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KAPITEL 2

Wiesbaden

Am frühen Morgen fuhr sie direkt zur BKA-Zentrale in Wiesbaden. Hier hatte ihre Karriere als Ermittlerin begonnen, falls man die erlebten Höhen und Tiefen so bezeichnen wollte. Nostalgische Gefühle kamen nicht auf, zu sehr beschäftigte sie die Eiszeit zu Hause. Schlimm genug, dass sie und Jamie sich auseinander lebten, vor allem aber sah sie keine Verbesserung, falls sich beide an ihren Job klammerten.

Mit einem leisen Fluch stieß sie die Tür zur Cafeteria auf. Wenn Sie jetzt nichts zwischen die Zähne bekam, würde sie zusammenklappen, bevor sie Uwe gefunden hätte. Telefonisch war der IT-Spezialist, dem sie nachgerade alles zutraute, was entfernt mit Computern zu tun hatte, während der ganzen Nacht nicht zu erreichen gewesen. Uwes abgeschaltetes Smartphone bedeutete nichts Gutes. Sie stopfte rasch ein fast zu Staub zerfallendes Schoko-Hörnchen in sich hinein. Die frischen würden erst in zwei Stunden geliefert, versicherte die Kassiererin mit vorwurfsvollem Blick. Das gebräunte Wasser, das hier als Kaffee verkauft wurde, verhinderte wenigstens den drohenden Erstickungsanfall.

Das Großraumbüro, wo Uwe Wolf mit zwei Dutzend anderen Nerds arbeitete, als wäre er einer von ihnen, empfing sie kalt und leer wie ihr Haus in Dahlem. Er war keiner von ihnen. Nicht nur sein IQ unterschied ihn vom gewöhnlichen Volk. Er besaß auch ein paar Eigenschaften, die den Umgang mit ihm nicht eben erleichterten.

»Die werden doch nicht wieder alle an einer bescheuerten Sitzung ihre Zeit vertrödeln«, murmelte sie ärgerlich.

Schon auf dem Sprung zum Abteilungsleiter, der sie fürchtete wie Uwe fremde Hände auf seiner Tastatur, sah sie, wie eine junge Frau lachend hereinplatzte. Sie erkannte Lena erst auf den zweiten Blick, aufgekratzt, strahlend, in einem geradezu unverschämt entblößenden Trägerleibchen. Aus dem Mauerblümchen am Platz gegenüber Uwes Burgwall aus Bildschirmen war eine junge Frau geworden, die ihr Glück gefunden hatte, wie es schien.

»Gott sei Dank, Lena«, grüßte sie schmunzelnd. »Ich dachte schon, die hätten eure IT aus Spargründen dichtgemacht.«

Lena erinnerte sich sofort an sie, obwohl die letzte Begegnung knappe zwei Jahre zurücklag.

»Chris!«, rief sie überrascht. »Verstecken sich die schweren Jungs wieder im Netz?«

Lenas Transformation war vollkommen. Die Frage nach dem Grund lag Chris auf der Zunge, doch sie hielt sich zurück. Der Grund betrat gerade das Büro, wie sie an der leichten Errötung von Lenas sonst schneeweißen Wangen erkannte.

»Uwe, rate mal, wer da ist«, rief sie dem Gesuchten entgegen, als hätte er keine Augen im Kopf. Zu ihr gewandt, fügte sie kichernd hinzu: »Ein Pfeiler in der Tiefgarage stand heute Morgen am falschen Platz.«

Die Liebe musste noch sehr jung sein, wenn das der Grund für ihre Heiterkeit war.

»Hauptkommissarin Chris, wir kennen uns«, sagte Uwe, setzte sich an seinen Platz und schaltete die Monitore ein.

Es war seine Art, Freude über das Wiedersehen auszudrücken. Alles hatte sich also doch nicht verändert. Er konnte Small Talk nicht ausstehen oder Redundanz, wie er ihn nannte, also schilderte sie ohne Umschweife, was sie von ihm erwartete.

»Sie halten diesen jury12 für den Aachener Mörder?«, fragte Lena, die auch zugehört hatte.

Sie schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Im Augenblick gehe ich davon aus, dass die Geschworenen eher die Strippenzieher sind. Sie manipulieren die Leute, heizen die Stimmung auf und betreiben gezielt Mobbing, um missliebige Personen auszuschalten. Bis jetzt haben sie nicht ausdrücklich zu Gewalt aufgerufen, aber das war im Fall des Lobbyisten Scholz offenbar auch nicht nötig.«

»Mobbing bis zum Mord«, murmelte Lena nachdenklich, »eine ganz neue Dimension.«

Chris verstand nicht viel von Psychologie. Es reichte, um Verhöre zu führen, mehr nicht. Sie konnte sich dennoch gut vorstellen, dass genügend labile Geister im Netz unterwegs waren, die davon träumten, dem Aachener Phantom-Polizisten nachzueifern. Uwe arbeitete konzentriert an seinem Computer. Bald schüttelte er ärgerlich den Kopf.

»Auf Anhieb nichts zu machen. Jury12 benutzt das Tor-Netzwerk.«

»Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Uwe.«

Das implizierte Kompliment ließ ihn kalt. Er interessierte sich wie gewohnt nur für die scheinbar unlösbare Aufgabe. Seine Finger tanzten auf der Tastatur wie zu einem up tempo Solo von Wynton Marsalis, bei dem kein Metronom mehr mitkommt.

»Es gibt neuerdings ein Hashtag #dieGeschworenen auf Twitter«, verkündete Lena.

Chris ließ Uwe arbeiten und wechselte zu Lenas Bildschirmen. Unter dem neuen Hashtag fanden sich schon nahezu tausend Einträge. Nutzer mit Spitznamen wie WeißerHai oder LawAndOrder interessierten sie nicht, Namen, die auf Firmen oder Medien schließen ließen, hingegen schon. Ein Name tauchte immer wieder auf, wie sie rasch feststellte: RuhrStahl. Die Beiträge von RuhrStahl waren professionell verfasst. Sogar die Interpunktion stimmte, die sonst fast gänzlich fehlte. Der Tenor von RuhrStahl war eindeutig: Freihandel mit China ist Teufelszeug. Insofern zeigte man Verständnis mit den Protesten gegen Scholz und das Kanzleramt.

»Kein Wunder, fürchten unsere Stahlkocher die Chinesen mit ihren Dumping-Preisen«, sagte sie. »Kann man herausfinden, wer sich hinter RuhrStahl verbirgt?«

Lena lachte. »Klar kann ich das – mit einem Gerichtsbeschluss.«

»Dauert Tage«, warf Uwe ein, der offenbar mit einem Ohr mithörte.

Sie rief Haase an. Eine Stunde später lag die Information in ihrer Inbox. RuhrStahl war das offizielle Kürzel eines Portals, das als Sprachrohr der deutschen Stahlindustrie diente. Als Chefredakteurin zeichnete eine gewisse Nora Schreiber. Haase lieferte ein Dossier über sie als Anhang gleich mit. Sie hatte nun genügend Munition beisammen, um das LKA Düsseldorf heimzusuchen. Uwe arbeitete wie besessen an der Suche nach jury12. Er bekam nicht mit, wie sie sich entfernte, nachdem sie Lena eingeschärft hatte, neue Entwicklungen im Netz unverzüglich zu melden.

Gegen Mittag grüßte der Düsseldorfer Rheinturm mit seiner Dezimaluhr von fern. Nach einem Halt beim Gemüse Döner, gut wie zu ihren Zeiten in Wiesbaden, fuhr sie nach Hamm zum Landeskriminalamt. Der alte Kripochef, der mit ihr noch eine Rechnung offen hatte, war wohl inzwischen in Rente, hoffte sie. Trotzdem betrat sie das Gebäude mit der Abneigung, die schlechte Erfahrungen begleitete wie der Geschmack von Blut und Zahnpasta nach der Zahnkontrolle.

Das Gefühl täuschte sie nicht. Nach drei Minuten war klar: Der zuständige Ermittler im Fall Aachen, Hauptkommissar Tom Fischer, war eine jüngere Ausgabe des ehemaligen Chefs. Eine gute Eigenschaft besaß er allerdings. Er sprach offen aus, was er dachte. Das hörte sich zwar meist nicht gut an aber besser so als in den Rücken schießen, sagte sie sich. Ihre Taktik der Deeskalation fruchtete nicht. Während sie nüchtern den Fragenkatalog abarbeitete, gab er ihr mit jeder Antwort zu verstehen, ihr Einsatz in Düsseldorf wäre so überflüssig wie Fußschweiß. Außer dem jungen Kriminalassistenten Becker fanden das alle im Büro amüsant. Becker musste sie sich merken. Sein rotes Kraushaar blendete wie die grünen Augen, als wollte er sie für ein Fotoshooting ausleuchten. Ungefähr eine halbe Stunde spielte sie Fischers Spiel mit, dann riss ihr Geduldsfaden.

»Ich möchte jetzt die Befragungs-Protokolle der diensthabenden und vor allem der dienstfreien Polizisten zur Zeit der Morde in Aachen sehen«, verlangte sie.

Das Ansinnen schien ihn zu überraschen. Zum ersten Mal schwieg er betreten. Sie legte nach:

»Und wir müssen dringend mit den Sympathisanten der Geschworenen sprechen, allen voran Nora Schreiber von RuhrStahl.«

Er betrachtete sie, als spräche sie plötzlich Chinesisch, dann stieß er einen leisen Fluch aus und knurrte:

»Wie wäre es, wenn Sie uns einfach unsern Job machen ließen, statt ihn uns zu erklären?«

»Haben Sie Ihren Job denn gemacht? Haben Sie die dienstfreien Kollegen alle befragt?«

»Meine Partnerin ist dran, was glauben Sie denn?«

Die grünen Augen behaupteten das Gegenteil, falls sie die Blicke richtig deutete. Es sah nicht gut aus für die Zusammenarbeit mit Fischer. Darin waren sie sich wohl einig. Cool bleiben wäre angezeigt, aber an Tagen wie diesem schaffte sie es nicht. Sie wollte nur noch dafür sorgen, dass er bei der Suche nach den Geschworenen nicht störte.

»Es gibt ja hier offensichtlich noch viel zu tun«, sagte sie. »Mein Auftrag lautet, die Geschworenen zu identifizieren. Ich werde Sie also nicht weiter belästigen bei der Suche nach dem Phantom-Polizisten.«

Er wandte sich kommentarlos ab.

»Können wir uns darauf einigen?«, rief sie ihm nach. »Sie das Phantom, ich die Geschworenen, und wir informieren uns laufend gegenseitig.«

Die Geste, mit der er antwortete, konnte alles Mögliche bedeuten. Sie interpretierte sie als ein Ja. Zu den grünen Augen gewandt, fragte sie nach dem Bericht der KTU. Die Techniker hatten zwar gründliche Arbeit geleistet, doch etwas fehlte.

»Wurde der Stein nicht untersucht, mit dem der Zettel bei Scholz beschwert war?«

»Doch!«, betonte Becker eifrig. »Die KT hat weder Fingerabdrücke noch DNA daran gefunden. Das muss im Bericht stehen.«

Sie schüttelte den Kopf. Dabei lächelte sie beschwichtigend. »Das meine ich nicht. Ich habe nirgends einen Hinweis auf die Herkunft des Steins gefunden.«

Nun blickten sie die grünen Augen ebenso ratlos an wie Fischer, als sie Nora Schreiber erwähnte. Sie klärte den Kriminalassistenten auf:

»Die physikalische und chemische Zusammensetzung eines Gesteins ist manchmal eindeutig wie ein Fingerabdruck. Wenn wir wissen, woher der Stein stammt, gibt uns das vielleicht einen Hinweis auf den Täter.«

»Jawoll!«, rief er aus und griff wie elektrisiert zum Telefon.

Sie zog sich schmunzelnd auf ihren temporären Arbeitsplatz im Besprechungszimmer zurück. Nora Schreiber war unter keiner Kontaktadresse in Haases Dossier erreichbar. Die Mail an die Online-Redaktion des Portals wurde automatisch mit einer Abwesenheitsmeldung beantwortet. Bei dringenden Anliegen kontaktieren Sie bitte meinen Stellvertreter … Der Stellvertreter bestätigte es. Nora Schreiber befand sich auf Geschäftsreise in Übersee. Chris war versucht, Schreibers Handynummer ermitteln zu lassen, verzichtete jedoch darauf. Sie hatte zu wenig in der Hand, um sie dringend vorzuladen.

Im Dossier fand sie einen anderen interessanten Kontakt. Der Stahlbaron Nils Bergmann aus Bochum finanzierte offenbar Schreibers Online-Redaktion praktisch im Alleingang. Wer zahlt, befiehlt. Sie rief im Hauptsitz seiner Firmengruppe an. Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde, bis sie von seinem Anwalt erfuhr, dass der CEO seit zwei Wochen in Südamerika weilte und noch weitere drei Wochen dort bleiben würde. Sie verzichtete darauf, ihre Fragen dem Anwalt zu stellen und legte frustriert auf.

Kaum begonnen, stockten ihre Ermittlungen. Es war das altbekannte Phänomen, mit dem sie sich nie abfinden würde. Wenigstens sprach bisher nichts gegen ihre Vermutung, der Schlüssel zu diesem Fall läge irgendwo in dieser Ecke des Landes. Becker brachte ihr die Protokolle der bisherigen Befragungen, obwohl sie im Grunde nichts mehr mit der Suche nach dem Phantom am Hut hatte.

»Vielleicht entdecken Sie etwas, was wir übersehen haben«, sagte er.

So etwas konnte nur aus dem Mund eines Azubis kommen. Sie nahm die Akten dankbar lächelnd entgegen, obwohl sie nicht daran dachte, sie wirklich zu lesen.

»Es gab gestern eine erste Pressekonferenz, habe ich gehört.«

Becker nickte. »Das Bulletin liegt auch bei den Akten.« Bevor er das Zimmer verließ, drehte er sich nochmals um und bemerkte: »Es lohnt sich nicht, den Wisch zu lesen, wenn Sie mich fragen. Der Artikel in der Abendzeitung gibt mehr her.«

Ihr Augenaufschlag genügte, um ihn zur Eile anzutreiben. Sekunden später lag die Zeitung, die sie auf Fischers Pult gesehen hatte, auf ihrem Tisch. Der erste Blick auf den Bericht über die Aachener Morde bestätigte Beckers Behauptung.

»Wer ist ›jh‹?«, fragte sie.

Sie erhielt keine Antwort. Becker hatte sich in Luft aufgelöst. Kurz entschlossen rief sie die Redaktion der Abendzeitung an. Nachdem der Termin vereinbart war, schwebte ihr Daumen einige Male über dem Kontakt Uwe auf dem Smartphone. In Wiesbaden herrschte Funkstille. Es fiel schwer, nicht anzurufen. Der IT-Guru würde sich auch von ihr nicht unter Druck setzen lassen. Er übte selbst den größten Druck auf sich aus, hatte jetzt wahrscheinlich kaum mehr einen Blick für seine Lena übrig. Sie fragte sich, wie die junge, frisch verliebte Frau das aushielt, und bewunderte sie dafür. Gegen die Beziehung mit einem Partner mit autistischen Zügen war ihre Ehe mit Jamie wahrlich ein Sonntagsspaziergang. Trotzdem klappte es nicht. Es lief gerade an allen Fronten nicht gut. Zweckoptimismus konnte nicht darüber hinwegtäuschen. Haases Kaffee vielleicht, aber der war so unerreichbar wie der mysteriöse jury12. Aus purem Trotz studierte sie Beckers Akten bis tief in die Nacht hinein und las den Artikel in der Abendzeitung ein zweites und drittes Mal, bis sie ihn auswendig kannte.

Die unruhige Nacht im Hotel war kurz und wollte doch nicht enden. Gegen zehn Uhr fuhr sie endlich am Autobahnkreuz Neuss-Süd auf die A57 Richtung Köln. Der Chefredakteur Martin Brandt von der Abendzeitung hatte dem Termin um elf auf ihr Drängen zugestimmt, widerwillig. Aufgrund des Artikels ging sie davon aus, dass der Autor jh über Hintergrundinformationen verfügte, die Kollege Fischer fehlten. Die Redaktion war im Moment ihre einzige Hoffnung, einen Schritt voranzukommen.

Köln

Sie stellte den Wagen beim Kölner Rathaus ab und ging die letzten paar Schritte zu Fuß. Zehn Minuten zu früh stand sie vor der Tür der Redaktion. Eine Blondine etwa in ihrer Größe mit mädchenhafter Figur und Handy am Ohr überrannte sie beinahe auf ihrem Weg zur Toilette.

»Gute Idee«, murmelte sie und folgte ihr.

Die junge Frau hatte sich in einer Kabine eingeschlossen, um zu telefonieren.

»Was glauben Sie, wer Sie sind?«, warf sie dem unbekannten Teilnehmer am andern Ende an den Kopf. »Wofür halten Sie sich, verdammt noch mal? Wir leben in einem Land mit freier Presse, und was ich schreibe, stimmt bis aufs letzte Komma.«

Eine kurze Pause entstand. Chris hätte zu gern gehört, was der Gesprächspartner entgegnete, blieb unwillkürlich stehen und lauschte.

»Hätten Sie wohl gern«, rief die Blondine aus, »und wenn Sie mein Text das nächste Mal stört, kommen Sie direkt zu mir, statt meinen Chef zu belästigen.«

Das Schloss knackte, die Tür flog auf und wieder verfehlte sie die wütende Frau nur um Haaresbreite. Beide erschraken gleichermaßen, aber die Zunge der andern Blondine saß lockerer.

»Was stehen Sie hier herum?«, fauchte sie. »Verfolgen Sie mich?«

Schon riss sie die Tür zum Flur auf, dass sie hart an die Wand krachte. Chris hörte sie nur noch schimpfen: »Scheiße! Darf doch nicht wahr sein!«, dann fiel die Tür zu. Perplex starrte sie ihr nach. Was für ein reizender Käfer, war das Erste, was ihr zum Vorfall einfiel. Zudem hinterließ die Frau einen zarten Duft, den sie auch gerne verbreiten würde.

In Martin Brandts Glaskubus in der Ecke der Lokalredaktion roch es strenger. Der Chef schwitzte. Er grüßte sie ohne Begeisterung. Dass er sitzen blieb, störte sie nicht. Sie hatte die Krücken am Boden hinter dem Sessel wohl bemerkt.

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie wir Ihnen bei der Aufklärung dieses Falles helfen können«, begann er.

Sie verzichtete darauf, ihm den feinen Unterschied zwischen den Mordfällen des LKA und ihrer Aufgabe zu erklären.

»Erzählen Sie mir einfach alles, was Sie über die Opfer und die Kampagne im Netz wissen, die in Ihrem Bericht ja auch erwähnt wird«, antwortete sie stattdessen.

»Sie sprechen von Julias Bericht in der gestrigen Ausgabe, nehme ich an.«

Julia, ›jh‹! Sie spürte ein Kribbeln im Nacken.

»Julia?«, fragte sie.

»Julia Hahn hat den Bericht verfasst. Sie war vor Ort am Abend der Tat.«

»Umso besser. Wo finde ich sie?«

Er deutete zur gegenüberliegenden Wand des Büros. Die Blondine! Wieder sträubten sich ihre Nackenhaare, ohne zu verraten, weshalb.

»Gut«, sagte sie gedehnt, »in dem Fall muss ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten. Ich wende mich an Frau Hahn.«

Er nickte stumm. Beim Verlassen des Glashauses hörte sie ihn warnen: »Vorsicht, sie steht gerade etwas unter Strom.«

»Habe ich bemerkt.«

Julia Hahn kroch fast in ihren Bildschirm, nur um sie nicht ansehen zu müssen. Chris stellte sich vor, legte ihre Visitenkarte auf den Tisch und fügte schmunzelnd an:

»Jetzt verfolge ich Sie doch noch.«

Der reizende Käfer betrachtete erst das Kärtchen eingehend, dann sie. Als sie die Nase rümpfte, passte ihr Gesicht noch besser zu den frechen Strähnen der Pixie-Frisur auf der Stirn.

»Kriminalhauptkommissarin«, las sie laut. »Schickt Sie dieser elende Fischer?«

Chris lachte laut heraus über die unerwartete Frage.

»Hauptkommissar Fischer vom LKA meinen Sie?«

»Genau den.«

»Da sind wir ja schon zwei.«

»Wie meinen?«

»Darf ich mich setzen?«

Julia Hahn deutete auf den leeren Sessel des Pults nebenan.

»Ich mag Tom Fischer auch nicht besonders«, erklärte Chris lächelnd.

»Ich hasse ihn!«

»Was hat er Ihnen angetan?« Da Julia Hahn zögerte, ergänzte sie: »Damit kein Missverständnis aufkommt: Fischer schickt mich nicht.«

Bevor sie die erste Frage stellen konnte, stand Julia auf mit dem Seufzer:

»Ich muss mal raus hier, und ich habe Hunger. Was dagegen, dass wir uns im Café unterhalten?«

»Kein Einspruch.«

»Das Funkhaus befindet sich gleich um die Ecke.«

Sie folgte der eleganten Erscheinung, immer noch leicht irritiert von ihrem Duft. Der reizende Käfer musste vergeben sein. Anders konnte sie sich die respektlose Gleichgültigkeit der männlichen Kollegen bei ihrem Abgang nicht erklären. Kein einziger starrte Julia auf den Hintern. In der spiegelnden Tür zum Flur erkannte sie den Grund. Sie fixierten alle ihren eigenen Po. Männer. Sie fanden eine Ecke im Café, wo sie sich einigermaßen ungestört unterhalten konnten.

»Ich nehme die Tortelloni«, sagte Julia zur Bedienung ohne einen Blick auf die Karte.

Chris entschied sich fürs erste leichte Gericht, das sie entdeckte, einen Salat mit Ziegenkäse.

»Keinen Halven Hahn, Frau Hahn?«, fragte sie spöttisch.

»Gibt›s hier nicht. Sie sprechen Kölsch?«

»Ich trink’s lieber hin und wieder«, antwortete sie lachend.

»Stimmt, unseren Dialekt kann man trinken.«

Nach einem Schluck Wasser und dem ersten Ganzkörper-Scan mit ihren Rehaugen, wie Chris verwirrt feststellte, kam Julia zur Sache.

»Also, was wollen Sie von mir wissen, Kommissarin?«

»Einfach Chris. Erzählen Sie mir alles, was Sie über die Geschworenen recherchiert haben.«

Überrascht beobachtete sie, wie Julias Gesichtszüge sich entspannten. Der latente Weltschmerz wich aus ihren Augen und ein Lächeln umspielte ihren Mund.

»Schön, dass sich endlich jemand von der Polizei dafür interessiert«, sagte sie. »Ihr Kollege Fischer wollte nämlich gar nichts von den Geschworenen wissen, als ich ihn danach fragte.«

»Aus ermittlungstechnischen Gründen nehme ich an«, entgegnete sie vorsichtig.

»Papperlapapp. Er führt einfach seinen Privatkrieg gegen die Presse, haut lieber bei Martin auf den Tisch, statt mit mir zu sprechen.«

»Das war ja nicht zu überhören«, warf sie schmunzelnd ein, um Julias neu aufkeimenden Ärger zu dämpfen. »Worüber hat sich Kollege Fischer denn beschwert? Mir ist jedenfalls nichts Anstößiges aufgefallen in Ihrem Bericht.«

Julia zögerte, sah ihr in die Augen, fand auch nichts Anstößiges darin und beantwortete die Frage.

»Es geht um Stein, denke ich.«

»Welchen Stein?«, fuhr sie überrascht auf.

Wie konnte die Presse vom Stein auf dem Zettel der Geschworenen Wind bekommen haben? In Julias Artikel stand nichts davon.

»Stein Communications, John Steins PR-Agentur.«

»Ach so.«

Im Bericht war nur von der bekannten Kölner PR-Agentur die Rede. Die wäre spezialisiert auf kompromisslose Kampagnen im Netz unter anderem im Auftrag der Automobilindustrie. Die Tweets der Geschworenen wiesen verblüffende Parallelen auf zu diesem professionellen Vorbild. Chris fand es gewagt, diese Parallele im Bericht aufzuzeigen, aber Julia lieferte eindrückliche Beispiele, welche die These belegten.

»Steins Agentur dient also als Vorbild für die Kampagne der Geschworenen?«

Julia nickte. »Alles deutet darauf hin.« Sie schaufelte mit Heißhunger eine Gabel Tortelloni in den Mund, bevor sie weiterfuhr. »John Stein ist ein skrupelloser Geschäftsmann. Jeder in dieser Region weiß das. Seine Kampagne gegen strengere Normen für Feinstaub war grenzwertig. Befürworter kamen sich am Ende vor wie Mörder von Bauern und Totengräber des Transportgewerbes.«

»Stein war das also«, murmelte Chris nachdenklich. »Sie vermuten aber noch mehr hinter dem gleichartigen Vorgehen.«

Julia zuckte die Achseln, räumte den Teller leer und wischte sich den Mund ab. »Meine Vermutungen stehen hier nicht zur Diskussion. Wenn ich Beweise hätte für eine Verbindung zwischen Steins Agentur und den Geschworenen, stünde das im Bericht. Darauf können Sie sich verlassen.«

Chris beobachtete ihr Mienenspiel genau. Es gab keinen Anlass, ihrer Aussage nicht zu trauen. Dennoch schärfte sie ihr ein:

»Wenn Sie mehr über die Geschworenen wissen, müssen Sie es mir sagen, Julia …«

»Sonst mache ich mich strafbar, blabla, ich weiß. Das ist alles. Ich frage mich nur, weshalb das LKA so ein Geheimnis macht um die Geschworenen. Fragen dazu werden nicht beantwortet, auch nicht an der Pressekonferenz.«

Chris blieb die Antwort schuldig. Im Moment war nicht mehr aus der Journalistin herauszuholen, schloss sie. Nach dem Essen verabschiedete sie sich rasch, obwohl sie gerne mehr über Julia erfahren hätte. Die Frau faszinierte sie. Das versetzte sie in eine überraschend gute Stimmung auf der Fahrt zurück nach Düsseldorf. Die Stunde Fahrzeit reichte, um alles aufzusaugen, was Haase über John Stein und seine PR-Agentur in Erfahrung bringen konnte. Als sie den Wagen auf den Parkplatz des Landeskriminalamtes fuhr, glaubte sie, den Grund zu kennen, weshalb sich Fischer gegen jede Anspielung auf Steins Agentur im Zusammenhang mit dem Fall verwahrte. Fischer und Stein waren alte Kumpels und seit Langem Mitglieder im selben Schützenverein.

Köln

Was hatte die Berliner Kommissarin an sich, dass sie ihr nicht mehr aus dem Kopf ging, fragte sich Julia. Es fiel ihr schwer, sich nach dem Essen im Funkhaus wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Obwohl sie im Grunde nur kurz miteinander gesprochen hatten, fühlte sie sich mit Chris verbunden, als wären sie alte Bekannte, bereit, gemeinsam durch dick und dünn zu gehen. Bereit, den Fall der Geschworenen gemeinsam zu lösen? Was bildete sie sich ein? Chris war sicher eine erfahrene Ermittlerin des Bundeskriminalamts. Das BKA besaß alle Ressourcen, um diesen Hetzern auf die Spur zu kommen, sie verfügte nur über Internet, ein paar gute Beziehungen und Intuition. Verbissene Entschlossenheit gehörte auch dazu, aber das galt auch für Chris. Die Frau gab ihr mehr Rätsel auf, je länger sie über sie nachdachte. Wie konnte so ein sinnliches Mädchen – das war sie, keine Frage – den harten Job in der höchsten Mordkommission der Republik aushalten? Eines Tages müsste sie genau diesem Widerspruch auf den Grund gehen. Sorgsam, als wäre sie zerbrechlich, steckte sie die Visitenkarte der Kommissarin, die noch immer auf dem Tisch lag, in die Brieftasche.

Martins Krücke pochte an die Scheibe der Sauna. Er winkte sie herbei.

»Was hast du ihr gesagt?«, fragte er im väterlichen Ton, den er gewöhnlich benutzte, wenn sie allein waren.

Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts, die Wahrheit.«

Er wartete mit lauerndem Blick.

»Nichts über den Freihandel, falls du das fürchtest.«

Er schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich fürchte nicht einmal das Kantinenfutter, wie du weißt. Ich will bloß nicht den Ruf des Blattes als seriöse Presse verspielen, indem wir Spekulationen verbreiten. Verstehst du das?«

Sie dachte an Chris und lächelte entspannt. Der Trick erwies sich als todsichere Methode, um Stress abzubauen, was sie noch mehr erheiterte.

»Mache ich Witze?«

»Entschuldige, es gibt wirklich keinen Grund zur Sorge, Martin. Sie wollte wissen, weshalb ich so ausgerastet bin nach Fischers Anruf bei dir.«

»Das wüsste ich allerdings auch gern. Wir beide kennen Kommissar Fischer doch lange genug, um zu wissen, was wir ernst zu nehmen haben und was nur heiße Luft ist.«

»Wenn das nur heiße Luft war, warum sagst du es mir dann überhaupt?«

Sie war nun doch im Begriff, sich wieder aufzuregen.

»Weil wir uns vertrauen, Julia, ohne Einschränkungen.«

Die Antwort gefiel ihr, was den Ärger über Fischer allerdings nicht verminderte. »Etwas an ihm treibt mich einfach jedes Mal zur Weißglut«, sagte sie wie zu sich selbst.

»Fischer? Denk an etwas Schönes beim nächsten Interview.«

Sie kannte jetzt eine Methode. »Ich werde es versuchen. Was mich aber schon wundert, ist seine Beziehung zu John Stein. Weshalb regt er sich so auf, weil wir die PR-Agentur erwähnen?«

Martin zuckte die Achseln. »Ich denke, das interessiert uns im Augenblick nicht. Der Fokus bleibt auf den zu erwartenden nächsten Zügen der Geschworenen.«

»Klar, Chef.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Haben wir uns verstanden?«, fragte er zur Sicherheit.

Er misstraute jedem Satz, den sie mit Chef abschloss, und das üblicherweise mit gutem Grund.

»Klar, Martin«, antwortete sie lächelnd, um ihn zu beruhigen.

Sie setzte sich an den Computer, um die Tweets zu #dieGeschworenen nochmals genau anzusehen. Eine Stunde lang vergaß sie alles um sich herum, versunken im Netz, einer Parallelwelt, die für viele Menschen zur einzig maßgebenden Wirklichkeit geworden war. Der Anruf aus der Kita schreckte sie auf. Solche Anrufe waren die schlimmsten. Die Hand zitterte, als sie auf Empfang drückte.

»Ist was mit Tim?«, fragte sie kaum hörbar.

»Mama!«

»Gott sei Dank! Tim, geht es dir gut?«

Er war schon wieder weg. An seiner Stelle meldete sich die Betreuerin.

»Frau Hahn, guten Tag. Keine Angst, es ist alles in Ordnung. Ich wollte Sie nur informieren. Emma hat angerufen. Ist es O. K., wenn sie Tim mit in den Zoo nimmt? Er freut sich …«

Tim, der Schreihals, unterbrach sie:

»Wir besuchen die Affen!«

Ein wohliger Schauer durchrieselte ihren Körper. Tims Welt war noch in Ordnung, obwohl – die Affen sahen das vielleicht anders, aber das war ein ganz anderes Thema. Sie gab ihre Zustimmung und widmete sich der Arbeit mit neuem Schwung. Dieser Hashtag führte nicht weiter. Sie klickte auf den Link, der zum Benutzer juri12 führte, dem Wortführer der Geschworenen. Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Schon im dritten Post von juri12 fand sie einen Link auf die Webseite mit der Überschrift Die Geschworenen – für Gerechtigkeit und Ordnung. Ein Ausruf der Überraschung entschlüpfte ihr. Der rote Peter sah kurz auf, schnitt eine Grimasse und hieb wieder auf die Tastatur ein. Der Hashtag #dieGeschworenen fehlte ausgerechnet in dieser Meldung, deshalb hatte sie die Webseite bisher nicht gefunden.

Als hätte sie eine Geheimtür zu einer unbekannten Welt aufgestoßen, betrachtete sie die Seite auf dem Bildschirm sekundenlang.

»Heilige Scheiße«, murmelte sie leise und sprang auf.

Sie brauchte etwas Süßes zwischen die Zähne. Die Tortelloni waren vergessen, Zeit für die längste Praline der Welt. Die Webseite erweckte einen durchwegs professionellen Eindruck und verblüffte mit dem Design. Sie kannte diesen Aufbau und die benutzten grafischen Elemente. Die Seite der Geschworenen sah aus wie eine Seite aus dem Web-Auftritt der PR-Agentur Stein.

»Also doch!«, murmelte sie grimmig lächelnd.

»Was meinst du?«, fragte das Zebra.

Die Sitznachbarin war unbemerkt vom Außeneinsatz zurückgekehrt. Sie wiegelte ab.

»Nichts. Alles im grünen Bereich.«

Die Zeit bis zur abendlichen Redaktionskonferenz reichte knapp, um die wichtigsten Informationen dieser Webseite, die in Wirklichkeit über fünfzig Seiten umfasste, zusammenzustellen. Sie druckte ein paar krasse Texte aus, bevor sie sich ins Sitzungszimmer begab. Die Berichte und Aufhänger der andern Ressorts interessierten sie kaum. Gedankenverloren wartete sie auf ihren Einsatz.

»Julia, Neues von den Geschworenen?«, fragte Martin endlich.

Ein Adrenalinschub versetzte ihre Sinne in Alarmbereitschaft. Sie brachte den Knüller für die morgige Ausgabe. Den würde sie sich nicht nehmen lassen. Es war ihr großer Auftritt. Sie schilderte die Entdeckung kurz und nüchtern. Theatralik war unnötig. Die Texte und die ganze Atmosphäre von Law and Order und hemmungsloser Selbstjustiz unterstrichen deutlich genug, mit wem sie es bei den Geschworenen zu tun hatten.

»Nur schon der Name: die Geschworenen. Was für ein Haufen Spinner!«, schimpfte Martin nach einer Weile betretenen Schweigens.

»Ich denke, Spinner trifft es nicht, Martin«, widersprach sie. »Diese Leute sind gebildet, was man an der Ausdrucksweise erkennt, und fanatisch. Deshalb halte ich sie für brandgefährlich.«

»Sie sind trotzdem Spinner«, wagte der rote Peter einzuwerfen, »akademische Spinner. Von denen gibt›s ja genug heutzutage, wo jeder Depp an der Uni landet.«

Selbstkritik?, dachte sie schmunzelnd. Die eigentliche Sensation hob sie sich bis zum Schluss auf.

»Stellenweise lesen sich die Texte wie Gerichtsprotokolle«, fuhr sie fort. »Das sieht man schön an der Akte Scholz.«

Alle Augen hingen an ihren Lippen.

»Ihr habt richtig gehört. Es gibt eine umfangreiche Akte über das Aachener Opfer Albrecht Scholz auf der Webseite. Darin wird peinlich genau nachgewiesen, welche Verfehlungen sich der ehemalige Lobbyist in Brüssel geleistet und weshalb er versagt hat. Es läuft darauf hinaus, dass Scholz das Lotterleben eines Tunichtguts und Playboys geführt habe, statt Dampf zu machen für ein Freihandelsabkommen der EU mit China, woran insbesondere die Autoindustrie ein vitales Interesse hat. Nach Ansicht der Geschworenen hat Scholz also komplett versagt. Das steht in der Urteilsbegründung. Das Urteil lautet denn auch: schuldig. Darunter steht das Motto, das die ganze Webseite prägt: Wir kriegen euch alle.«

Nach einer Schrecksekunde begannen die Kollegen, wild durcheinander zu sprechen. Sie beobachtete verstohlen Martins Mienenspiel. Da hatte er die Verbindung mit dem heiklen Thema Freihandel. Die Enthüllung machte ihm zu schaffen. Er kämpfte mit sich. Es war nicht zu übersehen. Schließlich klopfte er energisch mit der Krücke auf den Boden. Sofort kehrte Ruhe ein. Gewonnen!, wusste sie, bevor er den Mund öffnete.

»Leute, das wird unser Aufhänger«, sagte er. »Julia, zu mir!«

Sie war gut vorbereitet. In der Sauna erläuterte sie ihm rasch die Struktur des geplanten Leitartikels. Sein einziger Einwand betraf die Stellen, die als peinlich oder gar beschämend für die Ermittler des LKA interpretiert werden könnten. Sie einigten sich auf einen Kompromiss, mit dem auch ein Tom Fischer leben konnte, ohne eines Nachts mit vorgehaltener Pistole in ihrem Schlafzimmer aufzutauchen. Chris würde auch ihr Fett weg bekommen, da die Presse offenbar mehr über die Geschworenen wusste als das BKA. Sie fühlte sich wie eine Verräterin dabei.

»Ich denke, wir müssen das BKA nicht unbedingt erwähnen«, versuchte sie sich zu beruhigen.

Martin überlegte, stimmte dann zögernd zu. »Einverstanden, es genügt, dass die selbst merken, wer da versagt hat.«

Sie verließ den Glaskubus mit einem inneren Stoßseufzer. Kaum am Arbeitsplatz, stand der rote Peter auf, sein Spielzeug-Megafon in der Hand.

»Alle mal herhören«, brüllte er. »Die Aktivistin Lotte Engel hat für Samstag zu einer Demo gegen Freihandel und Globalisierung vor dem Reichstag aufgerufen. Alle Infos darüber bitte sofort an mich. Ich werde vor Ort berichten.«

Die Lage spitzte sich gefährlich zu. Mit ihrem Leitartikel würde sie Öl ins Feuer gießen, aber das ließ sich nicht vermeiden. Es war ihre Pflicht als Journalistin, die Leser umfassend zu informieren. Wie würden die Geschworenen reagieren? Lobbyist Scholz lebte nicht mehr, weil er zu wenig für die Automobilindustrie getan hatte. Lotte Engel als berüchtigte Linksaktivistin war eine radikale Gegnerin von Freihandel aller Art. Sie hatte an vorderster Front gegen CETA und TTIP gekämpft. Julia fröstelte beim Gedanken, jetzt in Engels Haut zu stecken.

Bevor sie zu schreiben begann, kehrte sie zum Hashtag #dieGeschworenen zurück. Der erste neue Tweet versetzte ihr den vierten heftigen Adrenalinschub des Tages nach Chris, der Kita und der Redaktionssitzung. Ein neuer Benutzer trat auf, dessen Name nichts Gutes verkündete: das Phantom.

Das Phantom @phantombulle

Hat sich schon mal jemand gefragt, wer die Urteile vollstreckt? #dieGeschworenen richten, das Phantom schießt.

Das Phantom @phantombulle

So einfach ist das Leute. Ihr dürft mir gratulieren.

Bernd der Elf @berndeckstein23

Lol! #dieGeschworenen werden sich bedanken für Aufschneider wie dich, @phantombulle! Lächerlich und peinlich.

Rosa Brille @diebrillenschlange

Echt jetzt! Hört auf, #dieGeschworenen zu verarschen. Die sorgen für Ordnung und das ist gut so. Klappe, @phantombulle!

Das Phantom @phantombulle

Beweis: Auf dem Zettel unter dem Stein bei der Leiche von #PlayboyScholz steht: Wir kriegen euch alle #dieGeschworenen. Fragt die Bullen.

Die Geschworenen @jury12

#dieGeschworenen stellen fest: @phantombulle hat Täterwissen. Die Nachricht bei der Leiche stammt von unserer Webseite.

Sie traute den Augen nicht, und sie war nicht die Einzige. Sie sah es am Zeitstempel der nächsten Nachrichten. Auf die Enthüllung des Phantoms folgte eine längere Pause. Die Netzgemeinde reagierte ebenso verblüfft wie sie. Dann überstürzten sich die Meldungen.

Sie war versucht, Chris sofort anzurufen. Bei anderen Beamten des Polizeiapparates hatte sie dieses Verlangen nie gespürt. Das Telefon in der Hand, besann sie sich im letzten Augenblick anders. Chris und ihr Team mussten die Enthüllung auch gelesen haben. Im Unterschied zu ihr würden BKA und LKA allerdings nicht darüber berichten.

Eine Weile verfolgte sie die aufgeregten Reaktionen im Netz. Die anonyme Diskussion driftete schnell ab vom Motiv des Urteils, das sie auf der Webseite der Geschworenen entdeckt hatte, und konzentrierte sich auf das Phantom. Zwei Lager bekämpften sich verbissen, wobei die Gegner von Selbstjustiz, wie sie das Phantom offenbar betrieb, bald unterlagen. Lob, Unterstützung und Ansporn für das Phantom gewannen Oberhand. Die Emotionen schaukelten sich gegenseitig hoch und zwar in einem buchstäblich mörderischen Tempo. Ein beklemmendes Gefühl beschlich sie. Am liebsten hätte sie den Computer abgeschaltet, um Tim und Emma vom Zoo abzuholen. Die Suche nach dem nächsten Tweet von juri12 hinderte sie daran. Lange wartete sie vergeblich auf eine Reaktion der Geschworenen, während sie den Artikel zu schreiben begann. Die Geschworenen blieben stumm.

Berlin

»Ich kann den Scheiß nicht lesen«, schimpfte der Herr auf dem Rücksitz der Limousine. »Fahren Sie näher ran.«

Der Fahrer zögerte. »Das könnte gefährlich werden, Herr Minister.«

Bundesernährungsminister Hannes Lang wischte sich den Schweiß von der Stirn und krempelte die Ärmel hoch wie im früheren Leben vor dem Betreten des Stalls.

»Unsinn«, entgegnete er ärgerlich. »Das ist freie Meinungsäußerung, und ich will wissen, was die Leute zu sagen haben.«

»Wie Sie wünschen, Herr Minister.«

Eine ansehnliche Menschenmasse strömte trotz Nieselregen an diesem Samstagmorgen durch Berlin zum Regierungsviertel. Je näher die Glaskuppel des Reichstags rückte, desto gefährlicher wurde die Fahrt. Demonstranten skandierten dicht gedrängt ihre Slogans, ohne auf den Verkehr zu achten. Es ging nur im Schritttempo voran, wollten sie nicht Gefahr laufen, Leute über den Haufen zu fahren.

»Näher geht nicht«, meldete der Fahrer.

Der Minister öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit, um zu hören, was das Volk bewegte.

»Freihandel – Mordsschwindel!«, rief die Menge im Sprechchor immer wieder.

»Mordsschwindel«, wiederholte er lachend.

Der Rhythmus passte zu Freihandel, der Inhalt weniger. Als Schwindel würde er das geplante Abkommen nicht bezeichnen, eher als Katastrophe. Es musste verhindert werden. Da stimmte er den Demonstranten zu.

Der Zug stoppte. Der Fahrer musste anhalten. Aus dem Nichts flatterte ein rotes Flugblatt durch den Spalt in den Wagen. Es enthielt eine Auswahl der Sprüche auf den Transparenten.

Stoppt den Wahnsinn – Freihandel nein danke!

Kein Profit durch Kinderarbeit!

Globalisierung nützt nur Millionären!

Deutschland ausbluten durch Billigimporte?

China killt unsere Industrie!

Wollt ihr giftiges Gemüse?

Der Link zu Lotte Engels Webseite rahmte die Weisheiten fett gedruckt oben und unten ein. Schmunzelnd schloss er das Fenster, um den Lärm zu dämpfen. Er griff zum Telefon, um das Sekretariat zu warnen.

»Im Moment stecke ich in der Demo fest. Wird wohl etwas später. Wir müssen wenden und einen Umweg fahren.«

Es war zugleich das Zeichen für den Chauffeur, der die Anweisung mit dem zufriedenen Grinsen befolgte, das er selbst jedes Mal aufsetzte, wenn das Kanzleramt nach seiner Pfeife tanzte. Er faltete das Flugblatt sorgfältig zusammen, bevor er es einsteckte. Zitate aus dem Volksmund waren nie verkehrt an einer Kabinettssitzung, schon gar nicht an dieser Sondersitzung, deren einziger Verhandlungsgegenstand der unselige Plan für ein Freihandelsabkommen mit China war.

»Unglaublich, diese Engel«, brummte der Chauffeur, während er die Demo weiträumig zu umfahren versuchte.

Er wusste, was der Mann meinte. Lotte Engel brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, um das halbe Volk zu mobilisieren, dem Internet sei Dank. Wie schaffte die Frau das? Sie vertrat eine radikal linke Politik. Das konnte doch nicht der neue deutsche Traum sein. Und weshalb blieben bei seinen Veranstaltungen halbe Säle leer? Ernährungsminister Hannes Lang stand schließlich für bodenständige Vernunft. Dafür hatte ihn das Parlament gewählt.

Immer neue Busladungen von Demonstranten mit Transparenten, Tröten und Megafonen strömten von allen Seiten zum Platz der Republik. Die Limousine hatte die Spree überquert und näherte sich nun am rechten Ufer entlang dem Ziel. Es war die falsche Entscheidung gewesen. Unvermittelt sahen sie sich von vermummten Gestalten in schwarzer Kleidung umringt. Die Schlagstöcke und Baseballschläger waren nicht zu übersehen. Der Chauffeur fluchte, legte den Rückwärtsgang ein. Zu spät, es gab kein Entkommen mehr. Der erste Schlag zertrümmerte die Heckscheibe. Panik ergriff beide. Sie schrien ins Telefon.

»Wo bleibt die Polizei?«, brüllte er den Fahrer an.

Er hätte auf ihn hören sollen am Morgen, als er die Eskorte vorgeschlagen hatte wegen der Demo.

»Autonome des schwarzen Blocks greifen uns an!«, schrie der Fahrer ins Telefon.

Der nächste Schlag traf die Frontscheibe genau vor seiner Nase. Das Sicherheitsglas zerplatzte in tausend Splitter und verwandelte die Scheibe in undurchsichtiges Milchglas. Die schwere Limousine begann zu wanken, als bebte die Erde. Er prallte hart an die Tür, fiel auf den Sitz zurück, verrenkte sich den Arm dabei, dass er vor Schmerz laut aufschrie.

»Sind Sie verletzt?«, unterbrach der Fahrer das Geschrei mit der Notrufzentrale.

Der Wagen wankte nun bedenklich. Die Scheißkerle würden es noch schaffen, ihn umzukippen. Mehr als ein Dutzend Vermummte beteiligten sich jetzt am Spaß, skandierten rhythmische Schlachtrufe, als wollten sie den Teufel austreiben.

»Die fackeln uns ab!«, brüllte der Fahrer wie am Spieß.

Der Kerl mit dem Feuerzeug und der Flasche stand keine fünf Meter entfernt. Statt zu werfen, ließ er den Molotowcocktail plötzlich fallen und gab Fersengeld. Die Spaßvögel am Auto folgten ihm augenblicklich. Sekunden später stand die Limousine verlassen auf der Straße, Scheiben geborsten, Motorhaube und Kotflügel verbeult, als hätte sie ein Dieb nach missglückter Spritztour dort als Schrott abgestellt. Sein Tinnitus flaute ab. Jetzt hörte auch er die Sirenen der heranrückenden Kavallerie.

Abwesend ließ er sich zum Rettungswagen führen. Die Fragen der Ärztin beantwortete er mechanisch. Er wunderte sich, wie die Lage in so kurzer Zeit derart eskalieren konnte. Das erste Mal in seinem Leben war er ernsthaft körperlich bedroht worden. Ein Gefühl ohnmächtiger Hilflosigkeit erfasste ihn.

»Herr Minister?«

Sein Fahrer wartete auf eine Antwort.

»Wie bitte? Entschuldigen Sie, wie war die Frage?«

»Soll ich sofort einen neuen Wagen anfordern oder möchten Sie mit dem Streifenwagen …«

»Streifenwagen ist in Ordnung. Kümmern Sie sich um den Dienstwagen. Sind Sie in Ordnung?«

Der Fahrer nickte und entfernte sich.

»Sie haben einen Schock erlitten, Herr Minister«, stellte die Ärztin fest. »Sie sollten sich jetzt schonen und von Ihrem Arzt gründlich untersuchen lassen.«

»Ich bin in Ordnung, danke.« Er blickte sich um. »Wo bleibt der Streifenwagen? Ich werde im Kanzleramt erwartet – seit einer halben Stunde.«

Die letzten Minuten hatten es ihm deutlich vor Augen geführt: An dieser Sitzung ging es nicht einfach um einen Vertrag. Er war jetzt überzeugt, es ginge um den inneren Frieden der Bundesrepublik.

»Beeilung bitte«, sagte er, als er in den Streifenwagen stieg, »sonst geschieht ein Unglück.«

Noch eins, ergänzte er im Stillen. Klaus Hartmann, der Kanzleramtsminister, erwartete ihn allein im Sitzungszimmer. Er spielte den Betroffenen. Das hatte er drauf.

»Du meine Güte, Hannes, wir stehen alle unter Schock! Wie geht es dir? Solltest du nicht lieber …«

»Zu Hause herumsitzen?«, unterbrach er. »Hättest du wohl gern, damit ihr euer Geschäft ohne mich durchwinken könnt.«

»Also hör mal!«

»Wo sind die andern? Können wir endlich anfangen?«

»Die Kollegen warten auf Abruf. Wir konnten ja nicht wissen …«

Er winkte ab, setzte sich an seinen Platz und breitete die Notizen vor sich aus. Nach und nach trafen die Kollegen ein. Sie grüßten ihn und warfen ihm Blicke zu, als wäre er von den Toten auferstanden.

»Übertreibt mal nicht«, sah er sich genötigt zu bemerken. »Was wir hier tun, ist wichtiger als die paar Dellen am Dienstwagen.«

Die Sondersitzung begann mit dem Bericht aus Peking. Der Leiter der Kommission, die Vorgespräche vor Ort durchführte, bestätigte wie erwartet Pekings offenes Ohr für das deutsche Anliegen.

»Als ob nichts geschehen wäre«, brummte Hannes nach dem Ende des Ferngesprächs. Lauter sagte er: »Leute, habt ihr mal aus dem Fenster geschaut? Wir können nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen. Wir müssen die Vorgespräche abbrechen. Brüssel wird es uns auch danken.«

Klaus Hartmann schüttelte entschieden den Kopf. »Was da draußen abgeht, ist bedauerlich, aber es ist nichts weiter als ein linkes Strohfeuer, angefacht von unserer alten Freundin Lotte Engel.«

»Da sind bestimmt zehntausend Menschen da draußen, und es werden stündlich mehr«, widersprach er. »Ich war mittendrin und kann euch versichern, das sind nicht alles Linksextremisten. Das sind mit Recht besorgte Bürger, die sich hintergangen fühlen, die Angst um ihren Arbeitsplatz, Angst um ihre Gesundheit, Angst um ihre Zukunft haben. Das Echo auf die Enthüllung über die Geheimverhandlungen ist gigantisch und hat jetzt auch die ganz seriöse Presse erfasst. Ihr habt die Frontseite der FAZ gesehen. Wir dürfen so etwas nicht ignorieren. Da mache ich nicht mit.«

Hartmann warf dem Justizminister einen fragenden Blick zu. Der schüttelte den Kopf und murmelte kleinlaut:

»Bis jetzt gibt es keinen Anhaltspunkt, wer die Informationen an die Presse gespielt hat.«

»Dann mach Druck!«

Das Kanzleramt war sichtlich nervös. Hartmann sah seine Felle davonschwimmen. Gut so. Hannes unterdrückte den Anflug eines Schmunzelns. Verkehrsminister Vince Vogel hatte das Streitgespräch angespannt verfolgt. Jetzt räusperte er sich umständlich.

»Ich kann nicht glauben, was ich höre«, begann er düster. »Wir brauchen diesen Freihandelsvertrag mit China, da waren wir uns doch einig.«

»Außer mir!«, unterbrach Hannes zornig.

»Außer Landwirtschaftsminister Lang«, gab Vogel zu, »der sich vor billigem Reis und Geflügel fürchtet. Als gebärde sich China plötzlich wie ein Weltmeister im Nahrungsmittelexport. Ehrlich, Hannes, ich verstehe dich nicht.«

Kein Wunder, dachte er, unterdrückte aber den Drang nach einer geharnischten Antwort. Im Übrigen begann sein Arm wieder empfindlich zu schmerzen. Vogel sprach weiter:

»Ich habe es schon in meiner Aktennotiz dargelegt und wiederhole es gerne noch einmal. Jeder siebte Arbeitsplatz im Land hängt direkt oder indirekt an der Autoindustrie. Insgesamt sprechen wir von nahezu einer Million Beschäftigten, deren Schicksal an dieser Industrie hängt. Diese Menschen und damit diese Firmen müssen wir unter allen Umständen schützen. In den letzten paar Jahren allein konnten durch die Autoindustrie hunderttausend Arbeitsplätze geschaffen werden. Die und noch ein paar hunderttausend mehr werden im Nu wieder verloren gehen, wenn wir nicht schleunigst für den Abbau von Exportschranken in den größten Zukunftsmarkt sorgen.«

Hannes wollte intervenieren, doch Vogel wehrte mit rotem Gesicht ab.

»Ich bin noch nicht fertig! Seit unsere Freunde – oder muss ich sagen – Ex-Freunde jenseits des großen Teichs jeden Tag neue Hürden erfinden, um ihr dämliches America first durchzusetzen, müssen wir die Flucht nach vorn antreten. China ist die einzige Chance, unsere Arbeitsplätze und unseren Standard zu erhalten, Freunde.«

»Und das um jeden Preis«, fügte Hannes sarkastisch an.

Vogel war ein guter Redner. Die Mehrheit am Tisch folgte seinen Argumenten. Es war deutlich auf ihren Gesichtern zu lesen. Er zog das rote Flugblatt aus der Tasche und wandte sich direkt an den Kollegen Vogel.

»Vince, die Leute da draußen verstehen das alles nicht. Sie skandieren immer wieder Freihandel – Mordsschwindel! und tragen Transparente mit Sprüchen wie China killt unsere Industrie, wie du auf diesem Flugblatt lesen kannst. Warum wohl? Ich sage es euch: weil wir kläglich versagt haben Freunde. Der Versuch, unseren Wählern zu erklären, weshalb Freihandel und Globalisierung im Prinzip gut und notwendig sind, ist total in die Hose gegangen. Ich plädiere nicht für Abschottung, aber wir sollten behutsam vorgehen. In einer derart aufgeheizten Stimmung, wie sie jetzt da draußen herrscht, halte ich jede weitere Verhandlung mit China für brandgefährlich.«

Kanzleramtsminister Hartmann setzte zu einer Entgegnung an. Bevor er ein erstes Wort sagen konnte, ging die Tür auf. Es gab nur einen Menschen in der Bundesrepublik, der unangemeldet in eine solche Sitzung platzen durfte. Die Kanzlerin trat ein. Mit besorgter Miene eilte sie auf Hannes zu.

»Gott sei Dank, Hannes. Du bist O. K.? Ich hab›s bei der Landung erfahren, abscheulich, diese Gewalt.« Sie wandte sich ans Kabinett und sagte mit Bedauern in der Stimme: »Leute, wir legen alle Aktivitäten mit China auf Eis und geben ein Dementi heraus. Es hat nie irgendwelche Verhandlungen gegeben. Klaus, du kümmerst dich darum.«

Düsseldorf

Erst unter der kalten Dusche erwachte Chris an diesem Morgen. Sie fühlte sich gemartert. Es lag nicht am harten Hotelbett. Der Fall verursachte Albträume. Da half auch das hübsch traurige Gesicht des reizenden Käfers von der Abendzeitung nicht darüber hinweg, von dem sie geträumt hatte, bevor sie schweißgebadet aufwachte.

Vor dem Frühstück besorgte sie sich die neuste Ausgabe der Kölner Abendzeitung. Der Kaffee erkaltete während der Lektüre des Leitartikels. Diesmal erschien der Name Julia Hahn im Klartext, als wäre sie besonders stolz auf ihr Werk. Grund dazu hatte sie. Ein smartes Mädchen, der reizende Käfer, dachte sie schmunzelnd. Julia hatte fast alles aufgedeckt, was in Uwes Meldung aus Wiesbaden von letzter Nacht stand. Ihre Vermutung schien sich also zu bestätigen: Das Phantom verstand sich als Scharfrichter, der das Urteil der Geschworenen vollstreckte. Das Urteil – die Urteile? Automatisch holte sie die Webseite der Geschworenen aufs Display des Smartphones. Es gab kein neues Urteil. Wie sie nach einigem Suchen feststellte, war die Webseite seit einer Woche nicht mehr aktualisiert worden. Auch bei den Geschworenen schien Funkstille zu herrschen. Kein gutes Zeichen, sagte ihr Bauchgefühl. Die Ermittlungen liefen an allen Fronten ins Leere. Nichts an diesem Fall war wirklich greifbar außer den beiden Opfern in Aachen. Aus Ärger zwang sie sich, die scheußliche, kalte Brühe in einem Zug zu trinken.

Auf dem Weg in die Parkgarage rief sie Jamie an. Er klang aufgeregt.

»Gut rufst du an. Ich wollte gerade … Wir haben etwas zu besprechen.«

Allerdings, dachte sie. Ein kalter Schauer rieselte über ihren Rücken. Seine Bemerkung klang wie eine Drohung. Sie hatte ohnehin das Gefühl, mit einem Fremden zu sprechen.

»Ist es dringend?«, fragte sie mit einem Knoten im Magen. »Ich bin gerade unterwegs zum LKA.«

»Es ist wichtig.«

Sie war versucht, die Verbindung mit einer Notlüge zu unterbrechen. Was war schon eine Lüge gegen die brutale Wahrheit? Es konnte sich nur um etwas Schreckliches handeln, so ernst klang seine Stimme.

»Also – wir sollten das vielleicht nicht am Telefon besprechen, aber …«

Haase klopfte an, ein Geschenk des Himmels.

»Schatz«, unterbrach sie sofort, »ich kriege gerade einen Anruf aus der Zentrale. Da muss ich ran, tut mir leid. Wir sprechen später.«

Jamies Hiobsbotschaft musste warten. Sie nahm Haases Anruf entgegen. Er hatte sich eingehend mit der PR-Agentur Stein befasst. Das grobe Bild, das sie sich nach der Unterhaltung mit Julia Hahn von John Stein gemacht hatte, bestätigte sich. Dessen Agentur kannte keine Berührungsängste mit Auftraggebern aller Couleur. Ein guter Deal, viel Kohle, das war sein Geschäftsmodell, und offenbar funktionierte es. Die PR-Agentur Stein sah keinen Widerspruch darin, aggressiv gegen strengere Grenzwerte für Feinstaub zu polemisieren und gleichzeitig für erneuerbare, CO2 neutrale Energie zu werben, als wäre das ihr wichtigstes Anliegen.

»Marketing«, sagte sie verächtlich und setzte sich ans Steuer, »ist alles nicht verboten.«

»Stimmt«, gab Haase zu, »aber Sie wollten alles über Stein wissen, und ich denke, das Geschäftsgebaren lässt auf seinen Charakter schließen. Stein ist übrigens verwitwet und hat einen Sohn, Florian, 32, der noch bei ihm wohnt. Über den Sohn konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Der scheint ein unbeschriebenes Blatt zu sein.«

John Stein war ein skrupelloser, geldgieriger Unternehmer und Bekannter des Kollegen Fischer. Das hatte sie begriffen, aber was nützte diese umwerfende Erkenntnis in ihrem Fall? Gab es überhaupt erfolgreiche Unternehmer, die nicht skrupellos und geldgierig waren? Enttäuscht bedankte sie sich bei Haase und wollte auflegen.

»Moment!«, warf er hastig ein. »Das Wichtigste haben Sie noch gar nicht gehört.«

»Haase, Ihr Ristretto fehlt mir wirklich«, seufzte sie.

Wie üblich reagierte er nicht auf das Kompliment. Ungerührt fuhr er fort:

»Es gibt Neuigkeiten über Ihren Kollegen Tom Fischer.«

Die Eröffnung schaffte, was der kalte Kaffee nicht zustande gebracht hatte. Hellwach hörte sie zu.

»Es gab eine interne Ermittlung gegen Fischer«, fuhr Haase weiter. »Vor zwei Jahren hat er einen jugendlichen Kleinkriminellen angeschossen und lebensgefährlich verletzt, als der fliehen wollte. Das Verfahren wurde zwar eingestellt, aber es passt zum Bild eines Polizisten, der sich nicht immer unter Kontrolle hat.«

»Den Eindruck bekam ich auch«, murmelte sie.

»Das ist noch nicht alles. Es muss nichts bedeuten, aber Fischer besitzt eine BMW 900 RT, die er außer Dienst und manchmal auch im Dienst benutzt.«

Es dauerte kurze Zeit, bis der Groschen fiel.

»Augenblick!«, rief sie aus. »Eine BMW 900 RT, ein Polizeimotorrad, wie es eine Zeugin in Aachen beim Phantom gesehen haben will?«

»Wie gesagt, wahrscheinlich reiner Zufall. Solche Motorräder gibt es viele.«

Sie lachte kurz auf. »Haase, Sie wissen, was ich von Zufällen halte.«

Während der Fahrt zum LKA überlegte sie, wie sie Fischer damit konfrontieren wollte. Gar nicht, beschloss sie, als sie das Büro betrat. Er war nicht anwesend. Auf der andern Seite von Fischers Schreibtisch saß eine ältere Frau mit traurigen Augen. Bevor Chris den Mund öffnete, schoss Kriminalassistent Becker auf sie zu.

»Darf ich vorstellen: Oberkommissarin Schäfer, Hauptkommissar Fischers Partnerin.« Zu seiner Kollegin gewandt, stellte er Chris vor.

Ina Schäfer, wie sie gemäß Tafel auf dem Tisch hieß, erhob sich mit wenig Begeisterung, und fragte:

»BKA, was verschafft uns die Ehre?«

Einen Augenblick lang fürchtete sie, einer weiblichen Ausgabe von Fischer gegenüberzustehen, doch dann sah sie den gequälten Ausdruck und die Sorgenfalten auf Schäfers Gesicht. Die Frau blickte sie an, als wollte sie von all dem nichts wissen. Chris versuchte es mit einem Scherz:

»Gut, Sie kennenzulernen, Frau Schäfer. Ich fürchtete schon, Ihr Partner bilde sie sich nur ein. Ihren Namen hat er nämlich nie erwähnt.«

»Das darf Sie nicht wundern. Tom sagt nie ein Wort zu viel.«

»Ich hätte auch nur ein Problem damit, wenn er zu wenig sagte«, gab sie lächelnd zurück.

Ina Schäfer setzte sich wieder und murmelte:

»Sie werden sich daran gewöhnen.«

Die Frau machte den Eindruck, aufgegeben zu haben, oder hatte sie einfach vor Fischer kapituliert? Die Fragen nach dem Stand der Fahndung beantwortete sie mechanisch wie ihr Smartphone die Frage nach dem Wetter. Der Fall, das Rätsel des Phantoms und der Geschworenen, schienen sie überhaupt nicht zu berühren. Ina Schäfer würde keine große Hilfe sein. Die Frau tat ihr trotzdem irgendwie leid.

Chris füllte sich einen Becher am Wasserspender. Wie aus dem Nichts tauchten die grünen Augen neben ihr auf. Mit verschwörerischer Miene flüsterte Becker:

»Der Hauptkommissar spricht ihren Namen nie aus.«

Sie verschluckte sich beinahe. »Wieso denn das? Gibt es Zoff?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie verstehen mich falsch. Er hat Inas Namen noch nie ausgesprochen, nie, niemals.«

»Bei Fischer wundert mich allmählich nichts mehr. Gibt es einen Grund für den seltsamen Tick?«

Sein Mund befand sich jetzt ganz nah an ihrem Ohr. »Man munkelt, Frau Schäfer gleiche seiner Ex.«

Fast hätte sie laut herausgelacht. »Danke«, flüsterte sie zurück, »dann ist ja alles klar. Ich glaube, mehr will ich gar nicht wissen.«

Die Antwort verwirrte ihn sichtlich. Er wollte sich enttäuscht entfernen, doch sie packte ihn am Ärmel.

»Warten Sie. Wie weit sind Sie mit der Befragung der Kollegen?«

»Die Befragung ist abgeschlossen. Die Protokolle liegen auf dem Server. Ich habe Ihnen den Link gemailt.«

Es erwies sich zwar als nicht so einfach, wie es sein sollte, aber nach einigen Fehlschlägen hatte sie die vielen Dokumente durchforstet und gefunden, was sie suchte. Oder eben nicht. Sie fragte Ina Schäfer nach dem fehlenden Protokoll.

»Weshalb sollten wir Tom befragen?«

»Weil Sie alle Kollegen befragen müssen, das wissen Sie.«

Ina zuckte mit den Achseln. »Ich sehe zwar nicht ein, wozu das gut sein soll«, murmelte sie, »aber wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Tom hatte an dem Abend dienstfrei.«

Hatte sie richtig verstanden? »Dienstfrei? Und trotzdem als Erster am Tatort?«

»Soll vorkommen«, entgegnete die Kollegin trocken. »Er war wohl gerade in der Gegend unterwegs, als der Alarm eintraf.«

Chris spürte, wie sich die Nackenhaare sträubten. Sie eilte ins improvisierte Büro und rief Uwe an. Es dauerte keine Stunde, bis sie Gewissheit hatte. Die BMW 900 RT mit dem auf Tom Fischer registrierten Kennzeichen war kurz vor der Tatzeit von einer Verkehrsüberwachungskamera in Aachen gefilmt worden.

Staatsfeinde

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