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Kapitel 3

Bristol, UK, Vier Jahre später

Kaum betrat Ryan den Balkon im Obergeschoss des weißen Häuschens an der Dove Street, begann der Katzenjammer.

»Ich bin gleich unten, Mr. Meriwether, keine Sorge«, rief er zum plärrenden Kater hinunter. Er wusste nicht einmal, ob Mr. Meriwether eine Sie oder ein Er war, aber er hatte sich für Kater entschieden. Das Tier gehörte niemandem im Haus, auch keinem unmittelbaren Nachbarn. Es war ihm kurz nach seinem Einzug in Bristol zugelaufen und hatte ihn sofort ins Herz geschlossen. Jeden Morgen wartete Mr. Meriwether an der Haustür und begann erbärmlich zu jammern, sobald er ihn erblickte.

Ryan ging in die Küche, legte ein paar Garnelen auf einen Teller und goss etwas Milch in eine zweite Schüssel. Wie üblich stieg er mit der Mappe unter dem Arm und einem Teller in jeder Hand die Treppe hinunter. Der Tag ließ sich gut an, das fühlte er in seinen Adern. Überdies schaffte er die Strecke, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Er zog die Haustür mit dem Ellbogen auf, ein Kunststück, das er nach monatelanger Übung perfekt beherrschte. Mr. Meriwether drängte sich freudig schnurrend zwischen seine Beine, sobald er aus der Tür trat. Niemals hätte das eigenwillige Tier einen Fuß ins Haus gesetzt. Ryan stellte das Futter unter das Vordach. Er kraulte Mr. Meriwethers Pelz eine Weile, während er sich mit ihm über das zu erwartende Unwetter unterhielt. Der Kater war schwarz wie ein Kaminfeger. Sein Fell hatte viel vom jugendlichen Glanz verloren. Ryan wurde den Verdacht nicht los, Mr. Meriwether mache ihm nur schöne Augen, um seine karge Rente aufzubessern. Plötzlich ließ der Kater von ihm ab und wandte sich dem Futter zu. Seine Pflicht war getan. Mr. Meriwether erwartete nichts anderes. Nach dem Mahl würde er sich wie jeden Tag verdrücken und erst am nächsten Morgen wieder vor der Haustür jammern. Ein Tagesablauf, der sich gut mit seinem deckte. Auch er verließ morgens das Haus, um oft erst spät in der Nacht zurückzukehren.

»Soll ich Ihnen etwas vom Markt besorgen, Doktor?«, rief ihm die Hauswirtin nach, als er schon auf der Straße stand. Mrs. Harper konnte nicht verstehen, wie ein erwachsener junger Mann allein und ohne ausreichende Vorräte in dieser großen Wohnung leben konnte. Und sie wollte nicht begreifen, dass er noch kein Doktor war, trotz seiner Erklärungsversuche.

»Nein, vielen Dank. Ich esse im Institut.«

»Sie arbeiten zu viel und essen zu wenig«, war das Letzte, was er von der guten Frau hörte, bevor er um die Ecke verschwand. Mrs. Harpers Haus lag nahe bei der Universität. Eine bescheidene Bleibe, aber er konnte seinen Wagen auf dem Parkplatz am Straßenrand stehen lassen. In zehn Minuten war er zu Fuß am Arbeitsplatz, ein Luxus, den er bis zur letzten Minute auskosten wollte. Noch ein Jahr, dann sollte seine Dissertation abgeschlossen sein. Was dann, mit dem PhD in der Tasche, aus ihm werden sollte, wusste er beim besten Willen nicht. Fest stand einzig, dass er Jessie heiraten würde, und wenn er dafür nach Weymouth umziehen müsste. Ein schier unlösbares Problem, dachte er nicht zum ersten Mal. Mit seinen Qualifikationen als Finanzmathematiker gab es für ihn im ganzen Vereinigten Königreich nur einen vernünftigen Ort, wo er Karriere machen konnte: die Londoner City. Aber Jessie schlug immer tiefere Wurzeln im idyllischen Küstenstädtchen am Kanal. Er verdrängte den unangenehmen Konflikt und begann sich geistig auf die Besprechung mit seinem Doktorvater vorzubereiten, während er das Spalier der stramm stehenden Erker mit den weiß getünchten Fensterrahmen abschritt.

Irwyns Parkplatz vor dem braungrauen Backsteingebäude war leer. Ein untrügliches Zeichen, dass der Professor noch nicht da war. Irwyn Saunders – Irwyn, walisisch, nicht Irwin, englisch – bewegte sich außer Haus nur in seinem feuerroten MG SA aus dem Jahr 1938. Unkaputtbare, traditionelle britische Qualität, für die er die ganze Freizeit und sein halbes Vermögen einsetzte. Er stellte das Museumsstück ausschließlich auf seinem zugewiesenen Platz unmittelbar neben dem Eingang ab. Es war schon vorgekommen, dass er wieder nach Hause zurückfuhr, nur weil ein verblödeter Ignorant es gewagt hatte, seinen Platz zu besetzen.

Die asthmatische Hupe des MG stoppte Ryan, bevor er den Torbogen erreicht hatte. Irwyn begrüßte ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, schüttelte seinen Pferdeschwanz und fragte:

»Etwas Brauchbares dabei?«

Ryan hatte sich an die kühnen Gedankensprünge des Professors gewöhnt, aber die Frage erwischte ihn kalt. »Dabei – wobei?«, stammelte er verblüfft.

Irwyn warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Ich verstehe ja, dass dich die Arbeit nicht antörnt. Geht mir auch so, deshalb überlasse ich sie dir. Aber die Übungen müssen nun mal korrigiert werden.«

»Ach du grüne Neune!«, rief Ryan aus. Er blieb stehen und spürte, wie sein Gesicht rot anlief. »Mist. Total vergessen, tut mir leid. Ich habe die halbe Nacht an den Auswertungen gefeilt.«

»Ist ja noch nicht zu spät«, beruhigte Irwyn spöttisch. »Ich brauche die Korrekturen erst am Nachmittag.«

Mit einem unterdrückten Fluch trottete er hinter dem Professor her ins Haus. Die Zeit, die er mit der Routinearbeit eines Assistenten vergeudete, hätte er dringend für seine Studie der Finanzblasen benötigt. Er war im Verzug, sein Zeitplan drohte durcheinanderzugeraten. Wenn er die dreizehn Übungsblätter des akademischen Nachwuchses bis Mittag korrigieren wollte, musste er die Besprechung mit Irwyn kurz halten. Nicht gut. Gerade jetzt brauchte er seinen Rat, um den Schwerpunkt der Dissertation neu festzulegen.

Seit zwei Jahren beschäftigte er sich mit einem unmöglichen, aber umso spannenderen Thema, der Vorhersage von Finanzblasen. Die ganze bisherige Literatur der ökonomischen Theorien ging davon aus, dass man das Platzen von Finanzblasen nicht vorhersagen kann. Bisher glaubte man, dass eine Blase erst im Nachhinein überhaupt zu erkennen sei, nachdem sie geplatzt ist. Erst nachdem die Preise für eine Kategorie von Wertpapieren, Waren oder Währungen zusammengebrochen waren, konnte man die Diagnose Finanzblase stellen. Daran glaubte er längst nicht mehr. Seine Arbeit beruhte auf den in Fachkreisen spektakulären Erkenntnissen einer Forschergruppe an der ETH Zürich aus den Jahren 2009, 2010. Physiker und Mathematiker hatten damals die These aufgestellt, dass sich Finanzblasen fru¨hzeitig erkennen lassen, bevor sie platzen und dass man voraussagen kann, wann die Blase platzen wird. Die Gruppe, die sich ›Financial Crisis Observatory‹, FCO, nannte, konnte mit ihrem ›Financial Bubble Experiment‹ tatsächlich mehrere Blasen korrekt eingrenzen. Im Gegensatz zu den gängigen Theorien ging das FCO davon aus, dass sich die Preise an den Märkten während einer Spekulationsblase superexponentiell verhalten. Die Preise stiegen nicht einfach mit einer konstanten Geschwindigkeit, sondern die Geschwindigkeit des Preisanstiegs nahm selbst rasant zu. Ganz nach dem Motto: je teurer eine Ware, desto begehrter wird sie. Um das zu erkennen, beobachteten sie Indikatoren wie die Anzahl der ›guten Tage‹, Tage, an denen der Preis stieg in einem gewissen Zeitraum, und die Wachstumsrate des Preises. Das Modell des FCO war zwar komplex, nahm sich aber doch eher bescheiden aus im Vergleich zu seiner Arbeit. Trotzdem konnten die Forscher in Zürich schon die Goldblase von 2010 erstaunlich genau voraussagen. Ihre Prognose lautete, dass der Goldpreis zwischen dem 13.10.2009 und dem 7.9.2010 mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% einbrechen werde. Für das engere Zeitfenster vom 5.11.2009 bis 25.2.2010 gaben sie eine Wahrscheinlichkeit von 60% an. Im Januar 2010 zerfiel der Preis innerhalb weniger Tage um über zehn Prozent, nach einem Anstieg von 18% während knapp zwei Monaten.

»Was gibt’s denn an deinen Daten zu feilen?«, fragte Irwyn, als sie sich in seinem Büro auf das alte Bentley-Polster setzten.

»Nicht an den Daten, natürlich. Die Darstellung gefiel mir noch nicht. Ich glaube, jetzt habe ich eine bessere Visualisierung gefunden.« Die neuen Grafiken vermittelten dem Betrachter auch ohne viel Text, was er aussagen wollte. Den Zahlenfriedhof seiner unzähligen Modellrechnungen anschaulich darzustellen, war beinahe die größte Herausforderung seiner Arbeit. Visualisierung, eine Wissenschaft für sich im Zeitalter der Statistik und der gigantischen Netzwerke. Er war froh, die Hilfe einiger begabter Kollegen in Anspruch nehmen zu können. Und natürlich Irwyns besonderes Talent.

Der Professor betrachtete die neusten Darstellungen eine Weile kritisch. Dann schob er sie plötzlich weg, als hätte er jedes Interesse verloren. Statt sie zu kommentieren, fragte er: »Zufrieden?«

»Eigentlich wollte ich dich das fragen.«

Irwyn schüttelte den Kopf. »Bist du zufrieden mit deiner Aussage, meinte ich. Du zeigst, dass dein Modell die Goldblase von 2010 wesentlich genauer vorhergesagt hätte als das FCO. Gut, aber bist du damit zufrieden?«

Ryan zögerte mit der Antwort. Sein Mentor hatte genau den wunden Punkt erwischt. Im wesentlichen lautete seine kurze Frage nämlich: Glaubst du, genug gearbeitet zu haben für deinen PhD? Wenn er darüber nachdachte, konnte er nicht mit einem klaren Ja antworten.

Irwyn deutete sein Zögern richtig. »Du zweifelst«, stellte er fest. Bevor du verzweifelst, möchte ich eines klarstellen. Aus meiner Sicht könntest du die Arbeit hier abschließen. Ich würde sie zur Annahme empfehlen. Was das bedeutet, weißt du ja. Aber – ich glaube, du kannst noch mehr herausholen.«

Meine Worte, dachte Ryan. Mehr herausholen wollte er auch. Jahrelange Arbeit, um ein paar bekannte Resultate zu verbessern, befriedigte ihn nicht. Sein Modell beschränkte sich nicht auf die Analyse von Börsendaten. Er durchforstete das ganze Internet mit raffinierten Filtern und Algorithmen. Seine Computerfarm am Institut analysierte in kurzer Zeit hunderttausende Twitter-Meldungen, Blogs und Webseiten. Mit ausgeklügelten Methoden der Graphentheorie und Topologie stellte er Zusammenha¨nge zwischen Gerüchten, Ereignissen und dem Börsengeschehen her. Dabei war ihm erst kürzlich etwas aufgefallen.

»Du hast recht«, nickte er nachdenklich. »Bei verschiedenen Messreihen habe ich festgestellt, dass die resultierende Verteilung über weite Strecken stabil bleibt. Blöd gesagt: weniger Daten genügen bereits für eine zuverlässige Aussage, vorausgesetzt, man erwischt die richtigen.«

»Ziemlich blöd gesagt, aber ich verstehe, was du meinst. Wenn du das beweisen kannst, lässt sich dein Modell auch für weniger liquide Assets anwenden. Das wäre ein echter Durchbruch. Traust du dir das zu in der verbleibenden Zeit?«

Er wusste es nicht, doch im Geiste brütete er schon über seinen Notizen, als er das Büro verließ. Ein Teil seines Hirns arbeitete weiter an der neuen Herausforderung, während er sich mit den Übungen der unteren Semester beschäftigte. Am frühen Nachmittag war die Pflicht endlich erledigt. Er konnte sich wieder voll der Kür zuwenden. Die Funktionen und Gleichungen seines Modells hingen im Grossdruck an der Wand neben seinem Bürofenster. Wie schon oft, stellte er sich davor, um sich inspirieren zu lassen. Die Gedanken mussten sich möglichst locker an das Problem herantasten, es aus der Vogelperspektive allmählich einkreisen. Dazu war diese Wand da. Draußen verdüsterte sich der Himmel zusehends. Das angekündigte Unwetter war da. Bald klatschten die ersten schweren Regentropfen aufs Sims. Im Zimmer war es so dunkel, dass er das Licht einschalten musste. Immer wieder ließ er den Blick über die Variablen, Summen und Integrale schweifen, ohne genau zu wissen, wonach er suchte. Im Grunde war sein Problem schnell formuliert, doch das änderte nichts daran, dass es harte Knochenarbeit war, eine Lösung zu finden. Er wollte sein Modell verallgemeinern. Es besaß zu viele Parameter und Randbedingungen, die auf die Spezialfälle von Finanzblasen zugeschnitten waren, die er bisher untersucht hatte.

»Es müsste doch, verdammt noch mal, möglich sein, Zeitintervalle und Messpunkte automatisch festzulegen«, warf er der Hieroglyphenwand vor. Er schloss die Augen. Jessies verträumter Blick überstrahlte kurz die vielen x, i, j, Gammas und Thetas, dann schlug er sich unvermittelt an die Stirn. »Trottel«, schalt er sich. Es war so offensichtlich. Er brauchte seine Zeit nicht mit den Formeln für die Berechnung der Resultate zu verschwenden. Die Eingabefilter musste er sich vornehmen. Es lief genau auf das hinaus, was er leichthin zur Wand gesagt hatte. Wenn er es schaffte, die Eingabefilter automatisch zu konfigurieren, dann würde sein Modell nicht nur die Finanztitel automatisch finden, die für eine Blase infrage kämen, es würde ihm auch gleich beantworten, für welche Kategorien von Titeln sein Modell taugte. Er rannte hinaus, den Korridor hinunter zur Kaffeeküche, schenkte sich einen Becher der siedend heißen, sauren Brühe ein, eilte an den Schreibtisch zurück und begann, die Filter umzubauen.

Dutzende zerknüllte Seiten weiter, sechs Stunden später, mit einem knurrenden Magen, den man bis in Irwyns Büro am andern Ende des Flurs hören musste, glaubte er soweit zu sein. Es blieb lediglich noch, die Software an die modifizierten Formeln anpassen, eine vergleichsweise kinderleichte Übung. Der Zeitpunkt für den Testlauf war gut. Abends um acht war nicht mehr viel los auf der Serverfarm. Er startete seine neue Modellrechnung mit der vollständigen Datenbasis als Eingabe. Ein Datenchaos aus Text und Zahlen von nahezu tausend Gigabytes. Die Rechnerei würde die ganze Nacht dauern. Mit ein wenig Glück erwartete ihn am nächsten Morgen ein Resultat, wie er es noch nie gesehen hatte. Etwas weniger Glück, und einmal mehr würde ihn nur die Fehlermeldung Abort xyz begrüßen.

Mr. Meriwether begriff nichts von seiner Arbeit. Er hatte nicht das geringste Verständnis dafür, dass Ryan ihm am nächsten Morgen nur ein Tellerchen mit etwas Milch hinstellte. Er drückte sich so lange jammernd zwischen seinen Beinen herum, bis er den vertrockneten Rest seines Sandwichs holte und ihm ein paar Krümel der Füllung hinstreute, die einmal Schinken gewesen war. Mr. Meriwether machte einen Bogen um die Katastrophe, leckte seine Milch auf und ließ ihn stehen.

An diesem Morgen rannte er ins Institut. Atemlos drückte er auf die Leertaste, um den Bildschirm aufzuwecken. Er wagte kaum hinzusehen. Keine Fehlermeldung. Seine Hand zitterte leicht, als er mit der Maustaste durch die Tabellen und Grafiken blätterte, die sein Programm erstellt hatte. Ein Wonnegefühl durchrieselte ihn, durchaus vergleichbar mit dem Augenblick, als Jessie ihn zum ersten Mal mit einer Leidenschaft auf den Mund küsste, dass er sich auf der Stelle in reine Energie auflöste. Hastig druckte er einige Seiten aus und rannte damit zu seinem Professor.

»Heureka!«, rief er lauthals, während er ins Büro stürzte.

»Auch einen guten Morgen wünsche ich dir«, brummte Irwyn verschlafen, ohne aufzuschauen. »Komm doch herein.«

»Sorry – aber – hast du einen Moment Zeit?«

Als Irwyn das verschmitzte Grinsen im Gesicht seines Doktoranden bemerkte, lächelte auch er. »Her mit dem Wisch«, befahl er mit einer fordernden Handbewegung. Er studierte die neuen Resultate eingehend. Das war so üblich. Erst machte er sich selbst ein Bild, bevor er etwas hören wollte. »Nicht schlecht«, sagte er schließlich mit undurchdringlicher Miene. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete auf den etwas längeren Kommentar seines Schülers.

»Nicht schlecht«, äffte Ryan nach. »Du bist gut. Deine Nerven müsste man haben. »Hast du die Breite der Analyse gesehen? Das Modell wählt jetzt automatisch Kandidaten für Blasen aus praktisch dem ganzen Spektrum von Finanzinstrumenten. Inklusive Titel, für die es nur einen dünnen Markt gibt wie Rohstoffe, die nur von wenigen spezialisierten Firmen gehandelt werden. Seltene Erden zum Beispiel.«

Das Lächeln kehrte auf Irwyns Gesicht zurück. »Beruhige dich. Das habe ich sehr wohl bemerkt. Mir scheint, das ist der Durchbruch, von dem ich neulich gesprochen habe. Wir werden das gründlich miteinander verifizieren und so schnell wie möglich publizieren, als Vorabdruck deiner Dissertation. Dieses Ergebnis muss in die Fachpresse.«

Fort Meade, Maryland

Alex wuchtete die Kiste mit ihrem persönlichen Kram und dem Büromaterial auf ihren neuen Schreibtisch. In den vier Jahren im Innern des Allerheiligsten der NSA war dies der dritte Umzug. Fast wie in der Redaktion. Sie schaute sich um, schnupperte die Luft im Zimmer, das nun für ein paar Monate, vielleicht ein Jahr ihr neuer Arbeitsplatz war. Eine substantielle Verbesserung allerdings, das musste sie sich eingestehen. Trotzdem rümpfte sie die Nase. Die Luft im Einzelbüro wirkte seltsam tot. Das gewohnte Aroma aus Körpergerüchen, Rasierwasser und heiß laufenden Computern wie in andern Büros fehlte. Hier war sie das einzig Lebendige. Aber Einzelbüro, fast Eckbüro, und ihr ›f2b‹ war auf lächerliche zwanzig geschrumpft. Besser ging nicht. Wenn nichts anderes, dann sagte der ›f2b‹ als zuverlässigstes, allgemein anerkanntes Maß, wie es um die Karriere eines Mitarbeiters stand. Sie hatte nie herausgefunden, ob das Kürzel als ›feet from Bob‹ oder, eher unwahrscheinlich, ›feet to Bob‹ zu lesen war. Auf jeden Fall bezeichnete es den Abstand von ihrer Bürotür zu Bobs Tür. Mit zwanzig Fuß waren sie und ihr allseits gefürchteter und bewunderter Chef nun also Nachbarn. Grund genug, ein wenig stolz zu sein. Und ein bisschen bereute sie, das Gefühl mit niemandem teilen zu können. Sie verscheuchte den Gedanken schnell wieder und begann, die wenigen Sachen einzuräumen. Sie musste sich nicht über Einsamkeit beklagen. Sie hatte es so gewollt. Im Allgemeinen lebte sie ganz gut damit.

Zehn Minuten nach ihrem Einzug arbeitete sie am Bildschirm, als hätte sie nie anderswo gesessen. Beim Kontrollblick auf die im Hintergrund laufenden Nachrichtenfilter stutzte sie. Ein Fenster, das seit Jahren keine Aktivität mehr anzeigte, erwachte plötzlich zum Leben. Der rote Balken am oberen Rand deutete auf mindestens 90% Relevanz. Das Programm, das den unablässigen Strom der Nachrichten und Hinweise aus allen möglichen Quellen für dieses Fenster analysierte, hatte ihr etwas Wichtiges zu sagen. Es hatte einen Beitrag in der britischen Fachzeitschrift ›Journal of Computational Finance‹ entdeckt:

Die Topologie von Regime-shifts

Ein erweitertes Modell zur Prognose von Finanzblasen

Nicht der verwirrende Titel des Artikels erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war die kurze, hervorgehobene Passage aus der Zusammenfassung, die sie sofort ihre eigentliche Aufgabe vergessen ließ:

Der breite theoretische Definitionsbereich des Modells wird eindrücklich demonstriert durch die ex post Analyse bekannter Preisblasen liquider Commodities, Aktien und illiquider Unternehmensanleihen aus den Jahren 2009 und 2010, sowie eines älteren Niveau-Übergangs des REE Neodym.

Alex traute ihren Augen nicht. Sie hatte dieses Fenster sicher drei Jahre lang nicht mehr beachtet. Ihre hektischen ersten Monate in Crypto City waren von den Nachbeben der Katastrophe in der kalifornischen Mine geprägt. Der Aktionismus des DHS, FBI und der sonst kühlen Köpfe bei der NSA führte damals zu nichts. Einmal abgesehen davon, dass der Verdacht Richtung China noch immer wie ein übler Verwesungsgeruch in der Luft hing. Die Untersuchung verlief stillschweigend im Sand. Unbeachtet und bald vergessen schnüffelten nur ein paar Programmroboter permanent nach weiteren Informationen, die Hinweise auf jenes Ereignis enthielten. Und nun hatte einer Alarm geschlagen.

Aufgeregt las sie die ganze Zusammenfassung und den Anfang des Berichts. Je weiter sie in den mathematischen Fachjargon eintauchte, desto weniger verstand sie. Bald kam der Punkt, wo sie denselben kurzen Satz dreimal gelesen hatte und noch immer nicht kapierte. Ernüchtert griff sie zum Pappbecher, der noch in der Transportkiste stand, führte ihn an den Mund und stieß ihn gleich wieder angewidert von sich. Kalter Kaffee machte die Sache auch nicht besser. Angesichts der vielen englischen Fremdwörter und Formeln im Fachartikel dieses Ryan Cole aus Bristol kam sie sich reichlich blöd vor. Nur soviel war klar: das Modell des Briten konnte den Zeitpunkt der Mountain Pass Katastrophe beklemmend genau vorhersagen. Leute, die dieses Papier verstehen würden, Mathematiker, Physiker, Quants, gab es genug in Fort Meade. Das Problem war nur, dass die alle andere Aufgaben hatten. Ohne Bobs Machtwort durfte sie keine Hilfe erwarten. Sie griff zum Hörer des grauen Telefons und drückte Bobs Kurzwahltaste. Den gefährlichen schwarzen Apparat daneben benutzte sie höchst selten, nur für harmlose externe Anrufe, wenn sie sich als Journalistin ausgab. Jeder bei der NSA wusste: schwarze Telefone waren nicht abhörsicher.

Er antwortete augenblicklich: »Alex, was gibt’s?«

»Hast du fünf Minuten?«

»Nein, wozu?«

»Mountain Pass. Ein neuer Lead.«

Es blieb eine Weile still in der Leitung. Eine lange Zeit, für Bobs Verhältnisse. Dann sagte er leise, als fürchtete er, belauscht zu werden: »Komm rüber.«

Sie druckte hastig die paar Seiten aus, die sie zu lesen versucht hatte und eilte damit ins Büro nebenan.

»Ich hoffte, nie mehr etwas von diesem verfluchten Dreckloch zu hören«, schimpfte Bob zur Begrüßung. »Ein Lead?«

»Ja – nicht direkt. Aber ich denke, es könnte sich zu einem soliden Hinweis auf die Verantwortlichen entwickeln.«

Seine Blicke durchbohrten sie wie glühende Spieße. »Sei froh, dass ich dich besser kenne, sonst …« Er ließ die Alternative offen, forderte sie mit dem Kinn auf, sich zu setzen und wartete.

Sie kannte Bob lange genug, ignorierte die unausgesprochene Drohung. Ruhig und sachlich antwortete sie: »Vor einer Stunde wechselte einer meiner REE Filter auf rot. Ich hab’s kurz analysiert und meine, dass es kein falscher Alarm ist.«

»Will ich hoffen.«

Sie breitete die Unterlagen vor ihm aus. »Dieser Ryan Cole ist ein Mathematiker aus Bristol, UK. Soweit ich mitbekommen habe, entwickeln sie dort ein Modell, mit dem sie alle möglichen Finanzblasen ziemlich präzise voraussagen und eingrenzen können. Die Publikation ist eine seriöse Fachzeitschrift, also nehme ich nicht an, dass es sich um irgendeinen Hokuspokus handelt. Was die Sache für uns interessant macht, ist dieser Abschnitt in der Zusammenfassung.« Sie zeigte auf die Stelle, wo die Seltenen Erden erwähnt waren. Während er las, ergänzte sie beiläufig: »Der vorausgesagte Neodym Preissprung deckt sich genau mit dem Zeitpunkt der Minenkatastrophe.«

»Was?«, fuhr er sie an. »Das sagst du mir erst jetzt?«

Sie verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Ausgezeichnet, sie war im Geschäft.

Bob schüttelte ungläubig den Kopf und brummte: »Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass diese Brits die Katastrophe kommen sahen?«

»Das glaube ich nicht, aber hätte ihr Modell damals schon existiert, hätte es auf einen Preissprung hingedeutet. Sie nennen das Regime-shift.«

»Und wenn schon«, entgegnete er ärgerlich. »Das hätten auch normale Marktturbulenzen sein können. Das Wundermodell hätte die Katastrophe auch nicht vorausgesehen.«

»Klar, aber darum geht es mir nicht. Ich will auf etwas anderes hinaus. Dieser Cole und seine Leute behaupten, die finanziellen Auswirkungen des Attentats im Voraus ziemlich genau berechnen zu können. Und das einzig und allein aufgrund öffentlich zugänglicher Daten. Da frage ich mich, was das Modell wohl leisten würde, wenn es unsere Daten zur Verfügung hätte. Gut möglich, dass wir damit den Urhebern des Anschlags doch noch auf die Schliche kommen.«

Er schaute sie nachdenklich an. Die Skepsis wich allmählich aus seinem Blick, machte einer Mischung aus Neugier und Jagdlust Platz. Ein sicheres Zeichen, dass er begann, einen Schlachtplan auszuhecken. »Mit Daten meinst du wohl SWIFT«, murmelte er.

»Unter anderen«, nickte sie. Praktisch alle Geldströme zwischen Banken und Firmen, sogar Einzelpersonen, liefen als Meldungen über das weltweite Netzwerk der ›Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication‹, SWIFT, mit Sitz in Belgien. Wollte man herausfinden, wann wer wem wie viel und wofür bezahlt hatte, gab es keine bessere Datenquelle.

»Wie kommen wir an die Archive?«

Sie lächelte, vielleicht ein wenig zu selbstzufrieden. Aber sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. »Wir haben Glück«, sagte sie. »Mountain Pass fällt in die Zeit, als noch der ganze SWIFT-Verkehr auf unsere Server gespiegelt wurde. Wir haben alles in unseren Archiven, brauchen keinen Antrag zu stellen.«

»Zufälle gibt’s«, grinste er.

Bob wusste genauso gut wie sie, dass sie die SWIFT-Meldungen auch unter den neuen, strikteren europäischen Datenschutz-Bestimmungen erhalten hätten. Dauerte bloß etwas länger.

Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er sagte entschlossen: »Wir haben die Daten, ich organisiere die Einsteins, du das Modell. Inkognito.«

»Funktioniert nicht, fürchte ich. Nichts gegen unsere Eierköpfe, aber wie ich es sehe, geht es bei diesem Modell um Spitzenforschung. Bis sich unsere Jungs eingearbeitet haben, verlieren wir wertvolle Zeit. Wäre es nicht viel einfacher, diesen Cole die Arbeit machen zu lassen? Wir haben noch genug damit zu tun, die Daten für sein Modell aufzubereiten.«

»Wie stellst du dir das vor? Wir geben keine Daten heraus, basta.« Leise fügte er hinzu: »Auch wenn sie uns nicht gehören.«

Das war das Hauptproblem. Sie überlegte schon die ganze Zeit, wie sie das Dilemma lösen könnten. Es half nichts. Die NSA musste in der einen oder anderen Richtung über ihren Schatten springen. Entweder gingen ihre Daten an die Forschergruppe in England, oder die englischen Forscher brachten ihr Modell und das nötige Wissen dazu nach Fort Meade. Eine vernünftige dritte Lösung sah sie nicht. Das sagte sie ihm auch.

»Unmöglich«, war Bobs erste Reaktion.

Sie hatte nichts anderes erwartet, schwieg jedoch. Sie musste ihm Zeit lassen, sich an den furchtbaren Gedanken zu gewöhnen. Er runzelte die Stirn, während er die zwei unmöglichen Varianten gegeneinander abwog. Plötzlich schüttelte er energisch den Kopf und wiederholte:

»Unmöglich, vergiss es. Wir machen es so, wie ich gesagt habe. Du beschaffst das Modell, den Rest erledigen wir hier.«

Sie antwortete nicht sofort, schaute ihn stattdessen an, als erwarte sie eine Erklärung.

»Gibt es ein Problem?«, fragte er gereizt.

»Nein – nein, ich werde es versuchen. Habe ich Clearance für England?«

Er nickte. »Sind ja nicht gerade unsere Erzfeinde«, knurrte er.

Das Modell beschaffen – sie fragte sich, wie um alles in der Welt sie das anstellen sollte, während sie die Unterlagen zusammenraffte und in ihr Büro zurückkehrte. Immerhin hatte sie die Erlaubnis, ohne nervenaufreibenden Papierkram nach Bristol zu reisen, sollte es nötig sein. Das war nicht selbstverständlich. Eines der ungelösten Rätsel von Fort Meade war die Sicherheitspolitik bei Auslandreisen. Sie hatte bis heute nicht verstanden, weshalb ein NSA-Angestellter nur mit schriftlicher Genehmigung nach Großbritannien oder Frankreich reisen durfte, aber problemlos jederzeit auf den Bahamas, dem Paradies für windige Firmen und Financiers, oder in der Drogenhölle von Mexiko Urlaub machen konnte. Ihr IQ reichte einfach nicht aus, die Logik der allmächtigen ›Clearance Division‹ M55 zu verstehen. Genauso wie sie das Modell des Ryan Cole nie begreifen würde.

»Du hast dich da in etwas hineingesteigert, Mädchen«, sagte sie zu sich selbst, als sie einigermaßen ratlos ihre leere Schreibtischplatte musterte. Im Augenblick wusste sie nur eines mit absoluter Sicherheit: Sie brauchte endlich ihren Koffein-Schub. Mit einem frischen Becher funktionierte ihr Gehirn normalerweise besser. So war es auch diesmal. Sie trank einen Schluck von der heißen Brühe, stellte den Pappbecher zur Seite, machte sich ein paar Notizen und griff zum Hörer des schwarzen Telefons. Sie schmunzelte beim Gedanken daran, was in den anderen Büros jedes Mal ablief, wenn jemand den schwarzen Hörer in die Hand nahm. Sofort verstummten alle noch so leisen Gespräche, bis der Hörer wieder sicher auf der Gabel lag. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wählte sie die Kontaktnummer der Universität Bristol aus dem Artikel. Halb zwölf, halb sechs in England. Sie hoffte, der unbekannte Forscher wäre kein ›nine-to-five‹ Typ und noch nicht auf dem Heimweg.

»Dr. Ryan Cole bitte«, sagte sie erleichtert, als sich die Zentrale der Universität meldete.

»Wen darf ich melden?«

»Alex Oxley vom ›Wall Street Journal‹.« Ihre übliche Tarnung bei externen Kontakten. Sie hatte sich erstaunlich rasch ans Doppelleben gewöhnt. Es war ganz einfach. Sie kannte die Innereien des Blattes aus jahrelanger Erfahrung, wusste, wie sie sich als Journalistin zu verhalten hatte. Ihre schwarzen Anrufe konnten nicht zurückverfolgt werden. Auf ihren Visitenkarten stand die Nummer dieses Apparates. Falls jemand das Journal direkt anrief und sie verlangte, wurde der Anruf automatisch hierher umgeleitet.

Eine Männerstimme wie bittersüße Schokolade, die mit siebzig Prozent Kakao und einer Spur Chili, drang aus dem Hörer, in ihr Ohr, durch die Adern bis in die Zehenspitzen. »Hallo?«, sagte der Unbekannte.

Sie schluckte leer, hüstelte, bevor sie sich wieder gefasst hatte. »Dr. Ryan Cole?« Mein Gott, diese Stimme.

»Ryan Cole, ja. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Sie stellte sich gerne nochmals vor. Sie schob ihre Notizen beiseite, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Plan war jetzt ein anderer.

»Dr. Cole. Ich habe Ihren Artikel über Finanzblasen im ›Journal of Computational Finance‹ gelesen«, log sie. »Aufregend, Ihre Arbeit. Wir möchten im ›Journal‹ einen Bericht darüber veröffentlichen. Dazu bitte ich Sie um ein kurzes Interview. Das Ganze muss natürlich für den Laien verständlich dargestellt werden. Ohne Ihre Hilfe schaffen wir das nicht bei der komplexen Materie, fürchte ich.«

»O – K – schießen Sie los.«, antwortete die Schokolade gedehnt.

»Das geht schlecht am Telefon, meine ich. Ich bin sowieso in den nächsten Tagen in England. Wäre es möglich, dass wir uns an der Universität treffen?«

»Wenn das so ist. Ich bin montags bis freitags immer hier.«

Der Termin war schnell fixiert. Egal, was Bob oder ihr SSO oder M55 davon hielten, dieses Interview musste vor Ort durchgeführt werden. Eine solche Stimme musste sie auf jeden Fall sehen. Der Flug über den großen Teich gab ihr Gelegenheit, das verstaubte Kompendium über ›Corporate Finance‹ nochmals durchzublättern. Sie würde dann nicht gar so nackt vor dem Mann stehen. Obwohl – bei der Stimme?

Universität Bristol, UK

Ryan hatte es eilig. Ohne die Wohnungstür abzuschließen, rannte er die Treppe hinunter, zum Haus hinaus und wollte sich aus dem Staub machen. Mr. Meriwether gefiel das gar nicht. Er stoppte Ryan mit einem ergreifenden Klagelied, das selbst Steine erweichen würde, sollte es länger dauern.

»Ich weiß – ach Mist. Tut mir leid«, murmelte Ryan zerstreut. Er kraulte den Kater kurz unter dem Kinn, wo er es am liebsten mochte. Nach wenigen Sätzen stand er wieder in der Küche, goss Milch in Mr. Meriwethers Teller und sauste zum zweiten Mal die Treppe hinunter. Als er den Teller unter das Vordach stellte, war die Hälfte der Milch verschwunden. Der Kater rümpfte zwar die Nase ob der mageren Mahlzeit, aber er ließ ihn ohne weiteren Protest ziehen.

Seit er am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, und vielleicht schon vorher, kreisten Ryans Gedanken um das Treffen mit der Journalistin. Es war sein erstes echtes Interview. Noch nie hatte sich jemand außerhalb des akademischen Zirkels von Strebern für seine Arbeit interessiert. Wie sollte er einem Laien in verständlichen Worten erklären, wie sein Modell funktionierte? Was bildete sich die Frau ein? Am meisten fürchtete er das Mikrophon. Wenn sie ein Aufnahmegerät vor ihn hinstellte, setzte sein Verstand aus, das wusste er aus Erfahrung. Schon die Rollenspiele in der Schule in Weymouth hatten stets in einer Katastrophe geendet. Er hätte niemals zusagen sollen. Dieses Interview machte einfach keinen Sinn. Warum konnten die Leute nicht einfach seine Arbeit lesen? Da stand alles klipp und klar drin. Mehr gab es nicht zu sagen. Diese Begegnung lag ihm wie ein Teller fetttriefende Fish and Chips im Magen.

Alle Selbstzerfleischung half nichts. Pünktlich um zehn rief ihn die Zentrale an: »Dein Interview ist da.«

»Ich komme«, antwortete er tonlos.

Als erstes fiel ihm auf, dass sie scheinbar ebenso nervös, fast unsicher wirkte wie er. Dann sah er ihre bis über die Schulter fallende kastanienbraune Haarpracht, die neugierigen schwarzen Augen, den weichen Mund und das kleine Näschen. Vor ihm stand nicht der abgebrühte Pressedrache, der seine Opfer gnadenlos zerzauste, wie er erwartet hatte. Jedenfalls sah sie nicht danach aus. Bis sie seine Hand wieder losließ, fühlte er sich schon beinahe entspannt.

»Ryan«, korrigierte er sie. »Einfach Ryan Cole. Bis zum Doktor dauert’s noch ein paar Monate.«

»Ach so, dann ist der Artikel Teil Ihrer Doktorarbeit?«

»Genau genommen ist er die Dissertation«, lachte er. »Der Rest der Arbeit besteht nur noch aus akademischer Staffage und Querverweisen.« Er redete mit ihr wie mit einem normalen Menschen, stellte er erstaunt fest. Sie standen noch immer in der Eingangshalle. Da er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, schaute sie ihn mit großen, fragenden Augen an. Das wirkte. »Ach – entschuldigen Sie«, sagte er verlegen. »Gehen wir in mein Büro.«

Sie folgte ihm einige Schritte, blieb plötzlich stehen und fragte beinahe scheu: »Ryan? Entschuldigung, gibt’s hier vielleicht einen Kaffee oder so etwas?«

»Sicher.« Er überlegte. Die saure Brühe seiner Kochnische durfte er ihr nicht anbieten. »Es gibt eine kleine Selbstbedienungs-Cafeteria im Institut. Ist das O. K.?«

»Wunderbar.«

Besser war der Kaffee nicht, nur weniger sauer, aber sie zuckte mit keiner Wimper. Nach einem winzigen Schluck setzte sie den Becher ab und sagte lächelnd:

»So spricht sich’s doch viel gemütlicher. Kleiner Reportertrick.«

»Bei mir hat er funktioniert«, grinste er. »Warnen Sie mich, wenn das Interview beginnt?«

»Es hat schon begonnen.«

Er stutzte. »Oh – ganz ohne Recorder? Oder sind Sie verkabelt?«

»Keine Angst«, lachte sie. »Ich merke mir einfach gut, was Sie sagen und werde hin und wieder Notizen machen, ganz klassisch. Ist das in Ordnung?«

»Hört sich brillant an.« Die Erleichterung war ihm sicher anzusehen.

Sie musterte ihn fast ein wenig spöttisch, wie ihm schien, bevor sie unvermittelt zur Sache kam und fragte:

»Sie sind also der Mann, der behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können?«

Es klang wie eine Feststellung. In einem gewissen Sinne stimmte die Behauptung ja auch. Trotzdem wusste er im ersten Moment nicht, was er darauf antworten sollte. Ihre schwarzen Augen warteten, Er musste etwas Sinnvolles sagen. »Nun …«, begann er gedehnt, »das scheint mir eine allzu einfache Zusammenfassung zu sein. Abgesehen davon behaupte ich gar nichts, ich leite her und stelle fest. Mathematik, mehr ist das nicht.«

»Aber in der Zusammenfassung schreiben Sie, dass Ihr Modell die Goldblase vom Januar 2010 korrekt vorausberechnet hätte. Für den naiven Leser hört sich das an wie eine Prophezeiung. Im Nachhinein zwar, aber immerhin.«

Schon hatte die süße Maus ihn festgenagelt. Sie wollte ein klares Ja oder Nein auf eine einfache Frage, auf die es keine kurze Antwort gab. »Wo soll ich nur beginnen«, murmelte er ratlos.

»Ganz vorn. Stellen Sie sich vor, ich sei Ihre kleine Schwester, der sie in wenigen Sätzen erklären wollen, was Sie tun.«

Er schüttelte lachend den Kopf. »Geht nicht«, meinte er. »So viel Fantasie habe ich nicht.« Plötzlich kam ihm der rettende Gedanke. »Vielleicht sollte ich Ihnen einfach schildern, wie unser Modell Finanzblasen erkennt.«

Sie nickte stumm. Langsam und konzentriert, auf jedes Wort bedacht, erklärte er den Algorithmus Schritt für Schritt, mit dem seine Software das Börsengeschehen analysierte. Manchmal stockte er, musste einen Satz in anderen Worten, ohne Fachbegriffe, neu formulieren. Die Aufgabe war schwierig, aber mit der Zeit fiel es ihm leichter, selbstverständliche Begriffe wie ›nichtlineare Abhängigkeit‹, ›Randverteilung‹ und ›schiefe Pareto-Distribution‹ zu meiden. Das Mäuschen hörte zu und machte brav Notizen, sodass er am Ende überzeugt war, die allgemein verständliche Sprache gefunden zu haben, die sie erwartete.

»Ausgezeichnet«, sagte sie schließlich lächelnd. »Sehen Sie, Sie haben doch genügend Fantasie.«

»Und das, obwohl ich leider keine kleine Schwester habe.«

»Ich weiß.«

»Sie wissen?«

»Aber sicher. Ich muss wissen, wen ich vor mir habe, wenn ich jemanden interviewe. Berufskrankheit. «

»Na gut, ist ja nicht gerade ein Geheimnis, dass ich als verwöhntes Einzelkind aufgewachsen bin.«

»Verwöhnt ist mir neu«, schmunzelte sie. »Darf ich das notieren?« Scherzhaft zückte sie den Stift.

Sie saßen immer noch in der Cafeteria. Ab und zu tauchte ein Student oder eine Assistentin auf, streifte seinen auffallenden Besuch mit einem neugierigen Blick und widmete sich dann der spärlichen Auslage. Er nahm an, alles gesagt zu haben und schlug vor, ihr das Modell in Aktion zu zeigen. Schon wollte er sich erheben, als sie ihn mit einer weiteren Frage überraschte:

»Was mich noch interessiert: Welche Daten verwenden Sie?«

»Preisfeeds von Reuters und Börsen, Webpages, Twitter, das halbe Internet.«

»Was ich meine: kann Ihr Modell erkennen, wo eine Blase entsteht, wer sie sozusagen verursacht?«

»Nein«, antwortete er verblüfft. »Die Frage hat sich bis jetzt nicht gestellt. Allerdings …«

»Ja?«

Täuschte er sich, oder hing sie jetzt an seinen Lippen, als wäre dies die wichtigste aller Fragen? »Ein sehr interessanter Hinweis, den Sie mir da geben«, antwortete er zögernd. »Ich glaube, es sollte möglich sein, Aussagen in dieser Richtung zu machen, wenn man die geeigneten Daten hat.«

»Was heißt geeignet? Bankdaten zum Beispiel – SWIFT?«

Er starrte sie mit offenem Mund an. Es war, als stießen sie übergangslos von harmloser Unterhaltung in die Tiefen des Modells vor, die zu verstehen nur Spezialisten vorbehalten war. »Sie – ja – das wäre möglich«, stammelte er. »Was – warum interessiert Sie das?«

Sie schaute ihn nachdenklich an. »Ich glaube, wir sollten das doch besser in Ihrem Büro besprechen«, meinte sie.

Er hatte seinen Arbeitsplatz bis spät in die Nacht auf Hochglanz poliert. Was er darunter verstand: Hefte, Zeitschriften, Ordner weg vom Tisch, hinein in die Schränke, Deckel zu. Probleme gab es bei zwei Rollcontainern, deren volle Schubladen alles zurückwiesen, was er hineinstopfen wollte. Es blieb nichts anderes übrig, als endlich einmal auszumisten. Eine zeitraubende Angelegenheit. Verlorene Zeit aus seiner Sicht. Wenigstens hatte sich der Aufwand gelohnt. Seiner Besucherin schien die neue Ordnung zu gefallen. Eine Weile betrachtete sie stumm die Formelwand, die mittlerweile übersät war mit handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen.

»Ihr Modell?«, wisperte sie schließlich ergriffen, als stünde sie vor Raffaels monumentaler ›Schule von Athen‹.

»Sieht ziemlich chaotisch aus, nicht?«

Sie drehte sich zu ihm um und schüttelte langsam den Kopf. »Eindrücklich würde ich sagen. Ich werde wohl nie verstehen, wie so etwas in einem einzigen Kopf Platz hat.«

Er lachte laut auf. »Sie unterschätzen das menschliche Gehirn, Alex.« Beinahe verloren stand sie da, blickte ihn ratlos an, schien zu überlegen, wie es weitergehen sollte. »Sie erwähnten SWIFT«, erinnerte er sie.

»Richtig.« Sie zögerte, dann sprach sie langsam weiter, wie jemand, der sich jedes Wort sorgfältig aussucht. »Ich muss Ihnen etwas beichten. Ich war an einer ganz andern Story, als mir Ihr Artikel auffiel. Vor vier Jahren wurde ein verheerendes und bis heute nicht aufgeklärtes Attentat auf ein Bergwerk für Seltene Erden in Kalifornien verübt. Viele Leute verloren damals ihr Leben. Zur gleichen Zeit schoss der Preis von Neodym in die Höhe, und wie es aussieht, hätte ihr Modell genau diese Entwicklung vorausgesehen. Wenn man nun Rückschlüsse ziehen könnte auf die Leute, die auf diesem Preisanstieg spekuliert und von ihm profitiert haben – verstehen Sie?«

Er hatte sofort begriffen, worauf sie hinaus wollte, als sie die Mine erwähnte. »Sie sprechen von Mountain Pass«, stellte er fest.

»Sie erinnern sich?«, rief sie überrascht.

»Ein – Bekannter kam dort ums Leben, deshalb werde ich den Ort nicht so schnell vergessen.«

»Das tut mir leid.« Wieder zögerte sie, bevor sie leise fragte: »Was halten Sie von meiner Idee?«

»Die Idee kann ich nachvollziehen. Es gibt nur ein ganz entscheidendes Problem, fürchte ich.«

»Nämlich?«

»Die Daten, die wir zur Verfügung haben, sind anonym. Sie lassen keine Schlüsse auf die Akteure an den Finanzmärkten zu. Es sind reine Preisbewegungen. Und an die SWIFT-Meldungen kommen wir nicht. SWIFT ist ein geschlossenes Netzwerk, sicher wie Fort Knox.«

»Glauben Sie?« Das erste Mal seit sie sein Büro betreten hatten lächelte sie entspannt. »Ich glaube, ich kann diese Daten beschaffen.«

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Das ist nicht Ihr Ernst«, stieß er aus.

»Ich habe gute Verbindungen.« Leiser Spott mischte sich in ihr Lächeln.

Er betrachtete ihre Visitenkarte, die er immer noch in der Hand hielt und murmelte kopfschüttelnd: »Alex, Alex, wer sind Sie wirklich?«

Sie ließ die Frage offen. Ihr Gesicht wurde ernst. »Die Vorstellung reizt Sie, nicht wahr?«, bemerkte sie.

Reizen war ein zu schwaches Wort. Hätte er tatsächlich derart detaillierte Daten wie SWIFT-Zahlungen mit ihren eindeutigen Sendern und Empfängern zur Verfügung, könnten die statistischen Auswertungen des Modells mit wenig Aufwand auf individuelle Datenquellen abgebildet werden. Nur eine technische Herausforderung, kein wirkliches Problem, aber eine ganz neue, zusätzliche Dimension von ungeheurer Sprengkraft. In Gedanken war er schon dabei, die SWIFT-Daten zu analysieren. »Am besten wären wohl Zahlungen vom Typ 202 und 103 geeignet«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Er kannte nur die wichtigsten Meldungstypen, aber die Zahlungs- und Deckungsanweisungen gehörten dazu.

Ihre Antwort kam ohne Zögern. »MT202 und MT103 haben wir – ich meine – kann ich beschaffen.«

»Sie haben sicher schon den fertigen Projektplan in der Tasche«, grinste er. Plötzlich stutzte er. »Die Idee hört sich verlockend an, aber wäre so etwas überhaupt legal?«

»Für uns schon. Wir arbeiten nicht mit gestohlenen Daten, wenn Sie das meinen. Könnten Sie sich eine solche Zusammenarbeit vorstellen?« Bevor er Zeit hatte zu antworten, fügte sie schnell hinzu: »Es wäre der absolute Knüller, wenn dadurch die Hintergründe des Attentats von Mountain Pass aufgedeckt werden könnten.«

»Mountain Pass – gibt’s Neues?«, fragte eine bekannte Stimme. Jessie war unbemerkt durch die offene Tür ins Büro geschlüpft. »Oh Verzeihung, störe ich?«, entschuldigte sie sich, als sie die Unbekannte erblickte.

Ryan lachte verlegen. »Nein, natürlich nicht.« Er hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging. Es war Mittag, und Jessie erschien wie vereinbart zum Lunch. Die zwei Frauen belauerten sich schweigend, unschlüssig, ob sie lächeln oder die Krallen wetzen sollten. »Äh – darf ich vorstellen: Jessie, meine Verlobte«, sagte er zu Alex. »Jessie, das ist Alex vom ›Wall Street Journal‹. Sie interessiert sich für mein Modell.«

Jessie gab Alex vorsichtig die Hand. Zu Ryan gewandt sagte sie: »Ich möchte wirklich nicht stören. Wenn du mit Alex zu tun hast …« Das Wort Alex hörte sich fettgedruckt an, wie wie eine Drohung.

»Nein, nein«, lächelte die Journalistin säuerlich, den Blick starr auf ihn gerichtet. »Ich meine, ich habe Ihre Zeit schon zu sehr in Anspruch genommen. Vielen Dank für das Interview, Ryan.« Sie verabschiedete sich eilig und war schon an der Tür, als sie ihm nochmals zulächelte. »Wir bleiben in Kontakt.« Dann ließ sie ihn allein mit Jessie.

»Wir bleiben in Kontakt«, äffte sie ärgerlich nach. »Was war das denn?«

»Das frage ich mich auch«, antwortete er in Gedanken versunken.

Hockenheim, Deutschland

Der Fahrer im rot-weißen 4-Liter Porsche 997 GT3 verfluchte den gelben Klon vor seiner Nase. Der Scheißkerl fuhr die Spitzkehre so ungeschickt an, dass er keine Möglichkeit hatte, ihn noch vorher zu überholen. Robert Bauer kannte den Hockenheimring wie seine Westentasche. Er fuhr die letzte Runde im Porsche Sports Cup. Noch nicht das Finale, aber die Punkte brauchte er. Der gelbe Trottel drohte ihm auf dem letzten Kilometer noch den Sieg zu vermiesen.

»Nicht mit mir, Bursche«, knurrte Robert zähneknirschend unter der Gesichtsmaske. Er hängte sich so dicht an den Vordermann, dass sein Wagen das Heck des gelben Porsche fast berührte. Kurz vor der scharfen Rechtskurve schaltete er in den ersten Gang. Der Gelbe fuhr weit außerhalb der Ideallinie in die Spitzkehre hinein. Seine Chance war gekommen. Kaum hatten sie den 50er Punkt hinter sich, touchierte er die rechte Hinterbacke des Gelben. Nur leicht, gerade kräftig genug, um ihn weiter nach links ausbrechen zu lassen. Sofort besetzte er die Lücke. Er drückte aufs Gas, schaltete schnell hinauf. Nach fünfzig Metern war der Gelbe Geschichte. Robert hatte freie Fahrt auf der Geraden vor der Tribüne. Wenn er jetzt keinen Fehler mehr machte, war ihm der Pokal sicher, einmal mehr. Grinsend holte er das Letzte aus seinen 480 PS heraus. Er erwischte das Knie vor der Mercedes-Tribüne gut. Noch einmal beschleunigte er auf Höchstgeschwindigkeit. Der Abstand zum Gelben war so komfortabel, dass er die letzten beiden Schikanen, die heimtückische Sachs-Kurve und die Südkurve vor der Zielgeraden, locker hinter sich brachte.

»Starke Vorstellung«, rief ihm der Mechaniker entgegen, als er an der Boxe den Motor abschaltete. Das Gesicht des Mannes, der ihn mit seinem kleinen Team schon seit einer Ewigkeit betreute, leuchtete vor Aufregung, als hätte er selbst am Steuer gesessen.

»Etwas anderes erwartet?«, lachte Robert und ließ sich umarmen. Das berauschende Hochgefühl, es wieder einmal allen gezeigt zu haben, stellte sich erst jetzt langsam ein. Es fühlte sich jedes Mal an wie die Sekunden vor dem Höhepunkt beim Liebesspiel, nur besser. Unschlagbar zu sein berauschte ihn auf der Rennbahn genauso wie im Handelsraum am Paradeplatz. Er war süchtig nach Sieg, das wusste er und jeder, der mit ihm zu tun hatte. Auch seine Sponsoren hatten das früh bemerkt. Kaum einer seiner Rennkollegen konnte auf eine so lange, stabile Beziehung zu seinen Geldgebern zurückblicken. Er war, verdammt noch mal, der Größte, und er hatte alles Recht der Welt dazu.

Der Mechaniker gab ihm sein Handy zurück mit der Bemerkung: »Hat schon dreimal angerufen.«

Ein kurzer Blick auf das Display elektrisierte ihn. Goldzahn. »Scheiße, warum sagst du mir das nicht früher?« Nicht gut möglich, das wusste er auch, aber irgendwie musste er seinem Ärger Luft machen. Goldzahn am Sonntagnachmittag bedeutete mit Sicherheit eine ganz kurze Nacht. Er zog sich in eine ruhige Ecke im Fahrerlager zurück und drückte die Rückruftaste.

»Mister Bauer, gut dass Sie mich zurückrufen«, sagte der Chinese in seinem überdeutlich artikulierten Englisch. Es erinnerte Robert jedes Mal an seinen Sitznachbarn im Gymnasium. Nicht gerade der Hellste, ganz im Gegensatz zu Goldzahn.

»Entschuldigen Sie, Mister Li, dass ich erst jetzt zurückrufe. Ich war auf der Rennstrecke.«

»Ah – haben gewonnen?«

»Wie üblich«, lachte Robert.

Li stimmte lauthals in sein Lachen ein. Auch er liebte den Sieg. »Gut – gut, gut«, kicherte er gedehnt.

»Nun, womit kann ich meinen besten Kunden glücklich machen?«

Das Kichern verstummte unerwartet schnell. Mit Grabesstimme, als bedrückte ihn eine schwere Last, antwortete Li: »Ah – ich habe ein Problem, Mr. Bauer.«

Er erschrak. Hatte seine Bank Mist gebaut? Das wäre unverzeihlich. Der Herrscher über ›Galaxy Boom Industries‹ war der Traumkunde jedes Bankers, aber seine Fehlertoleranz lag ziemlich genau bei null. Während er sich noch eine diplomatische Antwort überlegte, beruhigte ihn Li:

»Unser Konzern braucht dringend Ihre Unterstützung bei wichtigen Transaktionen.«

»Verstehe.« Die Erleichterung war ihm wohl anzuhören. Er wartete auf die Einzelheiten, doch Li sagte nur:

»Ich habe Ihnen alles Nötige in die Bank gefaxt.«

»Gut, gut. Ich werde mich gleich morgen früh darum kümmern.«

»Ah – das ist leider zu spät, Mr. Bauer. Die erste Transaktion muss bei Handelsbeginn abgeschlossen werden. Ist das möglich?«

»Selbstverständlich. Handelsbeginn …«

»Schanghai, ja.«

Wusste er es doch: eine kurze Nacht. Aber Sieger sollten sich nicht über Schlafmangel beklagen. »O. K., Mr. Li. Ich fahre gleich los. In drei Stunden bin ich in Zürich.«

»Ausgezeichnet, Mr. Bauer. Wir sprechen uns.« Damit war die Leitung tot.

»In drei Stunden nach Zürich an einem Sonntagabend?«, fragte sein Mechaniker, der ihn zum Pressetermin abholen wollte. Er grinste spöttisch. »Eher optimistisch, würde ich sagen. Was ist los?«

»Dringende Geschäfte. Ich muss los, sorry.«

Nicht das erste Mal überließ er seinem Team die Pressearbeit, aber die Siegerehrung musste er bisher noch nie ausfallen lassen. Schwamm drüber, sagte er sich. Gute Geschäfte winkten. Bisher war noch jede von Goldzahns Aktionen bares Gold wert. Eine Viertelstunde später brauste er auf der A6 Richtung Karlsruhe. Verschwitzt, aber bereit zu jeder Schandtat. Die paar Minuten bis zum Autobahnkreuz Walldorf hatte er Glück, aber auf der A5 verdichtete sich der Verkehr von Minute zu Minute, dass er am Schluss ebenso gut mit dem Fahrrad nach Basel hätte fahren können, statt in seinem schicken 6er Cabrio. Der notorische Stau gab ihm wenigstens genug Zeit zum Telefonieren. Einmal mehr versuchte er mit dem Knopf im Ohr, seine Händlerin zu erreichen.

»Nimm ab. Mach schon, verdammt«, fauchte er wütend, als er wieder nur den Summton hörte.

»Was soll ich machen?«

Charlottes Stimme hörte sich verschlafen an. »Endlich«, seufzte er. »Störe ich?«

»Robert, mein Lieber. Hast du eine Ahnung, was für ein Tag heute ist?«

»Hochzeitstag?«, blödelte er. Seine Lotte war ein ebenso eingefleischter Single wie er.

»Sonntag, lieber Chef. Heute ist Sonntag. Mein freier Tag, um genau zu sein. Also, was willst du? Mach es kurz, bitte. Ich bin müde.«

»Warum auch immer«, brummte er böse. »Hör zu. Goldzahn hat einen Auftrag gefaxt. Er braucht uns für eine Aktion gleich bei Handelsbeginn in Schanghai. Wäre nett, wenn du die Sache anschauen könntest. Ich bin unterwegs, werde aber noch drei, vier Stunden brauchen.«

»Schanghai. Ich bin begeistert. Was für eine Aktion soll das sein?«

»Keine Ahnung. Du weißt, er spricht nicht gern am Telefon über seine Geschäfte.«

»Sicher. Mal sehen, ob ich die Bank in meinem Zustand noch finde.« Sie unterstrich die Antwort mit lautem Gähnen.

»So besoffen kannst du gar nicht sein.«

»Ich dich auch«, stöhnte sie und legte auf.

»Ein Schätzchen, die Lotte«, murmelte er grinsend. Sie mochte manchmal eine ausgesprochene Kratzbürste sein, aber zuverlässig war sie, sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Stadt schlief schon, als er um Mitternacht vom Landesmuseum in den Bahnhofquai einschwenkte. Am Sonntagabend ging das anständige Zürich früh zu Bett, dachte Robert abschätzig. Fit musste man sein am Montagmorgen im Büro. Der sittenstrenge Reformator Zwingli beherrschte noch immer heimlich das Leben in seiner sonst ganz vernünftigen Stadt. Wenigstens brauchte er sich um diese Zeit nicht über Idioten auf der Straße aufzuregen. Die Tiefgarage der Bank am Paradeplatz war leer, trotzdem nahm er an, dass Charlotte schon eine ganze Weile über Goldzahns Fax brütete. Sie wohnte in der Nähe, mitten in der Stadt, kam stets zu Fuß zur Arbeit. Er wusste nicht einmal, ob sie überhaupt motorisiert war, obwohl sie schon seit vielen Jahren neben ihm am Handelspult saß.

»Wenn du mich fragst, riecht das ganz nach alter Masche«, begrüßte sie ihn, ohne den Blick von ihren Bildschirmen zu lösen.

Er legte ihr eine flache Schachtel neben die Tastatur. »Meinst du das?«

»Studentenküsse!«, rief sie begeistert und sprang auf. Ein Augenzwinkern später verschwand ein Kleingebäck in ihrem Mund.

Das letzte Mal hatte er die süße Versuchung aus Heidelberg vergessen, worauf ihr vorübergehend ein paar Haare mehr auf den Zähnen gewachsen waren. Er nahm das Fax von ihrem Pult und vertiefte sich in Goldzahns ausführliche Anweisungen. Der chinesische Unternehmer liebte es, seine Wünsche in langatmige Prosa zu fassen, deren Sinn sich ihm erst nach und nach offenbarte. Der Text steckte voller subtiler Hinweise. Nebensätze, die nur der Ausschmückung dienten, verdichteten sich zu einer zweiten Informationsebene hinter den eigentlichen Anweisungen. Der Subtext verriet ihm Goldzahns Motivation und seine Sicht auf das Marktgeschehen. Eine Sicht, die ihm und der Bank schon fette Profite beschert hatte. Er verstand nun Charlottes Kommentar. Der Auftrag lautete, mit Devisengeschäften und Börsentransaktionen Cash zu beschaffen für den über die nächsten Wochen gestaffelten massiven Ankauf von Lithium aus Chile und Argentinien. Gleichzeitig sollten die Aktienbestände der zwei Firmengruppen, die in den USA hauptsächlich Komponenten aus diesem Rohmaterial herstellten, verkauft werden. Ein Déjà-vu. Ein ähnliches Fax hatte er vor vier Jahren schon einmal gesehen. Damals ging es nicht um das weit verbreitete Lithium, das man für Akkus, Elektroautos und Spezialgläser benötigte, sondern um das Seltene Erden Metall Neodym.

»Die alte Masche, wie du gesagt hast«, murmelte er nachdenklich.

Sie nickte mit vollem Mund. Die halbe Schachtel war leer. Sie spülte die klebrige Schokolade mit Cola hinunter, dann meinte auch sie in Gedanken versunken: »Diesmal schießt er sich auf Lithium ein.«

»Li kauft Li – passt«, grinste er, doch er war sich keineswegs sicher, ob er sich auch diesmal freuen sollte. »Er wird wissen, was er tut, packen wir’s.« Ihre Transaktionen würden bereit sein, wenn die Märkte in China öffneten. Und sein Broker in Zug durfte sich auf ein paar einträgliche Geschäfte freuen. Der Geizkragen müsste ihm sowieso wieder einmal einen Abend in der ›Kunststuben‹ an der Goldküste finanzieren.

Fort Meade, Maryland

Die zartbittere Schokolade war also verlobt. Gedankenverloren schaute Alex zu, wie die Sicherheitsbeamtin ihre Tasche durchwühlte. Sie hätte es sich ausmalen können. Eine solche Stimme, dazu noch in einer knackig sportlichen Hülle, konnte nicht Single sein. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, um die bitteren Gedanken zu vertreiben.

»Ist was?«, fragte die Uniformierte befremdet.

»Alles O. K.«

Zum ersten Mal fiel ihr die Rückkehr nach Fort Meade nicht ganz so leicht wie sonst. Das beunruhigte sie, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Die drei Tage Shopping und Theater in London, die sie an die Geschäftsreise angehängt hatte, genügten offenbar bei weitem nicht, sich diesen Ryan aus dem Kopf zu schlagen. Während ihres Interviews rückte das Thema zeitweise etwas in den Hintergrund. Das Begehren drohte sich vom Modell des Briten auf den Briten selbst zu verlagern. Ganz entgegen den klaren Regeln des Sicherheits-Handbuchs für NSA Angestellte. Was soll’s, sagte sie sich nicht zum ersten Mal, seit sie die Universität von Bristol verlassen hatte. Eine solche Beziehung hätte sowieso keine Chance.

»Danke, Madam«, murmelte die Frau vom Sicherheitsdienst und schob den Inhalt ihrer Tasche über den Tisch. Einräumen durfte sie selbst. Die Prozedur beim Betreten des ›Building‹ gehörte auch zu den Rätseln, die Alex bis jetzt nicht verstand. Warum konnten die nicht einfach ein paar vernünftige Scanner installieren, die jedes elektronische Bauteil sofort orteten? Vor Elektronik in jeder Form fürchteten sie sich in Fort Meade wie der Papst vor den Frauen. Niemand führte ein Handy, eine Kamera, einen iPod oder Laptop mit sich, wenn er das Gebäude betrat oder verließ. Jeder wusste das. Die Angst vor miniaturisierten Megabytes war größer als die Abneigung gegen Schusswaffen und Klappmesser. Vielleicht müssten die Angestellten eines Tages ihr Hirn leeren vor dem ›COB‹, dem ›Close of Business‹, vulgo Feierabend. Soweit war es Gott sei Dank noch nicht. Weshalb aber beschäftigten sie Heerscharen Uniformierter, um nach Spiegeln, Taschentüchern und Nasensprays der Angestellten zu graben? Unangenehm für beide Seiten und irgendwie überflüssig, doch sie musste ja nicht alles verstehen. Sie stopfte ihre Habseligkeiten in die Tasche, nahm den Notizblock vom Tisch, den niemand beachtet hatte, und machte sich auf den hindernisreichen Weg in ihr privilegiertes Büro – ›f2b‹ zwanzig!

Sie schaffte es, die Tür zu schließen, ohne dass Bob sie abfing. Sie fuhr den PC hoch, loggte sich ein und erledigte die Routinearbeiten ohne Begeisterung, dafür umso schneller. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sie rief das Formular für den Rapport ihrer Geschäftsreise auf. Mechanisch tippte sie die notwendigen Angaben wie Datum, Kontaktadresse, Zweck des Besuchs in die Felder des Deckblatts. Dazwischen schielte sie auf den Notizblock, als graute ihr vor seinem Inhalt. Das wichtigste Ziel der Reise hatte sie klar verfehlt. Ryans Modell lagerte noch immer unverstanden auf den Servern der Universität in Bristol. Schwierig, diese Tatsache so zu formulieren, dass ihr Boss die Reise als Erfolg verbuchte. Bobs Weltsicht in dieser Hinsicht war einfach: Ziel erreicht oder nicht, gut oder schlecht. Sie sah die Dinge differenzierter. Sie kannte Zwischentöne zwischen weiß und schwarz. Aus ihrer Sicht hatte sich die Reise gelohnt, und das nicht nur, weil sie nach langer Zeit wieder einmal die Luft von Oxford Street und West End geschnuppert hatte. Der Kontakt zum britischen Genie war hergestellt. Sie wusste nun, dass sein Modell höchst wahrscheinlich für die Suche nach den Hintermännern von Mountain Pass taugte. Sie hatte ihn neugierig gemacht. Mehr noch: er hatte Blut gerochen. Wenn sie nicht alles täuschte, war er bereits an der Erweiterung seines Modells, die sie so locker nebenbei besprochen hatten. Und all das, ohne ihre wahre Identität und Aufgabe preiszugeben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto zufriedener fühlte sie sich. Auch Bob musste das mit der Zeit begreifen. Sie wusste jetzt, was sie schreiben wollte. Jedes Wort war wichtig, vor allem die Wörter, die man wegließ. Darin hatte sie Übung aus ihrer Zeit beim ›Journal‹.

Ihr Bericht neigte sich dem Ende zu, als das schwarze Telefon klingelte. Sie zuckte zusammen. Ihr Herz pochte und das Blut schoss ihr in die Schläfen, als sie die Vorwahl des Anrufers sah: 44, Großbritannien. Die Journalistin nahm den Hörer und meldete sich wie üblich:

»›Wall Street Journal‹, Alex Oxley.«

»Alex, guten Morgen. Ryan Cole hier.«

»Ryan, wie geht es Ihnen? Gut dass Sie anrufen. Ich wollte mich gerade bei Ihnen melden«, flunkerte sie, während sie versuchte, sich trotz der Stimme am andern Ende der Leitung zu beruhigen.

»Trifft sich gut. Es gibt Neuigkeiten.«

»Ich höre?«

»Wollen Sie eine Wette mit mir abschließen?«

»Ich verliere immer«, lachte sie.

»Diesmal bestimmt, wenn Sie gegen mich wetten. Sie wissen, wir lassen das Modell jetzt dauernd den Markt beobachten. Seit heute Morgen erkennen wir einen neuen, völlig unerwarteten Trend im Commodity-Handel. Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren für Ihren Artikel.«

»Auf jeden Fall. Worum geht es denn?«

»Lithium. Seit ein paar Tagen entwickelt sich der Preis genau nach dem Muster einer typischen Blase. Sie wird innerhalb eines Monats platzen. Dann fallen die Preise wieder auf das alte Niveau.«

»Sie sagen ja doch die Zukunft voraus«, neckte sie. Dann fragte sie im Tonfall der routinierten Statistikerin: »Konfidenz?«

»Achtzig Prozent.«

»Immerhin. Das ist gut. Ich wette nicht, aber ich wünsche, dass Ihre Voraussage in Erfüllung geht. Wäre eine brillante Ergänzung für den Artikel.« Achtzig Prozent betrug die Wahrscheinlichkeit, dass die Lithium-Blase innerhalb eines Monats platzte. Erstaunlich, wie genau das Modell rechnete, wenn sich die Wirklichkeit an die Prognose hielt.

»Wenn Sie wollen, sende ich Ihnen die Details an die Mailadresse auf Ihrer Karte. Ist das in Ordnung?«

»Ja, natürlich, ausgezeichnet. Vielen Dank, Ryan.« Der Name schmolz auf ihrer Zunge fast wie die Schokolade in seiner Stimme.

Bob streckte den Kopf zur Tür herein. Wie üblich ohne anzuklopfen. Sie hob nur den schwarzen Hörer in die Höhe, worauf er sich sofort wieder zurückzog. Schwarze Anrufe wirkten in diesem Haus besser als Besetztzeichen an der Tür.

»Alex? Sind Sie noch da?«

»Ja, sorry.«

»Ich fragte, weshalb Sie mich sprechen wollten.«

»Ach so, ja – klar.« Lass dir schnell etwas einfallen, Mädchen. Sie räusperte sich, während ihre Gedanken rasten. Der künstliche Husten half ihr, für eine Sekunde nicht an die sportliche Stimme zu denken. »Ich – wollte mich erkundigen, ob Sie nochmals über die Erweiterung nachgedacht haben.«

»Die SWIFT-Sache meinen Sie?«

»Ja.«

»Die dürfte ziemlich trivial sein. Wir brauchen nur ein Stück Software, das die Meldungen analysiert und die benötigten Felder für unsern Input Feed aufbereitet. Ein Kinderspiel für einen SWIFT-Spezialisten. Die Auswertungsmodule sind bereits so konzipiert, dass sie alle Resultate bis zu den Quellen aufschlüsseln können. ›Backtracking‹ nennen wir das.«

»Das ist – gut.« Eine intelligentere Antwort fiel ihr nicht sofort ein. Heute war ihr Glückstag. Bob würde begeistert sein. Vielleicht auch nicht. Das Modell war immerhin noch nicht im Haus.

»O. K., ich muss wieder. Hat mich gefreut, mit Ihnen zu sprechen, Alex.«

»Mich – auch. Bitte die Mail nicht vergessen.«

»Alles klar. Bis zum nächsten Mal.«

Gar nichts war klar. Was bildete dieser Ryan sich ein, sie derart zu verwirren? Warum tauchten plötzlich die verträumten Augen seiner Verlobten hinter ihrem Monitor auf? Das blonde Gift sagte kein Wort, aber sie wusste genau, was die Frau sagen wollte. Und sie hatte wahrscheinlich recht.

»Schlag dir diesen Kerl aus dem Kopf«, schnauzte sie das Phantom an.

»Was soll ich?« Bob trat ein. Er schien nur gewartet zu haben, bis sie den Hörer auflegte.

»Komm doch herein«, lächelte Alex säuerlich.

»Lass die Scherze. Wo ist das Modell?«

»Das ist eine längere Geschichte. Der Bericht ist fast fertig. Wenn du mir noch zehn Minuten …«

»Wäre ich dann in deinem lausigen Büro? Ich habe keine zehn Minuten. Also?«

»Das Modell muss erst erweitert werden.« Es hörte sich an wie eine Tatsache, und so ganz falsch war die Antwort nicht. Sie erklärte ihm die notwendigen Anpassungen, indem sie wiederholte, was sie eben gehört hatte.

»SWIFT-Gurus haben wir genug«, brummte Bob. »Kein Problem. Wo sind die Spezifikationen?«

Gute Frage. Wenn sie ihre SWIFT-Daten in Ryans Modell füttern wollten, mussten die Programmierer der NSA genau wissen, welche Informationen in welchem Format die britische Software benötigte. Mist. Verwirrt wie sie war, hatte sie völlig vergessen, diese naheliegende Frage zu stellen. »Er – meint, die Schnittstellen müsse man zusammen erarbeiten«, antwortete sie unsicher. Sie hoffte, Bob würde die Spekulation nicht riechen.

Er schüttelte den Kopf und knurrte verächtlich: »Blödsinn.«

»Vergiss nicht: das ist ein Forschungsprojekt, kein kommerzielles Software-Paket mit sauber dokumentierten Modulen und Daten-Schnittstellen.« Wenn sie schon flunkerte, konnte sie gleich weitermachen. Sie musste dringend das Thema wechseln. »Ich habe übrigens gerade mit Ryan gesprochen«, erwähnte sie beiläufig.

»Und?«

»Es gibt interessante Neuigkeiten. Sein Modell ist einer weiteren Blase auf der Spur, die sehr bald platzen soll.«

»Was du nicht sagst.«

Sie ignorierte den sarkastischen Unterton und berichtete von Ryans Wette. Sobald sie das Lithium erwähnte, horchte Bob auf.

»Lithium?«, unterbrach er erregt. »Lithium, verstehst du? Batterien, Akkus, Elektronik, Elektroindustrie, Waffentechnologie, Energiepolitik. Klingelt’s?«

»Ich weiß nicht …«

Händeringend klärte er sie auf: »Mountain Pass, Neodym, Magnete für Generatoren, Elektromotoren, Waffen, Energiepolitik. Siehst du einen Zusammenhang?«

»Du glaubst …«

»Was ich glaube braucht niemanden zu interessieren. Wir brauchen alle Facts über diese Lithium-Geschichte, und zwar auf der Stelle. Eine zweite Pleite wie Mountain Pass können wir uns nicht leisten.«

»Ich erwarte die Mail mit den Einzelheiten jede Minute.«

Zum ersten Mal an diesem Morgen zeichnete sich etwas wie ein zufriedenes Schmunzeln auf Bobs harten Gesichtszügen ab. Beinahe schon ein wenig Bewunderung für seine fixe Mitarbeiterin.

Im Westen geht die Sonne unter

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