Читать книгу Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg - Страница 6

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Kapitel 1

Mountain Pass, Kalifornien

Die kleine Jane reichte George das Lunchpaket durch die Tür. »Nicht vergessen, Daddy«, sagte sie mit strengem Blick. Auch an seinem letzten Tag. Seine Pranke, durch den dicken Handschuh noch mächtiger, umschloss ihre zarten Finger, dass sie vor Freude jauchzte. Sie ließ das Päckchen fahren, entzog sich seinem Griff und rannte kichernd ins Wohnzimmer zurück.

Er steckte den Beutel mit den belegten Broten und dem täglichen Apfel in die Brusttasche des Overalls und stieg in seinen Pick-up. Das Thermometer auf dem Armaturenbrett zeigte nur dreißig Grad an. Unter dem Gefrierpunkt, ungewöhnlich kalt für Anfang März. Das gleiche vergilbte Leichentuch bedeckte den Himmel wie schon am Vortag. Keine Spur der roten Morgensonne, die sonst die Spitzen der Berge entflammte, wenn er zur Arbeit in die Mine fuhr. Die Kälte machte ihm nichts aus. Als Baggerführer war er gewohnt, jeder Laune des Wetters zu trotzen. Dennoch hätte er liebend gern auf den kommenden Sommer verzichtet. Frühling und Herbst reichten vollkommen, andere Jahreszeiten brauchte es seiner Meinung nach nicht. Lieber fror er sich die Nase ab auf dem stählernen Steinfresser, als sich tief im Bergwerkskessel bei hundert Grad ohne Schatten kochen zu lassen.

George drehte das Radio auf. Die Stones, I’m free, einer seiner Lieblingssongs, gute alte englische Rockmusik. Der Titel fasste das Leitmotiv seines Lebens wunderbar zusammen. Frei sein, frei von der kleinbürgerlichen Enge seiner Heimat an der Südküste Englands, weit weg von seiner spießigen Familie, das war noch immer ein berauschendes Gefühl. Das milde Klima und Dorsets Strände vermisste er nicht, oder kaum. Ihm gefiel das herbe, karge Niemandsland am Rande der Mojave-Wüste. Hier hatte er erst richtig zu leben begonnen, die einzige Frau weit und breit gefunden, die gleich tickte wie er und ihm zwei süße Kinder schenkte. Übermannte ihn die Sehnsucht nach Sonne, Sand und Meer, was selten genug vorkam, war er in vier Stunden in Long Beach, Santa Monica oder Venice. Was waren dagegen schon die schmalen Sandbänke und Steilküsten der Jurassic Coast in der Alten Welt. Und überdies war der Job in dieser größten Mine für seltene Erden auf amerikanischem Boden hervorragend bezahlt. Er kannte jedenfalls keinen Baggerführer und Gelegenheitsmechaniker mit auch nur annähernd vergleichbarem Lohn, von der großzügigen Ferienregelung gar nicht zu reden. Sie konnten es sich leisten. Das Zeug, das sie hier im Tagebau aus dem Boden kratzten, war wertvoll wie Gold.

Die halbe Stunde Philosophie auf der Fahrt durch die grandiose Traumlandschaft bei guter Musik verlief wie jeden Morgen. Erst als er sich dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude näherte, sah er, dass etwas nicht stimmte. Fremde Wagen standen beim Eingang, darunter eine Ambulanz und zwei Fahrzeuge des County-Sheriffs.

»Was zum Teufel ist hier los, Jake?«, fragte er den Wachmann am Schlagbaum.

Jake zuckte mit den Achseln. »Die Nachtschicht hat etwas zu viel Strahlung abbekommen, glaube ich. Ist wohl alles halb so schlimm.«

Radioaktive Strahlung - halb so schlimm. Der alte Jake hatte keine Ahnung. George war kein Geologe, aber eines hatte man ihm eingebläut, seit er hier arbeitete: Radioaktives Thoriumoxid war der Todfeind bei der Gewinnung seltener Erden. Erzvorkommen mit Neodym und Dysprosium gab es viele auf der ganzen Welt. Bei den meisten lohnte sich jedoch ein Abbau nicht, weil sie die Elemente in zu geringer Konzentration enthielten, oder weil die Vorkommen mit gefährlichem Thorium verunreinigt waren. Wenn dieses Teufelszeug hier zum Vorschein kam, konnte das ohne Weiteres das Ende der Mine bedeuten. Goodbye Top-Job und glühende Berge.

»Scheiße«, brummte er, kurbelte das Fenster hoch und fuhr zum Abstellplatz Nummer 25. Sobald er das Haus betrat, war es endgültig vorbei mit der täglichen Routine. Umkleideraum und Kantine schienen aus allen Nähten zu platzen. Männer mit ratlosen Gesichtern standen sich auf den Füssen. Trotzdem hörte man kaum einen Ton. Zentnerschwer lastete die Ungewissheit auf den Arbeitern. Eine trübselige Stimmung wie an einem offenen Grab. Was sollten die Leute auch reden? Sie alle hingen auf Gedeih und Verderb von dieser Mine ab. Sie konnten nur warten und auf gute Nachrichten des Spürtrupps hoffen.

»Die Ambulanz?«, fragte George leise, nachdem er sich zu seinem Kumpel Ted von der Nachtschicht vorgearbeitet hatte.

»Falscher Alarm. Sie haben Spuren an der Kleidung gemessen. Keine nennenswerte Dosis.«

Damit war das Thema für Ted erledigt, aber George bohrte weiter: »Thorium?«

Sein Kumpel nickte stumm. Er warf ihm einen Blick zu, in dem die Angst deutlich zu erkennen war. Nicht die Angst um seine Gesundheit, die viel schlimmere Angst um seine Zukunft.

Der Betrieb stand still, bis auf die Arbeit der zehn Spezialisten, die das gigantische, fünfhundert Fuss tiefe Loch gründlich und mit dem Tempo einer altersschwachen Schnecke untersuchten. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Funkspruch aus dem Walkie-Talkie des Vorarbeiters die Männer elektrisierte:

»Quadrant eins sauber.«

Kollektives Gemurmel war die Antwort. Die Spannung hielt an. Quadrant eins war keine aktive Zone. Der Abbau konzentrierte sich auf die gegenüberliegende Seite des Kraters. Die Quadranten drei oder vier mussten in Ordnung sein, damit die Arbeit weitergehen konnte. Wieder dauerte es eine geschlagene Stunde, bis sich die metallische Stimme im Lautsprecher meldete. Diesmal klang sie äußerst ungehalten:

»Was haben die Kerle im Drei zu suchen, Ben? Ich sagte doch keiner geht rein, bis wir durch sind. Die sollen sofort verschwinden, verdammt noch mal.«

»Welche Kerle? Unsere Leute sind hier. Wir haben niemanden im Pit.«

Im Funkgerät knackte und rauschte es eine Weile, dann sagte der Sprecher: »Sie haben’s begriffen. Sie ziehen ab. Du zählst mal besser nach, Ben.«

Das Gerät schwieg. Der Vorarbeiter und seine Männer starrten sich verblüfft an. Schließlich zuckte Ben die Achseln und brummte: »Die sollen lieber einen Zahn zulegen.«

Die Männer der Nachtschicht verließen das Gebäude, um sich endlich zu Hause schlafen zu legen. Sie taten gut daran, denn erst am Mittag kam endlich die erlösende Meldung. Der Abbau konnte im Sektor drei wieder aufgenommen werden. Eingeschränkt und mit behelfsmäßigen Zufahrtswegen, aber immerhin. Mysteriöse Thoriumspuren fand man nur im Quadrant vier, wo sich die Arbeiter kontaminiert hatten. George spürte eine Erleichterung, wie nach der Geburt seiner kleinen Jane. Den übrigen Männern der Schicht erging es wohl nicht anders. Geradezu aufgekratzt setzten sie die Schutzhelme auf, bestiegen laut schwatzend und lachend die Transportvehikel und fuhren zu ihren schweren Geräten in den Pit.

George störte sich nicht daran, dass er seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte. Er saß auf seinem Steinfresser, und das war jetzt alles, was zählte. Notfalls hätte er auch ohne Pause bis zum Abend durchgearbeitet. Janes Lunchpaket musste sich noch ein wenig gedulden. Während er wartete, bis sich der Laster für die nächste Ladung positionierte, schweifte sein Blick hinüber zum Sektor zwei. Dort schien sich das gesamte Management der Mine zu versammeln. Selbst von Weitem bemerkte er ihre Nervosität. Der Tanz der Weißhemden mit ihren Schlipsen um die kleine Gruppe der Geologen amüsierte ihn.

»Hoffentlich haben sie den Buchhalter nicht vergessen«, grinste er und fuhr den unteren Ausleger aus.

In diesem Augenblick erschütterte die erste Explosion den Krater. Er fuhr zusammen, als hätte der Blitz in seinen Bagger eingeschlagen. Sprengungen waren beinahe alltäglich in der Mine, aber erstens hörte sich dieser Knall ganz anders an und zweitens … Verstört hob er den Kopf, schaute zum Kraterrand empor, wo sich die Explosion ereignet hatte. Die Baggerschaufel schwebte ungeleert über der Ladefläche, während er mit offenem Mund und aufgerissenen Augen zuschaute, wie Verwaltungsgebäude und Aufbereitungsanlagen in Flammen aufgingen.

»Heiliger Strohsack«, keuchte er. Mit zitternder Hand betätigte er den Hebel zum Leeren der Schaufel, fuhr den Ausleger in die Sicherheitsposition und schaltete den Motor ab. Er konnte die Augen nicht vom höllischen Höhenfeuer abwenden. Er stieg aus, stolperte und fiel der Länge nach hin. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich sein gewohnter Arbeitsplatz in die unbegreifliche Kulisse eines surrealen Theaters verwandelt. Am meisten wunderte er sich über die Stille, während er sich aufraffte. Kein Alarm ging los, keine hektischen Rufe, kein lautes Geschrei. Die Zentrale seiner Mine verbrannte vor den Augen der Belegschaft, als hätten sie sich hier in stiller Andacht zu einer abartigen Opferzeremonie versammelt.

Die Ruhe währte nicht lange. Die zweite Explosion klang dumpfer. Der Boden zitterte unter Georges Füßen. Das Echo des Knalls war noch nicht verhallt, als es zu rumpeln begann, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Er drehte sich um und sah gerade noch, wie eine Lawine aus tonnenschweren Felsbrocken und Geröll auf die Leute im Sektor zwei herunter donnerte. Im nächsten Augenblick war nichts mehr von den Weißhemden, den Geologen und ihren Fahrzeugen zu sehen. Sein Atem stockte. Das schreckliche Bild verschwamm vor seinen Augen. Übelkeit stieg in ihm auf. Er musste sich am Rahmen des Baggers festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Ein Albtraum«, lallte er albern. Aber das hier war kein böser Traum, aus dem man einfach erwachte. Das ist ein verdammter Krieg, schoss ihm durch den Kopf. Dann erzitterte der Krater unter der dritten Explosion. Welchen Sektor hat es jetzt erwischt?, war sein nächster Gedanke. Es war der letzte. Die scharfe Kante des Felsblocks trennte seinen Kopf vom Rumpf wie das Beil eines Scharfrichters. Für einen letzten Gruß an die kleine Jane blieb keine Zeit mehr.

Der künstliche Felssturz begrub auch die Mineure und ihr Gerät im Sektor vier. Die Wucht der Explosionen war so heftig, schleuderte derart ungeheure Gesteinsmassen in den Pit, dass die Bergungsmannschaften später den Krater kaum wieder erkannten. Ohne die verkohlten Ruinen der Gebäude am Kraterrand würde niemand glauben, dass man hier vor Kurzem noch Erz abgebaut hatte.

Severn Bore Inn, Gloucestershire, UK

Zwei Dinge standen an diesem eisigen Tag für Ryan fest. Zumindest glaubte er unerschütterlich daran. Punkt eins: er würde diese Monsterwelle reiten, und wäre er der Einzige. Punkt 2: heute war sein Tag. Endlich würde er Jessie ins Bett kriegen. Seit er vor zwei Jahren mit dem Studium der Mathematik in Bristol begonnen hatte, sahen sie sich nur noch an den Wochenenden. Statt zu erkalten, entwickelte sich die Beziehung zu seinem Jugendschwarm durch die Distanz erst recht zu einer tiefen Zuneigung. Einfache Gemüter mochten es Liebe nennen, aber Ryan verabscheute solche ungenauen Allerweltsausdrücke. Überdies verband man mit dem abscheulichen Wort automatisch eine gewisse Symmetrie, für die es in seinem Fall keine stichhaltigen Beweise gab. Andererseits war Jessie kaum je abgeneigt, ihre Freizeit mit ihm zu verbringen. Nach seinem Sprachverständnis konnte man ihr Verhältnis also mit Fug und Recht als gegenseitige Zuneigung bezeichnen. Der einzige Schönheitsfehler an diesem Schluss war, dass meist, oder eigentlich immer bisher, auch ein paar weitere Boys und Girls aus der Weymouth-Clique dabei waren. Man hatte es nicht leicht als Mathematiker.

Draußen vor dem Pub begann es zu regnen. Der steife Wind trieb die schweren Tropfen in die Fenster, sodass es bald aussah, als steckte der ganze Severn Bore Inn zwischen den Wasserdüsen einer Autowaschanlage fest. Die schwarzen Fetzen am Himmel deuteten nicht auf rasche Besserung, aber das durfte ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten. Er pflegte seine Versprechen zu halten, auch wenn sie, wie in diesem Fall, unter zweifelhaften Umständen zustande kamen. Egal, ob er damals besoffen gewesen war oder nicht, er war es auch seinem Ruf als Surfer, der den Teufel nicht fürchtete, schuldig. Und die Welle würde pünktlich um 11:47 Uhr hier eintreffen. Das war mathematisch einwandfrei zu beweisen, sofern Erde und Mond ihre Bahn nicht plötzlich änderten. Der ungeheure Tidenhub von fünfzehn Metern an der Mündung des Severn in den Bristolkanal war der Motor, der auch diese Gezeitenwelle zuverlässig zur angegebenen Zeit den Fluss hinauf und am Pub vorbei treiben würde. Die Trichtermündung hatte genau die richtige Form, um die ideale Surfwelle zu formen. Und an diesem saukalten Morgen, an dem man keinen Hund vor die Tür schickte, war die höchste Welle der Saison angesagt. Also musste er da rein, koste es was es wolle.

Er wartete bis zum letzten Augenblick, um die Spannung zu erhalten und die Wetten in die Höhe zu treiben. Schlag halb zwölf begann er unter dem Gejohle seiner Freunde und den kritischen Blicken der Frauen, sich mitten im Pub bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Dann schlüpfte er in den Neoprenanzug, nahm sein Surfbrett unter den Arm und stapfte ohne ein weiteres Wort entschlossen in den Regen hinaus. Die Freunde bemerkten sein hämisches Grinsen nicht. Wenn sie etwas sehen wollten, mussten auch sie in diese Waschküche hinaus, und sie trugen keinen schützenden Anzug. Während er zum Fluss hinunter stieg, hielt er nach andern Wagemutigen Ausschau, doch er konnte niemanden entdecken. Keine Spur der Sonntagssurfer auf ihren schwimmenden Sofas, die sonst hier manchmal ihr Glück versuchten. Die perfekte Bühne, um seiner Flamme zu imponieren. Er wusste, dass er sich albern benahm, denn das Unternehmen war unter diesen Bedingungen nicht ganz ungefährlich. Dennoch freute er sich auf den besonderen Kick des Naturschauspiels. Er wähle einen gut sichtbaren Einstieg unterhalb des Pubs, watete in den Fluss, soweit es die Strömung zuließ und wartete.

Das Rauschen hinter der Flussbiegung kündete die Welle an, bevor er sie sah. Dann tauchte die zwei Meter hohe Wasserwand so plötzlich hinter ihm auf, als stürzte sich der erzürnte Fluss vor Wut schäumend und brüllend auf den verwegenen Surfer. Er fand kaum Zeit, das Brett auszurichten und aufzuspringen, da riss ihn das Monstrum schon mit Urgewalt mit sich den Fluss hinauf. Nicht die Höhe der Welle war heikel bei diesem Unterfangen. Die Geschwindigkeit, mit der sie über die heimtückischen Untiefen sauste, konnte ein Problem werden. Aber Ryan war ein geübter Surfer. Er fand das Gleichgewicht schnell, und im Handumdrehen ritt er mit sicherem Stand hart am Wellenkamm an seinen Freunden vorbei. Er war in seinem Element, vergaß die Kälte, die seine Finger steif werden ließ und selbst durch die Poren des Neoprens herein kroch, nahm sich sogar Zeit für einen richtig coolen Handkuss ans Ufer, als wäre sein Kunststück nichts weiter als ein Sonntagsspaziergang. Er steuerte auf der Welle in die Mitte des Flusses, dann langsam wieder zurück in die Nähe des Ufers, wo seine Freunde ihm nachrannten. Er wagte einen Blick zurück, freute sich über ihre vergeblichen Versuche, ihm im strömenden Regen zu folgen. Die Welle war um einiges schneller.

Einen Augenblick zu spät schaute er wieder nach vorn. Er sah den dicken Ast auf sich zutreiben, aber es blieb keine Zeit, um auszuweichen. Sein Board prallte auf das schwere Hindernis, hob sich vorn, dann glitt es unter seinen Füssen nach hinten. Er verlor das Gleichgewicht und tauchte mit einem unterdrückten Fluch auf der Rückseite der Welle ab, knapp am verhängnisvollen Ast vorbei. Der Sturz ereignete sich glücklicherweise nahe beim Ufer. So brauchte er sich nur kurz treiben zu lassen, bis er an einer flachen Stelle auf einer Grasnarbe liegenblieb. Er hörte die aufgeregten Rufe der Freunde. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jessie allen voran mit wehendem Kopftuch herbei rannte. Ein guter Grund mehr, einfach liegen zu bleiben.

»Ryan? Mein Gott, sag etwas!«, rief sie von weitem.

Er rührte sich nicht, schloss die Augen.

Sie kniete sich schwer atmend neben ihn, tippte ihm behutsam auf die Schulter und sagte ängstlich: »Ryan, was ist los? Rede mit mir.

Ein paar Atemzüge regte er sich nicht. Erst als die andern auch um ihn herum standen, schlug er bedächtig die Augen auf, schaute Jessie mit seligem Lächeln an und flüsterte: »Bin ich im Himmel?«

Sie sprang auf wie von der Tarantel gestochen. »Idiot«, rief sie und wandte sich schmollend ab.

»Die Landung ist eben immer das Schwierigste«, meinte einer der Umstehenden, während er ihm auf die Beine half. Der schwierige Fred war bekannt für seine zweideutigen Bemerkungen. Statt zu antworten suchte Ryan sein Surfbrett. Es hatte sich im Uferdickicht ein Stück weiter unten verfangen, dort wo Jessie unter einer Weide auf sie wartete. Er fischte das Board aus dem Wasser, dann setzte er seine Büßermiene auf und trat auf sie zu.

»Tut mir leid, Jessie. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

Sie zuckte die Achseln und sagte nichts, aber immerhin sah sie ihm trotzig ins Gesicht. Dieser Blick genügte, um die Neuronen in seinem Gehirn so durchzuschütteln, dass er sich dazu hinreißen ließ, sie zu fragen: »Du hast dir also echt Sorgen um mich gemacht?« Dazu grinste er albern.

Die Reaktion kam prompt und unerwartet. Sie verpasste ihm eine saftige Ohrfeige. Und wieder der trotzige Blick. Ryan dankte dem Himmel, dass in diesem Moment ihr Telefon klingelte. Dadurch erübrigte sich seine mühsame Suche nach einer passenden Antwort. Sie klaubte das Handy aus der Jackentasche und blieb mit dem Telefon am Ohr unter dem Baum stehen. Ryan folgte seinen frierenden Freunden ins Gasthaus zurück.

Er hatte sich umgezogen, steckte als Einziger in trockenen Kleidern und wärmte sich am heißen Kaffee. Mit halbem Ohr hörte er Fred zu, der den Husarenritt lautstark kommentierte, als wäre er seine eigene Heldentat. Ausgerechnet Fred, den kein Mensch je im Wasser gesehen hatte. Wo blieb Jessie? Es schien niemandem aufzufallen, dass sie schon ungebührlich lange in der Kälte draußen telefonierte.

»Ich seh mal nach«, sagte er plötzlich, ohne dass es jemand hörte. Er stand auf und ging zur Tür. Kaum hatte er sie aufgestoßen, stürzte sie auf ihn zu, schlüpfte in den Flur hinein und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Ich – wollte nachsehen, wo du steckst«, stammelte er. Als er ihr kreideweißes Gesicht sah, erschrak er. »Was hast du? Was ist passiert?«

»Ma hat angerufen. Ihr Bruder – Onkel George in Kalifornien.« Sie stockte, schaute ihn ratlos an, dann sagte sie mit belegter Stimme: »Onkel George ist gestorben. Ein Unglück im Bergwerk – eine Explosion. Ma ist völlig durcheinander. Ich muss nach Weymouth zurück.«

»Ich fahr dich«, antwortete er sofort. Nicht nur ihre Mutter war durcheinander, dachte er. George war tot. George, der Rebell, den er als Junge ab und zu gesehen, aber nicht wirklich gekannt hatte. Sie verabschiedeten sich kurz von der zunehmend fröhlicheren Runde und gingen zum Wagen.

»Lieb von dir«, sagte sie, nachdem sie eine Weile dem einschläfernden Quietschen des Scheibenwischers zugehört hatten.

»Nicht der Rede wert.« Es bereitete ihm keine Mühe, an seiner Wohnung in Bristol vorbeizufahren. Im Gegenteil, die zwei zusätzlichen Stunden hinunter an die Küste waren viel zu kurz. Am liebsten wäre er den ganzen Tag mit ihr durch den Regen gegondelt. »Dieser George, kanntest du ihn gut?«, fragte er, um von den tragischen Umständen seines Todes abzulenken.

»Geht so. Er war viel unterwegs, und niemand wusste so recht, was er trieb, bis er auswanderte. Das schwarze Schaf der Familie.«

»Verstehe. Nicht gerade der Sohn, den sich ein Vater wünscht, oder so ähnlich.«

Sie schmunzelte. »Ja, davon kannst du ja auch ein Lied singen, glaube ich. Aber Ma stand ihrem jüngeren Bruder sehr nahe. Sie war wohl eine Art zweite Mutter für ihn. Hat ihn trotzdem nicht lange in Weymouth gehalten.«

»Im Gegensatz zu dir«, lachte er. »Ich fürchte, du schlägst dort Wurzeln.«

»Was dagegen?«, gab sie gereizt zurück.

»Nein, natürlich nicht. Es ist eine schöne Gegend, nur fehlt die passende Uni.«

»Die braucht zum Glück nicht jeder.«

Er warf ihr einen betroffenen Blick zu. »He, tut mir leid, ich wollte …«

»Schon gut. Ich muss mich entschuldigen. Die Nachricht hat mich wohl doch etwas aus der Bahn geworfen. Schade um deine schöne Vorstellung. Die war wirklich Spitze.«

Er grinste zufrieden. »Hätte besser sein können, aber wenn du es sagst.« Sie hatte ihn unaufgefordert gelobt, und ihrem Gesicht nach zu urteilen, meinte sie es ehrlich. Was wollte er mehr? Ach ja, fast hätte er es vergessen: Punkt zwei. Den würde er heute wohl nicht mehr abhaken.

Macao, Volksrepublik China

Der Airbus der ›Air Macau‹ mit dem eidottergelben Rumpf setzte zur Landung an. Danny Chen saß zusammengesunken in seinem unbequemen Sessel dösend am Fenster. Der Anflug auf die scheinbar im Meer schwimmende Piste vor der Insel Taipa mit der Skyline der glitzernden Kasinowelt am Horizont beeindruckte ihn nicht mehr. Der kurze Flug von Taipeh nach Macao war für ihn längst zur Routine geworden. Mindestens jeden Monat, manchmal jedes Wochenende, saß er in einem solchen Flugzeug und kannte nur ein Ziel: so schnell wie möglich ins ›New Century‹ im Norden der Insel. Das alte Taipa-Village, die schöne Architektur der früheren Kolonialherren, die belebten Gassen und schattigen Plätze, die sich ebenso gut in der Altstadt von Faro hätten befinden können, all das reizte ihn nicht im geringsten. Ihn zogen nur die Spielhöllen des chinesischen Las Vegas an. Danny war spielsüchtig. Er wusste es, und er hatte vor langer Zeit aufgegeben, sich darüber aufzuregen. Schließlich litt niemand darunter, höchstens er selbst von Zeit zu Zeit. Als gut verdienender Elektronik-Ingenieur und leidenschaftlicher Single konnte er sein Geld zum Fenster hinauswerfen, wann und wo er wollte. Macao war nur einen Katzensprung von Taiwan entfernt, wo er lebte und arbeitete. Er machte am Freitag etwas früher Schluss im Büro und stand kurz nach sechs schon in der Lobby des ›Century‹. Taipeh und Macao lagen in der gleichen Zeitzone, es herrschte sogar meistens die gleiche Temperatur, die gleiche Luftfeuchtigkeit, das gleiche langweilige Wetter. Und die Leute verstanden seinen taiwanischen Dialekt ohne Probleme. Er brauchte sich in keiner Weise umzustellen, aber selbst wenn man ihn am Flughafen bis auf die Unterhosen gefilzt hätte, er wäre nicht weniger häufig hier aufgetaucht. Die Anziehungskraft der Roulette- und Baccara-Tische war einfach zu groß.

Das Hotel erinnerte ihn jedes Mal lebhaft ans ›Bellagio‹ in Las Vegas – das Einzige, was ihn am ›New Century‹ störte. Sonst war es ein Kasinokomplex wie jeder andere, mit dem Vorteil der Flughafennähe und des kostenlosen Frühstücksbüfetts. Auf die Erinnerung an die fünf Jahre in den Vereinigten Staaten hätte er liebend gerne verzichtet. Kalifornien war seither nichts anderes als das Symbol seiner zerstörten Träume. Er bezog sein Zimmer und bahnte sich wenig später den Weg durch das Volk zu den Spieltischen. Die meisten Besucher waren Festlandchinesen, darunter erstaunlich viele Frauen. Neureiche Geschäftsfrauen, wie er unschwer am kostbaren Goldschmuck erkannte, die hier an einem Abend soviel verzockten, wie er im ganzen Leben nicht. Anfangs konnte er sich nicht erklären, wie die Leute soviel Geld über die Grenze in die Sonderwirtschaftszone schleppten, bis ihm einer der Croupiers das Geheimnis verriet. ›Junket Operator‹ hieß das Zauberwort. Vergnügungsspezialisten, VIP-Betreuer, die für die Kasinos arbeiteten, in Wirklichkeit nichts anderes waren als Kredithaie. Sie versorgten die betuchten Festlandchinesen gegen fette Provision mit Tonnen von Spielchips auf Kredit und kassierten die Schulden über ihre Hintermänner jenseits der Grenze wieder ein. Ein Milliardengeschäft, an dem Danny bis anhin noch nicht beteiligt war. Ihn hatte noch niemand als VIP entdeckt. War wohl auch besser so.

Er beachtete die Mädchen mit den Drinks nicht, wie die meisten Spieler, und setzte sich an einen Tisch. ›Punto Banco‹ spielte er normalerweise, ein reines Glücksspiel, dessen Verlauf nur von den zufällig gezogenen Karten abhing. Er setzte 500 Pataca auf die Bank und zwang sich zur Ruhe.

»Sechs für den Spieler, drei für die Bank«, verkündete der Croupier, nachdem die ersten Karten ausgeteilt waren und offen auf dem Tisch lagen. Konzentriert und beinahe geräuschlos machten die Spieler ihre Züge, wie die Regeln vorschrieben. Die Atmosphäre an den Tischen erinnerte ihn manchmal an die angespannte Ruhe in einem Prüfungszimmer. Ebenso diszipliniert wie sie die Spielregeln befolgten, steckten die Zocker ihre Verluste weg. Das Glück war eben anderweitig beschäftigt. Nach ein, zwei Spielen nahm er selbst die Umgebung kaum mehr wahr. Einzig der Croupier mit seinem Kartenschlitten und der Holzpalette war wichtig. Und natürlich die Karten. Er interessierte sich nicht für die Gesichter um ihn herum. Es waren ohnehin immer dieselben, wie ihm schien.

Um Mitternacht hatten sich seine Chips nahezu verdoppelt – ein ganz neues Gefühl für ihn. Ein Rausch, als hätte er all die Drinks in sich hineingeschüttet, die an ihm vorbeigezogen waren. Keine Spur vom Kater, der sich sonst um diese Zeit bemerkbar machte. Heute bezwang er die Spielbank. Er war stark wie ein Drache. Aufhören kam nicht infrage. Samstag war der übliche Tag fürs Roulette, aber warum sollte er warten? Schließlich war es seit zehn Minuten Samstag. Er näherte sich den langen, grünen Tischen, als ihn eine samtweiche Stimme in seinem Rücken ansprach:

»Sie haben großes Glück heute Abend, Dr. Chen.«

Verblüfft drehte er sich um. Die Stimme gehörte einer zierlichen jungen Frau, die ihn freudig und auffordernd anlächelte, als wären sie alte Bekannte. Ihr schlanker, betont sportlicher Körper steckte in einem hoch geschlitzten blutroten Seiden-Cheongsam mit aufgestickten goldenen Drachenmotiven. Das Kleid allein sah teurer aus als der ansehnliche Berg Chips den er in seiner Tasche trug. Ihr rabenschwarz glänzendes Haar hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr bis fast zum Po hinunter reichte. Die Erscheinung verunsicherte ihn zutiefst. Er konnte sie nicht einordnen. Sie passte in keine seiner bekannten Kategorien. Garderobe und Goldschmuck deuteten auf eine der Neureichen, für die er nicht sonderlich viel übrig hatte. Der schlanke Körper aber entpuppte sich auf den zweiten Blick als raffiniert verhülltes Muskelpaket einer Spitzenturnerin. Vollends verwirrte ihn das Gesicht der Frau. Sanfte, sinnliche Lippen, tadellos geschminkt in der Farbe des Kleides, strahlend weiße Zähne, die nicht die kleinste Unregelmäßigkeit zeigten, aber nachtschwarze, undurchdringliche Augen, die ihn auf der Stelle festnagelten und beinahe in die Knie zwangen, als hätte sie ihn im Würgegriff. Er schnappte nach Luft, bevor er mit heiserer Stimme fragte:

»Entschuldigung, kennen wir uns?«

Sie lachte. Es war ein warmes, melodiöses Lachen, das gar nicht zu ihrem hypnotischen Blick passte. »Jetzt schon«, antwortete sie. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so überfalle. Mein Name ist Mei Tan.« Sie senkte ihre Stimme, dass die Umstehenden nicht zuhören konnten. »Herr Stanley Wu möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.«

Der Name elektrisierte ihn. Jeder Spieler kannte ihn. Er war beinahe so berühmt, oder besser berüchtigt, wie der Name des unbestrittenen Königs von Macao, Stanley Ho, dessen silbergrauen Rolls-Royce mit dem Kennzeichen ›HK 1‹ man früher oft in der Stadt gesehen hatte. Auch Wu sagte man unermesslichen Reichtum nach. Wenn Stanley Wu einen zu sprechen wünschte, lehnte man nicht ab. So einfach war das. Beinahe hätte er den Namen vor Überraschung laut ausgerufen. Im letzten Moment hielt er sich zurück, zwang sich innerlich zur Ruhe. Man redete nicht laut über Stanley Wu. Aber konnte er dieser Unbekannten trauen? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Einige Augenblicke versuchte er vergeblich, sich zu konzentrieren. Sie wusste seinen Namen. Hatte Stanley Wu ihn beobachten lassen, sich über den einfachen Elektronik-Ingenieur aus Taiwan erkundigt?

»Warum – was will Herr Wu von mir?«, stammelte er verlegen.

Ihr Mund lächelte. Die Augen hörten nicht auf, ihn zu hypnotisieren. »Folgen Sie mir bitte, Dr. Chen.«

Wie ein braves Schosshündchen trippelte er hinter ihr zum Ausgang. Er dachte nicht mehr an die Chips in seinem Jackett. Auch die appetitlichen Beine in den hochhackigen Stöckelschuhen vor ihm beschäftigten ihn nicht. Seine Gedanken waren bei Stanley Wu und seiner wundersamen Geldmaschine. Er konnte noch immer nicht fassen, dass ihn diese lebende Legende zur Audienz lud, als er bereits hinter dunklen Scheiben im Fond der Limousine saß. Die geheimnisvolle Chinesin neben ihm brauchte kein Wort mit dem Fahrer zu wechseln. Es war offensichtlich klar, wohin die Reise ging. Sie schwiegen auf der kurzen Fahrt. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber die Umstände der unerwarteten Begegnung schüchterten ihn ein. Hundert Fragen stauten sich in seinem Kopf, aber er wagte nicht, die seltsam vornehme Ruhe zu stören. Einmal, kurz bevor der Wagen anhielt, blitzte draußen der leuchtende, wässrig blaue Opal des ›Altira‹ auf. Er hatte das Luxushotel nur einmal zur Entspannung nach einem verlustreichen Tag betreten. Von der Lounge auf dem Dach hatte man den spektakulärsten Blick auf die Halbinsel Macao. Und der Nachtwind im 38. Stock eignete sich vorzüglich, den Kopf durchzulüften.

»Willkommen im Altira«, grüßte der Page, der ihnen die Tür aufhielt.

Mei Tan ging achtlos an ihm vorbei zu den Aufzügen. Danny erwartete, dass die Besprechung in einer der Villen in den obersten Stockwerken stattfinden würde. Dort, wo normal Sterbliche keinen Zutritt hatten, es sei denn, sie wischten den Dreck der Reichen weg. Er war fast ein wenig enttäuscht, als sie nach einer Odyssee durch die parfümierten Kühlschlangen der Hotelkorridore eine unscheinbare Tür ohne jedes Kennzeichen öffnete. Sie betraten einen geräumigen Saal. Elegante Lüster an der Stuckdecke tauchten den Raum in weiches, weißes Licht. Den Wänden entlang standen mächtige vergoldete Marmorsäulen, als müssten sie die schwere Deckenkonstruktion tragen. Mäander aus exotischen Hölzern bildeten das exklusive Parkett. Kitschiger Pomp zwar, aber alles aus erlesenem Material und mit Sicherheit schweineteuer. Sein Puls schlug unwillkürlich schneller, als er die vier schweren Tische erblickte. Sie waren mit grünem Filz bespannt – Spieltische. Nur an einem saßen drei Männer in schwarzen Lederpolstern. Sie kehrten ihm den Rücken, schienen sich nicht um die Eindringlinge zu kümmern.

Mei machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Tisches und sagte: »Herr Wu erwartet Sie.« Dann zog sie sich mit einer angedeuteten Verbeugung zurück und stellte sich als stumme Wächterin neben die Tür.

Der kleine grauhaarige Mann in der Mitte erhob sich. Er drehte sich um und winkte Danny wie einen alten Bekannten herbei. »Setzen Sie sich, Dr. Chen«, forderte er ihn lächelnd auf. »Leisten Sie uns Gesellschaft bei einem Spielchen.«

Stanley Wu sah zwar älter aus als auf den Fotos in den Zeitungen, aber sein rundes, glänzendes Gesicht, das leuchtete wie der Vollmond, war nicht zu verkennen. Ein Kartenspiel mit Stanley Wu war etwa das Allerletzte, was er erwartet hatte. Erst jetzt erinnerte er sich, dass praktisch seine ganze Barschaft aus nutzlosen New-Century-Chips bestand. Zum ersten Mal seit ihn die Schlange hypnotisiert hatte, machte er den Mund auf:

»Herr Wu – ich – bin geehrt – ich fürchte …« Mit jedem Wort stotterte er mehr, sodass er verlegen die Lippen zusammenpresste und mit gequältem Lächeln Wus ausgestreckte Hand ergriff.

»Machen Sie sich keine Sorgen um den Einsatz. Wir spielen hier nur zum Vergnügen«, sagte Wu freundlich und forderte ihn auf, sich zu setzen. Die anderen beiden Herren nickten dem Neuen höflich zu und schwiegen weiter. Wu warf ihm einen fragenden Blick zu. »Hundert, ist das in Ordnung?«

»Hundert – ja – klar«, stammelte Danny. Hundert Pataca waren selbst für ihn ein lächerlich geringer Einsatz.

Aus dem Nichts tauchte eine Croupière in schwarzem Frack auf. Wu nickte ihr zu mit der Bemerkung: »Dr. Chen setzt 100’000.«

Danny verschluckte sich, hustete. Mühsam unterdrückte er einen Schreckensruf. Er fürchtete, sein Kopf würde explodieren. Um 100’000 hatte er in seinem Leben noch nicht gespielt. Wenn er dieses Spiel in den Sand setzte, war er nicht nur seinen schönen Gewinn los, sondern konnte gleich noch 50’000 Schulden anschreiben lassen. Er wollte sich nicht ausmalen, was das bedeutete. Es dauerte eine Weile, bis er wieder ruhig atmete. Kreidebleich nahm er die Karten entgegen. Wieder spielte er auf Bank. Die andern drei wetteten wie auf ein geheimes Kommando gegen die Bank. Die Runde war schnell zu Ende. Bank: er gewann den ganzen Einsatz, war um 300’000 Pataca reicher als zwei Minuten zuvor. Bargeld. Hier spielte man nicht mit Chips. Wus großzügigen Kredit brauchte er nicht in Anspruch zu nehmen.

»Gratuliere, Dr. Chen. Das Glück bleibt Ihnen heute treu, wie es scheint«, lachte Wu. Er gönnte ihm die bescheidene Freude von Herzen.

Danny fühlte sich, als tauchte er nach eiskalter Dusche in ein warmes Sprudelbad. Die Glückssträhne hielt an. Dank dem unverschämten Einsatz hatte er in einem Spiel mehr gewonnen als je zuvor. Mit 300’000 Pataca konnte man schon eine ganze Menge verrückter Dinge anstellen, aber seine Sucht ließ ihm gar keine Wahl, als weiter zu spielen. Insgeheim hoffte er, Wu würde das Spektakel hier im VIP Zimmer abbrechen und endlich mit ihm besprechen, was so wichtig sein musste. Im selben Atemzug verfluchte er die Besprechung, wartete gierig auf das Zeichen, erneut zu setzen. Nochmals 100’000 war er im Grunde seinem Glück schuldig.

Wu machte keine Anstalten, das Spiel abzubrechen. Gleichmütig gab er der Croupière wieder ein Zeichen und sagte, als erwartete jedermann nichts anderes: »Spielen wir um 500.«

Es war keine Frage, nur eine Feststellung. Niemand regte sich auf. Der Verstand sagte Danny, dass jetzt der Augenblick gekommen war, schleunigst das Weite zu suchen, aber er sprach so leise, dass er ihn nicht hörte. Er verließ sich wie bisher auf sein Bauchgefühl, setzte wieder auf Bank gegen alle andern und – verlor. Er schnappte hörbar nach Luft. Verschwommen nahm er wahr, wie die drei älteren Herren das Notenbündel auf dem Tisch untereinander aufteilten. Seine leicht verdienten 300’000 verschwanden im Nu in den fremden Taschen. Dann warteten die drei geduldig auf seine Reaktion, genauer: auf seine restlichen 200’000 Pataca, die er nicht besaß, aber verloren hatte.

»Es tut mir leid – ich…«

Wu lächelte wie ein Vater, der seinem Sohn eine kleine Dummheit verzeiht. »Ich denke, wir haben uns genügend amüsiert, meine Herren«, sagte er, ohne Danny aus den Augen zu lassen. Die beiden Unbekannten erhoben sich und verließen den Saal zusammen mit der Croupière nach einer stummen Verbeugung. Er saß allein am Tisch mit einem der mächtigsten Männer von Macao, der lebenden Legende Stanley Wu, der schwarzen Kasse manch hohen Politikers, wie man munkelte. Nur die Schlange mit dem hypnotischen Blick stand noch neben der Tür, aber die hatten beide längst vergessen.

Wu drehte den Sessel so, dass er ihm bequem ins Gesicht schauen konnte. »Wie gesagt, Dr. Chen. Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Einsatzes«, begann er.

Danny senkte den Blick. Seine Finger krallten sich um die Sessellehne, als erwarte er den Bohrer des Zahnarztes.

»Entspannen Sie sich«, lächelte Wu väterlich. »Vergessen Sie das Spiel. Ich habe Sie hergebeten, um Ihnen ein Angebot zu machen.«

Ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte, schoss ihm durch den Kopf. Dennoch versuchte er wenigstens den Anschein zu wahren, ruhig zuzuhören.

Wu fuhr weiter: »Sie sind ein ausgezeichneter Elektronik-Ingenieur, Dr. Chen.« Er hielt einen Augenblick inne, betrachtete Danny beinahe mitleidig. »Ein Jammer, dass die Dummköpfe im Silicon Valley sie ziehen ließen.« Wieder beobachtete er seine Reaktion. Danny hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. Wu war ausgezeichnet informiert. Er drückte sich höflich aus, aber Wu wusste bestimmt, dass er damals nach dem Studium Kalifornien nicht freiwillig verlassen hatte. Ein Job in der Forschung und Entwicklung im verheißungsvollen Silicon Valley wäre ihm hundertmal lieber gewesen, als die Routinearbeit auf Taiwan. An seinen Zensuren konnte es nicht gelegen haben. Die waren samt und sonders erstklassig. Die Absagen waren rein politisch motiviert, keine Frage. Er war kein Amerikaner, schlimmer: er war Chinese wie Stanley Wu, wenn er auch nicht aus der Volksrepublik stammte. Die Filter der arroganten Amis waren sehr grob eingestellt. Danny versuchte so gut es ging, dieses leidige Thema zu verdrängen. Umso mehr erschütterte Wus Bemerkung sein Selbstvertrauen. Sein Gegenüber hatte ihn die ganze Zeit forschend angesehen. Er schien in seinem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Schließlich sagte er:

»Für uns ist es natürlich ein Glück, dass Sie nach Taiwan zurückgekehrt sind, Dr. Chen. Ich verstehe leider nichts von Ihrer Arbeit, aber meine Berater sagen mir, dass Sie einer der führenden Spezialisten für hoch integrierte CMOS Schaltkreise sind. Das ist genau was wir brauchen für unser Entwicklungsprojekt. Sagen die Berater.«

Die einseitige Konversation drehte sich plötzlich um ein Thema, in dem sich Danny auskannte. Er fühlte sich augenblicklich auf sicherem Boden, vergaß die latente Bedrohung, die ihn bisher gelähmt hatte. »Worum geht es bei dieser Entwicklung?«, fragte er interessiert.

Wus Mondgesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Eine sehr heikle Spezialanfertigung für einen wichtigen Kunden. Mehr darf ich Ihnen nicht verraten. Das Projekt läuft unter höchster Geheimhaltung. Wie gesagt, ich verstehe ohnehin nichts von Ihrer Arbeit. Ich weiß nur, dass Sie der richtige Mann dafür wären, der uns noch fehlt.« Er griff in sein Jackett, zog einen Briefumschlag heraus und reichte ihn Danny. »Lesen Sie. Hier steht alles Wichtige drin. Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Er erhob sich unvermittelt und entschuldigte sich: »Ich muss einen dringenden Anruf erledigen. Bitte bleiben Sie sitzen, ich bin gleich zurück.«

Verwirrt öffnete Danny den Umschlag. Die Schlange an der Tür beobachtete ihn lauernd, doch je weiter er las, desto unbedeutender wurde die unheimliche Frau, die ihn hierher gelockt hatte. Von einem solchen Angebot hatte er stets geträumt. Entwicklungsleiter bei einem der größten Hersteller von integrierten Schaltkreisen und Platinen für Computer. Nicht im Silicon Valley zwar, in Hsinchu auf Taiwan, wo die meisten großen Konzerne ihren Sitz hatten. Aber mit durchaus vergleichbarem Salär, geradezu unverschämt für taiwanische Verhältnisse. Im Geiste sprang er auf die Tischplatte, führte er einen ausgelassenen Freudentanz auf und brüllte mit jedem Abschnitt lauter: »Ja – ja – ja!« Er hätte den Vertrag auf der Stelle mit seinem Blut unterschrieben, auch ohne den letzten Absatz, der ihm eine ständige Kreditlimite für Wus Kasinos über 500’000 Pataca garantierte. Als Wu zurückkehrte, lächelte auch Danny zum ersten Mal entspannt, seit er diesen Saal betreten hatte.

Weymouth, Dorset, Uk

Das viktorianische Haus mit den übermächtigen Erkern und den verspielten Dachgiebeln thronte auf der kleinen Anhöhe am Greenhill über dem Sandstrand von Weymouth wie ein in Stein gemeißelter Muskelprotz. Jedes Mal ging Ryan dieser Gedanke durch den Kopf, wenn er hier aufkreuzte. Vielleicht regten ihn die hautfarbenen Backsteine zu diesem Gleichnis an. Jedenfalls strahlte das prachtvolle Bed & Breakfast der Whites auch an diesem Morgen wieder die heitere Wonne eines frisch geduschten Bademeisters aus. Auch wenn er sich nicht für das biedere Kleingewerbe von Jessies Mutter erwärmen konnte, das Haus und seine traumhafte Lage mit unverbaubarem Blick aufs offene Meer weckten schon manchmal echten Neid in ihm. Dagegen war das bescheidene Reihenhaus seiner Eltern an der Kirkleton, wo es Parkplätze statt Vorgärten gab, der reine Mief. Bisher hatte er nur einen Vorteil seiner Straße gegenüber Greenhill entdeckt: sein Haus lag näher am ›Tesco‹. Nicht zu unterschätzen für einen Jungen, der nichts so sehr verabscheute wie Zeit zu verlieren beim Einkaufen.

Der milde Frühling war zurückgekehrt. Jessies Mutter kniete neben der Treppe vor dem Haus und setzte die ersten Primeln.

»Morgen Hazel«, grüsste er sie. »Geht’s endlich los mit der Blütenpracht?«

»Sieht man das?«, gab sie kühl zurück, ohne von ihrer Arbeit abzulassen.

Charmant wie immer, dachte er. Hazels ironische Kommentare störten ihn nicht mehr. Schon eher, dass sie sich vorwiegend gegen ihn richteten. »Oder gibt das Gemüse?«, fragte er laut. Er konnte auch.

Wenigstens erreichte er damit, dass sie ihn ansah. »Sehr witzig, du Zahlenkünstler. Lernt man das in diesem Bristol?«

Wie viel Abscheu doch in einem Wörtchen wie diesem liegen konnte. Sie vergaß das hässliche Demonstrativpronomen nie, wenn sie von der ›Industriestadt im Norden‹ sprach.

»Lass das, Ma.«, rief Jessie durch die Türöffnung. »Du bringst den armen Ryan ganz durcheinander.« Mit zwei Sprüngen war sie bei ihm, den Picknickkorb am Arm, die rote Windjacke offen über die Schulter geschlungen. Sie gab ihrer Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn weg. »Danke fürs Boot«, rief sie nach hinten, als sie schon auf der Straße waren.

»Ich muss schon sagen: Hazel hat ihre Zähne noch nicht verloren«, grinste er, während er leichtfüßig neben ihr auf der Strandpromenade dem Hafen zustrebte. Ihr zartes Parfüm und alles, was seine lebhafte Fantasie damit verband, schien die Schwere aus seinem Körper zu ziehen. Hätten sie beide plötzlich abgehoben, er hätte sich nicht im Geringsten gewundert.

»Sie hat manchmal Haare auf den Zähnen, aber das weißt du ja«, gab sie zu.

»Allerdings. Ist aber nett, dass sie uns die ›Schöne Matilda‹ überlässt. Wie hast du das nur geschafft?«

»Ich habe gar nichts getan. Dein Hochsee-Segelschein hat sie überzeugt.«

Sie flunkerte, das war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich musste Jessie ihrer Mutter wer weiß was versprechen, bis sie den Schlüssel zum Liebling ihres verstorbenen Gatten herausrückte. Das hervorragend unterhaltene fünfzigjährige Segelboot hieß tatsächlich nicht einfach Matilda. Es war die schöne Matilda, und das Schiff trug den Namen mit vollem Recht: Hülle und Aufbauten aus massiver Eiche, das Deck und die Kabineneinrichtung aus poliertem Teakholz. Die Schöne war mit ihren neun Metern Länge zwar klein aber eine Augenweide für jeden Betrachter. Und, nicht zu vergessen, die Kabine war groß genug für zwei Erwachsene.

Mit eingerolltem Segel tuckerten sie unter der Hafenbrücke hindurch, an den Fischerbooten und historischen Backsteinhäusern des äußeren Hafens vorbei aufs offene Wasser des Ärmelkanals. Auf den ersten Blick sah die bunte Häuserzeile wohl heute noch aus wie zur Zeit, als Sir Christopher Wren hier den Portland-Stein für die Saint Paul’s Kathedrale verschiffte.

Trotz des fast wolkenlosen Himmels kroch die Kälte schnell durch die Kleider, nachdem sie den Hafen verlassen hatten. Ihn störte das nicht, Jessie ebenso wenig. Es war Wochenende, die Sonne schien, also verbrachte man den Tag draußen. Alle hielten sich an diese einfache Regel. Gut verpackt in ihrer Jacke reichte sie ihm einen Becher dampfenden Kaffee aus dem Thermoskrug. Die frische Brise hatte ihre Wangen und die Nasenspitze gerötet, ein wunderbarer Kontrast zu den himmelblauen Augen. Mit den frech aus der roten Kapuze guckenden goldenen Haarstränen glich sie einem freundlichen Kobold. Und dieser unvergleichliche Schlafzimmerblick, der einem auf der Stelle den Verstand raubte. Vergessen waren Asymptoten, Gammafunktion und partielle Differenzialgleichungen. Gegen diesen Blick hatte nicht einmal ein Carl Friedrich Gauß den Hauch einer Chance. Und der war immerhin der größte Mathematiker aller Zeiten. So war das, und deshalb stand er an diesem Samstagmorgen frierend auf dem polierten Deck der ›Schönen Matilda‹.

Sie waren beide geübte Segler, also setzten sie die Fock und das Großsegel, steuerten härter an den Wind und führten ein paar Alibi-Wendemanöver durch. In der Mitte der Bucht holten sie die Segel wieder ein. Sanfte Wellen brachen sich am Rumpf, wiegten die Passagiere der kleinen Matilda mit gleichmäßigem Plätschern und zahmen Stößen in einen Dämmerzustand. In der Ferne zog der weiße Katamaran der Fähre nach Guernsey an ihnen vorbei. Sie saßen im Windschatten an der Kajütenwand. Eine Weile schwiegen sie sich an, griffen abwechselnd in den Picknickkorb und ließen sich von der Sonne wärmen. Hin und wieder wagte eine verirrte Möwe eine Landung auf ihrem Baum, machte ein paar vorsichtige Schritte auf sie zu, um ihnen beim Kauen zuzuschauen.

»Ich verstehe nicht, wie George von hier wegziehen konnte«, sagte Jessie plötzlich zur Möwe, die erschrocken wegflatterte.

»George?«

»Ma’s kleiner Bruder, du weißt schon.«

»Ach so, der Unfall im Bergwerk.«

»Es war kein Unfall. Ein Anschlag auf die Mine soll es gewesen sein. Terroristen.«

Er schaute sie ungläubig an. »Terroristen«, wiederholte er verächtlich. »Typisch Amerikaner. Wenn sie sich etwas nicht gleich erklären können, steckt al-Qaida dahinter.«

»Ist aber so«, meinte sie trotzig. »Die Mine wurde richtiggehend in die Luft gesprengt.«

»Er wurde verschüttet?«

Sie nickte und murmelte: »Wenigstens musste er nicht leiden, sagt Ma.«

»Was bauten sie denn ab in dieser Mine?«

»Weiß nicht. Irgendwelche Metalle halt. Was hat ihn nur an dieser gottverlassenen Gegend gereizt? Ich glaube, ich bleibe mein ganzes Leben hier in Weymouth. Gibt nichts Schöneres.«

»Na ja, ich lebe jetzt auch in Bristol.« Es war ihm herausgerutscht, und er bereute die Bemerkung augenblicklich.

»Eben«, sagte sie nur.

Wieder der Schlafzimmerblick. Es war nicht zum Aushalten. Heute musste er den Durchbruch schaffen, den gewagten Schritt von der Freundschaft zur Liebschaft, sonst würde er elend krepieren. Aber seine alberne Bemerkung machte die Sache nicht einfacher. Sein Telefon klingelte, bevor er dem Schlachtplan einen weiteren Gedanken widmen konnte.

»Wusste gar nicht, dass man hier Empfang hat«, brummte er unwirsch und drückte die Empfangstaste.

»Ryan?«, rief eine aufgeregte Stimme aus dem Hörer. Ohne auf seine Antwort zu warten, schwatzte die Anruferin atemlos weiter: »Ich bin’s, Mrs. Pendergast, die Nachbarin. Deine Mutter ist von der Treppe gestürzt. Sie ist im Krankenhaus, hat den Knöchel gebrochen. Es geht ihr gut, aber du solltest sofort herkommen. Hallo?«

Er unterdrückte einen Fluch. »Ich fahre so schnell es geht ins Krankenhaus, Mrs. Pendergast«, murmelte er. »Vielen Dank für den Anruf.« Er legte schnell auf, bevor die berüchtigte Quelle weitersprudelte.

Jessie war aufgesprungen. »Krankenhaus?«, rief sie betroffen. »Was ist passiert, um Himmels willen?«

»Meine Mutter. Sie ist gestürzt.« Als er sah, wie sie erschrak, fügte er schnell hinzu: »Nichts weiter – sonst ist sie wohlauf.«

»Gott sei Dank«, seufzte sie und drückte ihn zum Trost an ihre Brust.

So funktioniert es also, dachte er, verwarf den unanständigen Gedanken aber sofort wieder. Der Zustand seiner alten Mutter bereitete ihm ernsthafte Sorgen. Allzu lange sollte sie nicht mehr allein in ihrem Häuschen bleiben.

Weißes Haus, Washington DC

Bob Wilson saß nicht zum ersten Mal in einer Sitzung im Weißen Haus. Als Deputy Director der Nationalen Sicherheitsbehörde, NSA, musste er seinen Boss hin und wieder an einem Briefing oder Hearing vertreten. Diesmal aber war es anders. Der Sicherheitsberater des Präsidenten persönlich hatte die Spitzen des gigantischen Sicherheitsapparates der Vereinigten Staaten zu diesem geheimen Meeting ins abhörsichere Zimmer im innersten Kern des Weißen Hauses geordert. Cheryl Rudd, Direktorin des FBI, saß sichtlich nervös zu seiner Linken auf der Stuhlkante und blätterte in irgendwelchen Unterlagen. Der Untersekretär für Wissenschaft und Technologie vertrat das DHS, das Department of Homeland Security, das seine glitschigen Finger wie ein Riesenkrake seine Tentakel in alle Geheimdienste steckte. Sogar in seine NSA. Die Leute aus Langley kannte er bisher nur dem Namen nach. Admiral Jack Parker, den Vorsitzenden des Generalstabs, war jedem aus dem Fernsehen bekannt. Er vertrat das Verteidigungsministerium. Der Verteidigungsminister selbst zog es vor, der Sitzung fernzubleiben, die er nicht selbst leitete. Jeder der Chefs brachte noch mindestens zwei Spitzenbeamte mit, von denen Bob einen einzigen flüchtig kannte. Das Zimmer war nicht für solche Volksaufläufe gedacht. Zum Teil saßen die Leute in zwei Reihen um den großen Tisch. Nur Pete Miller vom DHS sprach gedämpft mit Admiral Parker, sonst herrschte gespannte Ruhe.

Die Tür flog auf. Der Sicherheitsberater stürmte herein. »Bleiben Sie bitte sitzen – Morgen«, rief er mit seinem kräftigen Bass, während er zum Platz am Kopfende des Tisches eilte. Michael Morris war immer in Eile.

»Verlieren wir keine Zeit«, sagte er. Sein gereizter Gesichtausdruck verriet, dass er meinte, was er sagte. »Der Präsident will meinen Bericht in einer Stunde. Also…« Er schaute kurz in die Runde. Mit einem angedeuteten Lächeln fixierte er die Direktorin des FBI. »Nun, Cheryl, was haben Sie uns zu sagen?«

»Danke, Michael«, antwortete sie. Sie war jetzt die Ruhe selbst, wie Bob verwundert feststellte. Souverän, mit der selbstverständlichen Routine des Stammgasts in diesen Kreisen, begann sie ihren Bericht:

»Am 9. März, 0817, ereignete sich eine Explosion auf dem Gelände der ›Nedys Corp‹ in Mountain Pass im Südosten Kaliforniens. Die Firma betreibt dort im Tagebau die größte Mine für Seltene Erden auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten. Die Explosion hat das Verwaltungsgebäude und drei der angrenzenden Lagerhallen und Betriebsgebäude zerstört. Um 0820 gingen insgesamt fünf Sprengladungen am Kraterrand hoch, was zu einem massiven Felssturz führte, der zwölf Leute verschüttete, darunter fast die gesamte Betriebsleitung. Keiner hat überlebt. Eine Minute später explodierten ebenfalls fünf Sprengsätze auf der gegenüberliegenden Seite des Kraters. Der anschließende Felssturz begrub zehn Mineure, die gerade ihre Schicht angetreten hatten. Auch sie überlebten nicht. Experten, die das Bergwerk nach dem Anschlag untersucht haben, kamen zum Schluss, dass der Betrieb dort, wenn überhaupt, erst in frühestens fünf Jahren wieder aufgenommen werden kann. Der materielle Schaden und die Kosten für einen Wiederaufbau belaufen sich nach neusten Schätzungen auf eine halbe Milliarde Dollar.«

»Was heißt: wenn überhaupt?«, fragte Morris.

»Man hat kurz vor dem Anschlag Radioaktivität im Fels festgestellt. Das war auch der Grund, weshalb sich die Betriebsleitung im Krater befand.«

»Danke, Cheryl. Das Ganze hört sich nach einem sinnlosen Gemetzel an. Einige von uns wissen inzwischen, dass weit mehr dahinter steckt. Bevor du den Stand der Ermittlungen präsentierst, möchte ich, dass uns das DHS in aller Kürze erklärt, weshalb dieser Anschlag so verdammt wichtig ist, mal abgesehen von den Toten.«

Pete Miller räusperte sich umständlich, bevor er so schnell zu sprechen begann, dass Bob anfangs nur die Hälfte verstand. Millers Aussage interessierte ihn sowieso nur am Rande. Er war längst im Bilde, was da in den Bergen Kaliforniens gesprengt worden war. Seltene Erden kamen überall und häufig vor in der Erdkruste, aber abbaubare Vorkommen gab es in den Vereinigten Staaten im Wesentlichen nur eines – bis zum 9. März. Jetzt gab es nichts mehr auf amerikanischem Boden. Die ganze Weltproduktion von Neodym, Dysprosium und anderen Lanthanoiden kam aus China, und die brauchten mehr und mehr dieser Metalle für die eigene Produktion. Miller betonte die Wichtigkeit der Seltenen Erden für die Streitkräfte. Wenn die Nachschub brauchten, war keiner mehr da, falls die Chinesen dicht machten. Aber nicht nur die Elektromotoren der Radargeräte und Waffensysteme waren hochgradig gefährdet ohne genügenden Vorrat an diesen Metallen. Auch der kritische Wirtschaftssektor für erneuerbare Energien hing vollkommen ab vom Dreck, den man in Mountain Pass aus dem Boden gekratzt hatte. Ohne Hochleistungsmagnete aus Neodym konnte die Regierung das ganze schöne ›Clean Energy‹ Programm gleich wieder einstampfen. Bob war völlig klar, weshalb die Spitze des nationalen Sicherheitsapparats hier versammelt war.

»Ich denke, damit ist auch der letzte Zweifel ausgeräumt, dass unser Land auf eine ernsthafte Krise zusteuert, wenn wir nicht schon drin stecken«, bemerkte der Sicherheitsberater, nachdem Miller geendet hatte. »Unsere Vorgänger im Weißen Haus haben leider zugelassen, dass die ganze kritische Infrastruktur für Seltene Erden zugrunde ging. Und dieser Anschlag hat den Wiederaufbau nachhaltig gestoppt. Meine Damen und Herren, es ist unsere Aufgabe, diesen verdammten Scherbenhaufen so schnell wie möglich aufzuräumen.« Wieder fixierte er Cheryl Rudd, als wüsste sie all seine unausgesprochenen Fragen zu beantworten. Sie reagierte sofort und erklärte ohne Umschweife:

»Wir tappen im Dunkeln, Michael. Die Sprengungen im Fels müssen während Tagen, wenn nicht Wochen, praktisch vor den Augen der Bergleute, vorbereitet worden sein. Sie sind absolut präzise und mit maximaler Wirkung ausgeführt worden. Eindeutig das Werk von Profis. Darauf deutet auch der verwendete Sprengstoff. Die Spurensuche geht weiter, aber allzu viele Hinweise werden wir nicht finden. Die Explosionen haben gründlich aufgeräumt. Wir sind daran, jeden Stein im Umkreis von zehn Meilen umzudrehen, haben jeden Bewohner der Gegend befragt. Bisher gibt es nur vage Hinweise auf genau sechs Autos, die ein paar Leuten aufgefallen sind. Keine Kennzeichen. Über Marke und Farbe konnten sich die Befragten nicht einigen. Wie gesagt, wir stehen erst am Anfang, und es sieht nicht gut aus.

Admiral Parker unterbrach sie mit einer sehr kurzen Frage, die sich wohl alle sofort gestellt hatten: »Täterprofil?«

Sie antwortete nüchtern, ohne Zögern: »Professionelle Sprengung für einen Auftraggeber, den wir noch nicht eingrenzen können.«

»Das DHS befürchtet weitere solche Terroranschläge«, warf Miller ein. Er schickte sich an, die Liste der gefährdeten Objekte herunterzuspulen, doch Morris stoppte ihn mit einer ärgerlichen Handbewegung.

»Noch wissen wir nicht, ob es ein Terroranschlag war, Pete. Oder gibt es neue Hinweise, Bob?«

Was erwartete der Mensch? Die NSA war noch gar nicht offiziell an diesem Fall beteiligt. Bob hatte nicht übel Lust, Morris darüber aufzuklären, aber er war der Sicherheitsberater des Präsidenten, sozusagen dessen Ohr und Auge. Seine schnelle Antwort fiel deshalb ebenso geschliffen wie nichtssagend aus: »Wir analysieren natürlich auch in diese Richtung. Bisher konnten wir kein Terrormuster feststellen.«

Morris schaute auf die Uhr. »Es wird Zeit, das weitere Vorgehen zu besprechen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu seinem auserlesenen Publikum. »Ich habe Cheryl gebeten, eine Akte mit dem heutigen Stand der Ermittlungen zusammenzustellen. Jede Ihrer Behörden wird ein Exemplar erhalten. Sie wissen alle, was zu tun ist, und dass wir es verdammt schnell tun müssen. Wir können uns keinen zweiten Fall Mountain Pass leisten. Ich übernehme die Koordination der Ermittlungen, bis wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. An unserer nächsten Sitzung in einer Woche erwarte ich konkrete Ergebnisse. Danke, meine Damen und Herren.« Damit erhob er sich. Beim Hinausgehen brummte er deutlich hörbar: »Der Präsident wird begeistert sein.«

Im Westen geht die Sonne unter

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