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Kapitel IV Aus der Mappe eines Vielgereisten
ОглавлениеDie vier Jahre Waldheim bilden die dunkelste Zeit in Mays Leben, und nicht nur im Blick auf die dumpf verworrenen Seelenzustände, deren Quittung sie sind: schweigsamer als irgend sonst bleiben die Dokumente, und was sich in diesem vergitterten Zeitraum vollzieht, die große Wendung, der Anfang des Wortwerdens allen lange allzu schwachen Fleisches, ist zuletzt nur eigentlich im Ergebnis sichtbar. Mysteriös bleibt die Verwandlung in allen Details, und das gerade da, wo May es selber zu ihrer Erklärung an Einzelheiten nicht fehlen ließ.
Nicht halten läßt sich, neben so manchen anderen Deutungen des Feinsinns, die patente Lösung, die Straftaten selbst seien von förmlich abgespaltenen, halb bewußtseinslosen Zuständen nur ermöglicht worden und erst unter der Besinnung der Zelle durch die dicke Schicht von Lehm und Häcksel in die regulierten Bezirke von Einsicht heraufgedrungen: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, die May – im Alter verwirrter noch als je vor den ihm rüde ins Gesicht geworfenen Fakten – für sich in Anspruch nahm, ist eine Mystifikation – wie das Buch mit dem genannten Titel, das den Beichtspiegel abgegeben haben soll, – und wie am Ende wohl auch die Rolle, die spät sublimierte, des katholischen Anstaltskatecheten Johannes Kochta (1824–1886): ein weiteres Mal – wie bei der Märchengroßmutter und ihrem Buch – borgte sich May bei einem aus lauter Erinnerungslücken verdichteten Modell Anhalt und Autorität, die anders für sich herzustellen ihm mißlang. Nicht abgespalten, sondern – nach endlos langen Übungen in kahler Zellenstille – ganz heimlich und behutsam in sich isoliert werden sämtliche so verhängnisvollen Züge der gescheitert zerschundenen Person; ein gleichwohl riesiger Schub von Energie überführt sie in einen Bewußtseinsbezirk, in dem sie fortan schadlos weiterschalten können: in Bücher gebannt, von Einbänden gebändigt, vermögen sie heil zu bleiben noch im kranken, krankhaften Detail: die Heilung des Konflikts selbst entgeht der schmerzhaften, verkrüppelnden Operation. Was May hier gelingt, ist so ziemlich ohne Beispiel (und ein ›Geniestreich‹, wenn man will): nicht stutzt er zurecht, beschneidet, duckt, bekämpft, was ins bürgerliche Milieu nicht einzupassen war und auf weitere Zeit darin hätte umkommen müssen, sondern er verwandelt das Milieu selbst: er schafft seiner so bizarren Person und allen ihren heroischen, revoltierend herrischen Attitüden eine eigene, imaginäre Umwelt, in der sie ungehemmt gedeihen können: einen Traumraum, der in zähem Kleinarbeiten von jetzt an mit immer reicheren Details von höherer Wirklichkeit ausstaffiert wird. Der Vorgang dauert lange: über ein Vierteljahrhundert hin vollzieht sich Mays Entwicklung nunmehr im Gehäuse seiner Imagination. Was draußen in der rohen Realität übrigbleibt, ist nur der schattenhafte Umriß des alten vertrackten Charakters: ein ungefährliches, umweltverträgliches Wesen, das auf sehr leisen Sohlen weitergeht, bis … das wird später zu verfolgen sein. Am 2.5.1874 liegt die Zeit, welche für mich und für jeden Menschenfreund die schrecklichste, für den Psychologen aber die interessanteste ist, – wenn auch nicht buchstäblich hinter ihm, so doch auch nicht mehr eigentlich vor ihm und um ihn: Es war ausgestanden. Ich kehrte heim …
Wann die ersten Exerzitien des Einsiedlers in der gestreiften Kutte zustande kommen, die ersten Schreibensversuche, ist kaum mit Sicherheit auszumachen. Ein Manuskript ›Ange et Diable‹ lag bereits in Mittweida vor[1]; das Weihnachtsgedicht, das May später in seine Schulzeit verlegte, ist offenbar in Waldheim selbst entstanden;. von den vielgesuchten ›ersten Veröffentlichungen‹ bis dahin aber fehlt jede gewisse Spur. Mit größerer Wahrscheinlichkeit aus der Waldheimer Zeit stammt das Dokument des Repertorium C. May[2], eine Sammlung von 2 längeren Entwürfen und rund 200 Titelnotizen, von denen einige wohl damals schon ausgeführt wurden: solche Arbeiten vermutlich hatten May die Bekanntschaft mit H. G. Münchmeyer eingetragen[3], dem tranig funzelnden Leitstern der Folgejahre.
Ursprünglich Zimmergesell und Tanzmusikant auf den Dörfern, hatte der Heinrich Gotthold Münchmeyer (1836–1892) im Jahre 1862 in Dresden ein »Verlags- und Colportage-Geschäft« begonnen, mit dessen Produkten – Groschenheften und Kalendern – er rings im Land begreiflich reüssierte. 1868 kann er das Begonnene »nunmehr auch dem Gesammt-Buchhandel eröffnen«; 1874 ist die anfängliche Handdruckpresse einer kompletten »Druckerei mit Dampfbetrieb« gewichen, und aus dem Geschäft erblüht eine Sorte Volksliteratur, für deren Besitz sich heute unverändert Volk wie Verleger selig preisen würden: ein ›Venustempel‹ ist dabei, ein ›Buch der Liebe‹ – dessen III. Abteilung ›Die Liebe nach ihrer Geschichte‹, ein Traktat im Höhern Chor, von May stammt, – und ein 4bändiges ›Schwarzes Buch / Verbrecher-Gallerie‹: eine Art Kolportage-Pitaval, in dem 2 oder 3 anonyme Geschichten vielleicht Mays frühester Muse zu danken sind. Die eigentlich engere Zusammenarbeit zwischen May und Münchmeyer beginnt 10 Monate nach der Entlassung aus Waldheim: da erscheint der Verleger ganz plötzlich in Ernstthal und bietet dem nun fleißig ums Brot Schreibenden, der ihm gleich die längere Novelle ›Wanda‹ überreicht, einen Redakteursposten an: der bisherige Verweser des Wochenblatts ›Der Beobachter an der Elbe‹, Otto Freitag, hat sich mit Krach auf eigene Füße gestellt, Konkurrenz ist zu befürchten: da liegt schon so etwas wie eine wirkliche Aufgabe. Und May wird nur zu gern nach dieser Chance gegriffen haben, so grandios er später auch Bedenken und Abneigung beteuerte; auch winken 600 Taler Jahresgehalt: – da gab ich ihm den Handschlag; ich war – – – Redakteur.
Als Redakteur in Dresden
Bereits 2 Tage später, am 8.3.75, reist er nach Dresden und mietet sich am Jagdweg 7 ein, ganz in der Nähe des Münchmeyerschen ›Geschäftslocals‹, der Nr. 14. Aber nach kaum einer Woche faßt auch hier die Vergangenheit nach ihm: kurz vor der Entlassung noch hatte die Kgl. Kreisdirektion Leipzig dem zweifelhaften Gefangenen 2 Jahre Polizeiaufsicht verordnet; das veranlaßt sogleich am 12.3.75 den Gendarmeriebrigadier Frenzel, der Dresdener Kriminalpolizei anzuzeigen, daß der »bereits wegen schweren Diebstahls, Betrugs, Widersetzung und Fälschung bestrafte Gauner und frühere Schullehrer Carl Friedrich May« sich von Ernstthal nach Dresden entfernt habe; »da nun zu vermuthen steht, daß derselbe … auch seine frühere verbrecherische Laufbahn theilweise wieder betreten dürfte …, so wollte der Unterzeichnete nicht unterlassen, einem geehrten Commissariate hiervon ganz gehorsamst Notiz zugehen zu lassen«[4], – und die Notiz wird nur zu gnädig angenommen, die Vermutung zu eigen gemacht, und am 15.3. weist man May aus Dresden aus. Zwar setzt er gleich am folgenden Tag ein langes Gesuch an die hohe Kgl. Polizei-Direction auf (und die Gnadenbitte ist wahrlich anrührend zu lesen: Nach langem Irren ist mir endlich eine Stellung gebothen, welche mich von Sorgen befreit und mir Gelegenheit biethet, das Vergangene wieder gut zu machen und den Beweis zu führen, daß der Weg meines Lebens nie wieder sich einem ›dunklen Hause‹ nähern werde. Wer da weiß, wie schwer es dem entlassenen Strafgefangenen wird, sich aus dem Schmutze emporzuarbeiten, der wird begreiflich finden, daß ich mit innigster Freude und Genugthuung dem Rufe gefolgt und in die gebothene Stellung eingetreten bin. In den wenigen Tagen meines Hierseins habe ich das vollständige Vertrauen meines Chefs erlangt, und ich hegte die freudige Hoffnung, daß ich die Vergangenheit hinter mich werfen und mit unbeirrtem Eifer vorwärts streben könne … Wohl weiß ich, daß ich schwer gefehlt und gesündigt habe, und die Thätigkeit meines ganzen Lebens muß darauf gerichtet sein, Verzeihung des Geschehenen zu erlangen …[5]); doch obgleich er sich erbietet, im Fall der Erfüllung seiner Bitte in steter Dankbarkeit der Humanität zu gedenken, welche meinen Eltern die bitterste Kränkung erspart und mir das Fundament läßt, auf welchem ich mir eine bessere Zukunft errichten möchte, zieht die Polizeidirektion den Buchstaben des Gesetzes vor: am 24.3. wird May endgültig angewiesen, binnen 3 Tagen Dresden zu verlassen.
Er geht nach Ernstthal zurück, bleibt aber in Münchmeyers Diensten, und als er dann Anfang August erneut um Aufenthaltsbewilligung in Dresden nachsucht, wird sie ihm gewährt: er zieht ins Hintergebäude des Verlags. So wird der unsanfte Stoß doch relativ leicht überwunden, und die nun folgende Zeit verbringt May mit redlich fleißiger Arbeit: den ›Beobachter‹, zu dem er nach der ›Wanda‹ nur noch den ›Gitano‹, ein erstes exotisches Abenteuer unter den Carlisten, beigetragen hatte, läßt er eingehen und gründet dafür zum Anfang September gleich 2 neue Wochenschriften: ›Schacht und Hütte‹ und ›Deutsches Familienblatt‹. Und die hehren Aufgaben, die er ihnen später zuschrieb, lassen sich selbst bei nachsichtigem, milde gerührtem Betrachten der alten Folianten kaum übersehen: hausbacken und naiv sind Anlage und Inhalt – und so brav, wie man nur will: sie waren darauf berechnet, besonders die seelischen Bedürfnisse der Leser zu befriedigen und Sonnenschein in ihre Häuser und Herzen zu bringen …: das ist so richtig, wie dergleichen lakonische Plattheiten nur sein können. Die zahlreichen Traktate, die ›Schacht und Hütte‹ füllen, belegen – sieht man vom damit gegebenen Porträtbildnis der damit befriedigten Leser ab – am Ende eigentlich nur, daß May um diese Zeit den später noch häufig gepflogenen Umgang mit dem Konversationslexikon erlernte; auch die zwar mit Sorgfalt stilisierten, doch ebenso gediegen nichtigen ›Geographischen Predigten‹ lassen sich nicht besser einschätzen, – allenfalls auf deutschen Kanzeln könnten sie heute noch Ehre einlegen. Im ›Familienblatt‹ aber versucht er sich, nach der ersten Umrißzeichnung des späteren ›Winnetou‹[6], mit dem zweiten Stück aus der Mappe eines Vielgereisten, ›Old Firehand‹, zum erstenmal an der Fabel, der langsam tastend erdachten, in die er seine beschädigte Ich-Wirklichkeit verwandelt hat und hinübergerettet, planlos vorerst und noch ohne Zukunft – aber doch. Und es ist schon ein bedeutender Augenblick, dieser Oktobertag des Jahres 1875, nicht nur für May selbst, sondern für noch unabsehbare Millionen deutscher Leser: eine Mythologie wird begründet: ein ganz absonderlicher Pegasus tut die ersten Schritte: Swallow, mein wackerer Mustang, spitzte die kleinen Ohren …
In die Mitte der Münchmeyer-Zeit, den Sommer 1876, fällt auch ein weiteres, ausgemacht folgenschweres Ereignis: da lernt May bei einem seiner häufigen Aufenthalte in Ernstthal und Hohenstein im Haus seiner Schwester Christiane Wilhelmine verh. Schöne (1844–1932) jenes Wesen kennen, das in seiner Biographie der wohl kompliziertesten Sonderstudie bedürfte: Emma Lina Pollmer (1856–1917), Tochter der »unverheiratheten Weibsperson« Emma Ernestine P. (1830–1856), die zwei Wochen nach der Entbindung starb, und Enkelin des »Chierurgus und Barbiers« (auch zeitweiligen Lotterie-Kollekteurs) Christian Gotthilf P. (1807–1880), bei dem sie lebt und nicht-webt: eine verwöhnte und üppige Lokalschönheit von jetzt 19 Jahren, die beständig, bei Tag und auch Nacht, von schwärmerischen Verehrern umgeben ist. Und wo alles liebt, kann Karl allein nicht hassen; es folgt, was folgen muß; er verstrickt sich in das reizvolle Netz, das sogleich beim ersten Bekanntwerden nach ihm ausgeworfen wird. Kaum anders als komisch freilich ist die späte Bericht-Erstattung zu lesen, die alterssteif nach den ›Gründen‹ für den schlimmen Irrtum greift: Ich stand als Psycholog vor einer Sphinx, und ich nahm mir vor, das Rätsel dieser Sphinx zu lösen. Das war eine schriftstellerisch lohnende Aufgabe, die nur dann zum Fehler werden konnte, wenn ich, anstatt kühl objektiv zu bleiben, auf den Gedanken kam, mich auch subjektiv mit diesem Rätsel zu verbinden, und leider, leider blieb es nicht bei der kalten Objektivität![7] Offener liegen die wahrlich kaum rätselhaften Motive in dem inoffiziellen Bericht, den May für seinen präsumtiven Biographen hinterließ: da ist er damals dumm genug, stolz darauf zu sein, daß ich alter Kerl die jungen Anbeter alle ausgestochen hatte, und zwar so schnell und gründlich, mit einem einzigen Male! Denn sehr bald schon, als man nach Hause ging, führte ich ›Fräulein Pollmer‹ heim, brauchte das aber nie wieder zu thun, denn schon von morgen an kam sie täglich abends zu mir, anstatt ich zu ihr, sobald Pollmer schlafen gegangen war, heimlich, leise, durch meine Hinterthür, die für sie offen stand …[8]
Wieder in Dresden, hält May die Verbindung durch Briefwechsel aufrecht, und darüber geriet er, wenn auch mißtrauisch, noch im Alter in redliches Schwärmen: Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten Eindruck. Sie sprach da von meinem ›schönen, hochwichtigen Beruf‹, von meinen ›herrlichen Aufgaben‹, von meinen ›edeln Zielen und Idealen‹. Sie zitierte Stellen aus meinen ›Geographischen Predigten‹ und knüpfte Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Und je mehr er sich mit dem Gedanken vertraut macht, die Dame zu seiner Gemahlin zu erheben, in desto widerlicherer Gestalt erscheint ihm nun das Münchmeyersche Milieu. Im September 76 hat er ›Schacht und Hütte‹ wie auch das ›Familienblatt‹ eingehen lassen und es mit einer neuen Zeitschrift versucht, den ›Feierstunden am häuslichen Heerde‹, für die der Münchmeyer persönlich als Herausgeber zeichnet. Doch die Arbeit, die an Freiheit zunehmend verloren zu haben scheint, wird ihm sauer, zumal er nun immer enger mit zur Familie gehören soll: einer exemplarischen Gesellschaft, in der die Kolportage so lebensnah wie möglich praktiziert wird: – die Beschreibung, zu der May vielerlei Material hinterlassen hat, ergäbe ein durchaus reizvolles Buch. Als ihm der Fabrikant des in die Häuser und Herzen zu bringenden Sonnenscheins nun jedoch, vergangenen und künftigen Diensten zum zweifelhaften Lohn, die wenig reinliche Hand seiner Schwägerin Minna Ey offeriert, der Schwester seines eigenen Hausschatzes Pauline, kommt es Ende 1876 zur Kündigung. »Karl May und Minna Ey / die werden niemals zwei«, faselt denn auch der nachbarliche Volksmund bald sehr richtig: im März 77 verläßt May das muntere Verlagshaus, läßt den Historischen Roman aus der Jugendzeit des Hauses Hohenzollern ›Der beiden Quitzows letzte Fahrten‹ am häuslichen Heerde liegen, wie er liegt, und zieht in die Pillnitzer Straße.
Die peinlichen Auftritte können die Bindung an das Fräulein Pollmer nur beschleunigen. Zu Pfingsten (20.5. 1877) ist May wieder in Hohenstein, doch scheint es bereits vorher mit Emma zu Vereinbarungen gekommen zu sein, denn schon am 5.5. hat sie sich entschlossen, den Großvater zu verlassen, und sich nach Chemnitz abgemeldet. Aber der eitle alte Lotteriespieler hat andere Pläne: Er warf alle seine früheren und auch noch neue, größere Hoffnungen auf sie und erzog sie dementsprechend in der Weise, daß sie sich für den Engel hielt, der ja nicht zu einem gewöhnlichen, sondern nur zu einem möglichst hervorragenden Manne herniedersteigen dürfe …[9]; so mündet die Aussprache mit May in hochdramatisches Zanken; der »arme Teufel« reist ab – und Emma folgt ihm nach Dresden. Am 26.5. zieht sie dort zur Pastorswitwe Auguste Ernestine Petzold in die Mathildenstraße 18, wo sie die Künste der Haushaltsführung erlernen soll; doch es behagt ihr nicht lange, und bald ist sie »ohne Anmeldung fort« – nach Dresden-Strießen zu May, der dort ein »kleines möbliertes Parterre« gemietet hat …
Um sie zum Arbeiten anzuhalten[10], will May sie zu sich genommen haben; seine Arbeit aber ist es, die zuerst den Schaden davon hat. Denn wozu Emma auch immer veranlagt war, zur ›Schriftstellersfrau‹ war sie’s nicht, und das ist May nicht lange verborgen geblieben. Was ihm sonst noch während dieser Zeit aufging, läßt sich nur vermuten; glaubwürdig immerhin aber ist die Notiz, daß er sie dann (etwa Oktober 1877), als es den alten Pollmer doch wieder nach ihr verlangte, nach Hohenstein zurückbrachte, weil ich sie los sein wollte …[11] Aber es kommt vielmehr zur dreieckigen Versöhnung mit dem alten Chierurgus und Barbier, und als May im Januar 1878 nach Strießen zurückkehrt, hat das Verhältnis mehr oder minder freiwillig die alte Herzlichkeit.[12]
In Dresden hat er nun auch, nach dem sehr knappen freiberuflichen Zwischenspiel, eine neue Stellung gewonnen: der Verleger Bruno Radelli stellt ihn als Redakteur für sein Wochenblatt ›Frohe Stunden‹ ein, und der Jahrgang II (Oktober 1877 bis Oktober 1878) enthält nun in dichter Folge 12 Beiträge des Sechsunddreißigjährigen (7 davon unter dem Pseudonym ›Emma Pollmer‹: ein rührender Versuch, das Mädchen an der Schriftstellerei Geschmack finden zu lassen). Auch andere Blätter bringen jetzt langsam diese und jene kürzere Arbeit – Humoresken, Dorfgeschichten, Abenteuererzählungen –, und wenn auch die buntschematischen Fabeleien sich kaum für mehr als Talentproben halten lassen, so mag doch immerhin das Urteil Peter Roseggers daneben stehen: »Vor kurzem«, schreibt er am 12.7.1877 an Robert Hamerling, »erhielt ich von einem Herrn Karl May, Redakteur in Dresden, für meinen ›Heimgarten‹ eine Erzählung ›Die Rose von Kahira, ein Abenteuer aus Ägypten‹. Diese Geschichte ist so geistvoll und spannend geschrieben, daß ich mir gratuliere … Seiner ganzen Schreibweise nach halte ich den Verfasser für einen vielerfahrenen Mann, der lange Zeit im Orient gelebt haben muß …«[13] Das Inkognito des auf Gedankenreisen verbannten Ich übt seine ersten Suggestionen.
Mitten in diesem zäh und langsam beginnenden Aufstieg stößt May noch einmal mit dem Gesetz zusammen. Und das innere Schauspiel, das der Fall bietet, ist wichtiger und interessanter als der äußere Verlauf, der wenig mehr als einen Unfall erkennen läßt: Sicher geworden in den buchstabilen Regionen großer Gebärden, riskiert May es einmal, den auf Erden verbliebenen Rest seines Ich sie imitieren zu lassen; einmal versucht er eine praktische Anleihe bei der wachsend stärkeren Imagination; – daß die Dämpfung so jäh und grob auf ihn niederkommt, erklärt, warum nun um so längere Zeit in um so sorgfältigerer Behutsamkeit verstreicht. Fast 20 Jahre dauert es, bis May – dann allerdings in großem Stil – die Identifizierung mit seinem abseits restaurierten Ich ein zweites Mal unternimmt: um ein zweitesmal, in großem Stil, damit zu scheitern …
In der Nacht zum 26.1.78 stirbt der einzige Sohn des alten Pollmer, Emil Eduard (geb. 1828), unter mysteriösen Umständen im Pferdestall eines Gasthofs zu Niederwürschnitz.[14] Die Sache wird untersucht und als Unfall ad acta gelegt; doch damit ist der alte Pollmer nicht zufrieden. Auf seine Veranlassung hin begibt sich May am 25.4. an den Tatort (und ins benachbarte Neuölsnitz), um zu recherchieren, – und da kann er es, von alten Erinnerungen gepackt, nicht lassen und gibt sich bei seinen Vernehmungen ohne weitere Umstände für Gott den Allmächtigen aus (id est: – und die Definition stimmt ja genauer, als es den Anschein hat –: als »höherer, von der Regierung eingesetzter Beamter«, der noch über dem zuständigen Staatsanwalte stünde). Doch die Dorfbürger glauben ihm das Inkognito weit weniger, als man annehmen möchte; wie stets auch findet sich ein Gendarm, der unübliche Erscheinungen zur Anzeige bringt (in diesem Fall hieß er Oswald und stammte aus Ölsnitz); und am 15.5. geht an die Staatsanwaltschaft Chemnitz die pflichterfüllende Denunziation, es handle sich bei dem gedachten Höheren um den berüchtigten, vielfach vorbestraften »Socialdemokraten« Karl May. Der trägt nun am 11. und 20.6. bei der Dresdener Behörde seine Version des Falles vor, doch am 24.6. beschließt das Bezirksgericht Chemnitz, die Untersuchung »wegen Ausübung eines öffentlichen Amtes« lt. § 132 RStGB gegen ihn einzuleiten. May unternimmt nun (unter Aufgabe seiner Dresdener Stellung) allerlei Reisereien, vermutlich in der Hoffnung, der läppische Fall werde sich am besten in seiner Abwesenheit von selbst erledigen. Aber davon ist keine Rede, und als er Ende August wieder in Hohenstein eintrifft (wo er in der Pollmer-Wohnung am Markt[15] bis Ende Januar 1879 bleibt), erreicht ihn alsbald die Vorladung; sogar eine Inhaftierung wegen Fluchtverdachts wird erwogen. Es folgen zermürbende Wochen; am 9.1.1879 verhängt das zuständige Amtsgericht Stollberg in 1. Instanz 3 Wochen Gefängnis; weitere Zeit verstreicht über Einspruch und – nach Bestätigung des Urteils in 2. Instanz am 12.5. – Gnadengesuch an den König Albert; und langsam bröckelt über der gräßlichen Aufregung die anfängliche Sicherheit, ja Arroganz von May ab – bis nur noch der demütige Bittsteller übrig ist, dem man doch die Schande, in der eigenen Heimatstadt einsitzen zu müssen, ersparen möge. Aber nichts wird ihm erspart; das Urteil bleibt aufrecht, so tönern auch die Paragraphenfüße sind, auf die es sich stützt, und so durchaus fehlerhaft die langatmige Untersuchungsführung war; vom 1. bis 22.9. 1879 verbüßt Karl May im Gefängnis des Gerichtsamtes Hohenstein-Ernstthal seine letzte Strafe …
Daß er sich anschließend, schlimm mitgenommen von der Demütigung, aus der engeren Heimat entfernt, ist nur begreiflich; zuletzt auch scheint die Flucht in nun pausenlos rotierende ›freie‹ Brotarbeit ein Zurückweichen vor der Frau gewesen zu sein, in der er sein Unheil wittert – und nicht nur wittert –, ohne jedoch von ihr loszukommen. So eindeutig auch die späten Konfessionen an allzu viele praktische Zwecke geheftet waren, als daß sie mehr als ein künstliches Reißbrett-Produkt ergeben hätten, ein Dokument der Zeit bestätigt auch kühnere Vermutungen, und immer wird der sonst ganz triviale Roman ›Scepter und Hammer‹ (erschienen ab Oktober 1879 im Stuttgarter ›All-Deutschland‹) um seines IX. Kapitels[16] willen Interesse behalten: das Porträt der Emma Vollmer und ihres armen Karl geht über alle theoretische Beschreibung …
In Hohenstein scheint Emma bereits länger schon für Mays Frau gegolten zu haben; bei einer Vorladung im Stollberg-Verfahren gab er selbst sie dafür aus.[17] Und sonderbare Gewissens-Konstruktionen stellen sich ein: Als gerecht denkender Mann warf ich mir vor, sie in Dresden bei mir aufgenommen und damit, wenn auch nicht die wirkliche Ehre, so aber doch ihre Ehre vor den Menschen geschädigt zu haben. Ich war verpflichtet, das wieder gut zu machen …[18] Hinzu kommt der Tod des alten Pollmer (26.5.1880): dem vom Schlaganfall gelähmten Sterbenden verspricht er, die Enkelin nicht zu verlassen. Und was zur Ausführung des Entschlusses noch fehlt, wird dieselbe Enkelin leicht erreicht haben; Wahrscheinlichkeit genug hat die Annahme für sich, daß zum Anfang dieser Ehe der Spiritismus ebenso mitgeholfen hat, wie er dann nach 22 Jahren das Ende dirigierte. Pollmers Geist erscheint: Man sah ihn nicht, aber er sprach durch das Medium. Er sagte, er sei »im Himmelreich«. Auch sein Sohn kam, der zu Grunde gegangene Vagabund. Meine Frau nannte ihn Onkel Emil. Er sagte, er sei »im Himmelreich«. Dann kam die verstorbene Frau des alten Pollmer, die von meiner Frau nicht Großmutter, sondern Mutter genannt wurde. Sie sagte, sie sei »im Himmelreich«. Und endlich kam auch die während der Geburt gestorbene, eigentliche Mutter, die von meiner Frau aber ›Mama‹ genannt wurde. Sie sagte, sie sei »im Himmelreich«. So wohnte also die ganze liebe Familie »im Himmelreich«, und heute waren diese vier Engel von da droben herabgestiegen, um den verblendeten Mann ihres noch auf der Erde weilenden Kindes in das Gebet zu nehmen und ihm den Kopf zurecht zu setzen. Die vier Geister von Großpapa, Onkel, Mutter und Mama sprachen theils solo, theils tutti in einer Weise auf mich ein, daß ich innerlich ganz breitgeschlagen wurde …[19]
… und so nimmt ein trübes Geschick denn seinen Lauf: Im Jahre 1880, kurz nach dem Tode ihres Großvaters, habe ich dann meinem Versprechen gemäß die Emma Pollmer aus Mitleid, Gerechtigkeitsgefühl und in der Hoffnung, daß ich mit ihr glücklich werden würde, geheiratet[20]: am 17.8. vor dem Ernstthaler Standesamt, am 12.9. vor dem Altar von St. Christophori: Das Band, das Band, das man die Ehe nennt! / Verhaßt, verhaßt, mir fürchterlich verhaßt …[21]