Читать книгу Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Paradeplatz, Zürich
Die Ampel schaltete auf grün. Das silberne BMW 6er Cabrio schoss haarscharf an einem alten Mann vorbei über die Kreuzung. Robert Bauer drückte genervt den dritten Zigarettenstummel aus und fluchte:
»Idiot! Bist du farbenblind?«
»Was?«, fragte die Stimme in seinem Kopfhörer erschrocken.
»Nicht du, Lotte. Scheiße, wo stehen wir? Sprich mit mir!«
Er wusste, dass seine Händlerin nichts mehr hasste, als wenn er sie betont teutonisch ›Lotte‹ nannte. Sie war Engländerin und hieß eigentlich Charlotte. Böse grinsend hörte er sich die neusten Quotes zu seiner strategischen Position an. 468 – nicht schlecht, aber Ziel noch nicht erreicht. Er hatte die 1’200 Tonnen Neodym zu 200’000 Yuan pro Tonne gekauft und musste sie heute, am Ultimo, vor Handelsschluss am SMM wieder loswerden. Das Problem war nur, dass der Shanghai Metals Market in genau zwölf Minuten dicht machte. Er drückte aufs Gas, schoss vom Talacker auf den Paradeplatz, an der großen Schwester, der Credit Suisse, vorbei um die Ecke in die Talstraße. Wenige Sekunden später stand er vor der gepanzerten Einfahrt zur Tiefgarage. Trotz der erfreulichen Kursentwicklung war er stocksauer. Die Kundenbesprechung zum Frühstück hatte viel zu lange gedauert, und außerdem lag ihm das scheißnoble Lachsbrötchen tierisch auf dem Magen. Wütend steckte er die Chipkarte durch das offene Fenster in den Schlitz des Lesegeräts. Seine Finger trommelten im Stakkato auf das Lenkrad, während er mit zunehmender Ungeduld auf das grüne Licht zur Einfahrt wartete.
»470«, meldete die Stimme im Ohr.
Die Tendenz stimmte. 475’000 Yuan war sein Ziel. Und er wollte, verdammt noch mal, dabei sein, wenn es passierte. Bei 475 würden vierzig Kisten Dollar netto aus der Position herausspringen, immerhin mehr als der Einsatz beim Kauf vor zwei Monaten. Nicht ganz die fünfzig Millionen, die er im Budget hatte für das erste halbe Jahr, aber es war ja auch erst März.
Er fuhr in die Garage, hechtete zur Schleusentür, gab den Sicherheitscode ein und wartete noch einmal eine Ewigkeit, bis ihn das Stahlgitter der inneren Drehtür in die diskreten Eingeweide der kleinen aber feinen Privatbank ›Escher, Stadelmann & Compagnie‹ entließ.
›Zurich 08:57, Shanghai 14:57‹ zeigte die unübersehbare Weltzeituhr, als er den Handelsraum betrat. Er zog den Knopf des Telefons aus dem Ohr, riss Charlotte gleichzeitig den Hörer aus der Hand und brüllte:
»Walter, 16’200 Neodym TREM 99 verkaufen – jetzt! Loco Schanghai.«
»16’200 Tonnen Neodym verkauft zu 476’500 Yuan«, bestätigte die emotionslose Stimme seines Brokers in Zug nach wenigen Sekunden. Die Uhr zeigte 14:59 Schanghai-Zeit.
Roberts Blut kochte. Das Adrenalin rauschte wie ein Wasserfall durch seinen Körper, trieb ihm das Blut in den Kopf, dass er glaubte zu explodieren. Jedes Mal dasselbe, wie beim ersten Deal. Die Zahlen auf dem Bildschirm verschwammen für einen Augenblick, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Du könntest mir wenigstens gratulieren, Walter«, knurrte er ins Telefon.
»Fick dich.«
Er schmiss den Hörer lachend auf die Tischplatte. Walter war in Ordnung. Auf ihn war seit Jahren Verlass, aber einen irren Deal wie diesen gab es für sie beide bisher noch nicht. Er hatte eben im Auftrag seines Kunden zwölf Prozent der Weltproduktion von Neodym verkauft, mit einem horrenden Gewinn zurückverkauft. 15’000 Tonnen des Metalls, das er nie gesehen hatte, und das ihn auch in keiner Weise interessierte. Gleichzeitig war er seine giftige private Position von 1’200 Tonnen los. Die Kasse hörte gar nicht mehr auf zu klingeln. Bessere Tage gab es nicht.
Er nahm allmählich wieder wahr, was um ihn herum vorging. Charlotte und die übrigen sechs Kollegen hatten einen Halbkreis um sein Pult gebildet. Einer der Devisenhändler ergriff wortlos den kleinen Weihnachtsmann aus Plastik neben Roberts Tastatur, schaltete ihn mit theatralischer Geste ein und stellte ihn wieder auf sein Podest zurück. Der Wicht mit der abgegriffenen, schmutzig roten Zipfelmütze kreiste mit den Hüften wie ein Hula-Tänzer und krächzte dazu fröhlich: »Jingle bells, jingle bells…«
Robert räumte Telefon und Tastatur zur Seite, stieg auf die Tischplatte und begann, die sinnlichen Hüftschwünge des Männchens synchron zu imitieren. Die Zuschauer klatschten im Takt. Bald ließ sich Charlotte dazu hinreißen, mitzusingen, bis auch sie nicht mehr konnte und sich vor Lachen den Bauch hielt. Mit anzüglichem Grinsen machte er weiter, hörte nicht auf, bis auch der Letzte sich krümmte. Es war das Siegesritual im Handelsraum von ES&Co. Der Tanz des Triumphators, eingeführt vom damals blutjungen Chefhändler Robert Bauer, als er das erste Mal so richtig zugeschlagen hatte.
»War ganz schön knapp heute Morgen«, meinte Charlotte später beim Mittagessen im ›Zeughauskeller‹.
»Knapp? Wir hatten noch fast eine Minute.«
»Bist ja echt gut drauf.«
»So ist es, meine Liebe. So gut, dass ich mich die ganze Zeit frage, was ich mit dem freien Nachmittag anfangen soll.«
»Großartig«, platzte Renzo, der Devisenhändler heraus, der sich ausnahmsweise den Luxus eines Essens gönnte, das nicht aus Plastikbechern stammte. »Der Star verkrümelt sich, und wir armen Schweine dürfen den Kleinkram erledigen.«
»Wozu ist man Chef?«, grinste Robert. »Ich habe volles Vertrauen in die Kompetenz meiner Mitarbeiter.«
Die lauten Buhrufe erschreckten die indische Familie am Nebentisch, dass Eltern und Kinder ängstlich von ihrem frittierten Flussbarsch aufschauten. Renzo verzog seinen Mund zu einer säuerlichen Grimasse und klagte:
»Es gibt schon Spannenderes als Yuan in Dollar zu konvertieren.«
»Sei doch froh. So geht wenigstens deine Kursabsicherung nicht in die Hose«, gab Robert spitz zurück.
»Wundert mich schon, wie lange unsere chinesischen Freunde ihren fixen Wechselkurs noch halten können«, murmelte Charlotte, während sie lustlos in ihrem Kartoffelsalat stocherte.
Renzos Gesicht wurde ernst. »Der Zeitpunkt wird einzig und allein von Peking bestimmt«, sagte er überzeugt. »Die lassen sich von niemandem in die Suppe spucken. Recht haben sie.«
Robert nickte. »Von mir aus brauchen sie sich nicht zu beeilen. Der fixe Yuan erleichtert unsere Geschäfte mit China ganz erheblich.«
Eine Weile aßen sie schweigend, bis Charlotte den halbvollen Teller wegschob und gedankenverloren zu ihm sagte: »Schon seltsam, das Timing.«
»Was meinst du?«
»Die Katastrophe in der kalifornischen Mine kam genau zum richtigen Zeitpunkt, kurz nach unserem Kauf. Eigenartiger Zufall, oder?«
»Zufall oder nicht. Goldzahn hatte wieder mal den richtigen Riecher«, lachte der Devisenhändler, was ihm sofort einen strafenden Blick seines Chefs eintrug. Über Kunden sprach man nicht in der Öffentlichkeit, auch nicht mit Pseudonymen. Huan ›Goldzahn‹ Li war leitender Manager der finanzstarken Investmentfirma ›Galaxy Boom Industries‹ in Macao. Den Übernamen hatte er sich durch den leuchtend goldenen Eckzahn verdient, den er stolz zur Schau trug. Robert hatte den potenten Kunden von seinem unglücklichen Vorgänger bei ES&Co geerbt, dessen ›Enduro‹ man bis heute nicht aus den Tiefen des Urnersees geborgen hatte. Die Leiche wurde zwei Monate nach dem Unfall an Land getrieben. Jedenfalls war Goldzahn das Beste, was man einem Banker hinterlassen konnte. Der kleine grauhaarige Chinese – klein waren sie alle – richtete stets mit der ganz großen Kelle an. Die Deals, die er über seine diskrete Schweizer Bank abwickelte, führten seit Jahren regelmäßig zu fetten Provisionen. Und nicht zum ersten Mal heute Morgen hatte sich auch die private, strategische Position gelohnt, die er als Trittbrettfahrer nach dem Muster seines Kunden aufgebaut hatte. Leicht verdientes Geld im Grunde genommen. Das Risiko hielt sich dabei in Grenzen, denn Goldzahn lag bisher immer auf der richtigen Seite. Vielleicht lag es an seinem roten Löwen, der ihn auch auf seinen Reisen in die Schweiz begleitete. Einmal warf Robert einen zufälligen Blick ins Aktenköfferchen des Chinesen, und er hätte schwören können, dass sich nichts als das kleine Plüschtier darin befand.
»Was der kleine Scheißer wohl als Nächstes im Schilde führt?«, raunte er Charlotte ins Ohr beim Verlassen des Restaurants.
Sie lächelte spöttisch und gab ebenso leise zurück: »Kannst es wohl nicht erwarten bis er mit seiner zierlichen Mei wieder aufkreuzt.«
So ganz falsch war die scherzhafte Feststellung nicht. Zierlich und knallhart, dachte er und schaute verträumt der Rauchwolke seiner Zigarette nach.
Anacostia, Washington DC
Bob Wilson traute seinen Augen nicht. Bald halb zwei. Seit fast einer Stunde steckte er in dieser Kolonne auf dem Anacostia Freeway und näherte sich bestenfalls im Schritttempo dem Campus des heiß geliebten Department of Homeland Security. Wie konnten sie die neuen Büros in eine derart gottverlassene Gegend bauen, die vor allem durch mannshohe Maschendrahtzäune glänzte? Im Leben wäre er nicht auf die Idee gekommen, hier auch nur durchzufahren. Aber wenn das allmächtige DHS rief, musste auch die fast allmächtige NSA gehorchen. Er griff zum Telefon, um seine Verspätung anzukündigen. Eine Viertelstunde würde er noch brauchen, sofern er den neuen Campus überhaupt fände.
Es war viertel vor zwei, als er den Saal betrat. »Habe ich etwas verpasst?«, grüsste er den Sitzungsleiter kaltschnäuzig.
»Eine Viertelstunde.«
Sie belauerten sich einen Augenblick lang wie zwei verwundete Pitbulls, dann setzte er sich wortlos auf den nächsten leeren Stuhl.
»Nachdem jetzt alle eingetroffen sind, können wir Punkt zwei in Angriff nehmen«, fuhr der Sitzungsleiter vom DHS trocken weiter. Er schaute demonstrativ auf seine Uhr. »Wir haben noch genau achtzehn Stunden und dreizehn Minuten bis zum nächsten Briefing des Sicherheitsberaters. Wir sollten die Zeit nutzen.«
Kopfrechnen kann er, dachte Bob verächtlich. Ken Brown, der diese überflüssige Sitzung leitete, war einer seiner zahlreichen Lieblingsfeinde beim DHS, und auch dieses Meeting begann genau so, wie er befürchtet hatte. Er wäre besser zwei Stunden zu spät gekommen.
Brown forderte seinen Kampfredner Pete Miller auf, die bisherigen Erkenntnisse des Departments zum Fall Mountain Pass zu präsentieren. Obwohl Miller wie ein Maschinengewehr sprach, war er keineswegs schneller fertig, denn er hatte viel zu sagen. Minutiös zählte er die Quellen auf, die er und seine Heerschar von Beamten angezapft, die Informationen, die sie in mühseliger und professioneller Kleinarbeit zusammengetragen hatten, bevor er endlich zum ernüchternden Schluss kam:
»Um es kurz zusammenzufassen: aufgrund der Facts betrachten wir eine Verbindung zu islamistischen Terrorzellen und al-Qaida zurzeit als eher unwahrscheinlich.«
Bob zählte innerlich langsam bis drei, um nicht zu explodieren. Was dieser Schnellschwätzer von sich gab, war keine Erkenntnis, sondern eine Vermutung, die ihm selbst schon eingefallen war, als er die erste Meldung von der Bergwerkskatastrophe gelesen hatte. Das Muster des Anschlags passte ganz offensichtlich nicht ins Schema der Standard-Terroristen aus dem Nahen Osten. Das Ziel war zu exotisch. Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein. Nicht spektakulär genug für al-Qaida. Mountain Pass versetzte zwar die Regierung in höchste Aufregung, aber weite Teile der amerikanischen Bevölkerung nahmen den Anschlag gar nicht zur Kenntnis. Ein solcher Coup lohnte sich einfach nicht aus Sicht der islamistischen Gangster.
Er goss sich ein Glas Wasser aus der Flasche vor seinem Sitznachbarn ein, um den schalen Geschmack im Gaumen hinunterzuspülen. Er fühlte sich schlecht. Erst die lange Fahrt im Stau, jetzt der Gestank nach frischer Farbe im stickigen Sitzungszimmer. Und was er hörte, machte die Sache auch nicht besser. Statt die Spezialisten in Ruhe arbeiten zu lassen, organisierten die hohlen Koordinatoren eine Sitzung nach der andern, es war zum kotzen. Dem Kollegen vom ›Büro‹ gegenüber am Tisch ging die Sache ähnlich an die Nieren, wenn er seinen leidenden Gesichtsausdruck richtig interpretierte. Der Mann vom FBI räusperte sich und begann zu sprechen, ohne auf Browns Einladung zu warten.
»Da stimmen wir völlig mit euch überein, Ken«, sagte er, und alle wussten, dass es kein Kompliment war. »Wir haben inzwischen die Spur eines der Fahrzeuge, zurückverfolgt. Ein blauer ›Chevy‹ Pick-up S10. Die Täter haben ihn bei einem Händler in San Diego gekauft. Wir wissen, dass damit der Sprengstoff transportiert wurde. Trinitrobenzen, 1,3,5-TNB. Der Stoff, den Minen und Militär benutzen.«
»Passt«, grinste Brown albern. »Gibt’s auch Spuren von den Tätern?«
Das Gesicht des FBI-Mannes verfinsterte sich. »Stell dir vor, das haben wir uns auch schon gefragt«, knurrte er. Fingerabdrücke, Gewebeproben etc. kannst du vergessen. Die Leute sind Profis. Um ganz sicher zu gehen, haben sie die Karre abgefackelt und anschließend verschrotten lassen. Wir sind ganz auf die zweifelhaften Aussagen des Händlers und einiger Augenzeugen angewiesen. Die deuten darauf hin, dass die Täter über den Containerhafen von San Diego ein- und wieder ausgereist sind. Da unten ist ziemlich viel los, wie du dir vorstellen kannst, und überdies hört unsere Zuständigkeit in internationalen Gewässern auf.«
»Wir sind bereits am Ball, überprüfen die Frachter. Können aber erst im nächsten Hafen aktiv werden«, warf Liz Tucker aus Langley im Telegrammstil ein. Die Giftspritze von der CIA war Bob schon böse an die Gurgel gefahren, als einer seiner Männer im ›Außendienst‹ der Agency in die Quere gekommen war. Die guten Menschen aus Langley hatten keine Ahnung, wie viele Finger die NSA in alle Welt ausstreckte. Noch nicht einmal in Fort Meade wussten mehr als ein paar Dutzend Leute, wie viele Mitarbeiter in aller Welt vor Ort ›humint‹, human intelligence, betrieben. Mitarbeiter, die sich überall dort die Hände schmutzig machten und Geheimdienstinformationen sammelten, wo die ›sigint‹, signals intelligence, ihre wundersame Abhörtechnik in Fort Meade, nicht ausreichte. Die andern Dienste und das gemeine Volk wussten so gut wie nichts darüber, was innerhalb seiner NSA vor sich ging, und das war gut so.
Liz Tuckers Bemerkung wirkte wie eine kalte Dusche auf den Sitzungsleiter. Er hörte sich beinahe resigniert an, als er nachdenklich feststellte: »Die Spur ist kalt. Habe ich recht?«
»Nicht ganz«, antwortete der Mann vom FBI. »Die Schiffe, die in der fraglichen Zeit nach dem Attentat in San Diego ablegten, sind bekannt, ebenso ihre Destinationen. Es ist erstaunlicherweise keines aus dem arabischen Raum dabei. Die meisten der Frachter nahmen Kurs auf Ziele in Japan und Südostasien.«
»Was die Suche nicht gerade einschränkt«, ergänzte Liz spitz.
»Ich behaupte nicht, dass es einfach wird.«
Bob amüsierte das kleine Geplänkel, doch er fand, dass die Zeit gekommen war, etwas Struktur in die Debatte zu bringen. »Ken«, sagte er entschlossen und nickte dem Sitzungsleiter zu, als bedankte er sich für die Aufforderung zu sprechen. »Die NSA verfolgt einen etwas anderen Ansatz. Wir gehen, wie alle hier im Raum, von einem rationalen Anschlag aus. Es war nicht die sinnlose Tat einiger Verrückter. Alles deutet auf wohlüberlegtes Handeln hin. Also fragen wir uns: wem nützt diese Tat, wer profitiert davon?« Er hielt inne, beobachtete die Reaktion der Zuhörer. Befriedigt fuhr er weiter: »Seltene Erden, insbesondere Neodym und Dysprosium, sind Rohstoffe von nationaler Bedeutung für die Vereinigten Staaten. Ohne sie gibt es keine modernen Waffensysteme, keine effizienten Elektromotoren, keine Generatoren für Windturbinen, keine Hybrid- und Elektroautos, keine moderne Beleuchtung, noch nicht einmal vernünftige Wasserfilter. Wir wissen das spätestens seit dem ›GAO‹ Report vom April 2010. Aus dem gleichen Report erfahren wir, dass die USA den Abbau und die Verarbeitung dieser Metalle in den letzten Jahrzehnten sträflich vernachlässigt haben. Die letzte Mine auf unserem Boden, Mountain Pass, war einmal der weltweit größte Produzent Seltener Erden, bis sie 2002 aus Umweltschutzgründen stillgelegt werden musste. Inzwischen produziert die Volksrepublik China 97% des Weltbedarfs dieser Metalle. Jetzt hat Mountain Pass den Betrieb langsam wieder hochgefahren, bis zur Katastrophe am 9. März. Mit andern Worten: der Nachschub für große Teile der Streitkräfte und den Energiesektor unseres Landes ist jetzt auf Jahre hinaus vollständig abhängig von unseren Freunden im Reich der Mitte.«
Nach einer Schrecksekunde brach der Tumult umso heftiger los. Bob ließ sich nicht beirren, wartete geduldig, bis sich die Aufregung wieder legte. Die Entrüstung seiner Zuhörer war geheuchelt. Jeder wusste das. Er traute sich einfach als Erster, den explosiven Verdacht laut auszusprechen. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte: die Tatsachen deuteten auf die Möglichkeit hin, dass China seine Hand im Spiel hatte. Wäre das der Fall, käme es einer Kriegserklärung gleich. Dann könnten alle hier im Raum zusammenpacken und an den Strand fahren, Muscheln suchen. Dann wäre die Sache höchstens noch mit diplomatischen Mitteln aus der Welt zu schaffen.
»Ihre Reaktion zeigt mir, dass Ihnen der Gedanke nicht fremd ist«, sagte er rundheraus, und keiner widersprach. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Wir verfügen noch über keine gesicherten Erkenntnisse. Es ist bisher nur eine offensichtliche Richtung, in die wir ermitteln müssen. Unsere Spezialisten haben begonnen, den Telefon- und Mailverkehr im Vorfeld des Attentats entsprechend zu analysieren.«
Ken Browns Mundwinkel drohten aus dem Gesicht zu fallen, als er mit Grabesstimme fragte: »Scheiße, Bob, was erzählen wir dem Sicherheitsberater?«
Bob zuckte die Achseln. Er war genauso ratlos wie alle andern. Nach einigem Zögern antwortete er schließlich: »Wenn wir die Möglichkeit nicht erwähnen, könnte uns die Wirklichkeit schneller einholen, als uns allen lieb ist.«
»Scheiße«, wiederholte der Sitzungsleiter düster. »Michael wird an die Decke gehen.«
Das ist allerdings das kleinste Problem, dachte Bob.
Fort Meade, Maryland
Der rote Nissan reihte sich in die Kolonne auf der rechten Fahrbahn des Baltimore-Washington Parkway ein. Vor der Ausfahrt mit der schlichten Bezeichnung ›NSA nur für Angestellte‹ hatte sich ein Stau gebildet.
»Willkommen in Crypto City«, murmelte Alex, als sie der langen Autoschlange ins dichte Waldstück hinein folgte, hinter dem sich das Gelände ihres neuen Arbeitgebers verbarg. Fort Meade, der Sitz der Nationalen Sicherheitsbehörde, des weitaus größten und teuersten Geheimdienstes der Vereinigten Staaten. Eine Stadt für 40’000 Angestellte hinter elektrischen Sicherheitszäunen, elektronisch so vollkommen abgeschirmt, dass sogar das Navigationsgerät im Auto verrückt spielte, als sie sich ihr näherte. Nach dem jüngsten Ausbau war die Fläche der Bürogebäude auf beinahe die doppelte Größe des Pentagon angewachsen. Allein die Parkplätze würden für fünf komplette Baseballstadien ausreichen, hatte der Instruktor bei ihrem letzten Interview stolz versichert. Wie man auf große Zahlen stolz sein konnte, war ihr stets ein Rätsel. Baseball interessierte sie noch weniger. Sie hatte sich für diesen Job entschlossen, weil ihr die Arbeit als Korrespondentin des ›Wall Street Journal‹ in Peking zu eintönig wurde. Vielleicht wollte sie auch einfach wieder zurück nach Baltimore. Falsch, sie hatte einen besseren Grund: die NSA hatte sie angefragt. Diesem verschwiegensten aller Geheimdienste schickte man nicht einfach seine Bewerbung. Sie holten einen. Alex machte sich keine Illusionen. Die Scouts der NSA waren nicht durch ihre guten Abschlüsse und die paar Jahre Erfahrung als Ökonomin und Journalistin auf sie aufmerksam geworden. Hier in Fort Meade musste es von Akademikern mit weitaus spektakuläreren Qualifikationen wimmeln. Nein, sie stand jetzt am schwer bewachten Kontrollposten, weil sie fließend Mandarin sprach und chinesische Zeitungen las wie andere Leute die Sportnachrichten in der ›Baltimore Sun‹.
Nervös wie das erste Mal steckte sie den provisorischen Badge in den Schlitz und gab ihren PIN-Code ein, scharf beobachtet vom SPO mit der Maschinenpistole. Es würde einige Zeit dauern, sich an all die dreistelligen Kürzel zu gewöhnen, mit denen man hier die Funktion der Angestellten bezeichnete. Die Security Protective Officers, die mit den Kanonen, waren einfach die ersten, die ihr von nun an jeden Morgen auf dem langen Weg ins Büro begegneten. Noch zweimal brauchte sie die Chipkarte, bis sie auf dem zugewiesenen Platz parken konnte. Sie achtete peinlich genau darauf, die richtige Nummer zu erwischen. Wahrscheinlich würde sonst sofort irgendein Alarm losgehen. Sie hatte keine Ahnung, wie genau sie beobachtet wurde, aber man konnte nicht vorsichtig genug sein. Jedenfalls am ersten Tag.
Der Badge verschaffte ihr Zutritt zum ›Building‹, dem schwarz glänzenden Faraday-Käfig des Hauptquartiers. Das feine Kupfernetz in der Glasfassade sollte angeblich keine elektromagnetische Strahlung durchlassen. Kein Telefongespräch, kein Radiosignal, kein Funkverkehr, keine verräterische Strahlung eines Bildschirms drang nach draußen. Sie kam bis zur ersten Schranke, keinen Schritt weiter. Sie legte die Chipkarte auf den Tisch der Eingangskontrolle und sagte betont kühl:
»Alex Oxley für Bob Wilson.«
Die Angestellte verglich die Angaben auf dem Badge mit den Angaben auf ihrem Bildschirm, dann gab sie Alex die Karte zurück und nickte einer uniformierten und bewaffneten Kollegin zu, die neben ihr wartete.
»Folgen Sie mir bitte«, forderte sie diese auf und ging voran in eine Kabine. Wie auf dem Flughafen, nur wesentlich gründlicher. An die Abtasterei musste sie sich wohl oder übel gewöhnen. Sie hatte schon erlebt, dass man sie innerhalb des Gebäudes erneut befummelte, beim Übergang von einer Sicherheitszone zur nächsten. Die Prozedur wickelte sich wortlos ab. Nachdem auch die tausend Kleinigkeiten ihrer Handtasche den Test bestanden hatten, verließen sie die Kabine. Die Frau führte sie zu den Aufzügen mit den Worten: »Folgen Sie mir bitte.«
Beschränkter Wortschatz, aber der saß perfekt. Alex konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Mit der Zeit würde auch dieses Ritual lockerer ablaufen, hoffte sie. Nach einem weiteren Kontrollposten und zwei mit Chip und PIN gesicherten Schleusen betraten sie den Korridor auf der siebten Etage, der zu Bob Wilsons Büro führte. Seine Tür stand einen Spalt offen, zu schmal, um einfach einzutreten, zu breit, um nur draußen zu warten. Die Sicherheitsbeamtin trat zurück, stellte sich zwei Schritte hinter ihr auf und beobachtete sie schweigend. Auch aus dem Büro drang kein Ton. Unschlüssig zögerte Alex einen Augenblick, dann klopfte sie kräftig an die Tür und trat ein.
Am Schreibtisch saß ein smarter, hochgewachsener Mann mit angegrautem Bürstenschnitt, vielleicht um die fünfzig. Den Telefonhörer am Ohr, starrte er auf seine leere Tischplatte und schien sie nicht zu bemerken. In dem Moment, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, fuhr er auf, dass der Sessel an die Wand prallte. Mit einem Fluch knallte er den Hörer auf die Gabel und schnaubte sie wütend an:
»Verdammt noch mal, können Sie nicht anklopfen? Wer zum Teufel sind Sie?«
Unfreundliche Begrüßungen war sie aus ihrem Journalistenleben gewohnt, aber dieser Freund übertraf sie alle. Nur nicht einschüchtern lassen, redete sie sich tapfer ein. Sie war schließlich kein frisch geschlüpftes Küken mehr. Mit flauem Gefühl im Magen versuchte sie es mit Humor:
»Ich habe Ihnen fast die offene Tür eingetreten, Sir. Entschuldigen Sie. Alex Oxley, Sir. Wir haben einen Termin.« Sie trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
Er ergriff sie gedankenverloren. »Jetzt ist es also soweit«, brummte er undeutlich.
Sie schaute ihn verwirrt an. »Bitte?«
»Diese verdammten Chinesen.«
Mit Mühe unterdrückte sie eine ironische Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag und wartete, bis er sie wieder wahrnahm.
Plötzlich durchbohrte er sie mit Röntgenaugen. »Alex Oxley, sagen Sie«, murmelte er. »Ach so, ich erinnere mich. Die Chinesin.«
Sie begriff nicht sofort. »Sir?«, fragte sie verblüfft.
»Nennen Sie mich nicht Sir. Ich bin Bob.«
»O. K., Sir – Bob.«
Zum ersten Mal zeichnete sich so etwas wie ein Lächeln um seinen Mund ab. »Sie kommen keine Sekunde zu früh, Alex. Unsere chinesischen Freunde haben gerade die Grenzen dicht gemacht für sämtliche REE Exporte. Auf unbestimmte Zeit, und der Handel ist eingestellt.«
»REE?«
»Rare Earth Elements« – »Seltene Erden.«
Sie verstand immer noch nichts, stand nur da und wartete auf weitere Erklärungen. Ihr neuer Boss dachte nicht daran.
»Worauf warten Sie?«, fragte er nach einer Weile, nachdem er schon wieder zum Telefon gegriffen hatte. Er streckte die Hand aus, zeigte ungefähr in die Richtung, aus der sie gekommen war und ergänzte gehetzt: »Melden Sie sich beim SSO, 7120, Flur hinunter links.
Du mich auch, dachte sie ernüchtert, als sie Bobs Büro verließ. Das war vielleicht ein Früchtchen. Führten sich hier alle so auf? Ihr erster Arbeitstag begann etwas anders, als sie sich ausgemalt hatte. Sie fragte sich, ob es ein gutes oder schlechtes Zeichen war, wenn Bob sie so rasch abfertigte. Sein Verhalten ließ keinen eindeutigen Schluss zu.
Der ›Staff Security Officer‹ stellte sich als freundliche Frau heraus. Die erste Person, die sie an diesem Morgen begrüßte, wie das unter normalen Menschen üblich war.
»Ich bin Vanessa, Vanessa Taylor«, sagte sie lächelnd, während sie sich die Hand gaben. »Willkommen bei den Freaks, Alex.«
»Danke. Tut richtig gut, mit jemandem reden zu können.« Es war keine leere Floskel. Nach der verstörenden kalten Dusche vorhin fühlte sie sich sogar bei der Sicherheitsbeauftragten gut aufgehoben, die man sonst besser mied.
»Bob hatte wohl keine Lust, sich zu unterhalten«, meinte Vanessa, als sie sich setzten.
»Ist er immer so gut drauf?«
Vanessa schüttelte den Kopf. »Nicht immer. Manchmal hat er auch richtig schlechte Tage.«
Gute Nacht, wollte sie antworten, ließ es aber bleiben. Zu unsicher war sie, wie weit sie dem Humor des SSO trauen konnte.
»Wie auch immer, bringen wir’s hinter uns.«
Die meisten Fragen der Eintritts-Checkliste kannte Alex aus der Zeit der Interviews und Eignungstests in Crypto City. Ihr neuer Arbeitgeber war berüchtigt dafür, alles und jeden gründlich auszuspionieren. War ja auch der Hauptzweck dieser ganzen Stadt. Offenbar betrieb man das Sammeln von Information bei den eigenen Mitarbeitern besonders gründlich. Ihr machte das nichts aus. Sie war freiwillig hier und hatte nichts zu verbergen. Sie fand die Fragen nach engen und dauerhaften Beziehungen zu Nicht-US-Bürgern oder der Absicht des Angestellten oder eines Mitglieds seiner Familie, mit einer solchen Person zusammenzuziehen oder sie zu heiraten eher belustigend. Sie hatte ohnehin nicht vor, sich zu binden, obwohl das ihren geschiedenen Eltern nicht passte.
Eine Stunde später war auch dieser Fragebogen überstanden. Endlich betrat sie das Büro, in dem ihr neuer Arbeitsplatz auf sie wartete. Vanessa stellte sie kurz vor, dann verabschiedete sie sich mit der Bemerkung: »Die Arbeit ist in der Mailbox. Viel Spaß.«
Der junge Kollege gegenüber reckte den Hals und grinste sie freundlich über den Rand seines Bildschirms an. »Siehst gar nicht aus wie eine Chinesin«, lachte er mit seinem Kindergesicht. »Ich bin Minimax.«
Erst jetzt sah sie, dass der Kollege stand. Er maß kaum mehr als fünf Fuß. Ohne die kräftigen Arme hätte er gut als Teenager durchgehen können. Unwillkürlich grinste sie zurück und fragte: »Hat hier niemand einen richtigen Namen?«
»Im Gegenteil. Es ist eine Ehre, einen Spitznamen zu tragen. Man muss ihn sich hart erarbeiten.«
»Davon habe ich allerdings noch gar nichts bemerkt«, brummte sie.
»Warte, bis du die Mailbox öffnest.«
Neugierig loggte sie sich das erste Mal ein. Während das System ihre Arbeitsumgebung automatisch einrichtete, schweifte ihr Blick zu den andern Pulten. Etwa zwanzig Männer und Frauen, teils in Armee-Uniformen, arbeiteten an ihren Bildschirmen, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Nicht anders als in der Redaktion, bloß ruhiger. Das System war bereit. Ein Klick öffnete den elektronischen Briefkasten.
»Du lieber Himmel«, rief sie laut aus. 263 ungelesene Meldungen!
»Was habe ich gesagt?«, grinste Minimax.
Während sie die erste Nachricht las, eine kurze Instruktion, was mit den andern Texten zu tun war, trafen laufend neue Meldungen ein. Genervt stellte sie den Alarm auf stumm. Ihre erste Aufgabe bestand darin, hunderte chinesischer Texte zu übersetzen und zu katalogisieren. Als Hilfe hatte man die Nachrichten bereits mit dem hausinternen Übersetzungsprogramm bearbeitet. Nach den ersten paar Wörtern schaltete sie diese Hilfe kopfschüttelnd aus. Sie wollte sich die Sisyphusarbeit nicht noch schwerer machen.
Das Kindergesicht erschien wieder. »Man muss ihn sich verdienen, wie ich sagte. Aber sieh’s mal positiv: du brauchst Bob wenigstens keinen Kaffee zu kochen. Er kann ihn nicht ausstehen.«
Bob besaß also keinen Spitznamen. Interessant