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Kapitel I Ussulistan
ОглавлениеSchon einer der Urahnen in der siebenten Vorgeneration, Andreas Stephan (1666–1719), war Webermeister in Ernstthal; Weber waren fast alle Vor- und Vorvoreltern; Weber war der Vater[1]. Von ihrem Dahinleben ist wenig aufbewahrt; selten währte es siebzig Jahre, oft sehr viel kürzer, und daß es köstlich gewesen wäre, ist so sicher nicht, wie es der plaudernde Feinsinn gern der pausenlosen Arbeit nachsagt; – ein paar trockene Sätze im Kirchenbuch, keine Briefe, keine Bilder. Zuletzt bleiben von ihnen allen nur die eckigen Daten ihres Auftritts und Abgangs von der tristen Bretterbühne, auf der das immer gleiche vor sich ging: Intraden ohne Glanz – die dürftige Dorfpantomime immer stummer Rollen, deren letzte Hantierung noch vom grau sausenden Webstuhl bestimmt ist – Exit ins Dunkel. Das Erbe, das aus solchen Generationen auf den Letzten der Familie sich ablagerte, wiegt schwer, und wenn er sich später auch empört dagegen verwahrte, daß man ihn atavistischer Schwachheiten[2] zeihe, so erklärt sich doch so manche Bruchstelle im wunderlichen Gewebe seines Lebens aus der trüben Provenienz der Fäden, die darin zusammenliefen: nicht nur die Revolution des Unteren, die in ihm heraufkam; das verkrüppelte Rechtsbild der vom Recht sehr lange Vergessenen; – auch der gestaute Kräfteschub derer, die selber nichts zu stiften vermochten, was geblieben wäre; und aus der Schwermut der Vergeblichen die singuläre Anstrengung selbst, die sie durchbrach und aufhob. So hat er das Muster, wie es, mit durchaus schlimmen Vorzeichnungen, auf ihn kam, dann doch zum guten Ende gebracht, und aus dem langen, öden Vorgang der von Tritten geregten, endlos ungesehen geflossenen Fäden, der von Schlägen geschlagenen Verbindungen, der herüber und hinüber schießenden Schifflein ist noch so etwas wie ein Weber-Meisterstück gekommen – ein bizarres, misch-maschiges, knotig bedeutendes aber doch im desolaten Dessin – und er selbst im besten Sinne der Letzte seines Stammes geworden: Ijar, der im ganzen Morgenlande bekannte Teppichweber …[3]
Ernstthal, eine kleine Stadt in der sächsischen Kreisdirektion Zwickau, 1680 nach einer Pestepidemie zu Hohenstein gegründet, mit dem es später (1898) zusammengelegt wurde, ist ein Modellpunkt des sozialen Elends der Zeit: in dessen tiefsten Stand, ins ärmste, schmutzigste Ardistan, wird Karl Friedrich May am 25.2.1842, abends um 10 Uhr, in der Niedergasse[4] hineingeboren: fünftes von 14 Kindern, die die Mutter Christiane Wilhelmine Weise (1817–1885) zwischen dem 19. und 43. Jahr dem Heinrich August May (1810–1888) gebären muß; neun davon sterben in frühester Kindheit, nur zwei Schwestern haben den Bruder überlebt und ein hohes Alter erreicht. Von den 2630 Einwohnern ernähren sich 80 % von der Heimweberei, die seit der Blütezeit zu Beginn des Jahrhunderts unaufhaltsam niedergegangen ist und zum Existenzminimum jetzt wenig über ein Drittel beiträgt; ›Nebenberufe‹ müssen aushelfen, Schmuggel und anderes; in Scharen verlassen Auswanderer die kümmerliche Heimat, hinüber ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten; die öffentlichen Einrichtungen, etwa das Schulwesen, sind durch Schulden in Unordnung; 84 Haushalte zählt 1845 eine Akte zu den Ärmsten der Armen.[5] Mangelkrankheiten bestimmen Leben und Sterben: das, was man gegenwärtig diskret als ›Unterernährung‹ zu bezeichnen pflegt, ist wohl auch Ursache für die Erblindung des Kindes kurz nach der Geburt; sie wird erst, lange von törichten Kuren verpfuscht, im 5. Lebensjahr durch Eingreifen Dresdener Ärzte behoben.[6] Bei schimmligen Brötchen, Unkrautsuppe und Kartoffelschalenabsud gedeiht nicht eben mehr als ein »Kellerkeim von Junge«[7], ein krankes, schwaches Kind, welches noch im Alter von sechs Jahren auf dem Boden rutschte, ohne stehen oder gar laufen zu können[8], gedeiht aber um so mehr das Verlangen nach dem Anderen, das hinter solcher Wirklichkeit wäre, nach der Besseren Welt, die mit Gedanken zu erreichen, in der mit Gedanken frei zu schalten sei: – ich habe in meiner Kindheit stundenlang still und regungslos gesessen und in die Dunkelheit meiner kranken Augen gestarrt … Wann erstmals die Wachtraumbewegungen der jugendlichen Phantasie einsetzten (in dem mystisch verwischten Sinne, mit dem die Bildersequenzen namentlich der späten Fabeln sich auf sie berufen), ist nicht entscheidbar; sie mögen gleich aus der allerersten Kindheitsdämmerung herauf sich eingestellt haben, die Grenze überhaupt vertuschend (wie denn May die Grenze zeitlebens nicht präzise gekannt hat), – sie mögen gleichwohl später erst vom Einfluß der Märchengroßmutter geweckt und gelenkt worden sein, wenn auch wahrscheinlich weit allgemeiner, als May es dann aus der späten Rückbeschaulichkeit sah: im Bild der Großmutter Johanne Christiane Kretzschmar (1780–1865), dem lange mit Anstrengung sublimierten, sammelte er alle hellen Züge seiner Kindheit überhaupt – Züge, deren bloße Anzahl schon nicht überschätzt werden darf. Riesenhaft erdrückend bleibt die Misere gegenüber einer Handvoll tröstlicher Momente, die sichtbar, wohlig gefühlig empfindbar wohl überhaupt erst aus dem langen Abstand wurden. Ganz abgesehen davon, daß schon ein schieres Rindsgemüt dazu gehört, es mit Thomas Manns perfidem ›Glück im Ghetto‹ zu halten, das es da ›auch‹ gegeben habe, ist den in der Altersdistanz gebastelten Selbstbeschreibungen immer zu mißtrauen: ihren geschamig verschönenden Geständnissen einstiger Schicksalsgeschlagenheit wie ihren Erinnerungen allgemein, den stets manipulierten, ausgesiebten, rosa retuschierten: – falsch muß allein die Proportion schon werden. Was May, der von dem ihn dauernd hauteng umdrängenden Material her unschätzbare Dokumente hätte liefern können, bedeutend hätte geraten müssen, wäre sein Begriff vom Dokument nicht zeitlebens gering geblieben, wurde ihm vereitelt: den ›Verlornen Sohn‹, seinen sozialen Roman, verdarben ihm die albernen Klischees der Kolportage, und die Selbstbiographie, spätestes Niedergreifen auf den vergrabenen Hort frühester Erfahrung, wurde von ästhetischer Zensur verstellt (und von nur wieder viel zu vielen ego-bedingten und -gebundenen Zwecken): »In seinem Buche, da deutet er sehr viel vom Schmutz und Sumpfe seines Heimatortes Ernstthal an, und darüber hätte ich gern von ihm genaue Angaben gewünscht. Er versagte, weil ihm die Erinnerung daran wehe tat …«[9]
Das Geburtshaus in Ernstthal
Unter die Erinnerungen, vor denen May versagte (anders: unter die Fiktionen, die ihm beim zwischen Lücken gebückten Sortieren nur allzu behilflich waren), gehört zuletzt auch die Rolle der Märchengroßmutter, der Person, die in seelischer Beziehung den tiefsten und größten Einfluß auf meine Entwicklung ausgeübt hat; … ein ganz eigenartiges, tiefgründiges, edles und, fast möchte ich sagen, geheimnisvolles Wesen … ein herzliebes, beglückendes Rätsel, in dessen Tiefen ich schöpfen durfte, ohne es jemals ausschöpfen zu können … Wie in seinem späten Lebensbericht das Große Buch der Märchen selbst, Der Hakawati / d. i. / der Märchenerzähler in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanatio und interpretatio auch viele Vergleychung und Figürlich seyn / von / Christianus Kretzschmann / der aus Germania war. / Gedruckt von Wilhelmus Candidus / A.D. M.D.C.V.[10] durchaus nur ›figürlich‹ ist, so dürfte es auch die Erzählerin sein, der May erst ganz am Ende, als Krönung der sichtbar zwanghaft betriebenen Sublimation, auch die Autorität über sein Werk zuschrieb. Welchen Einfluß immer die sonderbare Frau auf ihn hatte, die Inspirationsquelle des Kindes war sie in dem Sinne wohl nicht, den die Selbstbiographie so unvergleichlich intensiv beschreibt. Die Suche nach den frühesten Anregungen hätte sich eher einem Mann zu widmen, den das späte ›Leben und Streben‹ gar nicht einmal mehr kennt; glaubwürdiger, echter erscheint, was May über ihn, den Schmiedemeister Christian Weisspflog, bereits 1899 in einer ersten, noch ganz spontanen biographischen Äußerung zu Protokoll gibt: Ich hatte einen Pathen, welcher als Wanderbursche weit in der Welt herumgekommen war. Der nahm mich in der Dämmerstunde und an Feiertagen, wenn er nicht arbeitete, gern zwischen seine Kniee, um mir und den rundum sitzenden Knaben von seinen Fahrten und Erlebnissen zu berichten. Er war ein kleines, schwächliches Männlein, mit weißen Locken, aber in unseren Augen ein gar gewaltiger Erzähler, voll übersprudelnder, mit in das Alter hinüber geretteter Jugendlust und Menschenliebe. Alles, was er berichtete, lebte und wirkte fort in uns, er besaß ein ganz eigenes Geschick, seine Gestalten gerade das sagen zu lassen, was uns gut und heilsam war, und in seine Erlebnisse Szenen zu verflechten, welche so unwiderstehlich belehrend, aneifernd oder warnend auf uns wirkten. Wir lauschten athemlos, und was kein strenger Lehrer, kein strafender Vater bei uns erreichte, das erreichte er so spielend leicht durch die Erzählungen von seiner Wanderschaft. Er hat seine letzte Wanderung schon längst vollendet; ich aber erzähle an seiner Stelle weiter …[11]
Vor das Bild der Mutter schiebt sich eine gewisse Sprachlosigkeit; Schuldgefühle, ihr gegenüber stärker als gegen andere, weil viel weniger greifbar, blieben noch im Alter Mays lebendig; darüber ist seine Erinnerung, die sonst durchaus mit vielem fertig wurde, auffällig formelhaft und schweigsam geworden: – sie war eine Märtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon. Doch des Abends, wenn sie, die Stricknadeln emsig rührend, beim kleinen, qualmenden Öllämpchen saß und sich unbeachtet wähnte, da kam es vor, daß ihr eine Träne in das Auge trat und, um schneller, als sie gekommen war, zu verschwinden, ihr über die Wange lief. Mit einer Bewegung der Fingerspitze wurde die Leidesspur sofort verwischt … Was sie, bei dauernd grober Arbeit zwischen den grob dauernden Schwangerschaften, zu leiden hat, weniger unter der bloßen Armut selbst als unter dem tyrannischen Mann, ihrer durchaus schlechteren Hälfte, scheint sich in wortlos wachsender Schwermut geduckt zu haben (die in der Familie lag: ihr Vater, Christian Friedrich Weise [1788–1832], kehrte dem Weberglück durch Selbstmord den Rücken – »Ursache: Trunkenheit und Verzweiflung« vermerkt das Kirchenbuch); eher passiv nur ist der Einfluß, den sie auf die Entwicklung des Jungen nimmt. Einmal rafft sie sich auf, dem Elend, das der Vater nicht zu lindern vermag, mit einem eigenen Beruf beizukommen: sie geht nach Dresden, um einen Hebammen-Kursus zu absolvieren, und da sie am 13.2.46 die Prüfung »vorzüglich gut« besteht, erhält sie 5 Wochen später die Bestallung als Hebamme in Ernstthal – ein Amt, in dem ihr dann die Tochter Caroline Wilhelmine verh. Selbmann (1849–1945) gefolgt ist.
Seit 1838 besaß die Mutter durch Erbschaft sogar einiges ›Vermögen‹ (das Geburtshaus Mays gehört dazu; und die Barschaft dürfte um einiges beträchtlicher gewesen sein, als die Groschenaufzählung der Selbstbiographie glauben läßt: 60 vor dem Ehemann verborgen gehaltene Taler werden allein für den Hebammenkurs verwendet). Aber dem Heinrich August rinnt nach und nach alles durch die zwar fleißigen, aber übel leichtsinnigen Hände: Wenn er auch nicht geradezu glaubte, plötzlich reich geworden zu sein, so nahm er doch an, jetzt zu einer andern Lebensführung übergehen zu dürfen. Er verzichtete darauf, sich sein ganzes Leben lang hinter dem Webstuhl abzurackern. Er hatte ja nun ein Haus, und er hatte Geld, viel Geld. Er konnte zu etwas anderem, Besserem greifen, was bequemer war und mehr lohnte als die Weberei … Das Bessere: sind täppische Versuche als Taubenhändler und ›Agent für alles mögliche‹; die Ersparnisse schmelzen dahin; am 15.4.45 muß das Haus in der Niedergasse verkauft werden (und der Erlös von 515 Talern scheint den gleichen Weg gegangen zu sein wie die raren ›Beutel‹; – fürs Wirtshaus hat es bei dem Patriarchen sonderbarerweise immer wieder gereicht, während die Familie sich mit dem Nähen von ›Leichenhandschuhen‹ plagt und die Kinder von den Schutthaufen Melde pflücken müssen, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien!): – man zieht zur Miete an den Markt, in das Haus des Webermeisters Selbmann.[12]
Der Vater ist die weitaus interessanteste Persönlichkeit im trüb verschwommenen Personale von Mays Kindheit und Jugend. Einige auffällige Eigenschaften, die sich dem Sohn vererbten und so sehr nicht mit dem erzgebirgischen Menschenschlag überein zu bringen sind, über weitere Voreltern hin zu verfolgen, wäre freilich müßig: mit Wahrscheinlichkeit ist er ein außereheliches Kind (»Der Schwängerer soll ein Unbekannter gewesen seyn«, vermerkt das Kirchenbuch – unentschieden, ob als bloßes Gerücht oder als Angabe des Mannes, der einen Fehltritt der Märchengroßmutter mit seinem Namen zudeckte; zwei weitere Geburten in der Umgebung des Datums tragen den gleichen Zusatz; eine vierte: »Der Schwängerer ist ein bayerischer Soldat«; 1810: Durchzug von Rheinbundtruppen[13]). Bei der Beschreibung des verworrenen Mannes hat May seiner Erinnerung besonders behutsame Sperren vorgeschaltet, doppelt erklärlich, weil er hier zugleich einer Selbstbeschreibung auswich; aber noch aus den humorig vermummten Episoden blickt das Gesicht zuweilen unangenehm genug hervor. Zwei Seelen müssen sich auch in dieser Brust die Wohnung teilen: die eine sei unendlich weich gewesen, unpräzise verträumt, in Gedanken verspielt; die andere (der gewöhnlich 10 Stunden des Tages gehören – gegenüber 4 unendlich weichen) bietet einen wahrlich fatalen Anblick. Da waren wir in steter Angst, ihn zu erzürnen … Am Webstuhl hing ein dreifach geflochtener Strick, der blaue Striemen hinterließ, und hinter dem Ofen steckte der wohlbekannte ›birkene Hans‹, vor dem wir Kinder uns besonders scheuten, weil Vater es liebte, ihn vor der Züchtigung im großen ›Ofentopfe‹ einzuweichen, um ihn elastischer und also eindringlicher zu machen. … Selbst in den heitersten und friedlichsten Augenblicken hatten wir das Gefühl, daß wir auf vulkanischem Boden standen und von Moment zu Moment einen Ausbruch erwarten konnten. Dann bekam man den Strick oder den ›Hans‹ so lange, bis Vater nicht mehr konnte … Daß der dauernde Konflikt zwischen seiner unleugbaren Intelligenz und der sie plump foppend umtölpelnden Unterumwelt sich hinter bleibend heiligmäßigem Wandel hätte verbergen lassen, wäre freilich nur utopisch anzunehmen; die lebenslänglich fruchtlosen Anstrengungen um ein besseres Tägliches Brot, das ausgesprochen böseste aller Spiele, waren kaum geeignet, dem Heinrich May eine stabile gute Miene einzubringen, und sein Charakterbild hatte allerlei Ursache, in der Lokalgeschichte zu schwanken. In der späteren Erinnerung der betreffenden Ernstthaler lebte er als liederlicher, streitsüchtiger Trunkenbold fort; doch hat er in der Gemeinde Ämter bekleidet, die nur an Bürger »von gutem, unbescholtenem Rufe«[14] verliehen wurden: als 24jähriger bereits gehörte er zum »Bürgergarden-Corps«, später war er Marktmeister und im Alter noch Armenpfleger. Aber das alles sind ›Ehrenämter‹, die nichts eintragen. Der Drang nach dem Fortkommen aus dem nicht mehr geliebten Beruf in, sei’s wie’s sei, ein Anderes, ›Höheres‹, nimmt bei ihm mit wachsender Erbitterung nur mehr die Formen einer immer trüberen Groteske an. Spielhafte, wenn auch gallig ernste Realträume werden exerziert: militärische Chargen erscheinen am Wunschhorizont als Formen ›höheren Rangs‹: Vater war Hauptmann der siebenten Kompanie (einer anläßlich des 49er Aufstands zur ›Rettung des Königs‹ in Marsch gesetzten Dorfarmee; die Schilderung scheint allerdings bei May besonders bunte Blüten zu treiben) – und das grobe Vaterverlangen nach dem Vorgesetzter-Sein mißbraucht den Jungen als willig gekrümmte Folie. Der Herr Hauptmann bekam einen Säbel und eine Signalpfeife. Aber er war mit dieser Charge nicht zufrieden; er trachtete nach Höherem. Darum beschloß er …, sich ganz heimlich … im ›höheren Kommando‹ einzuüben … So wurde ich einstweilen vom Handschuhenähen dispensiert und wanderte mit ihm täglich hinaus in den Wald, wo auf einer rings von Büschen und Bäumen umgebenen Wiese unsere heimlichen Evolutionen vorgenommen wurden. Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die sächsische Armee. Ich wurde erst als ›Zug‹, dann als ganze Kompagnie einexerziert. Hierauf wurde ich Bataillon, Regiment, Brigade und Division … Aber ich war noch so jung und klein, und so kann man sich bei dem jähen Temperamente meines Generals wohl denken, daß es mir nicht möglich war, mich in so kurzer Zeit von der einfachen, kleinen Korporalschaft bis zur vollzähligen, gewaltigen Armee zu entwickeln, ohne die Strenge der militärischen Disziplin an mir erfahren zu haben … Obwohl May dann noch gutmütig bekennt, er habe durchaus Lust und Liebe zur Sache gehabt, scheint von jenen frühen, albern scheußlichen Erfahrungen seine Einstellung zum Militär zu datieren: später war er ebenso wehruntauglich wie -unwillig, und im Alter gab er schließlich in aller Ruhe zu Protokoll, daß zum Soldatenberuf eigentlich nur körperliche und geistige Krüppel geeignet wären[15] (ein Einfall, den bekanntzumachen freilich damals schon Perlen vor die Deutschen werfen hieß). Aber dann notiert er auch wieder, halb ergriffen sogar, den komischen Ausruf des Kantors Samuel Friedrich Strauch (1788–1860), der beim Vorbeimarsch der Königsretter dem Jungen die rechte Einstellung zur Obrigkeit wies – (und Kantors Wort ist ja fast schon Gottes Wort; wer wollte da nicht mitglauben –): »Es ist doch etwas Großes, etwas Edles um solche Begeisterung für Gott, für König und Vaterland! … Das Glück bringt sie ein, das wirkliche, das wahre Glück!« … Ich ging nach unserm Hof. Da stand ein Franzäpfelbaum. Unter den setzte ich mich nieder und dachte über das nach, was der Herr Kantor gesagt hatte. Also Gott, König und Vaterland, in diesen Worten liegt das wahre Glück; das wollte und mußte ich mir merken! Und das hat sich May dann zeitweilig auch nur zu gut gemerkt – und es seine Leser, die ebenso lieben wie deutschen, ebenfalls gehörig merken lassen.
Mit fünf Jahren ist seine Kindheit zu Ende. Aber keine Jugend hat danach mehr Raum; die mit dem Schulbesuch (1848–1856) sichtbar werdende Lernbegabung verleitet den Vater zu nebulosen Zukunftsplänen, hinter deren wütendem Betreiben das Bewußtsein des eigenen Versagens zum Schweigen kommen soll: zum unsinnigsten Vielwissen wird der Junge genötigt. Alles bei Pfarrer und Rektor nur Greifbare muß schwarz auf weiß besessen werden; der konfuse Bildungsbegriff des Vaters verlangt förmlich kulihafte Demonstrationen: ganze Kompanien von alten Gebetbüchern, Rechenfibeln, antiquierten Naturgeschichten muß der Junge wahllos abschreiben. Die Reaktion mag schon damals unter der Schwelle sich eingestellt haben: durchsichtiger zumindest wird, warum sein Umgang mit dem Wissen (zu schweigen von ›den Wissenschaften‹) zeitlebens dilettantisch blieb und nie die Heftigkeit des Kennverlangens erreichte, die den eigentlichen Autodidakten bezeichnet. Gefördert wird auch die musikalische Begabung: Orgel-, Geigen- und Klavierspiel bringt der Kantor bei, dazu das Handwerkliche des Tonsatzes. Die Texte der alten Kirchengesänge machen lateinischen Unterricht wünschenswert; und als wieder einmal ein Auswandererzug die Elendsgegend verlassen will, um ›drüben‹ die bessere Zukunft aufzusuchen, stellt sich die Gelegenheit fürs Englische ein (das May freilich, wie die sämtlichen vierzig Sprachen, deren er sich später rühmte, nur in den Anfangsgründen beherrschte); Französisch kommt gleichzeitig (nur wenig besser fundiert) hinzu. Und was sich bei diesem Wust noch an freien Viertelstunden und Sonntagspausen hatte erübrigen lassen, fällt schließlich dem letzten, verderblichen Unfug zum Opfer, den der Vater sich einfallen läßt oder zumindest duldet: als für die Hohensteiner Schankwirtschaft Engelhardt ein Kegelaufsetzer gesucht wird, gerät der Junge, eben 12 Jahre alt, für ganze Tageteile in den Dunstkreis der dörflichen Biertischbürger, und wie er, von abgestandenen Resten geistiger Getränke animiert, labil und ahnungslos den um so weniger geistigen Tagestratsch in sich aufnimmt, so ist er auch ahnungslos dem zweiten Gift ausgeliefert, das ihn durchsetzt: der Hintertreppenbücherei der Kneipe, deren Schund ihm Rechts- und Wirklichkeitsgefühl verzerrt: wo die Not am höchsten, ist Rinaldo Rinaldini am nächsten: und so macht sich der Junge eines Tages auf, um ›in Spanien‹ bei einem der Edlen Räuber Hilfe zu holen … Für lange Jahre hat ihn so der Kitsch infiziert.
Die Rectoratsschule verläßt Karl May mit dem Zeugnis »Wissenschaften II; Sittliches Verhalten I«; das Elternhaus, die Vater-Stadt verläßt er so gut wie ohne jede innere Festigung. Töricht bliebe der bisweilen unternommene Versuch, die 14 bizarre Jahre lang genossene Erziehung zu bagatellisieren: was aus ihr erwächst, aus einer Serie banaler Unfälle, wird zu einem Monstrum von Fall – und konsequent noch in jedem gedunsenen Detail. Zu suchen, wenn auch nicht gleich heimzusuchen: wären die Sünden des Kindes bei und an den Vätern, und nicht nur bis ins dritte und vierte Glied …