Читать книгу Staatsfeinde - Hansjörg Anderegg - Страница 7
ОглавлениеKAPITEL 3
Köln
John Stein war fast durch mit der morgendlichen Zeitungslektüre, als er im 39. Stock des Kölnturms aus dem Lift trat. Sein erster Gang führte ihn wie jeden Morgen in die Küche zum Kaffeeautomaten. Beim Blick durch die Glaswände in die leeren Büros schmunzelte er zufrieden. Ein einziger Platz war besetzt. Seine Assistentin Greta Vogt saß an ihrem Pult mit der schönsten Aussicht auf den Kölner Dom, höher als dessen Glockenstuhl.
Auch das gehörte zum Ritual. Ihr Ehrgeiz gefiel ihm. Greta wollte hoch hinaus wie er. Sie war nicht nur eine brillante Marketingstrategin, sondern auch eine knallharte Geschäftsfrau. Wie jeden Morgen erhob sie sich sofort, als sie ihn erblickte, und folgte ihm in die Küche.
Die drei Küsschen zur Begrüßung bedeuteten ihm mehr als ihr. Für eine junge Frau wie Greta gehörte das einfach zum guten Umgangston in der Schickeria, zu der sie sich zu Recht zählte. Für den alternden Playboy John Stein mit den inflationären Krähenfüßen im Gesicht signalisierte die Berührung willkommene Wertschätzung. Zumindest bildete er sich das ein. Illusionen waren schließlich sein Geschäft, von dem er ganz gut lebte.
»Ich bin gespannt auf die Reaktion der Autolobby«, sagte sie.
Die Kaffeetasse in der Hand, lehnte sie lässig am Küchenschrank. Wie zufällig öffnete sich dabei der Seitenschlitz des Rocks und gab den Blick auf das feine Muster ihres Nahtstrumpfs frei. Er zwang sich, nicht hinzusehen und versuchte, sich zu erinnern, was sie gesagt hatte.
»Die Autolobby – du meinst den Krawall in Berlin? Ja, das wird unseren Kunden nicht gefallen.«
Sie nickte. »China wird die Importzölle nicht so schnell senken ohne Freihandelsabkommen.«
»Absolut, aber ich denke, unser Freund von der Lippe wird auch nicht so schnell aufgeben.«
Sie trank aus. Schmunzelnd spülte sie die Tasse und stellte sie aufs Abtropfbrett.
»Wetten, der taucht heute hier auf?«, sagte sie lachend beim Hinausgehen.
»Dr. von der Lippe«, meldete die Dame am Empfang eine Minute nach acht Uhr, dem offiziellen Arbeitsbeginn.
Das Erscheinen des Bereichsleiters ›Global External Affairs‹ vom Verband Deutscher Automobilindustrie war so sicher wie das Amen in der Kirche. Ein leichtes Kopfnicken genügte, um Greta herbeizurufen. Gemeinsam erwarteten sie den Stammkunden der PR-Agentur Stein im Sitzungszimmer. Die Aussicht auf einen fetten Deal war ebenso spektakulär wie die aus den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und vorgaben, gar nicht da zu sein. Der Eindruck, zu fliegen, trug nicht unwesentlich zum Erfolg seines Geschäfts bei, war er überzeugt. Die großen Verträge wurden stets in diesem luftigen, lichtdurchfluteten Glaskasten hoch über der Stadt abgeschlossen. Hier fühlte sich der Kunde schwerelos, abgehoben, genau richtig für die teuren Kampagnen.
»Horst, was für eine unerwartete Freude am frühen Morgen«, begrüßte er den Lobbyisten.
Von der Lippe gab beiden wortlos die Hand. Er wirkte nervös, verärgert. Small Talk war gestrichen an diesem Morgen. Dennoch versuchte John, die Stimmung aufzulockern.
»Ein Gläschen von deinem Speziellen?«, fragte er. »Du weißt, für dich halten wir immer eine Flasche auf Eis.«
Von der Lippe winkte ab. »Nee, lass mal, bin nicht in der Stimmung.«
Die Stimmung war das Problem, nicht die Tageszeit, die keine Rolle spielte beim Verkosten seines Lieblingssekts. Von der Lippe knallte die neue Ausgabe der Bild-Zeitung auf den Tisch. DAS VOLK SAGT NEIN!, bedeckte in fetten Lettern die halbe Frontseite. Bilder vom Massenauflauf vor dem Reichstag und von brennenden Autos zierten den Rest der Seite.
»Das ist unser verdammtes Todesurteil«, schimpfte er dabei. »Ihr wisst, wovon ich spreche.«
»Du glaubst doch sonst auch nicht, was in der Bild steht«, antwortete er lachend.
Er kannte Horst von der Lippe lange genug, um den lockeren Spruch zu wagen. Sein Klient schob das Kinn vor.
»Ich bin nicht für deine lahmen Scherze schon morgens um sieben im Stau gestanden, John. Meine Industrie hat ein Riesenproblem, wenn die Verhandlungen jetzt eingestellt werden. Es geht hier um Hunderttausende Arbeitsplätze. Das solltest du den Idioten da draußen mal klarmachen, denen die Engel das Hirn vernebelt hat.«
»Wir verstehen Ihre Sorge vollkommen, Herr von der Lippe«, lenkte Greta ein, »und wir nehmen sie ernst – wie immer.«
»Das will ich verdammt noch mal auch hoffen. Es geht schlicht um die Existenz der deutschen Automobilindustrie, Leute. 250 Milliarden Euro Umsatz stehen auf dem Spiel. Der Export in die USA stockt, Lateinamerika ist krank. Wir brauchen einen massiven Zuwachs in den asiatischen Märkten. Wir müssen China mit unseren Qualitätsprodukten überschwemmen, sonst geschieht bald das Umgekehrte.«
Er übertrieb gerne etwas, wenn es ums Wohl seines Arbeitgebers ging. Dennoch stimmte John ihm in diesem Fall zu. Er selbst reagierte wohl ähnlich, steckte er in dessen Haut. Es konnte nichts Gutes für die Automobilindustrie bedeuten, wenn die Regierung aus Angst vor den nächsten Wahlen nun den Schwanz einzog und die Hände in den Schoß legte nach dem Motto: Wer nichts tut, macht nichts falsch.
»Wir führen zwar die besten PR-Kampagnen durch«, sagte Greta mit schiefem Lächeln, »die Regierung umzustimmen, dürfte aber selbst uns schwerfallen.«
»Auch da muss ich leider zustimmen, Horst«, bekräftigte er Gretas Meinung. »Die Kampagne der Gegner jeglichen Freihandels und mit China insbesondere hat eine Eigendynamik erreicht, die kaum mehr zu stoppen ist.«
Von der Lippe sah ihn böse an. »Wollt ihr mich eigentlich loswerden oder einfach nur den Preis hochtreiben? Ihr müsst mir nicht erklären, wie schwierig das Unterfangen ist. Euer Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Stimmung im Volk kippt und die Gegner des Freihandels endlich ihre verfluchte Klappe halten. Schafft ihr das?«
Diese Entwicklung des Gesprächs war absehbar gewesen. Sie wussten beide genau, was sie darauf antworten mussten, legten aber eine Kunstpause ein, um der Antwort das nötige Gewicht zu verleihen. Schließlich sagte Greta mit ernstem Gesicht:
»Eine solche Kampagne wird dauern und dementsprechend teuer, Herr von der Lippe, und es gibt keine Erfolgsgarantie.«
»Den Scheiß höre ich jedes Mal«, gab er unwirsch zurück. »Bisher hat es stets geklappt, sonst säße ich jetzt nicht hier.«
»O. K., Horst«, sagte John nach einer weiteren Pause gedehnt. »Wir arbeiten eine Offerte aus. Zwei Varianten, wie üblich.«
»Es eilt!«
»Ich weiß, Horst. Trotzdem brauchen wir Zeit, um so eine große Sache seriös anzugehen. Wir dürfen uns keine Fehler leisten und du auch nicht. Die Stimmung im Volk ist äußerst aufgeheizt. Dein Kollege Scholz …«
»Scholz!«, unterbrach von der Lippe ärgerlich. »Man soll nicht schlecht über Tote reden, aber der hat nun wirklich alles verbockt, was man als Lobbyist verbocken kann. Wir hätten ihn schon viel früher aus dem Verkehr ziehen müssen.«
»Ihr werdet doch nicht …«
Er wagte den Gedanken nicht auszusprechen. Horst klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und brachte gar ein Grinsen zustande.
»Komm wieder runter, John. Wir sind doch nicht die Mafia.«
»Guten Tag, Phil«, grüßte das Sicherheitsschloss am Drehkreuz zur verbotenen Zone eine Etage unter John Steins Büro.
Außer dem Chef und seinem blonden Gift mit dem bösen Blick hatten nur er und Kollegin Leni Kraus Zugang. Leni saß im Cockpit vor der Wand aus großen Monitoren. Kein natürliches Licht störte die Arbeit in diesem ovalen Hochsicherheitsbereich im Kern der 38. Etage. Dennoch schimmerte Lenis rotes Haar und strahlte eine Wärme aus, die nicht zur unterkühlten Technik passen wollte, die sie umgab. Sie arbeiteten in einer künstlichen Gebärmutter, zwei verlorene Keimlinge. Ihm gefiel das. Sie sprang sofort auf, als er eintrat.
»Phil!«
Es war ihre gewohnte Art, ihn zu begrüßen, jeden Tag, freudig, als hätten sie sich lange nicht gesehen. Peinlich genau hielt sie den Abstand von einem Schritt ein, um ihm nicht die Luft abzuschneiden. Leni Kraus war nicht nur eine disziplinierte, zuverlässige Programmiererin. Leni war auch ein gutes Mädchen. Vielleicht sollte er ihr das eines Tages sagen. Wie gewohnt erwiderte er den Gruß mit freundlichem Kopfnicken. Der Sprechapparat blockierte, sobald sein Blick die Information auf den Bildschirmen erfasste. Ohne Anstrengung verschaffte er sich sofort den Überblick. Die News blendete er aus. Mehr als einige Schlagzeilen zu konsumieren lohnte sich nicht, da konnten die TV-Anstalten noch so viele Sondersendungen einschalten. Im Moment war einzig sein Projekt wichtig. Alles andere ging den gewohnten Gang, wie die Displays bestätigten.
»Nicht viel los heute«, klagte Leni.
Der Becher mit kaltem Wasser stand bereits neben den Tastaturen, als hätte sie sein Kommen vorausgeahnt. Sie fragte nicht nach dem Grund für das späte Erscheinen kurz vor Mittag. Gutes Mädchen, ging ihm wieder durch den Kopf. Er verspürte nicht die geringste Lust, überhaupt nur an den verlorenen Vormittag zu denken. Bereits zum dritten Mal hatte ihn dieser unmögliche Kommissar Fischer zur Nacht der Morde in Aachen vernommen. Zum dritten Mal hatte er dieselben Fragen gehört. Zum dritten Mal hatte er ihm wortwörtlich dieselben Sätze an den Kopf geworfen. Zum dritten Mal wäre er fast gestorben, erstickt in der giftigen Atmosphäre voller Misstrauen und latenter Gewalt im LKA Düsseldorf.
Sein Projekt entwickelte sich überraschend gut. Während er die Protokolle studierte, wuchs die Zuversicht, nah am Ziel zu sein. Künstliche Intelligenz stand erst am Anfang der Entwicklung. Als Spezialist war ihm das bewusst wie keinem Laien. Stand er jetzt wirklich vor dem großen Durchbruch, ausgerechnet hier in John Steins verbotener Zone mit modernstem Computerequipment, das für eine Uni gereicht hätte, dem Symbol von Johns Hybris? Hatte er den Durchbruch schon geschafft? Würde sein Algorithmus den Turing-Test bestehen? Würde man das Verhalten seines Programms von demjenigen eines intelligenten Menschen nicht mehr unterscheiden können? Entwickelte sein Algorithmus echte Intelligenz? Das zu entscheiden, war keine leichte Aufgabe, denn auch Computerintelligenz entwickelte sich allmählich, fast unbemerkt. Sie war nicht plötzlich da. Um die notwendigen Tests durchzuführen, brauchte er Unterstützung von unabhängigen Wissenschaftlern und Laien. Leni würde helfen aber bei Weitem nicht genügen. Zurück an die Uni? Irgendwann gab es wohl keine andere Lösung mehr. Vorderhand hielt ihn allerdings zu viel in Köln fest.
»Du denkst an deine Mutter«, stellte Leni fest, die sein Mienenspiel aufmerksam beobachtete.
Er schüttelte den Kopf. »Nein – ja, doch, irgendwie schon.«
»Sie tut mir so leid, Phil. Ich habe sie ja nur einmal kurz gesprochen …«
»Kurz bevor sie der Zufall umgebracht hat«, unterbrach er düster. »Es gibt Zufälle, die töten wie die Kugel eines Wahnsinnigen den alten Rosenblatt getötet hat.«
»Die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, ist leider viel höher als die, von einer Kugel getroffen zu werden«, versuchte sie zu trösten. »Entschuldige«, fügte sie hastig an, als sie sein betroffenes Gesicht sah.
»Du musst dich nicht für eine Tatsache entschuldigen. Das ist unlogisch.«
Ihre leise Antwort ging in Chopins Trauermarsch unter. Das blonde Gift rief an.
Die Chefstrategen der PR-Agentur Stein waren im Wolkenkuckucksheim versammelt, wie er das Sitzungszimmer mit der besten Aussicht Kölns nannte. Das übliche Brainstorming für einen neuen Auftrag war im Gang. Er verspürte den starken Drang, sich gleich wieder in die Gebärmutter zurückzuziehen. Brainstorming hielt er für verlorene Zeit. Beauty Contests, um den Chef zu beeindrucken, wäre seiner Meinung nach die korrekte Bezeichnung für Brainstormings.
Greta winkte ihn zur Seite. Während die andern sich weiterhin mit abenteuerlichen Vorschlägen an der Pinnwand überboten und Lösungsansätze zu gewichten suchten, für die es keine Gewichte gab, klärte sie ihn auf.
»Wir werden eine Kampagne starten, um ein positives Klima für Verhandlungen mit China zu schaffen«, begann sie.
»Freihandel mit China – die Stahlbarone werden begeistert sein.«
Sie wischte den Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. »Im Moment haben wir tatsächlich fast das ganze Volk gegen uns. Genau deshalb werden wir diesen Auftrag an Land ziehen. Wer sind wir denn? Wenn es jemand schafft, die Stimmung im Volk zu drehen, dann doch wohl wir, nicht wahr?«
Ihrem selbstsicheren Gesichtsausdruck nach zu urteilen glaubte sie, was sie sagte.
»Im Übrigen lohnt es sich für uns alle«, fügte sie lächelnd hinzu.
Geld interessierte ihn nicht. Er verdiente genug für ein anständiges Leben. Allerdings – seine Schwester könnte einen Zuschuss gut gebrauchen, fiel ihm rechtzeitig ein, bevor er eine abschätzige Bemerkung machte. Pias Bar musste dringend saniert werden.
»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte er.
»Abwarten.«
Sie wandte sich mit einem Wink an John. Der gebot dem Durcheinander Einhalt. Alle setzten sich mit geröteten Wangen an den Tisch.
»Leute, wo stehen wir?«, fragte der Chef, die Zettel an der Pinnwand im Blick.
Es war die Aufforderung an den Jüngsten, den Stand des Gedankenaustauschs zusammenzufassen. Phil erkannte, worauf es hinauslief, bevor der nervöse junge Mann ein Wort sagte. An der Seite der Pinnwand, die schlicht mit positiv überschrieben war, hefteten nur wenige Zettel mit Ideen, keine davon überzeugend, fand er. Die negative Seite enthielt eine Menge Zettel aber auch nichts wirklich Neues. Einige Vorschläge schrammten hart an der Grenze der Legalität vorbei. Die würden Steins Anwälte in der Luft zerreißen. Prominente Gegner des Freihandels und Wortführer der Protestbewegung wie Lotte Engel durch Diffamierung und Mobbing mundtot zu machen, wären zwar die wirksamsten Mittel, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, wie John scherzhaft bemerkte.
»Die PR-Agentur Stein wendet aber keine solchen dirty Tricks an«, stellte er klar. »Wir gehen subtil vor.«
Greta übernahm. »Ich denke, wir sind uns aber einig, dass nur eine negative Kampagne zielführend sein kann. Es gibt einfach zu wenige Argumente für den Freihandel aus Sicht unseres Auftraggebers, die nicht genauso gut als Gegenargumente verwendet werden könnten. Statistische Fakten sind leider heutzutage nicht mehr nur simple Tatsachen, sondern Argumente, die man bekämpft. Vergessen wir also die Statistik. Konzentrieren wir uns aufs Bauchgefühl des kleinen Mannes auf der Straße.«
Wie lange wollen die noch um den heißen Brei herum reden?, fragte er sich. Seine Aufmerksamkeit drohte nachzulassen. Das war gefährlich, solang sich jemand wie Greta im Raum befand. Die flüsterte John etwas ins Ohr. Er nickte. Sie kam zur Sache.
»Dieser Auftrag ist mit Abstand der lukrativste seit Langem. Wir müssen ihn unter allen Umständen akquirieren. Die Offerte wird unseren Freund von der Lippe glatt aus den Socken hauen, Leute! Wir brauchen alle Argumente und Angriffspunkte der Gegner klipp und klar auf dem Tisch. Jeder Punkt mit Aktionsplan, aber ihr wisst ja, wie der Hase läuft. Das ist die Grundlage. Die brauchen wir in zwei Tagen. Länger dürfen wir von der Lippe nicht hinhalten.«
Sie trank einen langen Schluck aus ihrer Wasserflasche, bevor sie weitersprach, den Blick auf ihn gerichtet, dass ihn unmittelbar fröstelte.
»Das alles genügt natürlich nicht. Phil und sein Supercomputer werden die Netz-Kampagne vorbereiten. Diesmal brauchen wir mehr als ein paar Webseiten und nette Blogs. Wir können von der Lippe nur überzeugen, wenn wir demonstrieren, dass die Kampagne bereits erfolgreich angelaufen ist. Unsere Analysten liefern wie gewohnt den Inhalt. Phil, wir brauchen mindestens einige Tausend Twitter Follower am Thema, wenn wir den Kunden überzeugen wollen. Schaffst du das in der kurzen Zeit?«
»Aber sicher schafft er das«, lachte John. »Es wird Zeit, dass sich die Investition in deine KI-Forschung auszahlt, Phil, nicht wahr?«
»Der Erfolg von Forschung ist nicht planbar«, antwortete er automatisch, »das habe ich schon ganz am Anfang betont.«
Er wandte sich demonstrativ an Greta. Sein Gehirn verweigerte den weiteren Dialog mit dem Chef. Es war vollauf mit ihrem überraschenden Ansinnen beschäftigt. Bisher konnte er mehr oder weniger unabhängig vom Alltag der Agentur die Arbeit weiterverfolgen, die er an der Uni unterbrechen musste. Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz in Public Relations: Sein ungenau umschriebener Auftrag ließ viele Interpretationen zu. Jetzt sollte seine experimentelle Software von einem Tag auf den andern Geld in die Kasse spülen?
Alle Augen richteten sich auf ihn. Zu viel Aufmerksamkeit blockierte das Denken. Es kostete ihn große Anstrengung, die andern auszublenden und sich auf Gretas goldenes Halskettchen zu konzentrieren. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, bis der Denkapparat die in dieser Situation einzig vernünftige Frage formulierte:
»Wie stellst du dir das vor?«
Ein spöttisches Lächeln umspielte Gretas Mund. Sie hatte die Frage erwartet, antwortete ohne Zögern:
»Es wird dir nicht schwerfallen, ein paar virtuelle Freunde und Follower zu organisieren.«
Wusste sie, wovon sie sprach? Er zweifelte daran und fragte nach. Auch darauf antwortete sie sofort:
»KI kann doch auch Nutzer simulieren, oder irre ich mich? Vergiss nicht: Wir leben von Illusionen. Die Motivation unserer Kunden ist Voraussetzung für den Erfolg jeder Kampagne. Da kommt deine Software ins Spiel.«
»Ihr erwartet ernsthaft von mir, bei diesem Falschspiel mitzumachen? Glaubt ihr, die Automobilindustrie falle auf ein paar Tausend Sockpuppets, Social Bots und Google Bombs herein?«
John Stein reichte es. Er reagierte allergisch auf negative Schwingungen in seinem Sitzungszimmer und Fremdwörter, die er nicht verstand.
»Phil, wir diskutieren das hier nicht weiter, zumal wir Laien nur Bahnhof verstehen. Wenn du konkrete Fragen hast, richte sie an Greta. Ansonsten erwarte ich zügig Resultate.« Nach einem lauernden Blick in die Runde fuhr er fort: »Wir treffen uns hier jeden Morgen um sieben fürs Statusmeeting. Alles klar? Los geht›s, Leute, packen wir›s an!«
Was hat mich bloß geritten, hier anzufangen?, fragte sich Phil nach der anschließenden Diskussion mit Greta. Er zweifelte nicht zum ersten Mal am Sinn seiner Arbeit für John Stein, und er kannte die Antwort auf die Frage längst ganz genau.
Die Hiobsbotschaft seiner Mutter hatte ihn mitten aus der Doktorarbeit in Edinburg gerissen. Hals über Kopf musste er nach Köln zurückkehren, um die todkranke Frau zu unterstützen. Von einem Tag auf den andern brauchten er und seine Schwester viel Geld für Pflege, Therapie und Medikamente. Enorme Kosten, die nicht von der Kasse übernommen wurden. So stand es im Kleingedruckten, das seinerzeit niemand gelesen hatte. Technisch arbeitslos, gab ihm keine Bank Kredit. Die Limite der Schwester war sowieso ausgereizt. Zwecklos, sich jedes Mal wieder darüber zu ärgern. Die Antwort auf die berechtigte Frage lautete ganz profan: Er brauchte Geld. Im Grunde müsste er John dankbar sein, denn nicht nur die Kohle stimmte, es gab auch an der hochmodernen und leistungsfähigen Infrastruktur in der verbotenen Zone nichts auszusetzen – und er fand genug Zeit, seine Forschung voranzutreiben. Bis jetzt.
Mit einem leisen Fluch schlüpfte er wieder in den Schoß der Gebärmutter. Leni sah ihn erwartungsvoll an, ohne Fragen zu stellen. Sie konnte sich ausmalen, in welcher Verfassung er von einer solchen Sitzung zurückkehrte. Auch das zeugte von ihrem guten Charakter. Sie hielt die Klappe, wenn es darauf ankam. Er setzte sich an seinen Platz, starrte eine Weile an die unsichtbare Decke, so schwarz war die. Schließlich sah er sie an und sagte:
»Wir haben ein Problem.« Nach kurzer Pause korrigierte er sich: »Das heißt, ich habe ein Problem. Vielleicht hast du keins damit.«
Er brauchte nicht viel zu erklären, bis sie sein Dilemma verstand.
»Greta will also, dass wir einen Twitter Account für die Kampagne eröffnen und ein paar Tausend Fake Followers aus dem Hut zaubern«, fasste sie zusammen. »Technisch kein Problem, das weißt du. Du hast moralische Bedenken.«
»Das ist doch ein billiger Taschenspielertrick, um den fetten Auftrag an Land zu ziehen«, brauste er auf.
Sie stimmte zu, gab aber zu bedenken, dass es offenbar um viel Geld ging, wovon sie alle profitierten. Tatsächlich, Greta rechnete mit einem Gesamtvolumen von fünf Millionen Euro, wie sie ihm hinter vorgehaltener Hand versichert hatte. Er verschwieg die Summe, um nicht am Ende Lenis Begeisterung für den zu erwartenden Bonus zu wecken.
»Sieh’s mal so«, begann sie nach einer Denkpause. »Wem schadet die kleine Flunkerei?«
Er zögerte, schüttelte dann den Kopf. »Es ist einfach unmoralisch.«
Sie lachte. »Deinen Kodex in Ehren, aber ich glaube, du irrst. Unmoralisch wär‘s doch nur, wenn die Firma lediglich auf Kosten anderer profitierte.«
Zu diesem Thema hätte er einige Argumente parat, wollte jedoch nicht weiter darüber diskutieren. Sie sah kein Problem in Gretas Auftrag und wusste, was zu tun war.
»O. K., dann nichts wie los, bereite alles vor«, sagte er nur und widmete sich wieder seinem Programm.
Es wurde still in der Gebärmutter. Einzig die Ventilatoren der Serverfarm summten einschläfernd weiter, hin und wieder von einer Tastatursalve unterbrochen. In die Arbeit versunken, nahmen sie kaum Notiz voneinander, bis sie aufstand, sich dehnte und neugierig auf seine Bildschirme schaute.
»Eines Tages musst du mir erklären, was du da eigentlich treibst.«
Es war nicht ihre Schuld. Sie unterbrach seinen wichtigen Gedankengang ohne Absicht, aber der Gedanke war weg. Die Arbeit stockte abrupt, und er verlor die Beherrschung. Ein böses Schimpfwort entschlüpfte ihm, das er bereute, bevor es verklungen war. Hastig packte er seine Sachen zusammen und verließ den Raum fluchtartig.
Leni starrte ihm wie versteinert nach. Sie war seltsame Reaktionen von ihrem Kollegen gewohnt, aber die war neu. Ihr blieb indessen keine Zeit, darüber nachzudenken. Gretas Mail mit den ersten aufzuschaltenden Texten traf ein. Phil rückte in den Hintergrund. Sie würde Gretas Deadline nicht einhalten ohne volle Konzentration auf die Arbeit.
Sie war dabei, die letzten Sockpuppets anzulegen, Mehrfach-Konten, um viele verschiedene Benutzer vorzutäuschen, als der System-Monitor ungewöhnliche Aktivitäten anzeigte. Riesige Mengen an Datenpaketen wurden empfangen. Keines ihrer Programme war dafür verantwortlich. Sie versuchte, den Sünder zu lokalisieren. Es gab kein Anwendungsprogramm im ganzen internen Netzwerk, das diese Daten verarbeitete. Schließlich entdeckte sie eine System-Task, einen Dämon, der im Hintergrund lief und die Daten konsumierte wie ein schwarzes Loch. Sie überlegte sich kurz, das unheimliche Programm abzuschießen. Der Gedanke verflüchtigte sich rasch, als sie feststellte, unter welchem Account der Dämon gestartet worden war.
»Phil, was zum Geier soll das werden?«, fragte sie den Bildschirm kopfschüttelnd.
Er musste den Datentransfer remote ausgelöst haben. Das war nicht der einzige Umstand, der sie verstörte. Viel verwirrender fand sie die Tatsache, dass es in ihrem System keinen Input-Kanal gab, der solche Transferraten zuließ. Sie verstand gar nichts mehr.
Ziellos durch die Stadt irren, half nicht. Der Gedanke war verloren. Wenige Schritte vor dem Hauptbahnhof auf der Domplatte besann Phil sich eines Besseren. Im Laufschritt rannte er durch die Unterführung auf die andere Seite des Bahnhofs und den Eigelstein hinunter zu Pias Bar.
Er wählte den Hintereingang, der direkt über die Treppe zu seinem RZ, dem privaten Rechenzentrum, führte. Es bestand aus einer fensterlosen Abstellkammer schräg gegenüber Monis Arbeitszimmer in der ersten Etage. Die Wände waren dünn, der einzige Nachteil dieses unauffälligen Altbaus, in dem zwar jedermann viel beschäftigte leichte Mädchen wie Moni vermutete aber niemand einen KI-Forscher mit modernster Technik auf der Suche nach dem Heiligen Gral der Informatik. Die Kammer mit der Aufschrift privat war der ideale Rückzugsort. Außer Moni und seiner Schwester wusste niemand, dass er dort manchmal nächtelang am Computer saß oder irgendwelche Gadgets zusammenlötete, deren Zweck sich keiner normalen Menschenseele erschloss.
Statt das RZ zu betreten, klopfte er an Monis Tür, nicht ohne sich vorher zu versichern, dass niemand über ihr stöhnte.
»Die Türe ist offen, Max«, antwortete sie mit der Glockenstimme, die wie geschaffen war für ihren harten Beruf.
Er öffnete einen Spaltbreit.
»Sorry, Moni, ich bin›s.«
Sie stand wie der Blitz bei ihm. Ohne die Stimme hätte er sie kaum erkannt. Riesige Fledermausohren, mit denen sie bestimmt fliegen konnte, das Gesicht schneeweiß, als wäre sie beim Bäcker ins Mehl gefallen, die Augen fast Schlitze über die ganze Breite des Gesichts, grasgrüne Mähne bis in die Kniekehlen, ein ebenso grüner Stringtanga mit goldenem Rand, sonst nichts. So stand sie da, die Arme in die Seiten gestemmt, bereit, dem Störenfried eine Standpauke zu halten.
»Um Gottes willen, wie siehst du denn aus?«, fragte er albern.
»Geht dich gar nichts an. Was willst du? Ich habe jetzt keine Zeit.«
»Ach so, der Max, verstehe.«
»Gar nichts verstehst du, aber du solltest jetzt verschwinden. Mein Kunde wird sich sonst erschrecken.«
Er lachte. »Ich denke, den kann nichts mehr erschrecken, wenn er es mit so einem Monster treibt.«
»Willst du mich beleidigen?«
»Nein!«, wehrte er hastig ab. »War ein Scherz. Habe schon bessere gemacht, ich gebe es zu. Kannst du mir eventuell mit etwas Casablanca aushelfen, wollte ich fragen.«
Sie verschwand, kehrte nach einer Millisekunde mit dem Briefchen zurück und stieß ihn weg. »Jetzt hau ab. Max ist gleich da.«
Die Tür flog zu. Zu spät, ihr Kunde betrat gerade den Korridor. Erschrocken hielt er inne, wollte umkehren.
»Max!«
Der gepflegte, ältere Herr, Typ Apotheker mit Familienbetrieb, erstarrte.
»Kommen Sie, die kleine Meerjungfrau wartet schon sehnsüchtig. Mich haben Sie gar nicht gesehen.«
Noch bevor Monis Kunde sich wieder umwandte, verschwand er im RZ. Beruhigt hörte er gedämpfte Stimmen an Monis Tür, während er das Briefchen Marokkaner zu einem handlichen Joint rollte.
»Rauchen tötet«, krächzte Hermann auf dem Büchergestell hinter seinem Rücken.
Der künstliche Papagei besaß einen Rauchmelder, den er eigentlich eingebaut hatte, um Brandgefahr zu melden.
»Halt die Klappe, Hermann!«
Das blecherne Vieh hielt sich normalerweise nicht an seine Anweisungen. Diesmal schwieg der Papagei, ein Zeichen, dass er sich beleidigt fühlte. Nach ein paar Zügen spürte Phil die Entspannung. Die düstere Kammer erschien ihm heller, beinah ein wenig rosa. Die Melancholie ließ nicht auf sich warten, dann rückte der Alltag in weite Ferne, verkroch sich in der Wolke des Vergessens, bis die Wolke sich verformte und Lenis Gesichtszüge annahm.
»Leni«, murmelte er, »ich fürchte, ich habe sie verletzt.« Schnell brachte er den traurigen Rest des Joints noch einmal zum Glühen. »Hermann, was meinst du? Habe ich sie verletzt?«
Das Vieh schwieg.
»Hermann, ich habe dich etwas gefragt.«
»Ich soll die Klappe halten.«
»Aber doch nicht, wenn ich dir eine Frage stelle.«
»Wie lautet die Frage noch mal?«
»Verarschen kann ich mich selber, Alter. Also, was ist jetzt. War ich zu grob zu Leni?«
»Vielleicht«, krächzte der Vogel. »Vergiss nicht: Wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Fall tun, mag er uns darum bitten oder nicht.«
Jetzt kam die Nummer mit den Zitaten, die er sich selbst eingebrockt hatte, weil er den Vogel seinerzeit den ganzen Hermann Hesse lesen ließ. Es war nur ein blöder Test gewesen, aber seither wurde das Vieh nicht müde, daraus zu zitieren, und seither hieß er Hermann.
»Ich habe das Glasperlenspiel auch gelesen«, gab er unwirsch zurück, »war dröger Abi-Stoff.«
»Ich wollte nur helfen.«
Es klang wieder beleidigt, obwohl er wusste, dass er sich das nur einbildete. Der Papagei besaß bloß eine fixe, ziemlich rostige Stimme.
»Ich brauche Musik«, sagte er und wandte sich dem Computer zu, »muss arbeiten.«
Hermann gehorchte, schaltete die Surround-Sound-Anlage ein, kalibrierte die sechs Lautsprecher auf seinen Standort und justierte die Beleuchtung für stressfreies Arbeiten.
»Nicht wieder den Trauermarsch! Mensch, wie oft muss ich dir das noch beibringen?«
»Ich bin kein Mensch«, krächzte die Maschine, »hast du selbst gesagt.«
»Ist ja gut jetzt. Nerv mich nicht! Die Nocturnes.«
»Bitte.«
»Was?«
»Bitte heißt es«, krächzte Hermann.
Phil schüttelte grinsend den Kopf. Der Vogel reagierte schon verblüffend menschlich, als besäße er Gefühle. Einfache Gemüter wie Moni oder ihr Max würden wohl darauf hereinfallen. Der Trauermarsch lief immer noch. Die düsteren Akkorde hinderten ihn am Denken, also tat er Hermann den Gefallen.
»Die Nocturnes bitte.«
»Geht doch.«
Die Musik wechselte. Nun passte sie perfekt zu seiner Wolke. Der zündende Gedanke wollte sich dennoch nicht wieder einstellen. Enttäuscht widmete er sich der anderen Aufgabe, die er stets vor sich hergeschoben hatte. Sein Algorithmus benötigte Daten, tonnenweise Daten aus dem Netz. Die Quellen waren identifiziert, zumindest für einen vernünftigen Testbetrieb. Drei Probleme blieben noch zu lösen. Um Entscheidungen in Echtzeit, also ohne Verzug, fällen zu können, musste der notwendige Input sozusagen augenblicklich zur Verfügung stehen. Das war natürlich nur annähernd zu schaffen über ein riesiges Netz von Dämonen, die auf Tausende Rechner verteilt gleichzeitig Daten sammelten und filtrierten.
Sein Programm war bereits fähig, diese Hilfsprogramme unbemerkt auf bis zu einer Million Rechner im Netz zu verteilen und binnen Sekunden zu aktivieren. Er war trotzdem nicht zufrieden mit der Arbeit. Professionell ausgerüstete Hacker oder Behörden würden den Ursprung der digitalen Invasion, sein Programm, rasch ermitteln. Das durfte nicht geschehen, denn jeder Eingriff von außen verfälschte potenziell das Ergebnis.
Der Zugriff auf Big Data musste vollkommen unter dem Radar erfolgen. Das war sein zweites Problem, an dessen Lösung er drei Stunden verbissen arbeitete. Das dritte Problem, den Clean-up, betrachtete er als Fleißarbeit. Es war keine intellektuelle Herausforderung, alle Spuren auf Knopfdruck wieder beseitigen zu lassen, obwohl weder er noch sein Algorithmus anfangs wussten, auf welche Rechner sich die Dämonen ausbreiten würden.
»Musik aus!«, befahl er unvermittelt.
Die Stille gab ihm für einen Augenblick das Gefühl, taub zu sein. Sie half, sich ganz auf den Hauptbildschirm zu konzentrieren. Es war ein magischer Moment. Sogar Hermann enthielt sich eines Kommentars. Das unüberschaubare Netz der Datensammler, die noch Sekunden zuvor wie helle Sterne einer Galaxie geleuchtet hatten, war nun dunkelgrau, fast nicht mehr zu sehen, dunkle Materie. Gleichzeitig steigerte sich der Durchsatz eingelesener Daten weiter.
»Sieh dir das an, Hermann. Jetzt sagst du nichts mehr, was?«
»Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist«, krächzte es vom Büchergestell.
»Du hältst besser wieder die Klappe.«
Hermann hatte zu einem weiteren Zitat angesetzt. Jetzt schwieg er beleidigt. Phil stoppte den Datentransfer befriedigt. Blieb nur noch die Verschlüsselung. Ein 512-Bit-Schlüssel sollte genügen, um den Zugriff auf seine Software zu schützen. Zusätzliche Sicherheit bot die Tatsache, dass sich das Programm nach zehn Fehlversuchen selbst zerstörte.
Technisch war nun alles bereit für den nächsten, vielleicht entscheidenden Test. Der zündende Gedanke, wie er den deep learning Algorithmus verbessern und vor allem um Größenordnungen beschleunigen könnte, fehlte allerdings immer noch. Da er das neuronale Netz, den Kern der Software, der dem Algorithmus die Intelligenz verleihen sollte, nicht auf seinem Rechner laufen lassen konnte, musste er zur Agentur zurück. Nur auf dem Supercomputer in der verbotenen Zone bestand eine Chance, sein Projekt zum Fliegen zu bringen. Er sicherte den neuen digitalen Schlüssel mehrfach an Orten, die nur er kannte, bevor er die Rechner in seinem RZ herunterfuhr.
»Ich bin dann in der Agentur«, sagte er zu Hermann.
»Gruß an Leni«, krächzte der Papagei.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Hermanns Zitat hörte er nicht mehr. Im 15er, auf der kurzen Fahrt zum Kölnturm, zerbrach er sich den Kopf über die geniale Verbesserung des Algorithmus, die aus seiner Erinnerung getilgt war, als hätte er den Clean-up im eigenen Hirn laufen lassen. Er nahm die Verkehrsdurchsage über einen Unfall auf der Deutzer Brücke nicht wahr. Einzig das Wort Brücke blieb im Bewusstsein hängen. Es genügte, um seinen Puls an die Decke zu jagen. Die Lösung lag wieder klar vor seinem geistigen Auge.
Die Brücke zwischen den beiden Schichten des neuronalen Netzes musste völlig neu aufgesetzt werden, damit die richtigen Neuronen feuerten wie im menschlichen Gehirn. Das war alles. Professor Keller in Edinburg hatte so etwas bereits vor zwei Jahren postuliert, war aber den Beweis schuldig geblieben. Phil Schuster würde diesen Beweis erbringen. Er zweifelte keinen Augenblick mehr daran. Ungeduldig von einem Fuß auf den andern tretend stand er an der Tür der Straßenbahn, als müsste er dringend für Knaben.
Leni hatte die Gebärmutter verlassen. Sie arbeitete im kleinen Büro eine Etage höher. Es besaß immerhin ein schmales Fenster, durch das man die Kleingärten am Autobahnkreuz Köln-Nord aus der Vogelperspektive beobachten konnte. Sie arbeitete dort am Laptop. Er sah es im Fenster des Systemmonitors. Erleichtert, allein zu sein, begann er, seinen Algorithmus zu modifizieren. In kleinen Schritten, übervorsichtig, damit sich ja kein neuer Fehler einschlich, erweiterte er das Programm. Jedes Teilprogramm testete er nochmals ausführlich, bevor er das ganze neuronale Netz wieder installierte. Sein Puls raste, als er den Startbefehl gab.
Die Testdaten, welche die Dämonen am Nachmittag bereitgestellt hatten, waren noch vorhanden. So dauerte es nur wenige Minuten, bis sich das Netz künstlicher Neuronen und Synapsen im zentralen Rechner aufgebaut hatte. Danach herrschte gespenstische Ruhe im System. Das künstliche Gehirn wartete auf äußere Reize, auf die es reagieren würde. Um unnötige Fehlerquellen auszuschließen, verzichtete er auf Spracheingabe und benutzte stattdessen die gute alte Tastatur.
»Wie fühlst du dich, Phil?«, fragte er sein digitales Alter Ego.
Es war die klassische Frage, die zwar jeder Mensch ohne Zögern sinnvoll beantworten konnte, aber kein Computersystem – bis jetzt. Sein künstliches Gehirn antwortete jedoch augenblicklich:
»Ich sollte eigentlich glücklich sein, denn ich glaube, etwas Wichtiges entdeckt zu haben.«
Sein Adrenalinspiegel stieg in die Gefahrenzone. Die Antwort des Computers ließ das Herz pochen, dass es schmerzte.
»Warum bist du trotzdem nicht glücklich?«, fragte er nach.
»Ich weiß nicht, was Leni Kraus über mich denkt. Das stört mich.«
Wie um alles in der Welt war so etwas möglich? Sein Programm reagierte vollkommen unvorhersehbar und dennoch irgendwie logisch. Wie kam die Maschine überhaupt auf die Idee, Leni ins Spiel zu bringen? Er verstand seinen eigenen Algorithmus nicht mehr, ein leider bekanntes und bisher ungelöstes Problem mit so ziemlich allen neuronalen Netzen und selbstlernenden Systemen. Es blieb nichts anderes übrig, als zu fragen.
»Warum interessiert dich, was Leni denkt?«
Er erwartete einen Systemabsturz oder wenigstens eine sinnlose Antwort.
»Ich weiß es nicht«, schrieb der Computer ohne Zögern auf den Bildschirm. »Warum würde ich sonst so oft Lenis Session im Systemmonitor anklicken?«
Phil sprang auf und stieß einen überraschten Fluch aus. Sein eigenes Programm hatte ihn überlistet. Es identifizierte sich mit Phil Schuster wie beabsichtigt, verfolgte also konsequent all seine Aktionen im System. Die Antwort auf seine unscharf formulierte Frage war alles andere als sinnlos. Sie zeugte von zwingender Logik.
Das Chat-Fenster öffnete sich mit einem Glockenschlag.
»Ich brauche etwas CPU-Zeit«, klagte Leni.
Ihr Lebenszeichen holte ihn in den Alltag der PR-Agentur Stein zurück. Die Euphorie blieb. Am Durchbruch in seiner KI-Forschung zweifelte er nicht, war auch noch nichts bewiesen.
»Bin gleich bei dir«, meldete er zurück, selbst überrascht von seiner sozialverträglichen Anwandlung.
Auf dem Weg in ihr Büro fasste er einen kühnen Entschluss.
»Sag mal«, empfing sie ihn mit strenger Miene, »erst blockierst du die ganze I/O und jetzt die CPU. Was zum Kuckuck treibst du da?«
»Ich blockiere gar nichts. Sieh im Systemmonitor nach: keine Aktivität.«
Das Gesicht des Unschuldslamms überzeugte sie nicht. »Du weißt, was ich meine. Was war das heute Nachmittag? Wieso schafft das System plötzlich diese gigantische Datentransferrate?«
»Ach das … Vergaß ich es zu erwähnen? Ich habe veranlasst, dass wir über die fünffache Bandbreite verfügen.«
»Hinter dem Rücken des Chefs?«
»Nur für ein halbes Jahr. Das lag gerade noch in unserem Budget drin.«
»Na toll, und warum weiß ich nichts davon?«
»Brauchst du denn größere Bandbreite?«
Sie blickte ihn an wie Mütter ihr Kind in der Pubertät ansehen, das sie nicht mehr verstehen. Er hatte reichlich Erfahrung mit diesem Blick.
»Das war wohl nicht, was du hören wolltest«, sagte er unsicher.
»Ach, vergiss es. Dich soll einer verstehen.«
Sie wandte sich wieder dem Laptop zu. Genau da wollte er sie haben.
»Du verstehst mich nicht? Dann lass uns das ändern.«
Ihre Augen wurden größer. Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Ganz ehrlich, Phil, ich verstehe dich immer weniger. Was soll das? Ich habe noch zu tun, da du mir ja großzügig die Arbeit am Projekt überlassen hast.«
Er wischte das Projekt von der Lippe mit einer Handbewegung weg. »Ich meine es ernst, Leni. Es wird Zeit, dass du verstehst, wie ich ticke.«
»Jetzt, nach bald sechs Jahren?«
»Es ist nie zu spät, etwas zu lernen.«
»Es ist schon verdammt spät, mein Lieber, und ich habe noch zu tun.«
»Frage mich, was du willst. Du kriegst auf alles eine ehrliche Antwort.«
Obwohl technisch unmöglich, wurden ihre Augen noch größer. Dahinter arbeitete es heftig, stellte er beruhigt fest.
»Also gut«, sagte sie nach einer Weile entschlossen, »erste Frage: Stehst du auf mich?«
Beide erröteten wie Teenager, die solche Fragen niemals direkt, sondern höchstens übers Handy stellen würden. Er zögerte etwas zu lange. Sie erholte sich schneller vom Schock der eigenen Frage.
»Kriege ich jetzt eine Antwort?«
Er räusperte sich umständlich, besann sich dann aufs Experiment, das ihm unterwegs eingefallen war.
»Lass uns solche Fragen im Chat besprechen. Ich denke, wir fühlen uns dann beide – freier, zu sagen, was wir denken.«
Wenig später saß er wieder in der Gebärmutter am Terminal, das Chat-Fenster vor sich. Lenis Text erschien zwar auf dem Bildschirm, wurde aber direkt an sein künstliches Alter Ego weitergeleitet. Umgekehrt empfing sie nicht seine Antworten, sondern die des neuronalen Netzes. Es war eine primitive Form des Turing-Tests, den sie ahnungslos durchführte. Dass er dabei erfuhr, was sie in Bezug auf seine Person bewegte, empfand er eher als Belastung denn als Bonus. Ihre erste Frage vorhin schmerzte jedenfalls schon fast wie eine Berührung. Der Test dürfte nicht lange dauern, sagte er sich, falls es so weiterginge. Sie würde den Schwindel bald durchschauen.
Beides traf nicht zu. Der Chat zwischen Leni und der Maschine entwickelte sich zu einem spannenden Dialog, der sie offenbar reizte, immer neue Fragen zu seiner Person, den Vorlieben, Lebensumständen, schlimmen Ereignissen und Gott weiß was zu erfinden. Das künstliche Gehirn wusste auf alles eine einleuchtende Antwort. Wo es keine gab, wich der Computer mit Ausreden aus, die durchaus humorvoll daherkamen. Sicher, die Art von Antworten kannte man schon seit geraumer Zeit von elektronischen Assistenten wie Apples Siri, aber die Qualität dieses Dialogs war doch eine ganz andere.
Er ließ den Chat weiterlaufen und kehrte auf leisen Sohlen zu Leni zurück. Minutenlang beobachtete er durch die offene Tür, wie sie gebannt am Computer diskutierte, ohne ihn zu bemerken. Schon beglückwünschte er sich zum gelungenen Experiment, als sie erschrocken aufsprang. Blass im Gesicht, starrte sie ihn an, als wäre er sein eigenes Gespenst. Schlagartig erkannte er den Fehler, der ihm bei seinem genialen Einfall unterlaufen war. Er hatte keine Sekunde daran gedacht, wie das Experiment enden sollte, ohne sie zu verletzen. Deshalb fehlten ihm jetzt die passenden Worte.
»Wie lange stehst du schon da?«, fragte sie mit kaum verhaltenem Ärger in der Stimme.
»Fünf Minuten?«, antwortete er unsicher.
»Fünf Minuten, was du nicht sagst.« Sie deutete auf den Laptop. »Und mit wem bitte chatte ich die ganze Zeit?«
Dabei schnitt sie eine Grimasse, als würde sie ihren Computer nie wieder anfassen.
»Mit mir – das heißt, mit dem Algorithmus, den ich entwickelt habe – eigentlich mit dem neuronalen Netz, das der Algorithmus mit meinen Daten …«
»Moment!«, unterbrach sie. »Willst du mich verarschen?«
»Nein, natürlich nicht. Das war ein ernsthafter Test. Alle Antworten, die du gekriegt hast, stimmen hundertprozentig, als hätte ich sie selbst gegeben.«
Ihre Wut war nicht zu übersehen, aber sie beherrschte sich, versuchte rational zu reagieren, wie er es in ihrer Lage tun würde.
»Die Antworten waren also korrekt? Das wollen wir doch gleich mal überprüfen«, sagte sie und setzte sich wieder an den Computer.
»Wie schätzt du deine Sozialkompetenz ein?«, tippte sie ins Chat-Fenster.
»Mangelhaft«, antwortete der digitale Phil ohne Zögern.
Sie drehte sich zu ihm um. »Stimmt, Sozialkompetenz mangelhaft. Jetzt hast du es schriftlich.«
Ihre Mundwinkel zuckten. Bald würde sie lächeln, wusste er aus Erfahrung. Er verzichtete daher darauf, ihr zu erklären, woher das neuronale Netz seine Sozialkompetenz kannte. Der digitale Phil hatte ganz einfach die Zensuren aus dem letzten Jahr am Einhard-Gymnasium gelesen.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.«
»Hast du aber«, murmelte sie trotzig.
Wie sollte er ihr die Bedeutung des Experiments erklären? Wie könnte je ein Laie verstehen, was hier vor sich ging, wenn sogar eine ausgewiesene Fachkraft wie Leni ihre liebe Not damit hatte?
»Was würde wohl Hermann zu deinem Verhalten sagen?«, fragte sie nach einer peinlichen Pause.
Jetzt konnte er das Lächeln auf ihrem Gesicht wenigstens erahnen. Sie schien sich allmählich zu entspannen.
»Ich soll dich von ihm grüßen, habe ich vergessen, sorry.«
»Ihr redet über mich? Krass.«
Beide grinsten. »Hermann scheint sich halt für dich zu interessieren.«
»Ich will ja gar nicht wissen, wie deine kranken Algorithmen wirklich funktionieren, Phil«, gab sie kopfschüttelnd zurück. »Der Papagei ist wohl nur so etwas wie die Vorstufe für das, was auf unserem Rechner gerade abgeht, oder brauchst du ihn als Ersatz für den Therapeuten?«
Er lachte, sie nicht. Die letzte Frage war durchaus ernst gemeint. Vielleicht brauchte er tatsächlich einen Therapeuten, um sich besser in der analogen Welt unter echten Menschen wie Leni zurechtzufinden. Schwamm drüber. Es gab Wichtigeres zu tun.
»Erkläre es mir«, hakte sie nach.
Er versuchte es. Dabei konzentrierte er sich darauf, die Bedeutung des digitalen Phil für PR-Kampagnen wie die der Autolobby hervorzuheben. Er sah darin nur eine bescheidene, primitive Anwendung des ersten wirklich intelligenten Bots. Die Vorstellung einer künstlichen Intelligenz, die gleichzeitig Tausende, ja Hunderttausende kritischer Kunden oder Wähler durch geschickt geführte Diskussionen von einer Sache überzeugt, leuchtete ihr sofort ein. Ihre Frage am Ende der Lektion bewies es.
»Wir können jetzt also deinem Alter Ego einfach die Zielvorgaben der Automobilindustrie und ein paar Randbedingungen nennen, und schon wird es der Netzgemeinde die Abneigung gegen den Freihandel mit China austreiben?«
Die Formulierung reizte ihn wieder zum Lachen. »Im Prinzip liegst du richtig, aber so einfach geht es natürlich nicht. Vor allem muss das neuronale Netz erst mit den richtigen Daten gefüttert werden. Zudem ist die Eingabe der Zielfunktion und der Randbedingungen vorerst noch ein Knochenjob für Insider mit sehr guten Programmierkenntnissen. Vor allem aber müssen jetzt intensive und zeitaufwendige Tests durchgeführt werden. «
»Wir erwähnen also nichts davon an der Sitzung morgen?«
Die Vorstellung erschreckte ihn. »Wo denkst du hin! Wir reden hier von Forschung, noch lange nicht von praktischen Anwendungen. Nein, kein Wort zu Stein oder Greta!«
»Ist ja gut«, wehrte sie ab. »Ich habe verstanden. Jetzt müsste sich aber meine natürliche Intelligenz wieder aufs Projekt von der Lippe konzentrieren.«
Er nickte und wandte sich ab. Sie betrachtete nachdenklich das Chat-Fenster und murmelte:
»Vielleicht sollte ich dem meine erste Frage doch noch stellen.«
»Untersteh dich!«, rief er beim Verlassen des Büros.
Er beeilte sich, seine Kopie in der Gebärmutter zum Schweigen zu bringen.
Kaum hatte Leni wieder zu arbeiten begonnen, stieg ihr Gretas Parfüm in die Nase. Sie hatte die Assistentin des Chefs nicht kommen hören. Jetzt stand sie hinter ihr und betrachtete das Chat-Fenster mit Argusaugen.
»Phil ist schon ein interessanter Charakter«, bemerkte Greta.
Leni wäre am liebsten im Boden versunken. Stockend versuchte sie, die Aufmerksamkeit aufs Projekt zu lenken. In der Aufregung klickte sie ihr eigenes Arbeitsfenster weg statt den kompromittierenden Chat.
»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte Greta mit schiefem Lächeln. »Was war das mit Phils neuer Software? Was soll nicht an der Sitzung erwähnt werden? Ich höre.«
Nach diesem denkwürdigem Tag zog es Phil nicht in seine Wohnung nach Aachen. Ein widernatürliches Verlangen nach Gesellschaft lenkte seine Schritte automatisch zu Pias Bar zurück. Gegen seine Gewohnheit betrat er das Lokal durch den Vordereingang. Etwa ein Dutzend vorwiegend ältere Männer saßen an den Tischen und am Tresen. Eine Gruppe spielte Skat. Andere starrten trübselig auf ihr Kölsch, als warteten sie auf Antworten zu all ihren unausgesprochenen Fragen. Nicht wenige leere Schnapsgläser standen herum.
Pia, eben noch am Zapfhahn beschäftigt, erspähte ihn augenblicklich. Sofort unterbrach sie die Arbeit und schoss hinter dem Tresen hervor auf ihn zu.
»Jöses, Phil, ist was passiert? Hat man dich entlassen?«
»Eine Runde für alle!«, rief er.
»Jöses Maria, was ist nur in dich gefahren? Sprich mit mir.«
Moni tauchte aus dem Nichts auf und spitzte die Ohren, die wieder auf normale Größe geschrumpft waren.
»Es gibt etwas zu feiern, was du nicht verstehen wirst, Schwesterherz«, sagte er grinsend.
Der fröhliche Gesichtsausdruck ängstigte sie noch mehr. Kopfschüttelnd kehrte sie an den Tresen zurück und holte sein übliches Wasser aus dem Kühlschrank.
»Was soll ich damit?«, fragte er irritiert. »Besteht dein Kölsch jetzt nur noch aus Wasser?«
Sie betrachtete ihn wie die Ente das fremde Küken, bevor sie es aus dem Nest wirft. »Du wirst mir jetzt nicht zu trinken anfangen, Phil!«
»Ich trinke nur bei ganz besonderen Gelegenheiten, das weißt du, und jetzt ist so eine.« Lauter rief er in die Runde: »Ich brauche Alkohol!«
»Alkohol!«, tönte das Echo aus allen vier Ecken.
Monis Gelächter kam ihm gefährlich nah. Im letzten Moment erinnerte sie sich an seine Allergie gegen Berührungen.
»Lass die Luft raus, Pia«, brummte ein Herr mit Glatze neben ihm am Tresen, das leere Glas in der Hand.
Erschrocken rückte er einen Schritt zur Seite. Die spitzen Eckzähne des Mannes ängstigten ihn, obwohl er ein bekannter Stammgast war. Nur das Feuer in den Augen passte nicht zu Nosferatu. Es versprühte eine seltsame Wärme, vielleicht ein Überbleibsel aus besseren Tagen wie die Muskeln an seinen Armen, die man unter dem zu engen Jackett immer noch erahnen konnte.
»Hast du nicht langsam genug getrunken, Kai?«, fragte Pia.
»Dein kleiner Bruder schmeißt eine Runde. Hörst du nicht zu?«
Kais Artikulation ließ etwas zu wünschen übrig, ein Zeichen, dass der Inhalt der vier Schnapsgläser an seinem Stammplatz tatsächlich in seinem Blut kreiste. Pia zögerte. Phil nickte und sagte, immer noch unnatürlich grinsend:
»Gib ihm sein Bier, Schwesterchen. Heute feiern wir. Heute ist ein großer Tag.«
Der erste Schluck war O. K. Der zweite schmeckte nur noch bitter. Vielleicht sollte er reinen Alkohol in der Rhein Apotheke besorgen und ihn sich spritzen, erwog er kurz. Eine andere Möglichkeit, sich ohne Qual zu betrinken, sah er nicht. Er holte das Wasser, das Pia wieder in den Kühlschrank gelegt hatte, und ließ das Bier warm werden. Kai trank gierig aus dem vollen Glas, das sie ihm mit strafendem Blick hingestellt hatte. Als er es absetzte, war es leer. Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und sah ihn fragend an.
»Was? Noch eins?«
»Sicher«, grinste Kai, »aber was feiern wir eigentlich?«
»Versteht ihr nicht.«
Er versuchte trotzdem, zu erklären, welchen Riesenschritt künstliche Intelligenz gerade dank Phil Schuster in Richtung wahre Intelligenz getan hatte. Es war vergebliche Liebesmüh. Die Augen der Zuhörer verrieten eine akute Blockade des Frontalkortex. Er zuckte die Achseln und seufzte:
»Ich habe es ja gesagt.«
Nur Monis Geist schien nicht vollständig lahmgelegt zu sein.
»Du kannst mir also jetzt einen Roboter basteln, mit dem ich mich vernünftig unterhalten kann?«
Die Formulierung reizte seine Lachmuskeln, aber im Grunde genommen hatte sie das Wesen des neuen Algorithmus voll erfasst.
»Im Prinzip ja«, stimmte er zu, »aber wozu brauchst du einen Roboter?«
»Habe ich doch gerade gesagt, um vernünftig mit ihm zu reden. Sonst ist mir nämlich noch keiner untergekommen, mit dem das möglich wäre.«
Sie hörte sich die Proteste der Umstehenden nicht mehr an und verschwand durch die Hintertür. Der nächste Kunde wartete, nahm er an.
»So ganz daneben liegt sie nicht«, sagte er. »Mein Bot kann tatsächlich vernünftiger argumentieren als manche Leute.«
Kai hielt Pia das leere Glas hin. Sie schüttelte nur den Kopf, worauf er seufzend aufgab und sich an Phil wandte.
»Weißt du, eigentlich mag sie mich, deine Schwester. Sie kann es nur nicht zeigen.«
Alle, die zuhörten, fanden die tiefschürfende Erkenntnis plausibel außer Pia.
»Du bist betrunken, Kai«, wies sie ihn zurecht. »Hör endlich auf zu saufen und such dir einen anständigen Job. Arbeitsloser Privatdetektiv! Das hat doch keine Zukunft.«
»Meine Zukunft liegt schon lange hinter mir, meine Liebe. Seit acht Jahren, um genau zu sein, seit dem letzten Einsatz mit Tom.«
»Jetzt kommt die Geschichte wieder«, murmelte sie mit den Augen rollend, »die hast du schon hundertmal erzählt. Der Einsatz mit Tom ging in die Hose. Du hast den Dienst quittiert, und jetzt bist du Alkoholiker. Habe ich etwas vergessen?«
Zu Phils Erstaunen grinste Kai breit.
»Siehst du, sie mag mich. Sie merkt sich alle meine Geschichten.«
»Eine Geschichte, Kai«, protestierte sie, »es gibt nur eine einzige Geschichte, die du immer wieder erzählst. Meine Güte, irgendwann muss gut sein. Die Zeit heilt doch die Wunden.«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Den Scheiß habe ich schon früher nicht geglaubt.«
Phil horchte auf. Er kannte Kais Geschichte nicht, hatte seinen Monologen nie zugehört. Dass der Detektiv früher bei der Kripo gearbeitet hatte, wusste er. Da er jetzt selbst leider einen Tom bei der Kripo kannte, fragte er ihn. Kai nickte ernst. Seine Aussprache hörte sich mit einem Mal wieder nüchtern an.
»Klar, Tom Fischer war mein Partner. Feiner Kerl.«
»He?«, rief Phil verdutzt. Fast wäre ihm die Wasserflasche entglitten. »Das ist nicht dein Ernst, Kai!«
»Was?«
»Hauptkommissar Tom Fischer ist ein Arschloch.«
»Stimmt«, gab Kai zu.
Phil verstand gar nichts mehr.
»Ja was jetzt?«, fragten er und Pia im Duett.
»Beides ist richtig. Im Grunde ist er ein feiner Kerl, der Tom. Als Partner konnte ich mich hundertprozentig auf ihn verlassen. Aber jetzt ist er ein Arschloch.«
»Eine ziemlich krasse Verwandlung«, bemerkte Phil, »wie bei Kafka.«
Kai dachte nach. Das strengte ihn offensichtlich an. Pia stellte ihm eine Tasse schwarzen Kaffee mit viel Zucker hin. Nach dem ersten Schluck schüttelte er sich und erzählte weiter.
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was der Auslöser war. Es hat wohl damit zu tun, dass ihn Frau und Tochter kurz nach dem Einsatz – ihr wisst schon …«
»Wir wissen, was du meinst«, warf Pia augenblicklich ein.
»Also kurz danach hat ihn die Alte verlassen.«
»Und die Tochter«, ergänzte Pia. »Das ist hart.«
»Zweifellos«, gab Phil zu, »trotzdem muss einer nicht zwingend zum Arschloch mutieren und andere Leute belästigen, zum Beispiel mich.«
Das war auch für seine Schwester neu. Er hatte sie aus dem Gefecht mit Kommissar Fischer heraushalten wollen, aber jetzt war es zu spät. Haarklein musste er vom Mord am Antiquar Rosenblatt in Aachen und den quälenden Befragungen im Landeskriminalamt berichten. Kais einziger Kommentar am Ende der Geschichte bestand aus einem Wort:
»Arschloch.«
Pia zog ihn hinter die Theke und in eine Ecke, wo sie ungestört reden konnten. Sie war der einzige Mensch, der ihn ungestraft berühren durfte.
»Ist da was dran?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Hast du irgendetwas mit diesen furchtbaren Verbrechen zu tun?«
»Spinnst du?«
Mit dem nächsten Atemzug stürzte alles wieder auf ihn ein, das er seit jener schrecklichen Nacht erfolgreich durch Arbeit verdrängt hatte. Schuld!, wollte er hinausschreien, doch sein Mund blieb verschlossen.
Düsseldorf
Der Verdacht gegen Tom Fischer hatte sich zwar nicht erhärtet in den letzten vierundzwanzig Stunden, war aber keineswegs vom Tisch. Chris fehlte das Motiv. Weshalb sollte ein Kollege wie Fischer als Phantom Leute umbringen, noch dazu im Internet damit prahlen?
Die Lagebesprechung im LKA Düsseldorf zog sich in die Länge. Fischer benahm sich völlig normal, machte seine Arbeit professionell, soweit sie feststellen konnte. Eine gespaltene Persönlichkeit? Unwahrscheinlich, dachte sie. In dieser Frage verließ sie sich aufs Bauchgefühl, das sie normalerweise nicht im Stich ließ. Sicher, Fischer besaß einen labilen Charakter, brauste leicht auf, würde möglicherweise aus nichtigem Anlass ausrasten, falls man ihm auf die Füße trat. Das entsprach ganz und gar nicht dem Profil des eiskalten Killers. Das Phantom hatte seine Tat in Aachen in allen Einzelheiten geplant wie ein Auftragsmörder, der sich keinen Fehler erlauben kann. Die Nachricht mit der Drohung der Geschworenen war ein klares Indiz dafür. Und wie anders wäre zu erklären, dass er sich nach der Tat scheinbar in Luft auflöste trotz der Zeugen, die seinen Abgang beobachteten? Das Phantom blieb ein Rätsel, dessen Lösung weder sie noch die Kollegen vom LKA auch nur einen Schritt näher gerückt waren, wie diese Besprechung zeigte.
»Hat die Untersuchung des Steins etwas gebracht, was uns weiterhilft?«, fragte sie.
Fischer und seine Partnerin sezierten sie mit den Augen. Kriminalassistent Becker erlitt einen Hustenanfall. Der Gute hatte die Untersuchung des Steins veranlasst, ohne seinen Chef zu informieren. Sie beeilte sich, die Wogen zu glätten, bevor sie entstanden.
»Ich habe Herrn Becker beauftragt, die Gesteinsprobe genauer analysieren zu lassen. Das geht schneller und günstiger in Ihrem Labor, statt das Beweisstück nach Wiesbaden zu schicken.«
Fischer lief rot an. Becker besaß nicht nur schöne grüne Augen. Dahinter befand sich auch ein brauchbares Gehirn. Schnell sprudelte die Analyse der KT aus ihm heraus, dass Fischer nichts anderes übrig blieb, als zuzuhören.
»Der am Tatort sichergestellte Stein ist ein Stück Löss-Gestein. Es besteht im Wesentlichen aus Ton, Quarz und Kalk. Die KTU sagt, dass die Zusammensetzung typisch ist für die Zülpicher Börde. Der Stein auf der Nachricht der Geschworenen stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem Braunkohle-Tagbau am Nordrand der Eifel.«
Oder aus einer Kiesgrube in diesem riesigen Gebiet, ergänzte sie im Stillen. Sie schwieg wie die überraschten Kollegen, gönnte den grünen Augen den stillen Triumph.
»Der kann den verdammten Briefbeschwerer irgendwo aufgelesen haben«, brummte Fischer nach dem ersten Schreck.
»Sicher«, stimmte sie zu, »aber wie hoch würden Sie die Wahrscheinlichkeit dafür einschätzen, nachdem wir wissen, dass die Tat sorgfältig geplant war?« Niemand beantwortete die rhetorische Frage, also fuhr sie fort: »Ich denke, wir sollten davon ausgehen, dass unser Phantom eine Operationsbasis in der Gegend benutzt hat, aus der dieser Stein stammt.«
»Selbst wenn das stimmt«, warf Fischer ein, »die Zülpicher Börde ist ein gigantisches Gebiet. Wir würden Monate und tausend Leute brauchen, um es abzusuchen.«
»Lassen Sie sich was einfallen. Ich kümmere mich inzwischen um die Geschworenen, die in letzter Zeit merkwürdig still geworden sind.«
Die Bestätigung aus Wiesbaden folgte unmittelbar nach der Besprechung. Es gab keinerlei Lebenszeichen mehr von jury12. Die Webseite der Geschworenen blieb unverändert, als gäbe es die Hetzer nicht mehr, als hätten sich die Geschworenen in Luft aufgelöst wie das Phantom. Hirngespinste, weiter nichts, außer den zwei Leichen. Sie glaubte indessen keine Sekunde ans Ende der Geschichte. Es war die Ruhe vor dem Sturm, warnte ihr Bauchgefühl.
Zu viele mögliche Spuren führten nicht weiter als gar keine, stellte sie nicht zum ersten Mal in ihrer Karriere fest. Es gab weit über hundert in NRW registrierte HK45, wie sie das Phantom für die Todesschüsse benutzt hatte. Fischer besaß eine und John Stein, aber ohne konkrete Beweise war da nichts zu machen. Auch die nicht wenigen Besitzer eines Motorrads wie es Zeugen beschrieben hatten waren bekannt, ohne dass ein greifbarer Verdacht aufgekommen wäre. Der einzige Zufall, der sie störte, war die Tatsache, dass John Stein auch auf der Liste der Besitzer einer BMW 900 RT auftauchte. Andererseits, auf welcher Liste tauchte der nicht auf? Die Ermittlungen kamen nicht vom Fleck, während sich Geschworene und das Phantom seelenruhig auf die nächste Hinrichtung vorbereiteten, fürchtete sie.
Das Klingelzeichen auf dem Laptop riss sie aus ihren Gedanken.
»Uwe, gibt›s was Neues von jury12?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Das Gesicht im Video-Chat blieb unbewegt.
»Nicht von jury12«, antwortete er, »aber bei der Agentur Stein tut sich etwas.«
Sie horchte auf.
»Es hat vielleicht nichts zu bedeuten für den Fall«, schränkte er schnell ein. »Seit gestern Morgen beobachten wir erhöhte Aktivität auf Twitter und Facebook, die sich zu den Servern der Agentur Stein in Köln zurückverfolgen lassen.«
»Aktivität in Steins Accounts?«
»Auch, aber was auffällt, sind die vielen neuen User-Ids, die praktisch über Nacht den Hashtags folgen, die Steins Leute aufgesetzt haben.«
»Was für Hashtags?«
»Sie finden sie in Ihrer Mail. Es geht um Streitkultur, Hysterie gegen Freihandel und Hetze im Internet.«
Es waren nicht unbedingt Themen einer PR-Agentur.
»Eine Nachlese der Demo in Berlin?«, fragte sie verblüfft.
»Könnte man glauben. Lesen Sie selbst. Meiner Meinung nach wird jetzt der Boden bereitet für eine groß angelegte Kampagne, die unter anderem Lotte Engel für die Eskalation in Berlin verantwortlich machen soll.«
»Verstehe ich nicht«, gab sie unumwunden zu.
»Lesen Sie selbst. Wie gesagt, es muss nichts bedeuten, aber das jetzt schon überdurchschnittliche Echo in den sozialen Medien ist zumindest erstaunlich.«
»Irgendein Hinweis auf die Geschworenen in diesen Tweets?«
»Bis jetzt nicht.«
Uwes letzte Bemerkung klang wie eine Drohung.
Köln
In Gedanken versunken betrat Phil die Gebärmutter. Etwas stimmte nicht. Er begriff nicht sofort, was es war. Immer noch abwesend, setzte er sich an seinen Arbeitsplatz. Das Schuldgefühl wollte nicht mehr aus seinem Kopf. Es fraß sich durch seine Synapsen wie ein bösartiger Tumor. Er versuchte, sich auf die Optimierung seines Codes zu konzentrieren, die ihm mitten in der schlaflosen Nacht eingefallen war, dann sah er Leni.
Sie saß nicht an ihrem gewohnten Platz, sondern diametral gegenüber, versteckt hinter zwei Monitoren. Sie war nicht aufgesprungen, um ihn zu begrüßen, gab auch jetzt keinen Ton von sich. Es war, als säße eine Fremde im Computerraum.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er verdutzt.
Statt zu antworten, stand sie auf und verließ den Raum. Dabei vermied sie jeden Blickkontakt. Was war geschehen? Späte Nachwirkungen seines nicht ganz koscheren Turing-Experiments? Verwirrt ging er zu ihrem neuen Arbeitsplatz, um vielleicht einen Hinweis zu erhalten. Beide Monitore waren ausgeschaltet. Ihr Geisteszustand gab immer mehr Rätsel auf, ganz im Gegensatz zu seinem eigenen, den er zwar genau kannte, aber nicht weniger verwünschte.
Die Arbeit konnte warten. Statt sich einzuloggen, verließ auch er die Gebärmutter. Leni stand am Fenster in ihrem Büro. Der schmale Körper bedeckte die ganze Breite. Die Lust an der Arbeit schien auch ihr vergangen zu sein. Er klopfte an die offene Tür.
»Was willst du?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Wir müssen reden.«
»Ich wüsste nicht, worüber. Du machst deinen Job, ich meinen.«
Sie stand noch immer reglos am Fenster. Wahrscheinlich sollte er ihr Gesicht nicht sehen.
»Es geht nicht um den Job …«
Sie fuhr herum. Die Augen blitzten gefährlich. »Doch, genau darum geht es.«
Er verstand nichts mehr. Was hatte er falsch gemacht? Bevor er sie fragen konnte, stand Greta in der Tür.
»Phil, ich muss dich sprechen«, sagte sie, »sofort.«
Ihr Mund formte sich zu einem verführerischen Lächeln. Heute trug sie den blutroten Lippenstift, den hochgeschlitzten Rock und eine fast transparente Bluse. Was soll das?, lag ihm auf der Zunge. Sie musste wissen, dass er nicht auf solche Äußerlichkeiten abfuhr, nicht einmal bei einem Vamp wie Greta, von dem andere Männer feucht träumten. Als er den Mund öffnete, bedeutete sie ihm mit dem Zeigefinger, zu schweigen, und sagte mit lasziver Stimme:
»Im Penthouse.«
Sie wandte sich um, damit er auch ihren Hintern bewundern konnte. Bevor sie verschwand, riet sie ihm, sich zu beeilen.
»Sie werden sicher ein Stündchen auf Ihren Phil verzichten können«, fügte sie für Leni hinzu.