Читать книгу Staatsfeinde - Hansjörg Anderegg - Страница 5
ОглавлениеKAPITEL 1
Aachen
Nichts als verstaubte Klassiker in dem Laden: Seneca, Plato, Thomas von Aquin, Leibnitz, Nietzsche. Bertrand Russells ›Philosophie des Abendlandes‹ fasste die alle bequem auf achthundert Seiten zusammen. Das Buch aus dem Jahre 1946, wohl das jüngste Werk im Antiquariat Rosenblatt, lag aufgeschlagen neben Jakobs Leiche.
Wer erschießt einen Neunzigjährigen?, schoss es Phil durch den Kopf, bevor der Schock einsetzte und er am ganzen Körper zu zittern begann, als herrschte klirrende Kälte in Jakobs Refugium im Schatten des Aachener Doms. Das Haus schlief, tot wie der alte Mann. Phils Augen füllten sich mit Tränen. Neunzig Jahre hatte Jakob Rosenblatt auf diesem Planeten überlebt, als Kind zugesehen, wie die Nazis seine Eltern mitten in der Nacht abführten. Niemand hatte je wieder etwas von ihnen gesehen oder gehört. Die Rosenblatts aus Aachen blieben verschollen, als hätte es sie nie gegeben. Jakob aber war der lebende Beweis ihrer Existenz und ihres Wirkens. Hatte er auch nie wirklich darüber gesprochen, verstand Phil dennoch, dass Jakob gerade deshalb die Gräuel überstanden hatte und trotzig uralt geworden war.
Das Telefon fiel ihm beinahe aus der Hand, als er die 110 anrief.
»Wie lautet die Anschrift?«, wollte die Beamtin wissen.
»Äh – Pontstraße.«
»Hausnummer?«
Er kannte sie nicht. Seit zwölf Jahren, seit der Studienzeit an der TH, wohnte er gegenüber Jakobs Antiquariat, ohne eine Sekunde über dessen Hausnummer nachgedacht zu haben.
»Antiquariat Rosenblatt«, antwortete er heiser und legte auf.
Trotzdem gehörten Jakobs stickige Zimmer voller staubiger Bücher und vergessener Spinnweben beinahe zu seiner Wohnung. Den Master hatte er zwischen Jakobs toten Philosophen geschrieben. Die Gewissheit, dass sich viele Texte in diesen Wälzern längst als leere Behauptungen und Irrtümer erwiesen hatten, beruhigte den Informatiker. Phil war nicht an den Ergüssen der Philosophen interessiert. Er wollte die Tiefen des menschlichen Geistes ergründen, verstehen, was hinter den Gedanken eines Leibniz oder Schopenhauer steckte und weshalb. Was ist die Essenz des menschlichen Geistes? Diese einfache Frage, unendlich schwierig, vielleicht unmöglich zu beantworten, trieb ihn um, seit er die Pubertät hinter sich gelassen hatte. Phil Schuster, der erste Mensch, der einem Computerprogramm menschlichen Geist einhauchte? Unmöglich war es nicht. Andere Leute träumten vom großen Geld.
Sirenengeheul näherte sich. Erschrocken stellte er fest, immer noch wie angewurzelt vor Jakobs Leichnam zu stehen und auf die Blutlache unter seinem Kopf zu starren.
»Mir wird schlecht«, antwortete er auf die erste Frage.
Die Mundwinkel des Kommissars sanken eine Etage tiefer, was er nicht für möglich gehalten hätte. Sein Gegenüber rettete sich mit einem Satz rückwärts außer Reichweite.
»Kotzen Sie mir bloß nicht auf die Stiefel, junger Mann!«
Phil riss den Blick endlich los vom Toten. Mit Mühe gelang es ihm, das Würgen zu unterdrücken und den Herrn in der Lederkluft anzusehen. Grau meliertes Haar, Boxernase, mindestens einmal gebrochen, stand der Typ da und blickte durch ihn hindurch, als interessierte er sich nicht im Mindesten für den Tatort oder seine Antworten. Er hatte sich als Kriminalhauptkommissar Tom Fischer, LKA NRW, vorgestellt.
»Sie sind Phil Schuster? Sie haben die Leiche entdeckt?«, wiederholte er, sichtlich besorgt um seine Stiefel.
Phil nickte. Eine Beamtin brachte ihm ein Glas Wasser. Es gab Leute beim LKA Düsseldorf, die Gedanken lesen konnten. Der Rechtsmediziner verrichtete seine Arbeit, und die Kriminaltechniker begannen wie ein Schwarm Außerirdischer, die Spuren zu sichern.
»Erzählen Sie!«, forderte Kommissar Fischer ihn auf.
Dabei streifte ihn ein süßsaurer Hauch aus dem Mund des Polizisten, dass das Würgen augenblicklich wieder einsetzte. Das Wasser verhinderte Schlimmeres.
»Ich muss hier raus«, murmelte er mit erstickter Stimme.
Fischer nickte stumm. In sicherem Abstand folgte er ihm auf die Straße. Es war eine warme Sommernacht, für einmal trocken und Freitag. Halb Aachen hatte sich in den Kneipen und auf der Pontstraße versammelt. Angeheiterte Schaulustige versuchten immer wieder, die Absperrung vor dem Antiquariat zu durchbrechen. Fischers Miene verfinsterte sich. Auch das hätte er nicht für möglich gehalten. Der Mann war zudem bewaffnet. Phil traute ihm nicht. Rasch begann er zu berichten, um ihn abzulenken.
»Ich wohne gegenüber im zweiten Stock. Gegen acht kam ich von der Arbeit nach Hause. Mir ist gleich aufgefallen, dass noch Licht brannte in Jakobs Laden, und die Haustür stand halb offen. Jakob schließt sonst pünktlich um fünf.«
Fischers Augenbrauen hoben sich drohend.
»Woher wollen Sie das wissen, wenn sie bis spät abends arbeiten?«
»Ich weiß es eben. Hören Sie, ich kenne Jakob Rosenblatt seit mehr als zehn Jahren, habe das halbe Studium in seinem Antiquariat verbracht. Wir sind – waren gute Freunde.«
»Auch gute Freunde …«
Weiter kam er nicht. Der Rechtsmediziner unterbrach ihn:
»Fertig.«
»Wurde auch Zeit.«
»Sie mich auch. Wollen Sie lieber auf meinen schriftlichen Befund warten?«
»Erzählen Sie schon, verdammt noch mal. Diesen Radau hier hält ja keine Sau aus.«
Phil gab vor, sich nicht für den Bericht des Mediziners zu interessieren und spitzte die Ohren.
»Der Mann ist aus nächster Nähe im Stehen erschossen worden. Ein Schuss genau zwischen die Augen.«
»Kaliber .45, HK45 vielleicht«, unterbrach eine Technikerin, den Plastikbeutel mit einem Projektil in der Hand. »Es steckte auf Augenhöhe im Büchergestell hinter der Leiche.«
»Todeszeitpunkt?«
»Vermutlich heute Abend zwischen sechs und sieben«, antwortete der Rechtsmediziner. »Genaueres nach der Obduktion.«
»Kampfspuren?«
Mediziner und Technikerin schüttelten den Kopf. Die Beamtin, die Gedanken lesen konnte, trat herbei.
»Die Tür zum Hausflur stand offen. Herr Rosenblatt muss den Täter oder die Täterin hereingelassen haben, ohne Verdacht zu schöpfen.«
Der Mediziner verabschiedete sich mit angedeutetem Kopfnicken, ohne von jemandem beachtet zu werden.
»Er muss sofort tot gewesen sein, nicht wahr?«, fragte Phil leise.
Fischer zuckte nur die Achseln. Seine Partnerin zeigte mehr Mitgefühl.
»Davon ist auszugehen«, stimmte sie mit besorgtem Blick zu. »Besser?«
»Geht so. Wenigstens musste er nicht auch noch leiden, der arme Jakob. Wer tut so etwas?«
»Wo waren sie zwischen sechs und sieben Uhr heute Abend?«, fragte Fischer ungerührt.
Der Mann nervte. Phil war versucht, ihm einfach den Rücken zu kehren und sich in der nächsten Kneipe volllaufen zu lassen.
»Sie fragen mich jetzt nicht ernsthaft nach einem Alibi«, zischte er wütend. »Ich habe die Polizei alarmiert, schon vergessen?«
Fischer blickte stur durch ihn hindurch und wiederholte die Frage.
»Ich war bei der Arbeit wie gesagt. PR-Agentur Stein in Köln.«
Fischers Augenbrauen schossen bis zum Anschlag in die Höhe.
»Ist das verboten?«, fragte Phil provozierend.
Verblüfft stellte er fest, wie sich Fischers Lippen zu einem spöttischen Lächeln verformten.
»Sie arbeiten also für den guten John Stein im Kölnturm.« Mit einem Seitenblick auf seine Partnerin fügte er hinzu: »Überprüfen!«
»Ob John Stein gut ist, ist Ansichtssache.«
Er hatte genug von Fischers Show, aber der Kommissar war noch nicht fertig.
»Steckt der liebe John hinter der neusten Hetzkampagne im Netz, die das halbe LKA auf Trab hält? Ihre PR-Agentur ist doch auf Müll wie Facebook und Twitter spezialisiert. Stimmt’s oder habe ich recht?«
»Was hat das jetzt wieder mit Jakobs Tod zu tun?«, brauste er auf. »Im Übrigen beschäftige ich mich nicht mit Steins Kampagnen. Ich bin für die Softwareentwicklung zuständig. War›s das?«
Fischers Partnerin konnte nicht nur Gedanken lesen, sie arbeitete auch schnell.
»Das Alibi ist bestätigt«, stellte sie fest.
Fischer nahm es widerwillig zur Kenntnis und herrschte ihn an:
»Morgen um zehn im LKA Düsseldorf fürs Protokoll.«
»Als hätte ich nichts Besseres zu tun«, brummte er und ging über die Straße zu seinem Haus. Dessen Nummer kannte er immerhin auswendig. Die Kneipe war keine Option mehr. Die Bemerkung des Kommissars über die Hetzkampagne im Netz ließ ihm keine Ruhe. Er stieg zur Wohnung hinauf und setzte sich an den Computer. Eher widerwillig loggte er sich in seinen Twitter-Account ein. Die unsozialen Netzwerke, wie er sie nannte, interessierten ihn nur aus der Sicht des Ethnologen. Wie der Völkerkundler das Verhalten eines unbekannten Stammes erforscht, beobachtete er die Reaktion der Benutzer auf gezielt gestreute Reize. Das Netz mit seiner Milliarde Nutzer war hervorragend geeignet, mehr über die menschliche Psyche zu erfahren. Er schmunzelte beim scheinbaren Widerspruch, ausgerechnet die Spielwiese voller Falschmeldungen und abstruser Verschwörungstheorien zur Analyse des menschlichen Geistes zu verwenden. Die Methode schien zu funktionieren – und wie!
Nach kurzer Zeit verschwand sein Lächeln. Blankes Entsetzen packte ihn. Die Hetze im Netz entlud sich explosionsartig gegen einen Mann, den er kannte, denn er wohnte gegenüber in Jakobs Haus, immer dann, wenn er eine Auszeit vom Politik-Zirkus in Brüssel brauchte. Das war ziemlich häufig der Fall. Dann brannte schummriges Licht hinter roten Vorhängen in seiner Wohnung wie in einem Puff, so wie jetzt. Nur das übliche Schattenspiel fehlte an diesem Abend.
Tom Fischer ging in den Hausflur zurück und schloss die Tür hinter sich, nachdem der Leichenwagen mit den sterblichen Überresten des Antiquars abgefahren war. Mit leidender Miene hielt er seiner Partnerin zur Versöhnung eine zerknitterte Tüte hin.
»Gummibärchen?«
Sie schüttelte wie üblich den Kopf und fragte zurück:
»Aspirin?«
Er würgte zwei Tabletten trocken hinunter. Sein Schädel würde deswegen nicht weniger brummen. Da musste man schon mit anderem Geschütz auffahren.
»Wo bleiben die verdammten Rückmeldungen? Schlafen die alle noch? Befragt keiner die Hausbewohner?«
»Viele sind es nicht. Gerade mal zwei Parteien wohnen hier nebst Herrn Rosenblatt. Seine Wohnung befindet sich im ersten Stock über dem Laden. Die Spusi hat nichts Auffälliges entdeckt, was mit dem Mord in Verbindung stehen könnte.«
»Weiter oben? Hat denn kein Schwein diesen Schuss gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen annehmen, dass der Täter einen Schalldämpfer benutzt hat.«
»HK45 mit Schalldämpfer, Schuss aus nächster Nähe zwischen die Augen – ein Professioneller?«
Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht sollte es so aussehen. Ein Auftragskiller hätte allerdings zur Sicherheit auch noch …«
»Auch noch in die Brust geschossen, ich weiß, bin ja kein Anfänger«, unterbrach er schnaubend. »Was ist mit den anderen Stockwerken?«
»In der zweiten Etage wohnt ein Ehepaar Weber. Die sind seit einer Woche auf Kreuzfahrt im hohen Norden, kehren erst nächstes Wochenende zurück.«
»Und zuoberst? Da brennt Licht. Die müssen etwas bemerkt haben.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. Es wurde allmählich zur Gewohnheit, was seine Laune nicht verbesserte.
»Die ganze oberste Etage hat ein gewisser Albrecht Scholz gemietet, der bei der EU in Brüssel arbeitet, als Lobbyist der deutschen Automobilindustrie.«
»Endlich mal ein vernünftiger Job. Was hat denn so einer in einem Kaff wie Aachen zu suchen?«
»Wir sind dran. Der Background Check des Opfers und aller Anwohner läuft.«
»Die sollen sich mal ein wenig Mühe geben. Und vergesst unsern Freund Phil Schuster nicht.«
»Bin ich eine Anfängerin?«
Er überhörte den Kommentar, sagte nur:
»Dieser Lobbyist Scholz hat wohl auch nichts gehört oder gesehen, richtig?«
»Keine Ahnung, er sagt bisher gar nichts. Niemand hat bis jetzt auf unser Läuten und Klopfen reagiert.«
Er traute den Ohren nicht. Sein Gesicht lief rot an.
»Herr Scholz ging wohl kurz Zigaretten holen, was?«, schnauzte er sie an. »Tür aufbrechen! Gefahr im Verzug, schon mal gehört?«
Sie wandte sich kommentarlos ab, drehte sich jedoch nach zwei Schritten nochmals um.
»Was? Noch so eine Überraschung überlebe ich nicht«, seufzte er händeringend.
Sie ließ sich nicht beeindrucken.
»Ich fürchte, da müssen Sie durch, Chef. Bei der Hintergrundprüfung ist unserem Analytiker aufgefallen, dass möglicherweise eine Verbindung zwischen dem Lobbyisten Albrecht Scholz und Phil Schuster besteht.«
Die Welt hörte kurz auf zu drehen. Die Überraschung ließ ihn verstummen. Seine Augen hingen an ihren Lippen, als wäre sie im Begriff, Tausender-Chips zu spucken.
»Sie haben doch selbst die Schmutzkampagne im Netz erwähnt. Sieht so aus, als sei Herr Scholz im obersten Stock das Ziel der Angriffe unter dem Hashtag #PlayboyScholz auf Twitter.«
Er räusperte sich kraftvoll und spuckte dabei aus Versehen sein Gummibärchen aus. »Was hat das mit Phil Schuster zu tun?«
»Vielleicht nicht so viel, wie wir vermuten. Die Hetze hat aber mit einigen Kommentaren eines gewissen @philister begonnen. Bisher konnten wir diesen Philister nicht identifizieren, aber ich denke, wir müssen den guten Phil Schuster zu diesem wohlklingenden Pseudonym befragen.«
»Und ob«, krächzte er, »das erledige ich.«
Beim Verlassen des Hauses fing ihn ein junger Uniformierter ab.
»Was ist? Ich bin in Eile, wie man sieht.«
»Entschuldigung Herr Hauptkommissar, ich denke, es ist wichtig.«
»Na was denn? Lassen Sie›s endlich raus, Mann!«
»Wir haben übereinstimmende Aussagen zweier Zeugen von gegenüber. Sie behaupten, ein Polizist sei ungefähr zur Tatzeit aus dem Haus gekommen und auf dem Motorrad Richtung Seilgraben davongefahren.«
»Ein Kollege?«
Der junge Mann nickte. »Motorradstreife, wie es scheint.«
»Diesen Kollegen müssen wir so schnell wie möglich finden.«
Der junge Polizist guckte verlegen aus der Wäsche.
»Was ist jetzt schon wieder?«
»Das Problem ist: Es gab zu der Zeit keine solche Streife in der ganzen Stadt. Wir haben alle Wachen angefragt. Niemand weiß etwas von diesem Kollegen.«
Fischer spürte einen bitterem Geschmack im Mund, schob sich ein gelbes Gummibärchen ein und befahl:
»Weiter suchen!«
In Gedanken versunken betrat er das Haus, in dem Schuster wohnte. Der Kollege auf dem Motorrad war möglicherweise keiner. Dirty Harry – Phantom Harry, schoss ihm spontan durch den Kopf. Unwillkürlich fröstelte ihn. Aus Schusters Wohnung im zweiten Stock drang gedämpfte Klaviermusik. Er läutete und klopfte gleichzeitig. Kurz bevor er die Nerven verlor, öffnete Schuster die Tür einen Spaltbreit.
»Sie schon wieder. Ich hätte es mir denken können«, seufzte er und ließ ihn eintreten.
»Machen Sie das Geklimper aus. Wir müssen reden.«
»Das Geklimper nennt sich Nocturne Opus neun Nummer zwei von Frédéric Chopin, und am Flügel sitzt Maurizio Pollini. Nocturne ist übrigens französisch und bedeutet Nachtstück, passt also.«
»Ich bin nicht gekommen, um mir eine verdammte Vorlesung anzuhören, und der Herr Pollini soll sich meinetwegen aufs Klo setzen.«
Schuster erwies ihm immerhin die Gnade, die Musik leiser zu stellen, sodass er den Apparat nicht erschießen musste.
»Worüber wollten Sie mit mir reden? Ich habe alles gesagt, was ich weiß.«
»Genau das glaube ich nicht. Kennen Sie einen Herrn Albrecht Scholz?«
Täuschte er sich, oder sah Schusters Gesicht plötzlich blasser aus? Der junge Mann verbarg etwas wie vermutet. Zu seinem Erstaunen trat Schuster nach kurzem Zögern die Flucht nach vorn an.
»Den Playboy gegenüber?«, fragte er scheinbar amüsiert.
Fischers Zunge schob den klebrigen Rest des Gummibärchens einige Mal hin und her, während er auf mehr wartete.
»Klar kenne ich den Playboy Scholz«, fuhr Schuster fort. »Der wohnt in Jakobs Haus. Ich wette, jeder in unserer Straße kennt ihn. Der ist ja nicht zu übersehen bei seinem Lebensstil. Die Tussis, die er dauernd anschleppt – manchmal zwei oder drei gleichzeitig.«
»Aber nicht jeder nennt ihn Playboy Scholz, Hashtag PlayboyScholz, um genau zu sein, nicht wahr, Herr Philister?«
Treffer!, dachte er, denn Schuster hatte die Sprache verloren. Der Triumph währte nicht lange. Schuster setzte ein gezwungenes Lächeln auf und gab vor, kein Wort zu verstehen.
»Sie sind dieser Philister auf Twitter, der die Hetze gegen Herrn Scholz angezettelt hat. Warum?«
Der Frontalangriff verfehlte die Wirkung. Schuster hatte sich wieder gefasst.
»Ich verstehe immer noch nur Bahnhof«, behauptete er kühl und drehte die Musik lauter.
Er war jetzt überzeugt, dass Phil Schuster dieser Philister war, und fragte sich, weshalb er so ein Geheimnis daraus machte. Hetze im Netz war ja noch keine Straftat. Irgendetwas an diesem Schnösel störte ihn gewaltig. Im Moment waren ihm leider die Hände gebunden.
»Was interessiert Sie überhaupt der Scholz?«, fragte Schuster gereizt. »Ich dachte, Sie suchen den Mörder des bedauernswerten Jakob Rosenblatt.«
»Genau das machen wir.« Er verließ die Wohnung mit der Warnung: »Zehn Uhr im Präsidium.«
Kaum im Treppenhaus, erreichte ihn der Anruf seiner Partnerin.
»Das müssen Sie sich ansehen, Chef, sofort!«, sagte sie aufgeregt. »Wir sind in der Wohnung von Albrecht Scholz.«
Die Tür zur Wohnung des Lobbyisten Scholz wies keinerlei Einbruchspuren auf.
»Sie war nicht verschlossen«, bestätigte ein Techniker.
Als er eintrat, schlug ihm eine Wolke süßlichen Parfüms der billigen Sorte entgegen, das zum gedämpften Rotlicht passte. Für einen Augenblick wähnte er sich im Puff über der Bar, die er einst als Drogenfahnder hochgenommen hatte. Eine Mitarbeiterin der Kriminaltechnik war dabei, Scheinwerfer zu installieren, um die Szene fotografieren zu können. Geblendet vom plötzlich aufflammenden Flutlicht, kniff er fluchend die Augen zu. Was er auf den ersten Blick gesehen hatte, verdarb ihm die Lust auf weitere Süßigkeiten.
»Ihr habt nichts verändert?«, fragte er zur Sicherheit, was ihm nur strafende Blicke eintrug.
Die Partnerin fasste zusammen:
»Der Tote heißt Albrecht Scholz, der Besitzer dieser Wohnung. Er lag so gekrümmt am Boden, als wir eintraten. Die Wohnungstür war übrigens nicht verschlossen, keine Einbruchspuren.«
»Habe ich auch bemerkt, stellen Sie sich vor«, brummte er.
Die Leiche lag mitten im Wohnzimmer. Erstaunlich wenig Blut hatte sich auf dem Teppich unter dem Kopf ausgebreitet.
»Verblutet ist er nicht«, murmelte er wie zu sich selbst.
Die Partnerin wagte zu spekulieren:
»Sieht aus, als hätte er sich hinknien müssen und wäre mit einem Genickschuss getötet worden.«
Für einmal stimmte er ihr uneingeschränkt zu.
»Es war eine Hinrichtung«, stellte er fest, »eine verdammte Hinrichtung wie die Chinesen sie praktizieren, um Kosten für den Knast zu sparen. Wo bleibt eigentlich unser Medizinmann?«
Der Rechtsmediziner trat ein, während die Technikerin die letzten Fotos schoss.
»Gut geschlafen?«, begrüßte er ihn.
Ein wütender Blick streifte ihn. »Das nächste Mal sollten Sie vielleicht gründlicher nachsehen, bevor sie mich ziehen lassen, Sherlock Holmes.«
Die Arbeit des Mediziners war schnell erledigt.
»Chirurgisch präziser Genickschuss wieder aus nächster Nähe«, diagnostizierte er, »hätte ich nicht besser hingekriegt.«
»Wann?«
»Vor drei, vier Stunden schätze ich.«
»Also zur selben Tatzeit zwischen sechs und sieben heute Abend. Irgendwelche Abwehrverletzungen?«
Der Mediziner schüttelte den Kopf. »Die Obduktion wird zeigen, ob es Fremd-DNA unter den Fingernägeln gibt aber sonst …« Nach kurzem Zögern fügte er grinsend hinzu: »Ist auch nicht verwunderlich.«
Da der Arzt schweigend begann, sein Besteck einzupacken, herrschte er ihn an:
»Finden Sie das lustig? Warum hat er sich nicht gewehrt?«
»Sehen Sie mal in jenem Aschenbecher nach und riechen Sie daran.«
»In diesem Boudoir riecht man gar nichts außer Nutten-Parfüm.«
»Der Mensch riecht halt nur, was er kennt«, murmelte der unverschämte Medizinmann laut genug, dass er es hörte.
»Marihuana?«, wagte die Partnerin einzuwerfen.
»Da hören Sie›s, Herr Hauptkommissar. Der Mann war bekifft, als er die letzte Reise antrat. Vielleicht nicht die schlechteste Idee. Genaueres nach der Obduktion.« Bevor er das Zimmer verließ, fragte er die Partnerin dreist: »Sind Sie sicher, überall nachgesehen zu haben?«
Die Bemerkung traf nicht sie, sondern ihn. Er stieß einen leisen Fluch aus und zischte:
»Eines Tages knöpfe ich mir die Sau vor!«
Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung hielt ihm den Plastikbeutel mit dem sichergestellten Projektil hin, das den Körper des Opfers durchschlagen hatte und im Parkett stecken geblieben war.
»Kaliber .45 wie im Antiquariat, vermutlich dieselbe Waffe.«
Die Partnerin trat mit einem andern Beweisstücke herbei.
»Das hier war definitiv eine geplante Hinrichtung, Chef.«
In der Plastiktüte befand sich ein Zettel. Der Text, dessen Buchstaben aus einer Zeitung ausgeschnitten waren, lautete:
WIR KRIEGEN EUCH ALLE.
DIE GESCHWORENEN.
»Der Zettel lag unter diesem Stein auf dem Tisch«, fügte sie hinzu, auf einen zweiten Beutel deutend.
»Was soll ich mit einem Scheiß Stein?«, fauchte er.
Der Text wühlte ihn auf. Die offene Drohung jagte seinen Puls in die Höhe. Am meisten ärgerte ihn, dass er es nicht verhindern konnte. Seine Partnerin war solche Stimmungsschwankungen gewohnt. Sie sprach ruhig aus, was er dachte:
»Wenn es kein übler Scherz ist, kommt wohl noch einige Arbeit auf uns zu, Chef.«
Er nickte. Nahm man den Text ernst, gab es nur eine Interpretation: Die Hinrichtung des Albrecht Scholz war erst der Anfang. Noch etwas erkannte er klar. Es handelte sich bei beiden Morden höchstwahrscheinlich um denselben Täter, aber die Vorgehensweise im Fall des Antiquars unterschied sich grundlegend von dieser Tat. Jakob Rosenblatt war nicht Opfer einer sorgfältig geplanten Hinrichtung geworden. Der Täter hatte ihn einfach kurzerhand beseitigt, wie man eine lästige Fliege klatscht.
»Scholz war das eigentliche Ziel«, sagte er nachdenklich, »Rosenblatt vielleicht nur ein lästiger Zeuge.«
Die Partnerin stimmte zu:
»Habe ich mir auch gedacht. Die Umstände zeugen jedenfalls von äußerst skrupellosem Vorgehen.«
»Also doch ein Profi?«
»Oder ein Psychopath.«
Ihm graute jetzt schon vor den tausend Fragen, die sie nun beantworten mussten, stets die Drohung dieses verfluchten Zettels im Nacken. Der Täter oder die Täterin würde wieder zuschlagen, plante vielleicht schon die nächste Hinrichtung. Wie sonst sollte er diese Drohung verstehen? Er hoffte inständig, es nicht mit einem Psychopathen zu tun zu haben. Die brauchten nicht einmal ein lausiges Motiv für ihr krankes Verhalten.
»Haben Sie je von solchen Geschworenen gehört, Chef?«
Er verneinte. Im schlimmsten Fall hatten Sie es mit einem ganzen Nest von Psychos zu tun, die aus Gott weiß was für Gründen Herr über Leben und Tod spielten.
»Gibt es immer noch keine Spur von Phantom Harry?«, fragte er.
Die Umstehenden stutzten. Es dauerte einige Sekunden, bis die Partnerin einen Gang höher schaltete.
»Sie meinen den Geister-Cop?«, grinste sie.
»Wenn es ihn denn gibt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das Phantom bleibt wie vom Erdboden verschluckt wie sein Motorrad.«
»Bloß die Leichen sind leider keine Phantome«, knurrte er.
Ihm reichte es für heute. Er brauchte dringend etwas zum Entspannen.
»Sie wissen, was zu tun ist«, sagte er müde zur Partnerin.
Er wandte sich ab, ging zur Tür und stoppte innerlich fluchend. Die breitschultrige Gestalt des Staatsanwalts versperrte ihm den Weg. Widerstrebend setzte er das falsche Lächeln auf, das er für falsche Kumpels aller Art stets bereithielt.
»Jupp, schön dich zu sehen«, sagte er, ohne Anstalten zu machen, dem Staatsanwalt die Hand zu schütteln.
»Schon die zweite Leiche an diesem Abend«, stellte Jupp Wagner mit einem angewiderten Blick ins Wohnzimmer trocken fest.
Er korrigierte:
»Genau genommen ist das die erste Leiche, Jupp. Der Antiquar unten war Nummer zwei. Meine Kollegin wird dir alles ausführlich erklären. Ich empfehle mich.«
Jupp hielt ihn am Ärmel zurück. »Nicht so schnell, Tom. Nach zwei Morden am selben Abend im selben Haus und offensichtlich ohne familiären Zusammenhang empfiehlt sich hier kein leitender Ermittler. Nicht einmal ein Kumpel aus dem Schützenverein, mit dem ich hin und wieder ein Kölsch gekippt habe.«
»Altbier«, verbesserte er ärgerlich, »aber unter diesen Umständen würde ich sogar ein Kölsch saufen.«
Jupp könnte ihm ohne Zögern die Hölle heißmachen, also blieb er in Gottes Namen am Tatort und hörte sich den Bericht der Partnerin zusammen mit dem Staatsanwalt an.
»Ein Phantom als Polizist in Aachen? Ich dachte, der Karneval wäre seit einem halben Jahr vorbei«, brummte Jupp angewidert. »Mehr habt ihr nicht?« Nach einem letzten Blick auf die sterblichen Überreste des Albrecht Scholz fügte er hinzu: »Das sieht mir eher nach Mafia-Methoden aus. Müssen wir diese Geschworenen ernst nehmen?«
»Werde ich morgen überleben? Ich weiß es nicht«, gab Fischer giftig zurück. »Wir stehen ganz am Anfang, Jupp, können nur spekulieren.«
Er überließ es der Partnerin, sich in die Nesseln zu setzen und den Verdacht zu äußern, den sie kurz besprochen hatten.
»Möglicherweise hängt diese Hinrichtung mit der Hetzkampagne im Netz gegen Herrn Scholz zusammen.«
Widerwillig trat Jupp zur Seite, um den Bestattern mit dem Sarg auszuweichen.
»Welche Hetzkampagne? Netz? Ich verstehe kein Wort.«
Statt zu antworten, zeigte ihm die Kollegin eine Reihe Tweets auf dem Handy, die unter anderem die Eliminierung des Schmarotzers Scholz forderten. Jupp lachte trocken auf.
»Das ist doch Kinderkram. Kein Mensch nimmt den Quatsch ernst.«
»Scheinbar doch«, widersprach Fischer.
Trotz der spöttischen Bemerkung schien der Staatsanwalt einigermaßen verunsichert. Die Gelegenheit war günstig, auszusprechen, was er vorher nicht gewagt hatte.
»Der Typ, der den Mord am Antiquar gemeldet hat, spielt möglicherweise eine Hauptrolle in dieser Hetzkampagne, Jupp.«
»Der Hacker von gegenüber? Wundern täte es mich nicht. Gibt es irgendwelche Beweise gegen den Mann?«
»Um die zu finden, müssten wir seine Wohnung durchsuchen, den Computer beschlagnahmen.«
»Ihr wollt einen Durchsuchungsbeschluss auf dieser dürftigen Beweislage? Der Richter würde mich auslachen, dann müsste ich dich erschießen. Willst du das, Tom?«
»Verdammt! Phil Schuster tobt als Philister auf Twitter gegen unser Mordopfer. Das ist doch kein Zufall.«
»Er hat also zugegeben, dieser Philister zu sein?«
Das Schweigen im Boudoir war unerträglich. Jupp wandte sich ab.
»Bringt mir einen Beweis, dann habt ihr euren Durchsuchungsbeschluss«, murmelte er beim Verlassen der Wohnung.
Nach dem Staatsanwalt flüchtete auch er und versuchte, sich ungesehen davonzustehlen wie Phantom Harry. Es half nicht. Draußen überfiel ihn eine Meute Zeitungsfritzen, allen voran die blonde Bitch von der Kölner Abendzeitung. Der Scheinwerfer des Lokalfernsehens folgte ihm auf Schritt und Tritt, als wäre er auf dem Weg ins Dschungelcamp.
»Herr Hauptkommissar, können Sie den Mord an Albrecht Scholz bestätigen?«, rief ihm die Bitch ins Ohr, als stünde er in Köln statt neben ihr.
Er wehrte mit beiden Händen ab. »Ich habe nichts zu sagen. Wir stehen ganz am Anfang der Ermittlungen.«
Julia Hahn ließ nicht locker. »Es gab heute Abend zwei Todesfälle in diesem Haus. Wer sind die Opfer, und gibt es einen Zusammenhang?«
Natürlich gibt es einen Zusammenhang, dumme Kuh, dachte er schwitzend. Laut sagte er mit schlecht unterdrückter Erregung in der Stimme:
»Wenden Sie sich bitte an die Pressestelle. Sie kennen doch das Prozedere, Frau Hahn.«
Er dachte, es überstanden zu haben, als ihn der Hammer traf.
»Stimmt es, dass die Geschworenen mit weiteren Morden drohen?«, rief ein junger Mann aus der dritten Reihe, den er nicht kannte.
Die Frage jagte das Blut durch seine Adern, dass er glaubte, es rauschen zu hören wie den Rhein bei Hochwasser.
»Woher wissen Sie …«
Es entglitt ihm einfach. Erschrocken presste er die Lippen zusammen und nahm den Mann ins Visier, als wollte er ihm im nächsten Atemzug ein drittes Auge verpassen. Rundherum herrschte plötzlich gespenstische Stille. Die versammelte Presse hing an seinen Lippen, als wäre er im Begriff, den nächsten Karnevalsprinzen anzukündigen. Da er eine oder zwei Sekunden zu lange schwieg, flüsterte ihm die Bitch mit hämischem Grinsen ins Ohr:
»Sie kennen doch das Internet, Herr Fischer.«
Er stieß sie unsanft beiseite und eilte davon.
Köln
Der letzte Glockenschlag vom Dom verklang, als Julia Hahn die Tür zu ihrem Penthouse aufstieß. Mitternacht. Emma tat ihr leid. Die Tochter der Nachbarn unter ihr war ein zuverlässiges und liebevolles Kindermädchen und fast zu jeder Tages- und Nachtzeit für den kleinen Tim zu haben. Dennoch betrat sie das Wohnzimmer mit schlechtem Gewissen. Sie überforderte die junge Frau durch ihre häufigen Einsätze zu unmöglichen Zeiten.
»Tim schläft selig«, beruhigte Emma, bevor sie ein Wort sagen konnte.
Sie schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Was würde ich nur ohne dich machen.«
Trotz Emmas Bemerkung schlich sie ins Kinderzimmer, strich ihrem Tim übers goldene Haar und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Es war das übliche Ritual. Emma kannte es und wartete geduldig auf ihre Rückkehr, um sich zu verabschieden. Etwas an ihrem Gesichtsausdruck machte sie stutzig.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie unruhig.
Emma zögerte. »Ja – sicher.« Nach einem Schritt Richtung Tür blieb sie stehen. »Es ist nur …«
»Immer raus mit der Sprache.«
Die junge Frau sah sie an, als hätte sie ihren Sohn gestohlen.
»Du machst mir Angst, Emma.«
Schließlich platzte sie mit der Hiobsbotschaft heraus.
»Ich werde bald nicht mehr da sein.«
Sie war auf alles Mögliche gefasst, nur nicht darauf.
»Was heißt das?«, fragte sie bestürzt.
Dabei zwang sie sich zu lächeln, was wohl gründlich misslang. Emmas Wangen röteten sich.
»Man hat mich angenommen, Stanford. Nach den Ferien geht›s schon los.«
Julia glaubte, innerlich zu zerreißen. Emma gehörte zu ihrer kleinen Familie wie eine eigene Tochter. Dass sie es geschafft hatte, an der amerikanischen Elite-Uni studieren zu dürfen, erfüllte sie mit Stolz. Gleichzeitig konnte sie sich ein Leben ohne Emmas gute Dienste und ihr fröhliches Lachen kaum vorstellen. Sie verdrängte die Ungewissheit, was ohne sie aus Tim werden sollte, und schloss sie in die Arme.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Emma. Das ist – großartig! Herzliche Gratulation. Ich bin fast ein wenig neidisch, habe ich es doch nur an die Uni Köln geschafft.«
Beide brachen in befreiendes Gelächter aus.
»Wir müssen das feiern«, versprach sie, »aber nicht heute Nacht.«
»Nein«, seufzte Emma erleichtert. »Du wirst sicher wieder jemanden finden für unseren Tim.«
Mit diesem zweifelhaften Trost verließ sie die Wohnung. Julia starrte die Tür noch lange an, nachdem sie ins Schloss gefallen war. Klar gab es andere Kindermädchen in dieser Stadt aber keine zweite Emma. Sie füllte das Rotweinglas etwas großzügiger in dieser Nacht, bevor sie auf die Terrasse hinaustrat. Der Blick über den schwarz glänzenden Rhein, in dem sich die Bäume der Riehler Aue noch schwärzer spiegelten, beruhigte. Sie brauchte Zeit, um herunterzukommen. In einer Nacht wie dieser würde sie wohl vor morgens um zwei kein Auge schließen. Auch eine Journalistin an vorderster Front bei der Kölner Abendzeitung berichtete kaum je, wenn überhaupt, über einen Doppelmord. Über einen Doppelmord, dem möglicherweise bald weitere Gräueltaten folgen würden. Das Glas leerte sich überraschend schnell. Sie goss nach.
Morgens um halb sieben kroch Tim in ihr Bett. Alle andern Wecker hasste sie, diesen aber liebte sie über alles auch ohne Musik. Sie drückte ihn und gab ihm einen Kuss, bemüht, die Augen wenigstens halb offen zu halten. Ein Vierjähriger ließ sich das noch gefallen.
»Bist du müde, Mama?«
»Nein«, log sie, »bloß glücklich.«
Die Morgensonne strahlte über den Spiegel direkt in die Dusche, was ihr trotz des Brummschädels ein Lächeln entlockte. Sie hatte allen Grund, zufrieden zu sein mit ihrem Leben. Dennoch oder gerade deshalb beschlich sie hin und wieder das Gefühl, das alles nicht verdient zu haben. Zu viel in ihrem Leben beruhte einfach auf glücklichen Zufällen. Selbst Tim verdankte sie einem solchen Zufall. Eine Kollegin in der Redaktion hatte ihn einst einen glücklichen Unfall genannt und den Nagel damit genau auf den Kopf getroffen.
Pünktlich um 7:30 Uhr, auf dem Weg zur Kita, rief Martin an. Chefredakteur Martin Brandt hatte auch eine kurze Nacht hinter sich oder wie oft gar nicht geschlafen, schloss sie aus seinem Tonfall.
»Das geht gar nicht!«, wies er sie zurecht, statt zu grüßen. »Was hast du dir dabei gedacht? Willst du einen veritablen Bürgerkrieg anzetteln?«
Veritabel war eines seiner Lieblingswörter. Es bewirkte, dass selbst ruppige Anschuldigungen irgendwie leichtfüßig daherkamen. Sie grinste unwillkürlich.
»Wovon sprichst du?«
»Wie immer vom Wetter. Mein Gott, wovon spreche ich wohl? Von deinem Bericht über das Massaker in Aachen, was sonst?«
»Doppelmord«, korrigierte sie, »und es ist erst der Entwurf, entstanden auf der Fahrt nach Köln zu später Stunde.«
»Das merkt man. Wann erweist du uns die Ehre, hier aufzukreuzen?«
»Ich muss nur noch Tim in die Kita fahren …«
Er hatte aufgelegt. Der Betrieb in der Redaktion der Abendzeitung unweit der Domplatte brummte am frühen Morgen. Das Zebra schlug heftig auf die Tastatur ein, hatte kaum Zeit, sie zu grüßen. Es gab keine bessere Bezeichnung für ihre Tischnachbarin, denn sie hatte sie noch nie in einem Kleid ohne Zebramuster gesehen. Etwas weiter weg saß Peter mit seinem ewig roten Pullover. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und deutete genüsslich auf die Sauna, den Glaskubus, wo Martin residierte. Der pochte eben mit einer seiner Krücken an die Scheibe. Es eilte. Peter grinste. Er hasste sie. Sie betrat das Glashaus.
»Tür zu!«
Kurze Befehle entsprachen Martins normalem Umgangston in der Redaktion. Die Tür der Sauna zu schließen aber bedeutete nicht nur physischen Stress wegen der Hitze, sondern vor allem Ärger.
»Ich weiß, ich habe mich vielleicht etwas pointiert ausgedrückt im Bericht«, versuchte sie ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen.
»Pointiert trifft den Sachverhalt ja wohl überhaupt nicht«, herrschte er sie an. »Dein Subtext unterstellt nichts weniger als eine veritable Verschwörungstheorie. Du weißt es, und dir muss klar sein, dass wir das unmöglich so veröffentlichen können.«
Sie wunderte sich, seit wann die Leser der Abendzeitung Subtext lasen, sagte aber nichts. Er war der Chef und verfügte über so viele Jahre Erfahrung im Geschäft, wie sie auf der Welt war.
»Du störst dich an der Verbindung mit den Geheimverhandlungen«, vermutete sie.
»Allerdings! Ich weiß, dass dir das Thema am Herzen liegt, und gebe zu, dass deine Reportage darüber die Auflage glatt verdoppelt hat. Aber findest du es nicht ein wenig weit hergeholt, den Mord am Lobbyisten Scholz in Aachen damit zu erklären?«
Sie lachte trocken auf. Er übertrieb wieder maßlos.
»Ich erkläre doch gar nichts in meinem Artikel. Ich stelle lediglich die Facts zusammen. Du kennst die heftige, um nicht zu sagen explosive Reaktion im Netz und in den Medien, als wir die geleakten Mails aus dem Kanzleramt veröffentlichten. Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, eine Welle der Entrüstung sei durchs ganze Land gegangen, als publik wurde, dass unsere Regierung insgeheim ein bilaterales Freihandelsabkommen mit China plant – von der Entrüstung in Brüssel gar nicht zu sprechen.«
Die letzte Bemerkung wischte er vom Tisch wie eine lästige Fliege. Die Bürokratie in Brüssel und der kaum mehr zu bewegende Moloch EU ärgerten ihn jeden Tag aufs Neue.
»Dass mit dieser EU kaum je wieder ein Freihandelsabkommen zum Fliegen kommt, darüber müssen wir uns nicht streiten«, brummte er.
Sie konnte nur zustimmen. Deshalb verstand sie es, wenn dem Kanzleramtsminister der Kragen platzte und er vorpreschte, um zu versuchen, langfristig wirtschaftlichen Erfolg und Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Das war jedenfalls der Plan mit dem Freihandelsabkommen, nahm sie an.
»In der aktuellen, aufgeheizten Stimmung wirkt leider schon das Wort Freihandel in unserm Land wie ein Brandbeschleuniger«, warf sie ein.
»Sicher, absolut einverstanden, aber du spekulierst jetzt, der Mord an Scholz wäre eine veritable Eskalation dieser Anti-Freihandels-Bewegung.«
Hatte sie sich so unklar ausgedrückt im Entwurf von letzter Nacht? Hatte er den Text überhaupt richtig gelesen? Sie verwahrte sich entschieden gegen die Unterstellung.
»Von spekulieren kann keine Rede sein, Martin. Du kennst doch die Reaktion in den sozialen Medien, auf Facebook und Twitter. Ich muss dich nicht an die Horror-Meldungen auf Twitter erinnern.«
Bevor er etwas erwidern konnte, hielt sie ihm das Display ihres Smartphones unter die Nase. Die Hetze im Netz ging auch nach dem Tod des Lobbyisten Scholz unvermindert weiter, was Martin veranlasste, den veritablen Mist trotz seiner Abneigung zu lesen.
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz sorgt für Billigimporte aus China. Wir Geschworenen sorgen für Deutschland.
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Deutscher Meister @deutschmeister
#PlayboyScholz ist tot. #ChinaFH ist tot. Es leben die Geschworenen. Gratuliere!
Die Geschworenen @jury12
#PlayboyScholz richtet keinen Schaden mehr an. Wir Geschworenen bleiben dran.
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Dirk Saubermann @dirk74
Die Geschworenen sind cool. Endlich sorgt jemand für Ordnung in diesem Land!!
Wolfi Ziehrer @wolferl
Wurde auch Zeit, dass einer den Saustall ausmistet! Fuck #ChinaFH!
Alex Kissin @kissalex
Kahlschlag der deutschen Wirtschaft gerade noch gestoppt. #PlayboyScholz verrotte in der Hölle!
Er scrollte einige Seiten weiter, bevor er das Handy über den Tisch zurückschob und sich vor Abscheu schüttelte.
»In was für einer Welt leben wir eigentlich?«, fragte er leise.
Sie reagierte mit der Gegenfrage:
»Hast du die Zahlen gesehen?«
»Die Tausende Retweets und Likes? Sicher, sieht ganz danach aus, als würde das Twitter-Volk jetzt komplett durchdrehen.«
»Dieser jury12 scheint die mysteriösen Geschworenen zu repräsentieren. Er – oder sie – hat die Hetze gegen den Lobbyisten orchestriert und ist seither äußerst beliebt. Jury12 hat bereits mehr Follower als der Kanzleramtsminister. Ich muss jury12 finden.«
»Viel Glück.«
Ein bitteres Lächeln huschte dabei über seine Lippen. Er glaubte nicht daran, dass sie das Geheimnis der Identität von jury12 je lüften würde.
»Wenn wir diesen jury12 finden, werden wir auch erfahren, wer die Geschworenen sind und wer wirklich hinter den Morden in Aachen steckt.«
Er schüttelte den Kopf. »Manchmal frage ich mich, ob du deinen Beruf verfehlt hast, Julia. Du solltest bei der Polizei arbeiten.«
»Um mich mit Kollegen wie diesem Fischer herumzuärgern?«, brauste sie auf. »Da ziehe ich dich und den roten Peter doch lieber vor.«
»Vielen Dank auch«, lachte er. »Das ändert aber nichts daran, dass wir deinen Bericht so nicht veröffentlichen werden.«
Sie gab noch nicht auf. »Der Zusammenhang zwischen dem Protest gegen die Geheimverhandlungen, den Geschworenen und dem Mord am Lobbyisten Scholz ist doch offensichtlich.«
Er wehrte ärgerlich ab. »Soll ich jetzt ernsthaft den Advocatus Diaboli spielen? Es gibt keinerlei Beweise für diesen Zusammenhang, das weißt du. Nein, wir lassen im Moment, und ich betone: im Moment, die Finger von der heißen Kartoffel. Die Hetze im Umfeld der Geschworenen meinetwegen aber kein Wort über das Kanzleramt und den Freihandel mit China. Haben wir uns verstanden? Ich brauche die überarbeitete Version bis elf Uhr.«
»Sollten wir nicht wenigstens die Pressekonferenz heute Mittag abwarten?«, warf sie ein.
»Wann findet die statt?«
»Halb zwei.«
Er rümpfte die Nase. »Wir machen es so: Du bereitest alles druckfertig vor bis 1100. Um 1500 habe ich die letzten Änderungen auf dem Tisch oder dein O. K.«
Er war der Chef. Übellaunig verließ sie die Sauna, dankbar nur für die kühle, wenn auch abgestandene Luft im Büro. Insgeheim musste sie zugeben, dass seine Vorsicht nicht unberechtigt war. Im Nachrichtenportal kündigte die militante Aktivistin Lotte Engel bereits eine Demo gegen die China-Pläne der Regierung an. Die Veranstaltungen dieses linken Engels zogen nicht nur regelmäßig Tausende Leute an. Sie bargen auch erhebliches Zerstörungspotenzial. Es wäre sicher nicht sonderlich klug, jetzt noch Öl ins Feuer zu gießen. Er hatte recht, wieder einmal, und sie ärgerte sich.
Das Zebra hielt kurz inne, um ihren Gemütszustand einzuschätzen. Nicht allzu beunruhigt hielt sie ihr die Schale mit den Schokokeksen hin. Sie lehnte dankend ab. Die Kollegin widmete sich wieder der bedauernswerten Tastatur. Sie selbst begann widerwillig, den Aachener Bericht zu entschärfen. Manchmal wünschte sie sich, beim großen Revolverblatt angeheuert zu haben. Die publizierten zwar häufig Müll, hatten aber wesentlich weniger Hemmungen, die Dinge beim Namen zu nennen.
Schlag elf Uhr sandte sie die Mail mit der neuen Version in die Sauna. Martin Brandt zeigte keine Reaktion, was bedeutete, dass er einverstanden war. Sie packte ihren Laptop in die Tasche und verließ die Redaktion. Die Fahrt nach Düsseldorf dauerte zwar keine Stunde, aber sie brauchte frische Luft vor der PK, und die Nudelsuppe im ›Takumi‹ war auch nicht zu verachten.
Drei Stunden später wusste sie, dass sie sich die Zeit für die Pressekonferenz im LKA Düsseldorf hätte sparen können. Die Ermittler waren kaum einen Schritt vorangekommen. Ein Zusammenhang der Morde mit den Geschworenen wurde zwar vom Staatsanwalt nicht ausdrücklich verneint aber eben auch nicht zugegeben. Die Fragen und Antworten konzentrierten sich im Wesentlichen auf den Polizisten, den Zeugen zur Tatzeit aus dem Haus des Antiquars Rosenblatt hatten kommen sehen. Ihr Lieblingskommissar Fischer deutete an, es handle sich möglicherweise um den Täter, der sich als falscher Polizist Zugang zu Scholzes Wohnung verschafft hatte. Sie konnte nicht anders, als das Wort zu ergreifen.
»Das bedeutet, man kann keinem uniformierten Polizisten mehr trauen, bis der Täter gefasst ist. Wie wollen Sie die Bevölkerung so noch schützen?«
Fischers Blicke töteten, aber er blieb die Antwort schuldig, ebenso der Staatsanwalt. Die Pressekonferenz war zu Ende.
Potsdam
»Dr. Roberts?«
Der Mann mit Halbglatze und Schweinsäuglein begrüßte sie mit jovialem Lächeln und kräftigem Händedruck. Chris hatte sich den Makler ganz anders vorgestellt. Die Stimme am Telefon passte zu einem Typen wie George Clooney aber nicht zu ihrem Gegenüber. Was kümmert dich seine Erscheinung? Er war gekommen, um sich das nun leer stehende Elternhaus anzusehen, hatte zudem einen fairen Preis versprochen. Sie wollte das Geschäft so bald wie möglich hinter sich bringen. Zu viele Erinnerungen verbanden sie mit diesem kleinen Haus unweit der Glienicker Brücke. Ging der Verkauf nicht rasch über die Bühne, würde er nie stattfinden, fürchtete sie. Das durfte nicht geschehen, denn weder sie noch ihr Mann Jamie waren in der Lage, sich weiter um das Haus zu kümmern. Jetzt nach dem Tod ihrer Mutter würde es verfallen. Auch das durfte nicht geschehen.
»Schön, dass Sie sich die Zeit nehmen können«, sagte der Makler, »sicher nicht einfach in Ihrem Job.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. Als Hauptkommissarin beim BKA war sie selbst in der spärlichen Freizeit im Dienst und zwar mit einem Monatsgehalt, das der Makler in einer Woche verdiente, schätzte sie. Augen auf bei der Berufswahl. Trotzdem konnte sie sich keinen besseren Job vorstellen.
»Wollen wir dann mal?«, fragte der Makler, da sie reglos vor dem Haus stehen geblieben war, den Blick nach innen gerichtet.
Sie entschuldigte sich und schloss auf. Es war ein Haus für Nostalgiker mit kleinen Zimmern und winzigen Fenstern, durch die nur wenig Licht fiel. Ihr Musikzimmer in Dahlem war größer als die Grundfläche des Elternhauses. Dennoch spürte sie, wie der Trennungsschmerz mit jeder Minute stärker wurde. Kaum im Haus, setzte der körperliche Schmerz ein.
»Sehen Sie sich ruhig um. Ich muss mich kurz entschuldigen.«
Eilig zog sie sich auf die Toilette zurück. Sie brauchte nicht hinzusehen. Die Symptome waren eindeutig. Es klappte wieder nicht. Mit Tränen in den Augen spülte sie das Blut hinunter, zweimal.
»Alles in Ordnung?«, fragte der Makler besorgt, als sie zurückkehrte.
Er musste ihre geröteten Augen bemerkt haben. Sie nickte, versuchte gar nicht erst zu lächeln.
»Konnten Sie sich ein Bild machen?«
»In der Tat, und ich muss Ihnen ein Kompliment aussprechen – und ihren Eltern selig. Das alte Haus befindet sich in einem tadellosen Zustand.«
»Sie werden es nicht abreißen?«
Er verneinte entschieden. »Ich denke, es gibt genug Interessenten, die dieses Objekt zu ihrem neuen Heim machen wollen.«
Eine junge, glückliche Familie mit höchstens zwei Kindern, mehr fanden nicht Platz. Es war eine schöne Vorstellung, die sie ein wenig über die erneute Enttäuschung hinweg tröstete. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, weshalb sie in all den Jahren zuvor die Pille genommen hatte, wenn es doch nie funkte. Der Makler streckte ihr die Hand entgegen, um sich zu verabschieden.
»Vielen Dank für Ihr Vertrauen, Dr. Roberts. Dann verbleiben wir also wie besprochen.«
Damit eilte er zu seinem Lexus. Sie konnte sich nicht erinnern, etwas besprochen zu haben. Nicht wichtig, dachte sie. Wenn sie sich beeilte, würde sie Jamie noch zu Hause antreffen, bevor er wieder zu einer Talkshow oder Podiumsdiskussion in irgendeiner Uni verreiste. Sie hatte den Überblick verloren. Seit seiner bahnbrechenden Arbeit über die Perfektionierung der Genschere CRISPR war er der meistgesuchte Mediziner weit und breit und dauernd auf Achse. Wenigstens lag es nun nicht mehr an ihr, sich für die häufige Abwesenheit entschuldigen zu müssen.
Sie traf ein leeres Haus an in Dahlem. Jamies Zettel lag auf dem Küchentisch, der in den Anfängen um diese Zeit nach Feierabend stets festlich gedeckt gewesen war. Roland Koch Institut, lautete die Notiz, love you, Jamie. Die Einladungskarte für die Veranstaltung im RKI Berlin klebte daran. Sie warf den Zettel achtlos wieder hin und blickte sich in der leeren Küche um. Diese Küche, die locker für ein kleines Gourmet-Restaurant reichte, war sein Königreich gewesen. Sie hatte sich jeweils nur hinsetzen und genießen können. Jetzt wirkte sie leer wie ihr Magen. Nichts außer einer Schale mit halb totem Obst stand auf dem Tisch. Seine Musik spielte nicht mehr hier. Sie ahnte jetzt, wie er sich früher bei geregelter Arbeitszeit gefühlt haben musste, als er versuchte, sich an ihr unberechenbares Leben als Kriminalkommissarin anzupassen.
Sie nahm einen Apfel aus der Schale, der sich noch einigermaßen fest anfühlte, und stieg die Treppe hinauf. Im Musikzimmer, welches das ganze Dachgeschoss einnahm, holte sie ihr Saxofon aus dem Instrumentenkoffer und legte sich auf die Couch. Lange streichelte sie das goldene ›Senzo‹ in der Hoffnung, die Lust zu spielen würde zurückkehren. Schließlich nickte sie ein.
Das Handy weckte sie. Kollege Haases Stimme klang ruhig und entspannt wie immer, als verbrächte er den Urlaub im Büro, nicht das ganze Leben.
»Ich fürchte, Sie müssen herkommen, Chef«, meldete er. »Es brennt.«
»Ist das nicht eher ein Fall für die Feuerwehr?«, versuchte sie zu scherzen.
»Staatssekretär Panzer aus dem Innenministerium wird in den nächsten Minuten erwartet«, erklärte er.
»Und Staatsanwältin Winter hyperventiliert«, warf sie ein. »Kann ich mir vorstellen. Bin schon unterwegs.«
Musik funktionierte nicht, Arbeit würde womöglich helfen, die Enttäuschungen des Tages schneller zu vergessen. Zudem war Haase nicht nur der brillanteste Fallanalytiker, den sie kannte, er beherrschte auch die hohe Kunst der Baristas. Sein wunderbar cremiger Ristretto war allein schon eine Reise zum Bundeskriminalamt am Treptower Park wert.
Unterwegs im Auto ließ sie sich von ihm briefen. Mit einer Tasse seines edlen Gebräus betrat sie wenig später Staatsanwältin Winters Büro, im Kopf die klare Vorstellung, was sie erwartete und was die andern von ihr zu erwarten hatten. Der Unbekannte an Winters Besprechungstisch musste Staatssekretär Panzer sein. Er erhob sich und stellte sich vor, eine unerwartete Geste, die ihre kompromisslose Haltung zu untergraben drohte. Nicht unsympathisch, musste sie zugeben, beinahe schon Kategorie Generalbundesanwalt Osterhagen, dessen Gegenwart sie einige Male in der Vergangenheit verwirrt hatte.
»Ich nehme an, das BMI interessiere sich nicht in erster Linie für einen Mordfall in Aachen«, bemerkte sie lächelnd.
Staatsanwältin Winter rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, bereit einzugreifen, falls nötig. Sie war die Einzige unter Hochspannung im Raum. Das Gespräch zwischen dem Vertreter des Innenministers und ihr selbst verlief geradezu beängstigend harmonisch. Es lag wohl daran, dass Panzer wie das Ministerium von einer wenig fassbaren Angst getrieben war. Das BMI fürchtete, die durch Proteste in den sozialen Medien und einem Teil der Presse aufgeheizte Stimmung in der Bevölkerung könnte kippen, in Gewalt ausarten und das ganze Land überziehen.
»Und jetzt die Morde in Aachen«, sagte Panzer düster. »Der Minister, was sage ich, das halbe Kabinett fürchtet, diese mysteriösen Geschworenen könnten ihre Drohung wahr machen. Klaus Hartmann gibt offen zu, dass die Nerven im Kanzleramt blank liegen.«
Vielleicht etwas übertrieben, dachte sie, aber die Gefahr war nicht von der Hand zu weisen. Winter brach ihr Schweigen.
»Müsste unter diesen Umständen nicht eher das Justizministerium aktiv werden?«
Er stimmte zu, schränkte allerdings ein:
»Es ist eine heikle Gratwanderung, wie Sie sich vorstellen können. Noch liegen keine Straftaten vor außer den bedauernswerten Fällen in Aachen. Hetze im Internet und Drohungen auf Transparenten sind weitgehend erlaubt, Meinungsäußerungsfreiheit.«
Winter bohrte weiter. Die Staatsanwältin wusste wie Sie, worauf diese Besprechung hinauslief: auf einen politisch delikaten Spezialauftrag. Den wollte die Juristin wenigstens klar umreißen und wenn möglich aufs Machbare beschränken. Chris sah keine Veranlassung, sie daran zu hindern.
»Das BMI möchte also die gefährliche Hetzkampagne beenden, das verstehe ich«, sagte Winter. »Bundesanwaltschaft, BKA und vor allem der Verfassungsschutz haben doch aber die Mittel, um in einem solchen Fall präventiv einzugreifen. Weshalb geschieht das nicht?«
Panzer nickte lächelnd. »Wer sagt, dass das nicht der Fall ist?« Nach kurzem Zögern fügte er an: »Eine entsprechende Taskforce hat vor zwei Tagen die Arbeit aufgenommen.«
Es war an Winter, diese Nachricht mit einem Lächeln zu quittieren, obwohl ihr das nie richtig gelang. Lächeln passte einfach nicht zu ihrem Gesicht. Das Wort Taskforce gefiel Chris ganz und gar nicht. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie fragte:
»Was haben wir damit zu tun?«
»Gar nichts.«
Panzers Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, als wüsste er um ihre Allergie gegen Gruppenarbeit aller Art über verschiedene Behörden hinweg. Er betrachtete sie eine Weile, nickte dann schmunzelnd und sagte:
»Curd hat mich gewarnt.«
Der Name elektrisierte sie.
»Osterhagen?«, platzte sie heraus. »Sie sprechen vom Generalbundesanwalt?«
»Er hat mich überzeugt, Sie einzuschalten – oder es zumindest zu versuchen.«
Winters Gesicht leerte sich. Sie gab die Schlacht verloren. Gegen ihren obersten Chef konnte sie nichts ausrichten. Panzer verlor keine Zeit und beschrieb kurz und präzise, was Bundesanwaltschaft und Innenministerium von ihr erwarteten.
Gegen Mitternacht fuhr sie auf der A2 Richtung Westen, den klaren Auftrag im Gepäck, die Geschworenen zu identifizieren. Haases Akte darüber und über die Morde in Aachen lag im Kofferraum. Sie füllte bereits zwei dicke Ordner. Osterhagen würde ihr den Rücken freihalten und sie unterstützen. Daran zweifelte sie keinen Augenblick. Ein Problem stellten einzig die Kollegen vom LKA Düsseldorf dar. Sie konnte sich deren Begeisterung über die Verstärkung aus Berlin lebhaft vorstellen.