Читать книгу Karl May - Hans Wollschläger - Страница 6
Kapitel II Waldenburg und anderswo
ОглавлениеDie ganzen zwanzig Jahre Folgezeit, der zeitlupig zäh dauernde Sturz in den Maelstrom ›des Lebens‹, das den allzu unzulänglich präparierten Armen weidlich schuldig werden läßt, warten noch immer auf eine Spezialarbeit[1], die sie – und mit ihnen ein Bündel bloßer bunter Gerüchte – zuvorderst einmal schlicht faktisch aufzuklären hätte. Und wenn sie auch so kompliziert nicht sind, daß man dafür, wie May es später wollte, nun gleich nur die Fach-Psychiatrie anrufen müßte, so bleiben doch die zu ihrer Erklärung nötigen Wege verwickelt und weitläufig genug; im enger beschränkenden Rahmen dieser Darstellung würden sie einfach zu weit führen. Zwischen der wechselseitig geübten Beschönigung und schäumender Aufbauschung irgendeine milde Mitte zu suchen, wie es diesen und jenen Lesern (besonders jenen) wohlgefällig wäre, ist bloßer Verlust, und nicht nur von Zeit; – ein Datenreferat statt dessen, kurz, und trocken vertrackt, wäre vorzuziehen: facts on file. So unbedingt dramatisch hat sich gar nicht aufzuführen, was Furcht und Mitleid reichlich genug erwecken kann …
Zu Ostern 1856 (23.3.) wird May konfirmiert: »Halte an dem Vorbilde der heilsamen Worte, die du von mir gehört hast …«[2] lautet der Spruch, den man ihm ›auf den Weg‹ gibt; in dieser Gemeinde hat er Heilsames vergleichsweise nicht eben viel gehört. Der Berufswahl setzen sich nach wie vor die Grenzen der materiellen Not; zum offenbar erwünschten Medizinstudium reicht es nicht; so soll er Lehrer werden. Der Pfarrer erwirkt beim Kirchenpatron, dem Grafen von Hinterglauchau, eine jährliche Unterstützung von 15 Talern[3]: ein winziger Zuschuß zu dem, was die Familie erhungern muß. Im Seminar Waldenburg besteht May die Aufnahmeprüfung; zu Michaelis (29.9.) 1856 wird er dort als Proseminarist offiziell aufgenommen; und zu Michaelis 57 dann beginnt die Zeit, in der unter den üblich anderen auch die ersten schlimmen Lehren auf ihn warten. Daß er die Entfernung vom häuslichen Herde und der daneben hängenden väterlichen Zuchtrute als Befreiung sieht, kann auch die steife Anstaltsdisziplin nicht dämpfen; so ist er wohl gleich zu Anfang ein bißchen mehr Mensch, als er’s nach Meinung der hohen Direktion hier sein sollte: etwas zu rasch vollzieht sich das Erwachen der lange geduckten, voller Mucken steckenden kleinen Person: kein atemlos lauschender Wissensdürster sitzt zu Füßen der Katheder links vorn über ihm (was sie zu bieten haben, weiß er rasch und leicht zu begreifen), sondern »ein guter Durchschnittsrüpel«, wie es ein Kenner der Seminarakten zusammenfaßt.[4] Besonders ›glücklich‹ hat sich May während der Waldenburger Jahre wohl jedenfalls kaum befunden; und die Ferien verbringt er durchaus gern wieder in der Heimatstadt, dort freilich weniger in der elterlichen Marktwohnung als in der Herrenstraße 53[5], wo das Schwesternpaar Anna und Laura Preßler ihn stark beschäftigt, vorab die ihm gleichaltrige Anna, Meine 1. Liebe[6] (die allerdings, trotz der ihr innig zugesungenen Liebeslieder, 1858 die Ehe mit einem Schnittwarenkrämer der Romantik vorzieht). Die Anstalt ist dagegen ein um so öderer Aufenthalt, ein trostlos trockenes Vertriebsbureau lexikalisch gestapelten Wissens; die Darstellung der Selbstbiographie wird von den Dokumenten ausgiebig bestätigt: Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab … Man lehrte nämlich weniger das, was zu lernen war, als vielmehr die Art und Weise, in der man zu lernen hatte … In meinem Wissen fehlte das feste Gerippe. Ich war in Beziehung auf das, was ich geistig besaß, eine Qualle, die weder innerlich noch äußerlich einen Halt besaß und darum auch keinen Ort, an dem sie sich daheim zu fühlen vermochte … Daß May dies damals bereits sicher erkannte und unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herumarbeitete, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, ist zweifelhaft; bloßer Instinkt scheint sich gegen die von engen Disziplinen vergitterte Um- und Unwelt gekehrt zu haben, besonders deren dressierte Christlichkeit, die selbstgerechte, starre, salbungsvolle und muckerische Schulmeisterreligiosität[7] (eben jene, die er selber in seinen Erfolgsjahren dann recht virtuos praktizierte): Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte … Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt … Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke … Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-; Bibel- und Gesangbuchlehre … Und so weiter. Als May im April 59 einmal dem Nachmittagsgottesdienst fernbleibt, setzt es denn auch sogleich eine Verwarnung; überhaupt sei er von »schwachem religiösen Gefühl«[8], findet hernach die Anstaltsleitung: ein Nächster, der nur mit Vorbehalten zu lieben wäre: »arge Lügenhaftigkeit und rüdes Wesen«[9] sind ihm eigen: es fehlt am rechten Geiste, dem wohldressierten, in spanische Stiefel eingeschnürten: mit diesem Schüler kann es kein gutes Ende nehmen …
Die offenbare Abneigung seiner Aufseher verschärft bis zur Bösartigkeit das Unglück, das May Mitte November 59 über sich bringt: da ist er »Lichtwochner«, hat die Beleuchtung der Klassenräume zu versorgen, verwaltet den Kerzenvorrat; – und in einem wirren Moment nimmt er »6 ganze Lichte«[10] an sich (an anderer Stelle: »1 Pfund Talglichter«[11]), verbirgt sie zwei Wochen lang in seinem Koffer, und da werden sie dann, auf Anzeige zweier Mitschüler, gefunden: – an der Eigenbeschreibung, die in ausführlicher Harmlosigkeit von Talgresten redet, höchstens für Schmiere zu gebrauchen … Schmutz … nicht drei Pfennig wert, scheint ›richtig‹ nur der dargestellte Zweck zu sein: das Wachs soll den Eltern und Geschwistern zum Christfest leuchten. Statt dessen entzündet der Seminardirektor Dr. Schütze die qualmende Fackel der Gerechtigkeit; eine Konferenz beschäftigt sich mit dem »infernalischen Charakter« (21./22.12. 1859); ein Bericht geht an das vorgesetzte Gesammt-Consistorium Glauchau, das wiederum, kerzengerade an Leib und Seele, dem Dresdener Cultusministerium Meldung macht; steif und gesetzlich reitet der Amtsschimmel retour; und am 28.1.60 sprechen die Gerechten zu Waldenburg die Höchststrafe aus, die ihnen die Seminarordnung an die Hand gibt: Verweisung von der Anstalt »wegen sittlicher Unwürdigkeit für seinen Beruf …«[12]
Den folgenden Monat über wird May alle Hände voll zu tun gehabt haben, sein (wohl auch vom Vater zusätzlich) schlimm gestoßenes Gleichgewicht wiederzugewinnen; am 6.3.60 dann rafft er sich auf, ein Gnadengesuch an das Cultusministerium zu richten[13], befürwortend unterstützt vom Ernstthaler Pfarrer Schmidt; und man ist einsichtig,man will die gewünschte Gnade vor Anstaltsrecht ergehen lassen: zwar verstreichen über dem langen Amtsweg noch bängliche sechs Wochen, doch dann, am 24.5., empfängt May vom Seminardirektor Wild, Plauen, den Endbescheid, daß er seine Studien dort fortsetzen darf. Am 2.6. besteht er die Aufnahmeprüfung; 2 Tage später tritt er ein.
In Plauen hat er dann – wenn auch nicht ganz reibungslos – die Ausbildung bis zum Ende absolviert. Am 17.8.61 erhält er von der Seminarkonferenz die eingeschränkte Sittenzensur »Zur Zufriedenheit«; am 23.8. meldet er sich zur Schulamtskandidatenprüfung; vom 9. bis 12.9. stellt er sich der Schätzung seines positiven Wissens; und am Tag darauf kann er die Gesamtzensur »Gut« denn endlich getrost nach Hause tragen: es ist gelungen.[14]
Für die Armenschule zu Glauchau wird ein Hilfslehrer gesucht. Am 5.10.61 spricht May auf der Superintendentur vor, quittiert mit Handschlag die ihm vorgelegten Bedingungen und erhält »gegen das hier übliche Vicariatsgehalt« (175 Taler jährlich plus Logisgeld) die 4. Klasse der Armenschule überantwortet.[15] Aber nur von kurzer 14tägiger Dauer ist der Dienst, den sich der Neunzehnjährige etwas zu versüßen trachtet. Am 17.10. »erscheint der hiesige Kaufmann Herr Ernst Theodor Meinhold in der großen Färbergasse 7, gibt an, daß der Hilfslehrer Carl Friedrich May bei ihm seit dem 5. Oct. sich in Wohnung und Kost gegeben, während dieser kurzen Zeit aber in der unwürdigsten Weise durch Lügen und Entstellungen aller Art sich bemüht habe, die Ehefrau von ihm abwendig und seinen schändlichen Absichten geneigt zu machen …«[16] Zwar ist der Untäter, vor dem die Gerechten ein weiteres Mal kunstvoll zurückbeben, durchaus »dieser Absicht nicht geständig«[17], muß aber einräumen, »daß er sich Annäherungen an die Ehefrau des p. Meinhold erlaubt habe …«: so wird ihm nahegelegt, die fristlose Kündigung zu akzeptieren, und wieder muß er sich nach einer neuen Bleibenden Statt umsehen.
Sie findet sich immerhin noch rasch: am 26.10. stellt sich May beim Superintendenten Kohl in Chemnitz vor; der holt sich von der Kgl. Kreisdirektion in Zwickau die (bedingte) Zustimmung zur Anstellung des Lehrers; am 6.11. tritt May sein Amt bei den Fabrikschulen der Firmen Solbrig und Claus in Altchemnitz an – (und »der noch sehr junge Lehrer hat kein übles Lehrgeschick«, wird dann von Kohl anläßlich einer Schulrevision am 10.12. beifällig vermerkt[18]: die Schwierigkeiten scheinen überwunden). Aber der fromme Wunsch, den der Glauchauer Amtsbruder des p. Kohl auf die Post gibt: Gott werde Mithilfe leisten, »daß die ernste Verwarnung, mit welcher der p. May von hier entlassen worden ist, Frucht tragen möge«[19]: erfüllt sich nicht. Als May auf Befragen nach den Ursachen seines so eiligen Scheidens aus jener ersten Stellung erzählt, wie er »dort das Unglück gehabt, bei einem dem Trunke ergebenen Wirthe zu wohnen« und »er unverhohlen demselben sein schändliches Treiben aufgedeckt« und »jener Mann … ihn nicht nur bei dem Herrn Consistorialrath und Superintendenten Dr. Otto verklagt, sondern auch anderen Leuten gegenüber verunglimpft« und »seinem Rufe in Glauchau geschadet habe«[20], erblickt der D. Otto »den Beweis, daß der Lügengeist, dem der junge Mensch … sich ergeben hat, von ihm noch nicht gewichen ist«, und empfiehlt, »den jungen Menschen zuvor einer sorgfältigen Überwachung und einer längeren scharfen Prüfung zu unterwerfen«[21]. Die ›Wahrheit‹ des so überflüssig gebauschten Falls mit gleicher Schärfe zu überprüfen scheint sich dagegen den beteiligten Sittenrichtern nicht empfohlen zu haben: nur »erforderlichen Falles« sollen der Kläger Meinhold und seine »in allen Stücken unschuldige Ehefrau«[22] ihre Angaben eidlich bestärken; und »überdies war der Ruf einer achtbaren Familie möglichst zu schonen«[23]. May zu schonen: war kein Anlaß; so wird (nur eine der Folgen jenes Abweichens vom schnurgerade sturen Pfad amtlicher Tugend) ihm eröffnet, »daß er nur provisorisch und unter speciellster Controlle sein Amt als Fabriklehrer zu Altchemnitz verwalten könne, und er bei der geringsten Veranlassung zu Unzufriedenheit mit ihm in Lehre, Leben und Wandel seiner Stellung wieder werde entlassen werden …«[24]: jeder Schritt geht jetzt über Glatteis.
Ein weiteres Mal verkehrt sich May solcherart eine verhältnismäßige Bagatelle in einen nicht geringen Schock; ein weiterer Nebel kommt dem blinden Gewölk hinzu, das sich in ihm zusammenbraut. Die erste Folge läßt nicht lange auf sich warten. Am 21.12.61 fährt er in die Weihnachtsferien nach Hause; – da wird er am 2. Feiertag ganz plötzlich im Hohensteiner Gasthof ›Drei Schwanen‹ verhaftet, wo er gerade Billard spielt. Die Anschuldigung: er habe seinem Stubengenossen in Altchemnitz eine Uhr gestohlen, eine »Anbeißpfeife« und eine »Cigarrenspitze« … Die Gegenstände werden bei ihm gefunden, doch leugnet er die Absicht des Diebstahls (und glaubwürdig ist die auf die Uhr, die angeblich mit Zustimmung des Eigners öfter schon entliehene, sich beschränkende Selbstdarstellung durchaus; gleichwohl bleibt auch diese »widerrechtliche Benutzung fremder Sachen« nach dem – später mit Grund aus dem RStGB 1871 fortgelassenen – § 330 des StGB f. d. Kgr. Sachsen (1855) auf Antrag eine strafbare Handlung, die mit »Gefängnis bis zu 6 Wochen« gerächt wird[25] –): man liefert May in Untersuchungshaft beim Gerichtsamt Chemnitz ein, das auch den Superintendenten Kohl in Kenntnis setzt. An Kohl auch schreibt am gleichen 26.12. noch Heinrich May einen Brief, aus dem hervorgeht, wie dunkel der Fall auch für die Familie war: »Wohl werden Sie von dem traurigen Vorfalle meines Sohnes … Kunde erlangt haben. Das Vorgekommene versetzt mich, sowie meine ganze Familie in den tiefsten Kummer, da wir durchaus gar nicht wißen, wie sich eigentlich die Sache verhält. Ich kann kaum glauben, daß mein Sohn die Uhr in der Absicht an sich genommen hat, einen Diebstahl begehen zu wollen. Ich glaube vielmehr, daß er es gethan hat, besagte Uhr während der Feiertags Ferien zu benutzen und sie dann stillschweigend wieder an den Ort ihrer Bestimmung hinzubringen. Sollte es sich so verhalten, wende ich mich im Vertrauen auf Ihre Güte mit der unterthänigsten Bitte an Sie, falls Sie etwas zum Schutze meines Sohnes beitragen könnten, dasselbe geneigt thun zu wollen, da ich nicht weiß, wohin, oder an wem ich mich wenden soll. Sollte die kaum begonnene Laufbahn meines Sohnes schon eine andere werden, und vielleicht eine solche, welche mit der größten Ungewißheit umgeben ist, welch ein Unüberwindlicher Schmerz würde das für uns alle werden …«[26] Denn die Folgen einer Verurteilung waren auch den Eltern aus den ›Verhaltensregeln für Schulamtscandidaten des Kgr. Sachsen‹[27] nur zu gut bekannt … Aber der Superintendent hegt keine der gewünschten Superintentionen; erst 16 Monate später erkundigt er sich einmal beim Chemnitzer Gerichtsamt nach dem Verbleib dieses Geringsten unter seinen Nächsten: »ob derselbe Strafe erhalten und seine Strafe verbüßt hat …«[28]; er liest die Antwort: »… daß der Fabriklehrer C. F. Mai zu Altchemnitz durch den in 2. Instanz bestätigten Bescheid des unterzeichneten Gerichtsamtes wegen Diebstahls zu 6 Wochen Gefängnis verurtheilt worden ist und nach Abschlagung der von ihm bzw. seinen Eltern angebrachten Gnadengesuche diese Strafe vom 8. Sept. bis 20. Oct. 1862 verbüßt hat …«[29] Der Dreivierteljahrszeitraum zwischen der Inhaftierung und der Verbüßung der Strafe scheint eigentliche Beweise nicht zutage gebracht zu haben; May wird »ungeachtet seines Läugnens für überführt erachtet«, wie es etwas später ein Zeitungs-Report weiß[30] (die Akten selber sind nicht mehr erhalten): eine Verurteilung auf Indizien hin also, – und wenn auch ein Leugnen Mays nun leider gar nichts besagen würde, so ist auf der anderen Seite die Strafbemessung, die auf den genannten Paragraphen 330 paßt, doch ein Hinweis, daß der Kgl. Sächsischen Gerechtigkeit bei ihrem Ratschluß gar so wohl nicht war: – der Fall wird immer unentschieden bleiben.
Weniger unentschieden ist die Wirkung, die er – jenseits aller Rechts- und Unrechtserwägungen – auf den Getroffenen hat: dem kommt er vor wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen! Ich stand zwar wieder auf, doch nur äußerlich; innerlich blieb ich in dumpfer Betäubung liegen; wochenlang, ja monatelang … Es herrschte jetzt in mir das strikte Gegenteil von Klarheit; es war Nacht; es gab nur wenige freie Augenblicke, in denen ich weitersah, als grad der heutige Tag mich sehen ließ. Diese Nacht war nicht ganz dunkel; sie hatte Dämmerlicht. Und sonderbar, sie erstreckte sich nur auf die Seele, nicht auf den Geist. Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank … Und die lange Apologie, die May im Alter seinem damaligen Zustand widmete, mag immer mit gehört werden, so sehr sie sich dem gepeinigten alten Mann auch in die Theorie verschob; entschuldigen müssen ihn nicht die Zwangszustände einer gestört verwirrten Seele, sondern ganz platt und massiv die förmlich verschwörerisch um ihn zusammengerotteten Realitäten … denen freilich seine stets mehr von flackerndem Affetto als intellektuell gesteuerte Person nur allzu unglückselig Vorschub leistet.
Aus der Chemnitzer Haft entlassen, geht May zu den Eltern nach Ernstthal; die nächsten anderthalb Jahre verbringt er dort mit wechselnd kümmerlichem Fristen seines unübersichtlich gewordenen Lebens. Privatstunden geben die dünne Basis; als Rezitator tritt er gelegentlich auf, als Musikant; den Gesangverein ›Lyra‹ scheint er zeitweilig geleitet zu haben (dafür entstehen eine Reihe Kompositionen, Gebrauchsmusik, flott und flach gemachte, je nachdem Vater-unser-mäßig getragen oder Immer forsch resolut[31]). Ob freilich die ersten schriftstellerischen Versuche (von Gelegenheitsreimereien abgesehen) bereits in diese Zeit fallen, bleibt unbewiesen: Humoresken schrieb ich von 1860 an[32], heißt es in einer späten Notiz, und: Meine ersten Veröffentlichungen erschienen schon im Jahre 1863 …[33] Durchaus falsch jedenfalls sind die grandiosen Gesten der Selbstbiographie: Um meine Zukunft oder um eine Anstellung war es mir nicht; die hätte ich zu jeder Zeit erhalten können … Und ich begann zu schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann ›Erzgebirgische Dorfgeschichten‹. Ich hatte nicht die geringste Not, Verleger zu finden. Gute, packende Humoresken sind äußerst selten und werden hoch bezahlt. Die meinigen gingen aus einer Zeitung in die andere … Weder noch und weder noch; wie später immer wieder, hat man auch hier May gegen seine eigenen, ungeschickt bezweckten Behauptungen in Schutz zu nehmen. Denn: am 20.6.63 verfügt das Kultusministerium auf Antrag der Kreisdirektion Zwickau, daß er aus der Kandidatenliste gestrichen wird[34]; seine Zeugnisse werden kassiert; und wenn er gar, ganz heimlich, und wider schlimmeres Wissen, vielleicht doch noch gehofft hat, aus der müßigen, wenig süßen Ernstthaler Stagnation eines Tages wieder in den alten Beruf fortzukommen, so ist es damit jetzt gründlich aus: er steht wieder am Anfang, steht – nach sechs Jahren nun vergeblicher Quälerei – vor dem Nichts.
Ein Jahr eben dauert es, bis sich die Konsequenzen einstellen.
Am 9.7.64 erscheint in Penig ein »Dr. med. Heilig, Augenarzt und früher Militair aus Rochlitz«: »Alter: 21–23 Jahre; Größe 68–69 Zoll; Statur: mittel und schwach; Gesicht: länglich, blaß; Haare: dunkelbraun; Nase und Mund: proportioniert; Stirn: hoch und frei … Brille mit Argentangestell … von freundlichem, gewandtem und einschmeichelndem Benehmen …«[35]: Portrait of the Artist as a Young Man. Derselbe läßt sich in einem Kleidermagazin ausstaffieren (nicht ohne den Doktor-med zuvor durch ein »zwar eine gute Schulbildung aber keine eigentliche medicinische Ausbildung verrathendes Augenheilrezept«[36] unter Beweis zu stellen) und verschwindet sodann, ohne zu bezahlen … Am 16.12.64 taucht er als »Seminarlehrer Lohse« in Chemnitz wieder auf, läßt sich (mittlerweile mit kurzem dünnen Backenbart versehen und in den Augen der Gendarmerie auf 26 Jahre und 72 Zoll Größe avanciert) in den Gasthof ›Zum Anker‹ diverses Pelzwerk kommen (»Wert über 100 Thlr.«), begibt sich damit ins Nebenzimmer, um es dort seinem »kranken Herrn Direktor« zu zeigen, kehrt aber nicht zurück, sondern entfernt sich vielmehr alsbald »mit dem um 3 Uhr nach Leipzig gehenden Eisenbahnzuge …«[37] In Leipzig aber spürt das Völkchen dann doch, wer sie da laufend am Pelzkragen hat: als sich am 20.3.65 der Notenstecher Hermin (gelegentlich auch »Hermes«: nach so brillanten Erfolgen nicht mehr nur einfacher Dieb, sondern gleich Gott der Diebe) am Thomaskirchhof 12 einmietet und sogleich das alte Manöver wiederholt, geht der Hauswirt zur Polizei; die Pfandleihen werden benachrichtigt; man kommt dem Fremden auf die Spur, die ins Rosental führt; – und dort wird er nach einem Handgemenge »ergriffen und nachher mittels eines Fiakers hierher transportiert«: aufs Polizeiamt Leipzig. Dort ist der Arretierte »anfänglich ganz regungslos und anscheinend leblos gewesen und hat auch, nachdem der Polizeiarzt herzugerufen wurde, nicht gesprochen und erst später angegeben, daß er Karl Friedrich May heiße, in Ernstthal heimatberechtigt und dort Lehrer gewesen sei …«[38]
Schloß Osterstein, 1865.
Ob May in den offenen Zwischenzeiten ähnlich tätig gewesen ist[39], wie es später in so rüdem Ausmaß behauptet wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden, ist aber unwahrscheinlich: verurteilt wird er ausschließlich aufgrund der 3 hier skizzierten Delikte. Am 8.6.65 ist die Verhandlung vor dem Bezirksgericht Leipzig; »allenthalben des ihm Beigemessenen geständig«[40], wird er »wegen unter erschwerenden Umständen verübten gemeinen Betrugs«[41] (an anderer Stelle: »wegen mehrfachen Betrugs«[42]) zu der Strafe verurteilt, die heute gelegentlich für Beihilfe zum Massenmord verhängt wird: 4 Jahre 1 Monat Arbeitshaus …
Eine Woche später ist das »unwürdige Glied des Lehrerstandes«[43] nur noch die »Nummer 171« unter den rund 1000 Gefangenen der Strafanstalt Schloß Osterstein in Zwickau.