großmutter hantierte in der offenen Feuerküche, hell züngelten die Flammen um den Feuerkessel. Wolf, der zu ihr herausgeschlichen war, sah sie eine Weile mit großen Augen an. „Wos denn, Woifarl?“, fragte sie mit müder Stimme.
„Groußmuadda“, flüsterte das Kind beklommen, „deine Haar san ganz weiß.“ Ja, Barbara Heß' Haar war über Nacht schneeweiß geworden, obwohl sie erst einundvierzig Jahre zählte. –
Einige Wochen nach dem Begräbnis bekam Wolf seinen ersten Freund. Er saß wieder einmal allein im Garten oben und sah über die Felder weg, die hohen Berge hinauf. Da stand mit einem Male ein Bub vor ihm, der ungefähr in seinem Alter sein mochte. Braun wie Bernstein guckten ihm die hellen Augen aus dem Kopf, das blonde Haar hing ihm ein wenig wirr in die Stirn. Wie Wolf hatte er nichts als Hose und Hemd am Leibe. „Du, wem g'hörst d'n“, begann der Braunäugige.
Wolf maß den Frager, dann gab er trotzig zurück: „Geht dös di wos o'?“
„Wem's d' g'hörst, mecht i wiss'n!“, drohte der andere.
„Neamd!“, kam es patzig aus Wolfs Munde.
„Du, schpül' di nöt, i kimm sunst owi und hau di!“
„Hau mi!“, rief Wolf, vom Boden aufspringend.
Als er oben auf dem Weg stand, begann der Fremde zu lachen. „I mog ja goar net raffa. Es is ja nuar a G'schpoas g'west! I bi da Schnöllinga-Koarl; wear bist d'nn du?“
„I bi da Heß-Woif!“
„Ja so, und bist du da dahoam?“
„Ja.“
„I bi duart ob'n dahoam, wo da rodi Raupfong hearschaut.“
„Wos is d'nn dei Vodda?“, fragte Wolf Heß.
„Nachtwochta.“
„Nachtwochta? Gölt, da is a nocha dear, dear wos in da Nocht schreit?“
„Ja, dös is mei Vodda.“
„Und wos is d'nn da deini?“, fragte der Schnellinger-Bub wieder.
„I hob koan Voddan.“
„Du host koan Vodda?“
„Na!“
„Nou, oba a Muadda wiarst dou' hom?“
„Naa, dö hob i aa net.“
Der andere sah ihn misstrauisch an:
„Geh, glaubst i bi deppat! Wen hätt'st d'nn nocha denn?“
„D' Groußmuadda!“
„D' Groußmuadda? Sunst hä'st d' nocha neamd?“
„Na.“
„Dös kon i net glaub'n.“ Und sich lebhaft überstürzend, als wäre ihm etwas besonders Helles eingefallen, um die Wahrheit herauszubekommen:
„Sog': Da Heargood soll mi schtroffa, wonn 's net woahr is! Siagst, dös traust da net!“
Darauf Wolf laut und ein wenig ärgerlich:
„So loss' mi dou' red'n!“ Und mit der größten Gelassenheit der Welt:
„Da Heargood soll mi schtroffa, wonn 's net woahr is!“
Zwei kugelrunde Bernsteinaugen spähen großmächtig erstaunt auf ihn und lebhaft sprudelt's in hellsten Tönen von den Lippen des Nachtwächterbübleins:
„Du, du host oba a Todsind', wonnst mi o'g'log'n host! Nocha kimmst in d' Höll'! Mei Muadda hot 's g'sogt! Dass d' as woaßt!“
Über das Gesicht mit den Vergissmeinnichtsternen zieht es verächtlich:
„Auf d' Höll' scheiß i!“
Der andere aufgeregt dazwischenbrüllend, dass er ordentlich in die Höhe zappelt:
„Au, au, hiatzt host a Todsind!“
„Jou, an Dreck hob i, oba koa Todsind! Weg'n da Höll' hot oans koa Todsind net. Dass d' as aa woaßt, dös sog da i!“
Darauf die weitaus gläubigere Entgegnung:
„Nou jou, oba dass oans hoit nuar a Groußmuadda hätt' …“
„Muaßt as eh net glaub'n. Es hot da jou neamnd g'schofft, dass d' as glaub'n muaßt!“
Ein letztes langes, ein wenig zages „no jou-u“ ließ sich noch vernehmen, dann wussten beide, woran sie waren, und weil sie fühlten, dass sie sich vertragen konnten, wollten sie miteinander auf die Wiese hinaufgehen und Blumen pflücken. Munter wanderten sie die Feldraine entlang im hohen Gras, immer zwischen Klee-, Kartoffel- und Kornfeldern. Wacker schritten sie aus; es war ein beträchtliches Stück bis zu den Waldwiesen. Endlich hatten sie die schönen saftgrünen Hänge erreicht. Über und über waren diese mit bunten Blumen besät. Dazwischen standen vereinzelte Birken mit schlanken weißen Stämmen, und am Waldesrand lag ein mächtiger Busch Heckenrosen. Von der Höhe herab klang das Schellengebimmel der weidenden Kühe.
Emsig stapften die beiden Buben in den Wiesen herum, große Sträuße roter, gelber und blauer Blumen pflückend, wobei ein freudiges Leuchten über ihre Augen ging, wenn sie eine neue Blume fanden. Plötzlich blieb der heitere, übermütige Karl Schnellinger überrascht stehen und rief: „Au, au, a großa Heihupfa, a greana!“
„Je, je, a greana Heihupfa!“
„Warum muaß d'nn dear sou großi Aug'n hom?“, wandte sich Karl an seinen Gefährten.
„No woaßt d', dass a siacht!“
„Dass a siacht, moanst d', muaß a sou großi Aug'n hom? Kuntat a sunst leicht net sehg'n?“
„Na“, gab Wolf breit zurück, als hätte er das aus Büchern studiert.
„Oh, do schau, hiatzt hupft a!“
„Fong' 'hn,'n Heihupfa!“, trumpfte Wolf auf, der des andern Scheu bemerkte.
„I trau mi net!“, gab der freimütig zu.
„Woarum d'nn net?“
,,Jo woaßt, wei a mi beiß'n tuat; woaßt, de groß'n grean Heihupfa tan fest beiß'n, nocha muaß ma schtearb'n“, wollte Karl Schnellinger seinem Freunde glaubwürdig machen.
„Hi, hi“, lachte Wolf, „sei net sou dumm. Do muaß ma goar net schtearb'n!“
„No, woarum tuast 'hn nocha denn du net fonga, wonnst di net fiarchst?“
„Geh', wear sogt diar d'nn dös, dass i mi fiarcht? I fiarcht mi jo goar net!“
„Ui je, hiatzt mocht a's mit di Flieg'l a sou! Schnöll, fong 'hn, sunst fliagt a davo'!“
Beide gehen vorsichtig auf die Heuschrecke los. Dicht vor ihr bleiben sie stehen. Gespannt blicken sie auf den grünen Gesellen; fragend lugt er zu den Abenteurern hinauf. Oben auf einer Birke sitzt eine Kohlmeise und lacht. Da macht der Grüne: hupf, hupf, über Gras und Blümlein. Aufmerksam blicken ihm die Buben nach. Er ist nicht weit gesprungen; er scheint heute träge zu sein. Oder hat er keine Angst vor den beiden?
Behutsam kommen sie wieder heran.
„Siagst, dass da 'hn nöt z'fanga 'traust“, spottet Schnellinger.
„Wear traut si' hn' nöt z'fonga?“, gibt Wolf gereizt zurück.
„Du!“
Da beugt sich Wolf Heß zum Springer nieder, krümmt die Finger zur Zange und meint: „Sog nou amoi, dass i mi net trau!“
„Na, du traust di aa net!“
Auch der Heuhupfer muss so geglaubt haben, denn er blieb ruhig hocken. Schwupp! Und der kühne Jäger hatte ihn mit Daumen und Zeigefinger hinter dem Kopf gefasst.
In heller Verwirrung zappelte der grüne Optimist in der stolz gegen den Himmel gehobenen Hand Wolf Heß'.
Der Bernsteinäugige riss Maul und Augen weit auf. Patzig lachend hielt ihm der kühne Jäger das heftig zappelnde Insekt vor die Nase. Karl wich ängstlich zurück. Wolf drängte ihm nach, fuchtelte ihm mit dem gespenstischen Tier weiter bedrohlich vor dem Gesicht herum und fragte den ungestüm Abwehrenden:
„Hiatzt sog', hob i mi traut oda net?“
Karl sah seinen Gefährten bewundernd an:
„Jo, du host di eh traut! Oba hiatzt gib a Ruah und hör auf mit dem Viech, und schmeiß 's furt!“
Wolf aber fühlte, dass er sein Heldentum noch ein wenig auskosten müsse, und es auch für den andern gut sei, wenn dieser sich gründlich einpräge, was er für ein Kerl sei, und so begann er, ihm erneut mit dem aus Leibeskräften aufbegehrenden Tier, so dass ihm heimlich dabei selber ganz ungut wurde, an den Leib zu rücken.
Der Zurückweichende wehrte mit beiden Händen ab und schrie:
„Hiatzt hörst oba auf, sunst renn i diar davo! Oba nocha siagst mi dei gonz' Leb'n nimma!“
Und plötzlich listig die Hand nach dem Dorf streckend:
„Hörst as? Host as g'hört? D' Muadda hot g'schriean! Hoamkemma miaß ma. D' Muadda woart scho auf uns!“
Wolf sah nach der Sonne, die noch hoch am Himmel stand, schüttelte lachend den Kopf und sagte:
„Lughaub'n, mi kriagst net dron, d' Muadda wort' nou long net!“
Dann aber warf er die Heuschrecke hoch in die Luft. Als das Tier die Freiheit spürte, spannte es die grünen Deck- und die zarten Glasflügel, dass sie wie pures Silber in der Sonne glänzten, und flog mit großem Gesurr durch das Himmelsblau.
Gegen Abend sind sie fröhlich singend, mit großen Blumensträußen ins Dorf hinuntergestiegen.
Karl Schnellinger ging gleich noch mit; er wollte das Haus und die Großmutter kennenlernen. Erst besahen sie sich sachkundig die Geißen, wobei sich Karl über die großen Euter wunderte, hernach führte ihn Wolf zu den vielen Blumentöpfen. Die gefielen Karl besonders. So etwas gab es bei ihnen zu Hause nicht. Nachdem er auch einen Blick in den Schuppen getan, wollte er die Stube besehen. Dazu aber musste Wolf hinten anschieben; so kam er das Fenster hinauf. Gemächlich mit dem Bauch auf dem Fensterbrett liegend, besah er sich den Raum. Er war sichtlich davon befriedigt.
Später lernte er auch die Großmutter kennen, und weil ihm auch sie gefiel, kam er nun täglich. Großmutter sagte der gute schelmische Bub, der vor Heiterkeit strotzte, ebenfalls zu, und sie war froh, dass Wolf, der bisher sehr zurückhaltend gewesen war, sich ihm, wie es schien, mit ganzem Herzen angeschlossen hatte. Er war ihr ohnehin zu ernst gewesen für sein Alter, und sie selber konnte seit dem Tod ihrer zweiten Tochter nimmer lachen und scherzen wie früher. Deshalb sah es die Alte mit großer Befriedigung, dass die beiden bald unzertrennliche Freunde wurden. Von früh bis spät steckten sie beieinander, krochen auf das Nachbardach oder in den Regengang, spielten im Hof und lagen stundenlang träg in der Sonne. Auch im Dorfe selbst trieben sie sich viel herum. Am liebsten aber waren sie draußen in den Feldern oder unten beim Bach. Häufig gingen sie auf den Acker hinaus, wo Großmutter arbeitete. Stundenlang waren sie dann hinter den Grillen her. In jedes Loch guckten sie, in alle Winde lugten sie. Es war ein liebliches Bild, wenn die beiden barfüßigen Buben, nur mit kurzer Lederhose und Hemd bekleidet, auf dem Feldrain standen und in die Abendsonne blickten.
Schickte das Aveglöcklein seine traulichen Töne auf die Fluren hinaus, gingen sie fröhlich zu den beiden Seiten der Großmutter mit den Arbeitsleuten heim ins Dorf. –
Als der Herbst kam, sind sie viel mit der Alten in den Wald gegangen. Großmutter vorn mit dem Buckelkorb auf dem Rücken, sie hinterdrein mit der langen Hakenstange, einer vorn, einer hinten. Was der Wald doch für ein geheimnisvoller Geselle war! Voll hüpfender, leuchtender Lichter und tiefer, drohender Schatten. Plötzlich knackte es wo, dann war's wieder, als wäre etwas geschlichen, dort bei dem großen Busch. Großmutter riss das dürre Holz von den Bäumen, sie sammelten es, brachen die längeren Äste in Stücke und legten sie in die Kraxe.
Und weil Karls Spukgestalten an der Ruhe und dem Vertrauen verblassten, mit dem Wolf jedes Mal zum Walde kam, wurde er ihnen bald lieb und traut. Rau pfiffen die Herbstwinde um die drei und schlugen ihnen die kupfernen und goldenen Blätter der Buchen, Eschen und Ahorne ins Gesicht. Jämmerlich schrie der Nusshäher, wie Kobolde sausten die Eichkatzen stammauf, stammab, dort und da fuhr ein halbverschlafener Hase mit wildem Satz auf, kreischend klang das Gekrächze der Raben und Krähen.
Rings auf den kühlen Hängen standen die Herbstzeitlosen. Von den Bergen herab senkte sich der ballige Nebel mit leisem Gewoge ins Tal. Kahl und öd lagen die Äcker, grau und bleischwer stand der frostige Himmel über dem Dorf. Selbst das Abendglöcklein hatte seinen weichen Klang verloren. Grell und spröd sprangen die Töne in die Nebelmassen.
Das war für sie dann immer die Zeit der Geschichten. Kurz nach dem Nachtessen schlüpfte Karl Schnellinger zur Tür herein und hockte sich mit Wolf in die Nähe des grünen Kachelofens, wo Großmutter Heß auf der Ofenbank saß. Die Ellenbogen auf die Knie gestemmt, das Gesicht in die Hände gestützt, lauschten sie stundenlang den alten, uralten Geschichten der Großmutter. Oh, es waren Geschichten dabei, die weit über hundert Jahre alt waren, die schon die Ahne der Alten als junges Mädchen erzählt hatte! Und sie handelten fast immer im Dorfe. Es hat sich da viel zugetragen an Leid und Schmerz und bitterer Lebensnot. Von steinharten Herzen und edler Menschengüte wusste sie zu künden, von Vatermord und Zuchthaus, von Feuersbrunst und Not und Tod. Viel musste sie auch aus ihrem eigenen Leben erzählen und von Wolfs toter Mutter. Und die beiden Jungen lauschten mit weitgeöffneten Augen und angehaltenem Atem und saßen noch lange regungslos, wenn Barbara Heß längst verstummt war und ihre Arbeitsfäuste unbeweglich auf dem Schürzentuch lagen.
Frühzeitig kam dieses Jahr der Winter mit einer derart unbändigen Gewalt, dass er das weltversteckte Dorf fast unter seiner weißen Last begrub. Schon am Nikolaustag ging der Schnee bis an die Fenster. Selbst die ältesten Leute konnten sich an einen so ungestüm einbrechenden Winter nicht entsinnen.
*
Es war am Heiligen Abend. Die Kinder waren längst alle in den Stuben und guckten, die Nasen platt an die kalten Fensterscheiben gedrückt, in das Schneetreiben hinaus.
An den alten grün- und braunglasierten Kachelöfen, in deren umfangreichen Bäuchen das Feuer bullerte, hockten die Alten, sich die müden Rücken wärmend, die Großväter behaglich die Pfeife im Munde, die Großmütter ab und zu sich erhebend und die Bratäpfel wendend, die von den Gesimsen herab einen köstlich verlockenden Duft in der ganzen Stube verbreiteten, der sich wundersam mit dem Harzgeruch der Wacholderbüschel vermählte, die vom jahrhundertalten Trambaum herabhingen.
Ab und zu kam der Bauer, ein Knecht, eine Magd oder der Stallbub in die Stube gestapft, den ganzen Arm mit würzig riechendem Holz beladen, das sie vor das Kaminloch warfen. Auf der blankgescheuerten Diele, die mit blütenweißem Sand bestreut war, räkelte sich die Katze.
Alle waren sie mehr oder weniger in diesen aufregenden Stunden sichtbar, nur die Hausmutter war wie verschwunden.
Und geheimnisvoll wie das ganze Gebaren, das im Hause spürbar war – es hatte damit begonnen, dass frühmorgens die Kirschblüten der Barbarazweige in den Wassergläsern auf den Kachelöfen aufgebrochen waren und von ihrem schwarzglänzenden Holz den süßesten Hauch ausströmten –, war erst recht, was draußen in der Natur vor sich ging.
Schon im Morgengrauen begann es. Die Kühe in den Ställen brüllten, wie man es sonst nicht gewohnt war, und die Stiere zerrten und rissen an den Ketten, dass die alten Bohlen krachten. Als der schlohweiße, hünenhafte Hengstbauer, dessen Gehöft am Ende des Dorfes lag, unter die letzten Sterne trat, fand er die Stalltür offen und drinnen zwischen den schweren Leibern seiner Kühe einen gewaltigen Hirsch gierig an der Futterkrippe raufend. Und als die fünfundneunzigjährige Burggraberin, wie immer als erste, mit ihrer energischen Hand, die nur mehr aus Knochen, Sehnen und Blutadern bestand, die Haustür aufriss, fand sie auf der schweren Eichenbohle des Türstaffels ein Ei liegen, das noch ganz leibwarm war.
„D' Heahna bringan 'n heilig'n Christ an Oa“, sagte sie drinnen in der Stube zu ihren Kindern, ihnen das Ei weisend. „Dös hot a b'sundane Bedeuting.“
Dann wandte sie sich zum Weihbrunnkessel bei der Tür, tunkte ihren Zeigefinger hinein und besprengte mit dem Wasser das Ei.
Und als die Magd vom Waidhoferhof beim Neunuhrläuten an der tiefen Wehr der großen Mühle vorbeiging und zufällig den kleinen Schneewölkchen nachsah, welche die blaugrün schillernden Eisvögel, die wie verrückt zwischen den Erlen und Weiden hin und her schossen, von den Zweigen stäubten, so dass sie wie weißer Sprühregen auf den Bach niederrieselten, bemerkte sie mit unheimlichem Staunen, dass schier unübersehbare Scharen großer, alter Fische, Leib an Leib gepresst, dickleibige Karpfen, rotgepunktete Forellen, mächtige Weißfische und Rotaugen ganz oben, dicht unter der glasig durchsichtigen Eisdecke regungslos standen, die großen runden Mäuler an die spiegelige Fläche gepresst, den Kopf der Kirche zugewandt. Sie sei wie gebannt von dem unheimlichen Anblick stehengeblieben und könne bei Anrufung der Muttergottes besagen, dass die Fische starr und unbeweglich die ganze Messe verharrt hätten, bis das Glöckchen zu dem vom Herrn Pfarrer in der Kirche erteilten Christtagssegen geläutet hätte. Mit diesem Augenblick aber wären die ganzen Scharen, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, in der unergründlichen Tiefe versunken.
Und weil der Wintersonnwendtag heuer schon ein ganz merkwürdiger Tag schien, brauste oben beim Einödbauern an den wildgeklüfteten Hängen der Teufelsmäuer, gleich nach dem Elfuhrläuten, ein alter mächtiger Kolkrabe mit höllischem Getös, groß wie ein Steinadler, in die Küche hinein, seine gierigen Klauen in eine große Speckseite schlagend, welche die Bäuerin gerade aus der Selchkammer geholt hatte, sich und seine Beute mit klatschenden Flügelschlägen, ebenso hurtig wie er hereingefahren, wieder in Sicherheit bringend, ehe Bäuerin und Magd noch recht zur Besinnung gekommen.
Und als nach der abendlichen Fütterung der grauschläfige Rossknecht im Windbergerhof, um den die sieben mächtigen Linden standen, von denen der Lehrer Martin Löns angab, dass sie an tausend Jahre alt wären, vom Stall in die Gesindekammer trat – die Leute behaupteten von ihm, dass er Geisterseher sei –, erzählte er mit karg zwischen den Zähnen herausbröckelnden Worten, dass er eben die Rauhnachtwesen ins Dorf habe einziehen sehen und also die zwölf heiligen Nächte ihren Anfang genommen hätten.
Was immer aber auch an Merkwürdigem und Absonderlichem an diesem Tag geschehen, das Wundersamste vollzog sich tief in den großen Wäldern. Dort war das Christkind mit den ersten Nebeln vom Himmel gestiegen, umgeben von einer Schar Engel, die alle in weißen Pelzmänteln und Pelzschuhen steckten, und zwar zutiefst im mannshoch verschneiten Tann, in dem es glitzerte und funkelte wie in einem Märchenpalast – denn der Wind, der den ganzen Tag dem Schnee in die Flanken gefallen war, hatte die weißen Kristalle wundervoll an die raurindigen Stämme gefegt –, und es war von einer Unmenge langbärtiger Wichtlein und Waldmännlein empfangen worden, die sich tief vor dem Himmlischen verneigten, so dass ihre Bärte den Schnee berührten und die Kapuzen ihrer braunen Mäntel vor Freude wackelten.
Hinter dem großen Halbkreis des Zwergvolkes standen eine Menge zartäugiger Rehe und schauten mit frommen guten Augen auf das liebliche Wunder.
Die Hasen hatten sich gesetzt, die kurzen Vorderbeine zum Gruße erhoben, die Löffel steil in die Höhe gestellt. Und von den Ästen, die Köpfe nach unten geneigt, lugten die braunfelligen, klugen Eichhörnchen, die stahlglänzenden Raben, die krummschnabeligen Kreuzschnäbel, die grünhalsigen Meisen, rotbrüstigen Gimpel und die bunten Waldspechte herab.
Das Christkind begann zu lächeln und machte gegen Wichtlein und Tierlein eine reizende Handbewegung. Da durchfuhr es sie alle glückselig.
Nun schritt der Zwergkönig auf das Christkind zu und küsste ihm die Hand. Und während er es gar höflich zu einem Bänklein führte, auf dem es huldvollst Platz nahm, wandte sich alles von Neuem seiner Arbeit zu.
Die Wichtlein schnitten und schnitzten, dass die Späne flogen, und die Engel gingen daran, die großen Schachteln zu öffnen und die Bäumchen mit vergoldeten Nüssen und Äpfeln, mit Zuckerwerk und Bäckerei zu behängen. Bedachtsam zogen sie hierauf Gold- und Silberfäden durch, steckten bunte Kerzchen auf und streuten Schnee über die Äste, den sie befremdlicherweise ebenfalls aus schmalen Schachteln nahmen. Darob wunderten sich die Hasen so sehr, dass ihre langen Ohren wackelten. Die Hasen waren überhaupt diejenigen, die sich am meisten wundern mussten und allerlei besser gewusst hätten. Nur die Rehe standen unbeweglich und sahen mit immer hingebungsvolleren Augen auf all den Zauber.
Ringsum herrschte tiefe Stille und Dunkelheit. Nur im Tann war ein eigentümliches Leuchten, das von den zarten Flügeln der Engel ausging. Als es Zeit war, war alles getan. Anmutig erhob sich das Christkind von seinem Ruhesitz, trat zu den Englein und machte ein stummes Zeichen, worauf jedes ein Bäumchen ergriff und sich zu einem langen Zuge, zwei und zwei, zusammenstellte. Als dies die Rehe sahen, kamen sie mit zierlichen Schritten und Sprüngen aus den Stämmen hervor und stellten sich an die Spitze des Zuges, während die Hasen zu beiden Seiten der Engel liefen.
Die Zwerge beschlossen den Zug. So ging es feierlich und lautlos durch den Zauberwald.
Draußen auf dem hartgefrorenen Hang, wo sommers die Dorfbuben ihre bunten Sträuße banden, knisterte der Schnee unter den Tritten der braunen Rehe. Für einen Augenblick hielten sie, um sich sogleich zu einem weiten Halbbogen zu teilen. Unendlich zierlich und schwebend schritten die Englein mit ihren geputzten Tannenbäumchen durch, wandten sich um und standen nun den Wichteln und Waldmännchen gegenüber, die sich zwischen die Rehe aufgestellt hatten. Vor ihnen hockten die Hasen. Sie hockten genau wie drinnen im Tann: die Vorderpfoten aufgestellt, die langen Löffel hoch in der Luft.
Nun verneigten sich die weißen Himmelsboten vor den braunen Zwerglein, und die braunen Zwerglein neigten sich tief vor den weißen Englein. Und auch die Hasen neigten sich, wobei ihnen die langen Löffel um die Backen baumelten. Nur die Rehe standen unbeweglich und sahen mit frommen, nun aber ein wenig wehmütigen Augen auf die scheidenden Boten des Himmels.
Dann hob sich der Engelszug in die Luft und schwebte hinunter ins Dorf. Oben am Waldeshang aber war es leer geworden. Das Wild lagerte, ein unendliches Sehnen in der Brust, noch lange mit wachen Augen in seinen dichtverschneiten Gehegen. Die Vögel auf den Ästen hatten die Schnäbel unters Gefieder geschoben und schliefen. Nur das leise Singen der fallenden Flocken erfüllte die Stille.
Unten im Dorfe aber feierten sie den Heiligen Abend.
*
An diesem selben heiligen Weihnachtstag, an dem sich so viel Seltsames und Merkwürdiges zutrug, sagt Barbara Heß zu ihrem Enkelbuben um die Stunde, wo die Dämmerung einbrach:
„Kimm, Wolferl, 's is Zeit! Wick'l diar 's Holstüach'l um und ziag diar d' Fäustling on, es is boankolt draußd.“
Sie nimmt den Henkelkorb von der Truhe, der Bub greift nach der blankgewetzten Sichel. Knarrend dreht sich der Schlüssel im Schloss. Im Stall langt Barbara Heß die weiße Henne von der Stange herab und stopft sie in den Korb. Dann stapfen die zwei durch den hohen Schnee zum Dorf hinaus.
Draußen im Feld ist ein eigentümliches Zwielicht, das immer heller wird. Denn der Mond, der fast voll ist, wirft sein Licht merklich über die hohen, eisigen Gebirgsgrate herauf. Die Schneeflocken tanzen um die Gesichter der beiden emsig Schreitenden. Ein Hund kläfft. Sonst ist das ganze Bauernland still. So still, dass man die fallenden Flocken singen hört. Großmutter geht voran; der Bub tappt in ihren tiefen Spuren. Vom nahen Wald her quarrt eine Krähe.
Im Kopf des kleinen Wolf wirbeln die Gedanken wie die um seine Nase tanzenden Flocken, denn es ist eine unheimliche Sache, die Großmutter und er heut in der Weihnachtsnacht vorhaben.
„Wirst d' es dermach'n?“, hat sie ihn gestern Abend noch gefragt, als sie in der offenen, pechschwarzen Feuerküche die Milchsuppe miteinander aus der Schüssel löffelten.
„I werd' 's, Groußmuadda!“, hat er ihr geantwortet, mutig und doch mit einem leisen Schauer über dem Rücken.
„Und wiarst d' di net füarcht'n, wenn die Unhold'n kemman und uns schreck'n und obdränga woll'n, und ebba 's Liacht aufleicht'n loss'n um an heilig'n Baam?“
„I weard bet'n und 's Schprücharl hearsog'n.“
„Is recht, Bua! Wia hoaßt 's?“
„Drud, Drud, tu verlass'n den Baum, die heilige Jungfrau tuat obaschau'n!“
„Guat is 's! Sou is 's guat, Woiferl! Und net vagess'n den Drud'nfuaß schlog'n!“
„Na, Groußmuadda, i weard net!“
Aber jetzt, je mehr es dem verhangenen Wald zugeht, aus dem immer wieder eine Krähe ächzt, umso mehr klopft sein Blut im Leibe. Der Bub dreht sich um: Das Dorf ist im Schneetreiben verschwunden. Nichts wie milchiges, lichtdurchzittertes Grau rundherum.
Und da stehen sie mit einem Mal vor dem großen, dunklen Wald. Wie ein himmelhoher Riese reckt er sich auf vor ihnen. Dem Bübel gibt es einen Zucker. Aber die Ahne ist schon drinnen zwischen den großen Stämmen, obwohl der Wald doch in dieser Nacht auf und auf voll ist mit Unholden und Schratteln. Leise gackert die Henne im Korb auf. Ob sie weiß, was geschieht? Äste, tief niederhängend unter der schweren Last des Schnees, knacken vor Kälte. Das Blut hüpft jedes Mal im kleinen Buben auf wie ein aufgeschreckter Hase.
Sicher und gelassen tappt die Ahne durch den gruseligen Wald. Nicht einmal ein Lüftel ist drinnen.
Dann stehen sie plötzlich vor der heiligen alten Eiche.
Mit aufgerissenen Augen starrt Wolf auf den Riesen. Da flirrt es auch schon vor seinen Blicken. Heftig schlägt er den Drudenfuß und stammelt hastig:
„Drud, Drud …“
„Was hast d' Bub?“
„D' Unhold'n!“
„Oba, Woifi, 's is jou nix!“
Das Enkelbübel flüsternd:
„Host d' 'hn net g'seg'n, den Schein?“
„Bei Leib nit! Hast di vaschreckt.“ Und nach ihm greifend und sich zu ihm niederbeugend:
„Bist net bei Kurasch'?“
Das Bübel nickt fest.
Barbara Heß macht ihm das Kreuzzeichen auf die Stirn und sagt:
„Nacha in Good's Nam'!“
Hierauf zerrt sie die aufbegehrende Henn aus dem Körbel, langt nach der Sichel, die der Bub hinhält und tut ein paar Fahrer an ihrem Hals. Warm dampft das Blut. Die Henn macht einen letzten Gackerzer, tut ein paar Beutler, dann ist es aus. Die Ahne lässt das Blut den Stamm der Eiche hinabrinnen. Dunkle Spritzer zeichnen sich dabei im Schnee. Dann gibt sie die bluttropfende Sichel dem Enkelbuben. Über dem seinen Buckel läuft die Kälte nauf und nunter wie eine gejagte Eichkatz.
Wolf hält der Ahne den Korb hin. Die schüttelt den Kopf und legt die tote weiße Henne dicht an den Stamm. Darauf stellt sie sich mit dem Gesicht zum Baum, stützt die Hände auf die Knie, und hinauf auf ihren Buckel schwingt sich der Bub, steigt auf ihre Schultern und umgreift den Stamm. Mit einem Ruck richtet sich Barbara Heß auf. Wolf gleitet mit den Armen empor, bekommt den untersten, niederhängenden Ast des alten Baumes zu fassen und sitzt mit einem Schwung oben.
Barbara Heß schaut zufrieden zu ihrem Enkelbuben empor:
„Recht is 's, Wolfi! Dass d' miar jou aufpasst und net o'rutscht! Woaßt d' den Ast?“
,,Jou, Groußmuadda!“, kommt es stolz herunter.
Die Ahne reicht ihm die blutige Sichel hinauf: „In Gottas Nam'!“
Wolf steckt die Sichel seitlich in den Riemen, richtet sich auf und steigt behutsam im Geäst der alten Eiche empor. Sie ist kalt wie Eis. Unten steht die Ahne wie ein dunkler Schatten. Je mehr Wolf den Baum hinaufklettert, umso mehr laufen ihm Schauer durch den Leib. Aber eine große Abenteurerlust treibt ihn zugleich weiter.
Schon sieht er das Büschel.
Wie ein großes finsteres Nest. Den eifersüchtig bewachten Schatz der Unholden: die heilige Eichenmistel, den All-Heil!
„Ob si mi' derpack'n?“, denkt Wolf, während er wachsam und beklommen die letzten Äste emporsteigt. Aber nein! Großmutter hat ihnen ja das Blut unserer weißen Henne geopfert. Nun hocken sie alle unten beisammen, die Unholden, und schlecken das Blut und fressen die SeeI'.
Das Gesicht des Buben ist vor dem großen Mistelbuschen. Er stiert eine Weile auf den unheimlichen Zweig. Dann öffnet er den Mund und tut die Beschwörung:
„Drud, Drud, tu verlass'n den Baum! Die heilige Jungfrau tuat obaschau'n!“
Rasch greift er nach der Sichel, ein beklommenes tiefes Atemholen, dann tut er einen entschlossenen Hieb. Das Blut muss als Erstes die Mistel berühren. Ein banger Schnaufer – nichts!
Erlöst bricht Wolf ein Zweigerl vom Buschen und steckt es in den Mund. Nun kann ihm nichts mehr geschehen. Er ist gefeit. Mit lautem Jubelruf wirft er die Sichel durch die Krone, dann reißt er den hängenden Mistelbuschen vom Ast. Behänd klettert Wolf den Baum hinab.
Unten stopft Barbara Heß die tote Henne in den Korb und legt behutsam den heiligen Mistelzweig darauf. Hierauf verneigen sich die Ahne und das Enkelbübel dreimal vor der alten Eiche, wie es geboten ist, und sprechen laut und feierlich wie Schulkinder:
„Baum, Baum, sei bedankt im Namen des Herrn
und lass dir's geschehen gut
mit dem verspritzten Blut!
Und der Herr Jesu Christ,
der heute Nacht geboren ist,
wird dich segnen immerdar
mit seiner lieben Englein Schar!“
Eilig machen sich die beiden aus dem knisternden, finsteren Wald. Draußen funkeln die Sterne durch die beinkalte Luft. Eben will sich der silberne Mond über die nachtdunklen Frostgrate schwingen.
Hänge und Feldbreiten sind wie ein silberdurchwirktes Leilachen. Unten liegt das Dorf. Es ist um den alten Kirchturm geduckt. Obenauf blinkt der goldene Hahn.
In der Brust des kleinen Buben springt die Freude herum wie ein junges Ziegenböcklein: „Miar ham's g'schafft, dö Heiligi Nacht hot uns den All-Heil geb'n!“
Wolf trägt die Sichel wie ein Held.
Jetzt wird der Wendelin frei von seiner fallenden Sucht, die ihn um und um reißt und immer so gottsjämmerlich auf die Erd' hinhaut. Und dem armen Lenerl ihr' kranke Lung' wird gesund werden, dass sie nimmer so elend husten muss. Und wenn heut Nacht, wenn der Mond ganz zu höchst oben am Himmel steht und die Mettglocken läut', die Großmutter einen Zweig vor dem Mettgang unter die Futterkrippen hängt, werden unsere Geißen das ganze Jahr die schönst' fette Milch geben und nicht krank werden wie der Lechnerin ihre, die elend verreckt ist.
Und wenn Großmutter jetzt heimlich mit dem Mistelzweig über den Gulden streichen wird, den sie vorher in das Weihbrunnkesserl am Türpfosten eintunken muss, wann die Turmuhr ihre zwölf Mitternachtsschläg' tut, dann wird das Geld das ganze kommende Jahr nicht ausgehen, und dann wird sie nimmer heimlich die Augen wischen müssen und immer lachen können.
Der Bub macht einen Hupser vor Freud, dass er bis zum Bauch im Schnee einsinkt und vornüberfällt.
Als sie ins tiefverschneite Dorf kommen, treulich vom Mond begleitet, dass ihre Schatten vor ihnen herhuschen, schimmern ihnen die Lichterbäum' aus den Fenstern entgegen. Unten beim Wendelin bleiben sie stehen. Deutlich hören sie seine helle Stimme:
„Stille Nacht, heilige Nacht …“
Da hat Wolf mitsingen wollen, aber er hat nicht können.
Hilfesuchend greift seine Hand nach der der Großmutter. Die versteht die Hand und reißt das Enkelbübel an ihre Brust, dass der Schnee von seinen Schultern stäubt:
„Tua nit flennen!“, tröstet ihn die einsame arme Wittib. Wolf spürt heiße Tropfen auf seine Wange fallen.
Dann hasten sie miteinander die schweigsame, menschenleere Dorfstraße hinauf.