Читать книгу Schlag doch zu! Autobiografie - Harald Fiori - Страница 12
Erste eigene Erinnerungen
ОглавлениеAusgerechnet am zweiten Februar 1943, an meinem Geburtstag, an dem zum ersten Mal drei Kerzen für mich brannten, kapitulierte die sechste Armee in Stalingrad.
Allerdings war das nur eine Nachricht und nichts wirklich Wichtiges in meinem Leben. Gott sei Dank war das sehr weit von mir entfernt und berührte mich auch überhaupt nicht persönlich, weil niemand aus unserer Verwandtschaft dort am Krieg beteiligt war.
So konnte denn auch Mutti für mich die beiden kleinen Kerzen anzünden für meine beiden vollendeten Lebensjahre und die größere in der Mitte für das kommende Jahr. Mutti hatte auch extra einen Tortenboden gebacken und mit Sauerkirschen belegt. Zur Geburtstagsfeier hatten sogar Tante Dorchen und Onkel Willi aus Trier ein Paket an ihr Patenkind geschickt, das hauptsächlich Nahrhaftes und Leckeres und etwas zum Anziehen enthielt.
Zum Kaffee am Nachmittag waren nur Tante Traute mit ihrer Tochter Traute da und Dickerchen, die bei solchen Gelegenheiten nicht fehlen durfte.
Von der fröhlichen Feier selbst bekam ich nicht sehr viel mit, da mir der Rummel um meine Person einerseits heftig missfiel, andererseits aber auch meinem Ego schmeichelte, weil ich, wie eigentlich ständig gewünscht, Mittelpunkt war und alle sich mit mir intensiv beschäftigten. Also strahlte ich über alle Maßen und genoss die vielen Aufmerksamkeiten und die Spiele, die mit mir und Klein Traute von allen mitgespielt wurden. Es blieb auch ruhig an diesem Dienstag, kein Fliegeralarm störte uns und niemand forderte lautstark, dass verdunkelt werden müsse am frühen Nachmittag.
Zum Abendbrot gab es selbstgebackenen Hefestuten, ein Gebäck, das grundsätzlich bei uns dick mit Butter bestrichen wurde, wenn solche denn vorhanden war in jenen Tagen, und ebenso beliebt war wie Kuchen oder Plätzchen. Schokolade war etwas rar geworden in dieser Zeit des negativen Überschusses, so dass ich darauf verzichten musste, ohne allerdings diese Leckerei ernsthaft zu vermissen, weil sie mir dafür gar nicht genügend bekannt und vertraut war.
Dass es abends dann zur Feier des Tages für die Erwachsenen ein Likörchen gab, war nicht so selbstverständlich wie in früheren Jahren, aber Mutti hatte über Vatis Kontakte in Holland doch ein wenig Danziger Goldwasser da, welches den Damen kredenzt wurde. Kurz danach wurde ich noch auf das Töpfchen gesetzt, ein Ritual, das seit mehr als einem Jahr täglich dreimal wiederholt wurde und mich allmählich zu etwas größeren Sauberkeit gebracht hatte, so dass ich nachts nicht mehr so oft die Windeln vollmachte. Außerdem war eine frühe Erziehung zur Reinlichkeit und zum Trockenbleiben ein unerlässliches, unumstößliches Gebot damaliger Erziehungsgrundsätze.
Das einzige, was Mutti an meinem eigenen Reinlichkeitsverhalten störte, war die Tatsache, dass ich fast immer, wenn ich auf dem Töpfchen saß, hingebungsvoll mit dem kleinen Schniepel spielte, der einmal mein männliches Geschlechtsorgan zu werden versprach. So war mein Geburtstag trotz vieler unschöner Kriegsereignisse fast ein normaler Geburtstag, wie ihn sich ein kleines Kind von zwei Jahren wünschen konnte.
Allerdings sollte das Jahr 1943 nicht nur für Deutschland, sondern ganz besonders für unsere Familie erhebliche Änderungen mit sich bringen, von denen wir selbstverständlich an meinem Wiegenfest noch nichts ahnen konnten.
Immer häufiger wurde auch die Stadt Essen bombardiert, vor allem wegen der Krupp-Werke, die schließlich als Schmiede der Nation galten. Das bedeutete aber nicht nur, dass wir immer häufiger den nahegelegenen Bunker aufsuchen, sondern auch, dass es immer schwieriger wurde, sich angemessen zu versorgen und zu ernähren. Deshalb war Mutti natürlich heilfroh, als wieder zu den Osterferien eine Einladung zu Oma nach Bad Godesberg auf dem Tisch lag. Dieses Mal war es auch möglich, Fahrkarten zu bekommen und mit dem Zug dorthin zu fahren. Denn die Stadt Essen galt als extrem gefährdet, weshalb Menschen, die in anderen Gegenden sicherer untergebracht werden konnten, zur Wegfahrt auch eine Gelegenheit erhalten mussten.
Die Freude in Omas Haus die Ferien zu verbringen währte allerdings nicht allzu lange, da schon sehr bald ein Telegramm von Tante Traute eintraf, des Inhalts, dass sich Mutti sehr schnell zurückbegeben möchte, wenn sie noch Möbel retten wollte, da ausgerechnet unser Haus an der Seite getroffen worden war, an der wir wohnten.
Mutti organisierte mit Vatis und der Nachbarn Hilfe einen Möbeltransport, mit dem die Möbel, die nicht zerstört oder stark beschädigt waren, nach Bad Godesberg in Omas Wohnung gebracht wurden. Gott sei Dank waren die meisten Möbel noch brauchbar, so dass nicht allzu viele Verluste zu beklagen waren. Wenn auch einige Stücke deutliche Beschädigungen und Spuren des Brandes oder Steinsplitter aufwiesen.
Das größte Problem allerdings bestand darin , dass Oma eigentlich gar nicht spontan so viel Platz schaffen wollte in ihrer Wohnung, um unsere Möbel zu lagern und uns noch dazu zu beherbergen.
Mutti stellte bravourös unter Beweis, dass sie durchaus in der Lage war, Dinge zu organisieren, die eigentlich mehr als eine Kraft benötigten. Denn Vati war nicht frei zu bekommen für einen längeren Zeitraum. Er konnte gerade noch einen Möbelwagen besorgen und seine Mutter überreden, einen Raum freizumachen für unsere Möbel, aber alles Weitere blieb Mutti überlassen.
Gott sei Dank war Omas Haus sehr groß und geräumig, verfügte nicht nur über große Räume im Parterre des Hauses sondern auch über einige Kellerräume, so dass alle schweren und gediegenen Möbel, auf die Mutti und Vati so stolz waren, dort irgendwo eingeräumt werden konnten. Nur war Oma nicht in der Lage und auch nicht willens, so schnell Platz zu schaffen für die gesamte Familie. Schließlich hatte sie sich mit ihrer Tochter Erna so eingerichtet, dass die gesamte Wohnung im Parterre des Hauses belegt war. Außerdem wusste ja niemand so genau, wie lange der Krieg noch dauern würde und ob danach wieder solche Verhältnisse eintreten konnten wie zu Friedenszeiten.
Tagelang war Mutti unterwegs, um eine Wohnung zu finden, was nicht ganz so einfach war, denn inzwischen waren sehr viele schon ausgebombt und brauchten dringend Wohnraum.
In Muffendorf, einem kleinen Ort vor Bad Godesberg fand Mutti dann endlich eine Bleibe für uns in einem Mehrfamilienhaus, in dem der Dachboden als Wohnung genutzt werden konnte, weil er schon einmal ausgebaut worden war und leicht möbliert. Auch gab es dort unter dem Dach fließendes Wasser, was für eine Familie mit kleinen Kindern außerordentlich wichtig war.
Genau in dieser Wohnung setzten meine ersten Kindheitserinnerungen ein, die sich als lebendige Bilder für alle Zeiten in mein Gehirn eingebrannt hatten.
Ganz besonders war mir dort aufgefallen, dass unser Wohnzimmer nicht mehr so aussah, wie ich das gewöhnt war. Am meisten vermisste ich unser geliebtes Büffet, das nun wegen Platzmangels keineswegs in der kleinen Wohnung mit den schrägen Decken aufgestellt werden konnte. Es lagerte wie auch fast alle anderen schweren und ach so gediegenen Möbel bei Oma in der Bismarckstraße 18 in dem einzigen Parterrezimmer, das von Oma und Tante Erna nicht regelmäßig benutzt worden war und zum Teil auch in den ausgedehnten Kellerräumen, die alle ausgebaut und trocken waren.
Wegen dieses Platzmangels in der Muffendorfer Dachgeschosswohnung konnten Ursel und ich auch nicht dort spielen, so dass wir als Ausweichspielplatz sehr häufig den Podest benutzten, der vor unserer Wohnung die Möglichkeit erschloss, auf den Speicher oder eben in die Dachgeschossbleibe zu gelangen. Dieser Behelfsspielplatz wurde vor allen Dingen dann genutzt, wenn das Wetter ein Spielen im Freien absolut unmöglich machte.
Ein beliebtes Spiel meiner Schwester hieß „Blindekuh“. Ich hasste dieses Spiel über alle Maßen, fand überhaupt keinen Sinn darin mir die Augen verbinden zu lassen und mich wie ein Blödmann zu benehmen, ohne etwas sehen zu können. Dabei hasste ich besonders, dass ich voll und ganz darauf angewiesen war, was meine Schwester mir sagte oder befahl und ich selbst überhaupt keine Möglichkeit hatte, in irgendeiner Form meinen Bewegungsablauf selbst zu bestimmen.
Und immer war ich es, der die Blinde Kuh spielen musste, denn ich war natürlich noch viel zu klein, um meine große Schwester mit einer Binde vor den Augen führen zu können. Außerdem hätte ich auch wirklich keine Idee gehabt, wohin ich sie hätte führen sollen oder was sie hätte suchen müssen unter meiner Anleitung. Trotz meiner Abneigung gegen diese Betätigung, gab ich natürlich notgedrungen nach, wenn meine liebe große Spielgefährtin mal wieder auf die Idee kam, mir die Augen verbinden zu wollen.
Dabei lernte ich nur scheinbar die Richtungen links und rechts zu unterscheiden, in die ich von der energischen Stimme meines Schwesterleins getrieben wurde, tatsächlich aber war ich voll und ganz auf die Körperführung angewiesen.
Wieder einmal hatte mich Ursel soweit, dass sie mir die Augen verbinden durfte. Sie dirigierte mich nach links, nach rechts, geradeaus, wieder links, wieder gerade, wieder rechts, ließ mich mit den Händen auf dem Boden etwas fühlen, behauptete aber, dass das nicht das sei, was sie gemeint hätte, so dass das grausame Spiel noch weiter ging.
Wieder musste ich mich sehr weit nach vorne bücken, als Mutti aus dem Inneren der Wohnung rief, Ursel möchte doch mal ganz schnell hereinkommen und ihr helfen.
Ursel ließ sofort den Schal los, der meine Augen verdunkelte und gleichzeitig auch als Leitriemen galt, an dem sie mich hinführen konnte, wohin sie immer wollte. In Ermangelung eines anderen Haltes oder eines Griffes, der mich im Gleichgewicht halten konnte, legte ich mich voll und ganz mit meinem ganzen Körpergewicht in diese einzige Führungshilfe hinein, mich darauf verlassend, dass meine Schwester mich am Fallen hindern würde. Selbstverständlich ahnte ich nicht, dass ich mich gerade in dem Augenblick, als Mutti rief, in die Richtung der Treppe nach vorne beugte und mich genau mit dem Kopf über der obersten Stufe befand.
Deshalb verlor ich nun vollends die Balance und stürzte, kollerte mit großem Gepolter die acht Holztreppenstufen hinunter bis zum nächsten Podest, der die gesamte Treppe weiter wie in einer Kehre nach unten führte. Das Gepolter allein lockte Mutti nach draußen.
Ihr Schrecken war enorm, so dass sie fast die Nerven verlor und nur laut aufschreiend hinunterrannte, um nachzuschauen, wie es dem armen Kleinen ging, dabei das Schlimmste befürchtend.
Ich selbst erwachte in diesem Augenblick von meiner durch den Schock des Falles hervorgerufenen kurzfristigen Lähmung und schrie aus Leibeskräften los. Unerträglich war für mich das Gefühl, nichts sehend dort zu liegen, hilflos zu sein und nicht einmal richtig zu wissen, wo ich mich eigentlich befand. Schmerzen durch den Sturz verspürte ich zuerst überhaupt nicht, war auch weder am Kopf noch an sonstigen Gliedern sichtbar irgendwie verletzt.
Nur die absolute Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit ließen mich in diesem Moment wie in einem Schockzustand in eine Panik fallen, von der ich leider nicht sofort befreit wurde, weil Mutti mich zuerst auf den Arm nahm und untersuchte, dann herzte, ehe sie mir den verhassten Schal von den Augen abnahm. Gott sei Dank hatte der sich durch die Untersuchung ein wenig gelöst und ließ nach kurzer Zeit wenigstens einen kleinen Blick zu auf meine nähere Umgebung, wodurch ich mich ganz allmählich wieder beruhigte, so dass mein lautes Gebrüll in ein herzzerreißendes Schluchzen überging.
Genau zu dem Zeitpunkt merkte Mutti, dass der Verursacher dieses tragischen Unfalles noch immer fassungslos neben ihr stand, ebenfalls schon einmal angefangen hatte zu weinen und ständig versuchte, desgleichen den kleinen Bruder liebkosend zu trösten.
Augenblicklich erfasste ein heiliger Zorn die sonst so liebe und auf Zärtlichkeit bedachte Mutti und sie schimpfte ganz fürchterlich mit ihrer Tochter, die sich schutzsuchend in ihren Rock verkrallte. So sehr mir das Gefühl nach Genugtuung für die Schmach, die ich erlitten hatte, gefallen konnte, so sehr war mir allerdings auch lautes Schimpfen mehr als verhasst, so dass ich ob dieses Verhaltens meiner lieben Mutti und aus Mitleid mit der bösen Schwester wieder anfing in ungeheuerlicher Lautstärke durch Weinen meinen Unmut kundzutun.
Inzwischen waren durch das enorme Gebrüll der drei Personen auch die unter uns im Hause lebende ältere Nachbarin und deren Tochter in den Flur geeilt, um sich nach der Ursache des Lärmes zu erkundigen. Beherzt beugten sie sich über den weinenden Jungen, nahmen ihn der Mutter aus dem Arm, legten ihn auf das Bett, nachdem sie in die Wohnung gelangt waren.
Dort untersuchten sie mich dann genau, stellten beruhigend fest, dass ich offensichtlich weder etwas gebrochen hatte noch eine Gehirnerschütterung davon getragen haben mochte.
Mein infernalisches Geheul war inzwischen einem leisen Jammern gewichen, und allem Anschein nach war ich wirklich mit dem Schrecken davongekommen und ohne weitere Verletzungen geblieben.
Dermaßen beruhigt bedankte sich Mutti artig bei den Nachbarinnen von unten und verabschiedete sich von ihnen mit den Worten, dass sie jetzt die Kinder beruhigen wollte und morgen vielleicht mit dem Kleinen zum Arzt ginge. Sie mochte die Leute von unten nicht sonderlich; deshalb war ihre sonstige Liebenswürdigkeit ihnen gegenüber auch trotz des Dankes nicht zu spüren.
Sie hatte aber sehr wohl in der Nachbarschaft, gleich um die Ecke eine etwas ältere Dame gefunden, mit der sie sich besonders gut verstand. Die wollte sie dann lieber noch einmal um Rat fragen.
Überhaupt war diese Dame auch häufiger ihr Ziel, wenn es um einen gemütlichen Kaffeeklatsch oder um eine nette Unterhaltung ging. So verließ sie auch schon mal am frühen Abend mit Ursel zusammen die Wohnung zu einem kleinen gemütlichen Plausch, nachdem ich auf dem Töpfchen artig mein „Geschäft“ erledigt hatte oder auch nicht, wenn es nicht ging. Das kam aber nur vor, wenn sie auch ganz sicher war, dass ich friedlich eingeschlafen war.
Selbstverständlich blieb sie selten länger als eine Stunde, so dass sie ziemlich sicher sein konnte, dass ich wirklich wohlbehalten im Bett bleiben musste, und mir absolut nichts geschehen oder zustoßen konnte nach menschlichem Ermessen.
Sie wäre auch sehr schnell wieder daheim gewesen, wenn es Fliegeralarm gegeben hätte, da es zu dieser Nachbarin wirklich nur wenige Schritte weit war. Und weil solche Besuche sich niemals bis in spätere Abendstunden erstreckten, durfte Ursel auch ohne Probleme mitkommen, denn so ganz alleine wollte Mutti nicht gerne über die Straße gehen, andererseits mochte sie auch nicht ihrer Tochter das Kleinkind anvertrauen, wenn diese nur auf sich allein gestellt war.
Eine meiner ersten eigenen Erinnerungen ist die Erinnerung an einen Traum, jedenfalls wurde letztendlich bewiesen, dass es ein Traum gewesen war, wenn auch das Erlebnis so nachhaltig in meinem Gedächtnis haften blieb, dass ich damals wohl kaum unterscheiden konnte, ob es sich dabei um einen Traum oder um ein reales Erlebnis gehandelt haben mochte:
Zur frühen Abendstunde in meinem Kinderbett liegend, musste ich , also ich musste dringend zur Toilette, um „Groß“ zu machen, wie man damals, zumindest in unserer vornehmen Familie, sagte. Aber ich verließ das Bett nicht, konnte das auch noch gar nicht alleine, sondern verrichtete mein Geschäft unmittelbar im Bettchen.
Dabei achtete ich besonders streng darauf, dass jedes der ausgeschiedenen braunen Teile eine gleichbleibende Länge von etwa drei Zentimetern hatte. Davon produzierte ich nun so viele, dass ich alle kleinen runden Würstchen in gleichbleibenden Abständen von zwei Zentimetern rings um den Bettrand von innen legte, so dass ich wie von einer harmonischen Kette umgeben war, die geradezu malerisch und exakt ausgerichtet mich im Bettchen liegend einrahmte.
Diese so genau ausgerichtete Kette fand ich so besonders schön und anheimelnd, dass ich nach fertiggestellter Arbeit mich friedlich und froh inmitten dieses umrandeten Feldes niederließ, um wohlgefällig mein Werk zu betrachten und Freude zu empfinden.
Ob dieser Traum auf eine vielleicht noch sich entwickelnde Pedanterie hinwies oder auf mein absolut immer im Vordergrund stehendes Harmoniebedürfnis, ließ sich niemals genau feststellen, da beide Eigenschaften hin und wieder in besonderer, leicht abgewandelter Form hervortraten sowohl beim Spielen als auch bei bestimmten Aufräumarbeiten oder bei Gestaltungsaufgaben in meinem eigenen Bereich.
Pedanterie als übertriebene, engherzige Genauigkeit oder als übersteigerter Ordnungssinn, verbunden mit peinlicher Genauigkeit wären natürlich Eigenschaften, die man sich bei einem zukünftigen Lehrer seitens der Schüler überhaupt nicht wünschen möchte, aber auch seitens anderer Lehrer oder auch Eltern als außerordentlich negativ einstufen möchte, wenn sie in solch abzulehnender krassen , wie im Lexikon beschriebenen Form auftritt.
Wobei ich manchmal pedantisch eigentlich nur mir selbst gegenüber war. Aber möglicherweise war diese Pedanterie auch nur ein für mich selbst besonders ausgeprägtes Harmonieverständnis und Harmoniebedürfnis, das mich häufig dazu brachte, Streitigkeiten zu vermeiden oder auch zu schlichten, wenn ich das konnte.
Harmonie hat sicher immer etwas mit Ordnung und mit absoluter Geborgenheit zu tun, die keine chaotische Unordnung verträgt, weil diese störend ist und dem Harmoniebedürfnis widerspricht.
Meinen Traum hatte ich niemandem erzählt, und außer mir selbst konnte daher auch niemand solche Schlüsse ziehen, die auch nur im entferntesten auf eine mögliche Kleinigkeitskrämerei in meinem Charakter hinweisen konnte.
Meine Mutter jedenfalls hatte eine völlig andere Version dieses Abends in Erinnerung als das, was ich in meinem so sehr nach Harmonie strebendem Traumbild behalten hatte.:
Mutti war mit Ursel zu der Nachbarin um die Ecke gegangen, um dort ein wenig zu plaudern.
Natürlich hatte sie sich vor dem Weggehen davon überzeugt, dass ihr Bübchen fest schlief, frisch gewickelt war und auch sonst friedlich und sicher im Kinderbettchen verstaut war. Gewohnheitsgemäß konnte sie davon ausgehen, dass der Bub eine Schlafruhe von mindestens zwei Stunden einhielt, so dass es mit ihrer Rückkehr nicht allzu eilig erschien. Selbstverständlich war auch gesichert worden, dass Bübchen vorher noch auf dem Töpfchen sein großes Geschäft verrichten sollte, auch wenn das nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte. So musste Mutti annehmen, dass alles in Ordnung wäre. Offenbar hatte sich diese Annahme als gravierender Irrtum herausgestellt. Schon beim Betreten des Hauses bei ihrer Rückkehr stellte sich die unten wohnende Nachbarin in den Weg, um aufgeregt zu berichten, dass ich oben stundenlang fürchterlich gebrüllt hätte. Voller Unruhe hastete Mutti nun nach oben, öffnete ängstlich die Türe und bemerkte zuallererst einen penetranten scharfen Geruch nach Kot.
Ihr erster Blick galt natürlich dem kleinen Jungen, der offensichtlich in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit erwacht war und geschrien hatte. Zu ihrer Beruhigung stellte sie fest, dass Bübchen friedlich lächelnd in der Mitte seines Kinderbettes lag und fest schlief.
Doch das, was noch zu sehen bzw. riechen war, rief ein wahres Entsetzen hervor, besonders bei Schwester Ursel, die ebenfalls inzwischen das Zimmer erreicht hatte.
Nicht nur der kleine Bursche, seine Haare, seine Finger, seine Ohren seine Beine, sondern das ganze Bettchen, die Gitterstäbe des Bettes, die Umrandung des Bettes, das gesamte Oberbettchen, das Laken, das Rosshaarkopfkissen sondern auch Teile des Fußbodens rings um das Bett waren fein säuberlich stark deckend mit braunem, leicht angetrocknetem Kot beschmiert.
Mutti recherchierte, dass ich also schon bald nach ihrem Weggang wach geworden sein musste, da ich offenbar einen starken Drang verspürte, dem ich dann nachgegeben hatte. Natürlich hatte ich während der ganzen Zeit extrem laut geschrien. Als auf den lauten Hilferuf hin keine menschliche Seele dem Knaben half und diesem die feuchtwarme Masse an seinem Allerwertesten recht unangenehm war, griff dieser dann zur Selbsthilfe, löste den Windelpuck, befreite sich, wahrscheinlich immer noch weinend und schreiend von der klebrigen Masse, die er dann regelmäßig und konsequent tatsächlich ringsherum im ganzen Bett verteilte. Nach Abschluss dieser anstrengenden Aktion hielt es das Kind wohl für richtig, sich nach vollendeter Arbeit zur Ruhe zu legen und friedlich lächelnd einzuschlafen und sich so im Traume die Geborgenheit zu schaffen, die es während des Vorganges so stark vermisst hatte. Dadurch wurde mir vielleicht das frustrierende Erlebnis erspart, das Kleinkinder besonders schlimm empfinden, wenn sie im Dunkeln alleine erwachen und sich niemand um sie kümmert.
Die Reinigungsarbeiten am Kind, am Bett und ums Bett herum dauerten Stunden, während der Urheber des ach so schönen, schnöden Werkes weiter den Schlaf des Gerechten schlief.
Womit sollte der Reinigungsprozess beginnen? Sich dem Kinderbett zu nähern, um das Kind herauszunehmen, bedeutete, dass man in Kot treten musste. Also galt die erste Sorge dem Beschaffen eines Putzeimers mit den dazu passenden Utensilien.
Das holte Ursel schnell herbei, froh dem penetranten Gestank entronnen zu sein, wenn auch nur für ganz kurze Zeit. Nach dem Fußboden wurden zuerst notdürftig die Holzgitterstäbe des Kinderbettes gereinigt. Danach musste die schmutzige Brühe in den Toilettentopf entsorgt werden. Eine Windel wurde geopfert, um den Kleinen damit aus dem Bett zu heben und zu entkleiden.
Inzwischen hatte Ursel die kleine Zinkbadewanne mit warmem Wasser gefüllt, mit vereinten Kräften wuchteten die beiden dieses Teil auf den Stuhl, den Mutti neben das Kinderbett gestellt hatte, um dort den beschmierten Knaben zu baden. Nach dieser Prozedur, bei der ich zu Muttis Leidwesen kaum erwachte und deshalb viel schwerer wirkte als im munteren Zustand, durfte Ursel helfen, mich abzutrocknen, zu wickeln und neu mit einem Nachthemd zu bekleiden.
Danach musste sie mich zum Sofa tragen und bewachen, während Mutti die Reinigung des Bettes vollendete, was natürlich nicht ohne Wasser möglich war, so dass meine Matratze ebenfalls nass wurde. Deshalb konnte ich anschließend nicht wieder in das sichere Kinderbett gelegt werden.
Da Mutti nicht mit mir zusammen in ihrem Bett schlafen konnte, legte sie mich in einen Sessel, den sie so gegen die Wand schob, dass ich nicht herausfallen konnte. Von diesen Schwerstarbeiten bekam ich überhaupt nichts mit, weil ich gar nicht richtig erwachte, obwohl Mutti fürchterlich mit mir geschimpft hatte und auch sonst nicht gerade leise war bei ihren Reinigungsbemühungen. Sie war wohl sehr böse auf mich, dass ich ihr das angetan hatte, obwohl sie doch vorher dafür Sorge getragen hatte, dass ich wie immer mein Geschäft auf dem Töpfchen erledigen konnte und musste.
Was war nun Wahrheit, der schöne Kindertraum oder das böse Erwachen von Mutti und meiner Schwester Ursula? Ich jedenfalls wollte das nie genau wissen und erinnerte mich deshalb zeitlebens nur an den Traum und nicht an das Unangenehme dieser Angelegenheit.
Die Wohnung in Muffendorf hatte einen gewaltigen Nachteil. Sie lag viel zu hoch oben. Mutti scheute es, die vielen Stufen mit mir oder auch nur so zum Einkaufen hinunterzusteigen, weil das zu anstrengend für sie war. Ursel konnte zwar schnell und ohne allzu große Kraftanstrengung diese ganze Treppe hinauflaufen, wobei es runter noch viel schneller ging, weil sie meistens das Treppengeländer hinunterrutschte, sehr zu Muttis und vor allen der Nachbarinnen Leidwesen, die das aus welchen Gründen auch immer nicht billigen mochten.
Natürlich nahm Mutti es in Kauf, dass sie täglich einmal zum Einkauf die Stiegen bis zur Haustür hinunter benutzen musste, obwohl der Einkauf selbst immer knapper ausfiel, weil das Warenangebot in den Läden immer spärlicher wurde.
Andererseits aber liebte Mutti Spaziergänge, auf die sie nicht verzichten mochte und es gab bei den benachbarten Landwirten doch das eine oder andere zu kaufen, zu tauschen oder auch zu schnorren, wenn diese nachbarlichen Bauern Mitleid hatten mit mir, dem kleinen blassen Buben mit den großen blauen Kinderaugen.
Oft wartete Mutti, bis Ursel aus der Schule kam, um dann alleine hoch zu laufen, während Ursel gleich unten blieb, um mit mir zu spielen oder mich auch nur zu beaufsichtigen, bis Mutti oben das Essen fertig hatte und uns durch das Fenster hineinrief.
Immer häufiger kam es allerdings zu Fliegeralarmen, die ganz besonders in den Abend- und Nachtstunden zunahmen. Dann mochte Mutti überhaupt nicht die vielen Treppen hinunter laufen. Sie nahm mich regelmäßig auf den Arm, bedeutete mir durch Fingerzeig auf ihren und auch auf meinem Mund, dass ich absolut ruhig bleiben sollte, flüsterte auch Ursel eindringlich zu, nur ja keinen Mucks von sich zu geben.
Fast regelmäßig riefen dann die Nachbarinnen von unten unsere Namen, manchmal war auch eine Männerstimme zu hören, wohl die des Blockwartes. Aber wir rührten uns nicht. Mutti hatte einfach mehr Angst, die Treppe hinunter zu gehen als davor, dass es eventuell in unser Haus einschlagen könnte. So saßen wir im dunklen Flur auf der Treppe, hörten in der Ferne oder auch näher die Einschläge von Bomben, oft auch starke Motorgeräusche von Flugzeugen.
Immer waren wir froh, dass wir nicht in den Bunker geeilt waren, natürlich auch sehr erleichtert, wenn die Sirenen Entwarnung verkündeten und der ganze Spuk vorüber war.
Trotz meines geringen Alters hatte ich sehr wohl schon begriffen, dass es darum ging, nicht in den engen, menschenüberfüllten Bunker zu müssen, den ich mehr hasste als alles andere, was mich in jener Zeit bedrücken konnte. Deshalb war ich auch immer sehr artig und still, wenn andere daran zweifelten, dass wir das Haus verlassen hätten beim Fliegeralarm. Auch nach der Entwarnung nahm die hochnotpeinliche Vernehmung kein Ende, wenn die neugierigen Nachbarinnen wissen wollten, wo wir denn während des Angriffs gewesen wären, da uns auch keine Menschenseele habe zurückkommen sehen.
Mutti war nie um eine Lüge verlegen, Notlügen nannte sie das. Entweder waren wir zufällig gerade unterwegs gewesen und dort in den nächstliegenden Bunker geflüchtet, oder wir waren wieder einmal zu Besuch bei der Großmutter und mit dieser in den hauseigenen Luftschutzkeller gegangen. Trotz aller Zweifel mussten die Nachbarn diese Aussagen glauben, da sie auch von Ursel und mir bestätigt oder nicht in Frage gestellt wurden.
Tatsächlich richteten die ständigen Bombenangriffe, tagsüber auf militärische Ziel und nachts auf alle möglichen Städte und Stadtzentren erheblichen Schaden an, viele tausend Menschen fielen diesen Bombenteppichen zum Opfer. Wie nah wir oft waren, mag man daran sehen, dass in der Nacht vom 11. zum 12. Juni 1943 2000 Bomben auf Düsseldorf geworfen wurden, wobei die ganze Stadt in Flammen stand und 120.000 Menschen obdachlos wurden.
Die Alliierten bombardierten in den folgenden Nächten Bochum, Oberhausen, Krefeld, Mülheim an der Ruhr und Wuppertal-Elbehrfeld, Städte die komplett in Schutt und Asche gelegt wurden. Schwere Angriffe folgten auf Gelsenkirchen und Köln, das zum wiederholten Male heftig angegriffen wurde.
So rissen in der Nacht vom 28. zum 29. Juni Bombeneinschläge einen Teil des Kölner Doms weg. Es kamen nicht nur mehr als 500.000 Menschen durch die Flächenbombardierung um, sondern es wurden auch unschätzbare Kulturdenkmäler zerstört.
Trotz aller Durchhalteparolen der NS-Führung verloren die Menschen mehr und mehr das Vertrauen zu ihrem Führer, immer häufiger kam es zu offenen Revolten.
Zahlreiche Evakuierungen sollten dafür sorgen, dass Mütter und Kinder in Sicherheit gebracht wurden, obwohl es kaum noch größere Städte gab, in denen man wirklich sicher sein konnte.
Wir wurden nach Braunschweig evakuiert. Mutti hatte sich dafür etwas ganz Besonderes ausgedacht, weil sie gerne ein paar Möbel und Gebrauchsgegenstände mitnehmen wollte, die mit der Bahn sehr schlecht zu transportieren waren.
Sie hatte ein Fuhrunternehmen ausfindig gemacht, das zur Zeit unserer Evakuierung, Ende Oktober 1943, einen Transport in Richtung Braunschweig durchführen musste. So konnte Mutti ihre Habseligkeiten auf die offene Ladefläche eines Salztransporters deponieren.
Auch wir selbst mussten auf der Ladefläche mitfahren. Das Abenteuer begann spät abends in der Dunkelheit. Mutti hatte in der Mitte des mit den schweren Salzsäcken beladenen Lastwagens zwischen den Säcken eine Lücke entdeckt, die groß genug war, jeweils eine kleine Person aufzunehmen, so dass wir dort im Kreis auf den Salzsäcken sitzen und die Beine in dieses Loch stecken konnten.
Der Wagen fuhr nicht besonders schnell, da er trotz der Dunkelheit nicht, oder meistens nicht mit Licht fahren durfte, um nicht als Ziel für feindliche Schützen oder Flieger sichtbar zu sein. Trotzdem war der nächtliche Fahrtwind so kalt, dass wir schon sehr bald schnatterten und zitterten vor Kälte.
Da mir das Sitzen oben auf den Säcken sowieso ausgesprochen schwer fiel, hatte ich schon sehr bald entdeckt, dass in dem Loch, in das ich hineinrutschte, eine sehr angenehme Wärme herrschte ohne den entsetzlichen, eisig kalten Fahrtwind.
Natürlich blieb meine Entdeckung kein Geheimnis, und auch Ursel wollte hin und wieder in den Genuss einer etwas behaglicheren Fahrt kommen, die das Loch mit seiner Wärme tatsächlich bot. Das führte einerseits zu einem Streit, weil tatsächlich nur wirklich eine einzige kleine Person diesen geschützten Raum nutzen konnte, nicht einmal Mutti, die dafür zu groß war, andererseits flossen wegen der abscheulichen Kälte und dem elementaren Bedürfnis, uns in diesem Loch aufwärmen zu können auch reichlich viele Tränen.
Denn immer, wenn Mutti dafür sorgte, dass auch Ursel sich aufwärmen durfte, flossen meine Tränen nicht nur, weil ich den schönen Platz für mich allein beanspruchte, sondern vor allem, weil die Kälte tatsächlich schmerzhaft in die Haut biss. Auch Ursel weinte, wenn sie ihrerseits nach einigen Minuten ihrem Brüderchen Platz machen musste.
Nur Mutti harrte tapfer aus und lehrte uns auf diese unfreiwillige Weise, uns sozial und mitfühlend zu verhalten. Auch wenn diese Lehre nicht sofort ihre Früchte zeigte und jeder von uns immer wieder eifersüchtig darauf achtete, dass die Zeit in der Wärme nicht für den anderen etwa ein wenig zu lang ausfiel.
Trotz aller Kälte und aller Strapazen, die diese Fahrt zu einem Horrorerlebnis werden ließ, schlief ich nach einigen Stunden ein. Ich erwachte erst wieder durch ein gleißendes Licht, das durch meine geschlossenen Augenlider drang. Unsanft wurde ich daran erinnert, dass ich nicht daheim in meinem Bettchen schlief sondern auf einer harten Bank, den Kopf in Muttis Schoß gebettet.
Daneben hockte meine Schwester, die ebenfalls ihren Kopf von der anderen Seite auf Muttis rechter Schoßhälfte gebettet hatte. Davon, dass wir am Ziel des Lastwagens angekommen waren, dort in einem Schuppen Muttis geringe Habe abgeladen hatten und danach bis zum nächsten Bahnhof gelaufen waren, hatte ich nichts mitbekommen, weil ich trotz aller Schaukelei und wechselnder Arme, in die ich gelegt wurde, nicht ein einziges Mal aufgewacht war, selbst dann nicht, wenn ich kurz mal abgelegt wurde auf einem Salzsack oder auch einfach auf den Boden, wenn gar nichts anderes frei war.
Nur dieses helle Licht hatte meinem Tiefschlaf ein Ende gesetzt. Helles Licht war auch wirklich in jenen Tagen recht ungewöhnlich, in denen es immer wieder darauf ankam, möglichst alles nach draußen zu verdunkeln und auch möglichst selten überhaupt Licht einzuschalten wegen der Gefahr, vom Feind gesehen zu werden oder weil gerade mal ein Erlass des Führers dafür Sorge trug, dass Energien nicht unnötig verschwendet wurden.
Aber Braunschweig war zu diesem Zeitpunkt noch relativ frei, der Feind offenbar noch weit fort, so dass man zumindest auf diesem Bahnhof einmal nicht mit dem Licht sparen musste. Außer dem Licht störte mich auch der Lärm auf dem Bahnsteig und die ständigen lauten, unangenehm klingenden Durchsagen, die bekannt gaben, welcher Zug auf welchem Bahnsteig zu erwarten wäre, welcher Zug ausgefallen war, und welche Soldaten sich wo bei ihrer Einheit zu melden hätten. Schlaftrunken, wie ich war, aber auch wegen meines Alters verstand ich sehr wenig von den lauten Aufrufen.
Nach stundenlanger Warterei erkämpfte Mutti sich mit uns beiden einen Platz in einem Zugabteil, dabei heftig mit einem Soldaten streitend, der den Sitzplatz beanspruchte, den Mutti eingenommen hatte, damit Ursel auf ihrem Schoß sitzen konnte und ich in ihren Armen liegen und weiter schlafen.
Irgendjemand hatte dann Mitleid mit dem offenbar verwundeten Soldaten, der der Meinung gewesen war, dass Mütter mit kleinen Kindern in diesen Zeiten eigentlich nichts in einem öffentlichen Zug zu suchen hätten, sondern brav und fromm in ihre Wohnungen gehörten, um dort auf ihre Kinder aufzupassen und auf die Feldpost zu warten.
So gelangten wir dann zu der uns zugewiesenen Wohnung, die im ersten Stock eines Zweifamilienhauses lag. Auch dort vermisste ich als erstes unser schönes Büffet, konnte mich aber sonst recht gut zurechtfinden, war auch schon selbständig genug, um alleine hinauszugehen und auf dem Gehweg vor dem Haus zu spielen, wie fast immer allein. So war ich es gewöhnt und entbehrte auch deshalb nichts.
Auch in Braunschweig hatte Mutti sehr schnell Freunde gefunden, mit denen ein ähnlicher Kaffee-Klatsch-Kult betrieben wurde, wie sie es von Essen her gewohnt war und in Muffendorf pflegen konnte. Die von ihr auserkorene Familie hieß am Berge, die Frau lebte allein etwa zweihundert Meter entfernt von unserer Wohnung in einer Seitenstraße ebenfalls im ersten Stock in einer möbliert abgegebenen Wohnung.
Frau am Berge war etwas älter als Mutti und hatte schon weiße Haare. Sie war außerordentlich freundlich, besonders zu mir, da sie selbst im Laufe des Krieges kinderlos geworden war, ihr einziger Sohn war leider gestorben nach einem tragischen Unfall beim Spielen in der Hitlerjugend. Er wäre aber auch zu dem Zeitpunkt schon achtzehn Jahre alt gewesen und möglicherweise Soldat geworden und vielleicht auch in dieser Tätigkeit bereits an irgendeiner der vielen Fronten gefallen.
Jedenfalls mochte Frau am Berge uns Kinder besonders und steckte uns häufig Süßigkeiten zu, wann immer wir sie zusammen mit Mutti besuchten. Da ich deshalb sehr gerne dorthin ging, hatte ich mir natürlich genau den Weg zu ihrer Wohnung gemerkt.
Dank meines unruhigen Schlafes kam es sehr häufig dazu, dass ich des Abends und in der Nacht immer wieder einmal aufwachte. Bei solcher Gelegenheit stellte ich trotz der herrschenden Dunkelheit eines Abends sehr schnell fest, dass meine unentbehrliche Mutti nicht zu Hause war. Ebenso bemerkte ich, dass Ursel fest schlief.
Also beschloss ich ausnahmsweise, mich nicht lautstark bemerkbar zu machen, zum Beispiel durch ein paar Tränen oder durch lautes Rufen, sondern meine Mutter suchen zu gehen. Denn sie hatte sich vorher, vor der angesagten Nachtruhe für uns Kinder, nach dem Abendbrot noch abgemeldet, so dass Ursel sie ohne Problem bei Frau am Berge finden würde, wenn etwas los wäre.
Denn genau dort wollte Mutti den Abend verbringen, es sollte Frau am Berges Geburtstag gefeiert werden.
Inzwischen war ich auch groß genug, um allein aus dem Kinderbett zu krabbeln. So schnell ich konnte, verließ ich also mein Gitterbettchen, bewegte mich ausgesprochen leise, um Ursel nicht zu wecken. Denn ich hatte beschlossen, Mutti allein bei Frau am Berge aufzusuchen.
Trotz des relativ warmen Herbstwetters war es abends leicht frostig geworden, so dass ich es für besser hielt, über mein Nachthemd einen Mantel anzuziehen.
Das Nachthemd bestand aus dem Nessel eines alten Betttuches, welches an einigen Stellen zerschlissen war und von einer freundlichen Nachbarin in Muffendorf, die eine Nähmaschine besaß, zu einem Nachthemd zugeschnitten und genäht worden war. Es reichte mir bis zu den Fußknöcheln, während der Mantel, ebenfalls extra für mich genäht aus grauem Uniformstoff einer nicht mehr gebrauchsfähigen Uniformjacke, nur gerade über den Po ging bis nicht ganz zu den Knien.
Derart abenteuerlich bekleidet, mit einer von meiner Schwester abgelegten, kaputten Puppe im Arm, marschierte ich tapfer, barfuß die Treppe hinunter, ließ geflissentlich die Haustür einen Spalt offen, um später wieder hineinzukommen, tänzelte über die kalten rauen Steine des Bürgersteigs hundertfünfzig Meter bis zur Straßenecke, bog dort nach rechts ab, um weitere fünfzig Meter zu laufen bis zur Wohnung von Frau am Berge, an deren Haustür ich zaghaft klopfte, allerdings zunächst ohne Erfolg.
Unbemerkt war mir ein Polizist gefolgt, der nun nach meinem Begehr fragte.
Unbefangen erklärte ich ihm, dass ich zu meiner Mutti wollte, die oben bei Frau am Berge säße und mit dieser Geburtstag feiere, und dass ich an dieser Feier teilnehmen wollte.
Der Polizist schellte und begleitete mich noch hinauf bis in die Wohnung, wo er mich lachend abgab und erzählte, wie ich wie ein kleiner Pausbackenengel über die Straße gelaufen wäre, und dabei nicht nur seine Heiterkeit erregt hätte, sondern auch einige Beobachter an den Fenstern der Häuser, an denen ich vorübergekommen war.
Er gratulierte auch herzlich zum Geburtstag, was Frau am Berge sehr in Erstaunen versetzte, denn sie hatte nicht erwartet, dass ich auch dieses dem Polizeibeamten erzählt hätte oder überhaupt wusste. Auch Mutti und Frau am Berge lachten herzhaft, als sie sich bildlich vorstellten, wie ich in meinem abenteuerlichen Gewand, wie ein kleiner Engel ohne Flügel allein über die dunkle Straße irrte.
Glücklich über meine selbständige, gelungene Aktion, saß ich stolz auf Muttis Schoß und genoss es, Mittelpunkt zu sein, und von Frau am Berge noch etwas Süßes zu bekommen.
Lange noch hatten Mutti und Frau am Berge darüber gelacht, wenn sie sich vorstellten, wie ich in der eigentümlichen Nachtbekleidung über die Straße geeilt war.
Noch mehr als dieses einmalige Erlebnis in Braunschweig genoss ich eigentlich, wenn Mutti sich mit mir ausgiebig beschäftigte, mir zum Beispiel abends vor dem Schlafen aus Grimms Märchenbuch vorlas oder mir eines der wenigen Schlafliedchen vorsang, die sie kannte. Eines meiner Lieblingsmärchen war das Märchen von den sieben Geißlein, das ich gar nicht oft genug hören konnte. Dabei achtete ich streng darauf, dass Mutti sich nicht versprach oder etwas vergaß, denn natürlich kannte ich das Märchen auswendig.
Gerne hörte ich auch das Märchen von Hänsel und Gretel, konnte aber überhaupt nicht verstehen, dass es so böse Eltern geben könnte, die ihre Kinder einfach aussetzen wollten, denn auch bei uns herrschte Not, und ich bekam, ebenso wie meine Schwester, nicht jeden Tag satt zu essen. Lange diskutierte ich dann mit meiner Mutter darüber, warum denn der Vater seiner neuen Frau, der Stiefmutter von Hänsel und Gretel, nicht widersprochen hätte.
Das interessierte mich bei weitem mehr, als die unglaubliche Geschichte von der Hexe, an die ich schon damals nicht recht glauben mochte, da ich das Vorhandensein von Hexen für schlecht unmöglich hielt. Andererseits glaubte ich wieder sehr gerne, dass die Tiere den Kindern halfen, den Weg nach Hause wiederzufinden. Mein sowieso sehr wenig ausgeprägtes Sohnesempfinden für meinen Vater wurde durch dieses Märchen nicht gerade gestärkt, da ich in der mangelhaften Kenntnis meines eigenen Vaters nur zu gerne annahm, dass Väter grundsätzlich nicht die gleiche Liebe für ihre Kinder empfinden konnten wie die leibliche Mutter.
Für ebenfalls recht unglaubwürdig hielt ich es, dass eine Stiefmutter dem Schneewittchen nach dem Leben trachtete, nur weil diese schöner war, als sie selbst. Für sehr gut möglich hielt ich es wiederum, dass es Zwerge gäbe und Prinzen, die das Schneewittchen erlösten, wenn auch da wieder das Ende der bösen Hexenstiefmutter mir doch allzu grausam und unwirklich vorkam.
So gab es für mich reichlich Diskussions- und Gesprächsstoff mit Mutti, da ich alle Märchen, die ich hörte, sehr genau analysierte und nicht nur als bloße Unterhaltungsquelle hinnahm. Leider bekam ich nur allzu oft von meiner Mutti die Antwort, dass ich noch viel zu klein sei, um das genau zu verstehen, was sie mir nicht erklären konnte oder wollte.
Der Sieg des Guten über das Böse wurde mir zu einem inneren Ritual, das einfach immer und überall Gültigkeit haben musste, wenn meine kleine Welt Bestand haben sollte. Alles Böse war mir Gräuel.
Natürlich gab es manchmal Zweifel, was denn als böse einzustufen sei, was eher noch gerade erlaubt sein könnte und was letztendlich wirklich böse war.
Wenn, was selten vorkam, Mutti mir einen Klaps gab, weil ich zum Beispiel etwas nicht essen wollte, was sie mir anbot oder wenn ich geschlabbert hatte statt aufzupassen, erhob auch ich meine Hand, um den Klaps zurückzugeben, weil ich eine solche körperliche Züchtigung grundsätzlich als ungerecht empfand.
Regelmäßig drohte Mutti dann damit, dass mein Händchen aus dem Grab wachsen würde, wenn ich es gegen die eigene Mutter erhöbe. Darüber dachte ich stundenlang nach und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass auch das, was Mutti da behauptete, nicht unbedingt wahr sein müsse. Natürlich hatte ich weder eine Vorstellung davon, dass und warum ich möglicherweise in einem Grab liegen könnte. Wohl war mir irgendwie vertraut, dass Menschen und Tiere nicht ewig leben konnten, dass sie auch auf einem Friedhof begraben wurden.
Selbstverständlich hatte ich auch schon mal mit Mutti einen Friedhof besucht, aber dass dort irgendwo Hände herauswuchsen, hatte ich beim besten Willen nicht entdecken können. Deshalb überraschte ich Mutti plötzlich mit dem dringend geäußerten Wunsch, mit ihr auf einen Friedhof zu gehen.
Obwohl ihr dieser Wunsch äußerst befremdlich vorkam und sie auch erklärte, dass wir auf dem Braunschweiger Friedhof niemanden besuchen könnten, den wir gekannt hätten, erfüllte sie mir schließlich meinen Willen, weil ich nicht locker ließ in meinem Bemühen, mit ihr auf einem Friedhof spazieren gehen zu wollen.
Sehr genau betrachtete ich jedes Grab, ließ mir erklären, was einzelne Grabmäler und Inschriften zu bedeuten hätten, fragte nach Blumen und anderem Grabschmuck, ohne jedoch auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen zu kommen, nämlich Hände zu sehen, die aus dem Grab herauswuchsen.
Mutti freute sich außerordentlich über ihren so vielseitig interessierten Jungen, der mit seinen noch nicht einmal drei Jahren recht intelligente Fragen stellte.
Ich war nun vollkommen sicher, dass Mutti wieder einmal eine ihrer bekannten und berühmten Notlügen gebraucht hatte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass bei den vielen Gräbern, die wir besichtigt hatten, nicht ein einziger Begrabener dabei war, der nicht mal seine Mutti zurückgeschlagen hatte.
Aber darüber sprach ich nicht mit Mutti, denn ich wollte nicht, dass sie merkte, dass ich ihre Notlüge durchschaut hatte.
Vormittags machte Mutti häufig mit mir Spaziergänge in die nähere Umgebung. Am liebsten wanderten wir zu einem nahegelegenen Park und dort zu einem Ententeich, wo wir manchmal etwas altes Brot ins Wasser warfen und uns darüber freuten, wie die Enten danach schnappten.
Mittags fast pünktlich um zwölf Uhr kochte Mutti irgend etwas, was wir beide immer ganz pünktlich aßen, wenn Ursel nicht spätestens um ein Uhr aus der Schule kam. Mit Ursel zusammen aßen wir immer um ein Uhr. Kam sie später waren wir meistens schon um halb eins mit dem Essen fertig und Mutti legte mich in mein Kinderbett und sich selbst auf das Sofa, wo sie mindestens eine Stunde lang schlief.
Wenn Ursel dann während des Mittagsschlafes von der Schule kam, musste sie sich das noch warme Essen unter der Bettdecke ihres Bettes hervorholen und alleine essen.
Entgegen sonstiger Gepflogenheiten wurde Weihnachten 1943 nicht so feierlich begangen, vor allen Dingen fehlte Vati und es kam auch niemand zu Besuch. Das lag wohl hauptsächlich daran, dass die Wohnung dafür viel zu klein war, aber wohl auch daran, dass in allen Großstädten Deutschlands mehr Bomben fielen als der Führer und sein Volk es sich jemals hatten träumen lassen. Deshalb hatte die Regierung wohl auch jeglichen zivilen Weihnachtsreiseverkehr verboten. Ob noch weitere Gründe für dieses Verbot vorlagen, wurde nicht bekannt gegeben, war denn auch für uns unbedeutend, da wir nicht vorhatten, über die Feiertage irgendwohin zu verreisen oder jemanden zu besuchen.
Für uns war es in Braunschweig recht angenehm, weil dort tatsächlich viel seltener Flieger- oder Bombenalarm zu hören war, so dass ich mich ein wenig erholte, weil ich nun häufiger durchschlafen konnte, obwohl ich eigentlich nie richtig gemerkt hatte, dass ich überhaupt erholungsbedürftig war.
Auch Mutti und Ursel genossen die Ruhe, die hier herrschte, wobei ich davon weniger mitbekam, weil ich reichlich damit beschäftig war, an Muttis Rockzipfel zu hängen und ständig Muttis Schoß zu belagern, wann immer das möglich war.
Mutti war auch selten abgeneigt mich mit Liebkosungen zu verwöhnen, so dass ich die Existenz meiner Schwester nur dadurch überhaupt wahrnahm, weil auch diese ihrem kleinen, süßen Brüderchen ständig mit Umarmungen und Küssen ihre Zuneigung demonstrieren wollte. Das war keineswegs mir in jedem Fall angenehm, weil ich ihre stürmischen Liebesbeweise oft als störend und zu heftig empfand.
Bei all dieser familiären Harmonie fiel es schwer, auch für Mutti, Nachrichten mitzubekommen, dass am dritten November 1943 auf Anordnung Himmlers siebzehntausend jüdische Frauen und Männer bestialisch ermordet wurden. Obwohl näher dran, spürten wir in dem Braunschweiger Vorort auch nicht, dass britische Bomben schwerste Zerstörungen in Berlin verursachten.
Ganz sicher aber wusste in unserer Familie niemand, dass am 28, November 1943 in der Konferenz von Teheran ganz Europa aufgeteilt wurde in einer Form nach Beendigung des Weltkrieges. Am 29. November wurde Tito für lange Zeit Regierungs-Chef in Jugoslawien.
Allerdings mussten alle Bürger des deutschen Reiches mitbekommen, dass die deutsche Fußballmannschaft am vierten Dezember in Tokio eine japanische Mannschaft mit 3 : 0 besiegte, was immerhin eine gewisse Normalität demonstrieren sollte.
Genau am 24. Dezember , am heiligen Abend, erhielt Eisenhower den Oberbefehl für die Invasion in Frankreich, die im Jahre 1944 die endgültige Niederlage des Nazi-Regimes einleitete.
Am 30. Dezember 1943 brach die Rote Armee in der Ukraine durch, am 28. Januar war Leningrad nach neunhundert Tagen Belagerung und blutigster Kämpfe frei.
Am gleichen Tag wurde mit dem Film „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle nachhaltig zur Schau gestellt, dass außer Krieg auch normale, lustige Dinge in Deutschland produziert werden konnten.
Wenn Reichsminister Martin Bormann angesichts des starken Geburtenrückgangs offiziell die Bigamie für die Zeugung außerehelicher Kinder forderte, konnte es schon vorkommen, dass sich auch Mutti ganz energisch entrüstete, auch wenn sie sonst grundsätzlich weder Kommentare zur Politik abgab geschweige denn, sich in irgendeiner Form politisch betätigte oder äußerte.
Das wichtigste Ereignis an meinem dritten Geburtstag, am Mittwoch, dem zweiten Februar 1944, war zweifelsohne mein Versprechen, das ich Mutti, hochheilig beschworen, geben musste. Ich versprach, mit dem festen Willen, dieses Versprechen zu halten, ganz feierlich, dass ich von diesem Tage an nie mehr Windeln benötige und auch nicht mehr in mein Bettchen machen würde. Dagegen verblasste natürlich in unserer Familie ein weiterer Beweis deutscher Kultur in Krisenzeiten, die Erstaufführung in szenischer Form, die die bayrische Staatsoper auf die Bühne brachte, nämlich Carl Orffs „Carmina Burana“
Da ich ein gegebenes Versprechen grundsätzlich hielt und niemals brechen wollte, blieb ich tatsächlich nachts trocken. Nur ganz selten hatte ich geträumt, irgendwo auf einer Toilette zu sitzen oder zu stehen, dann war mein Bettchen leider wieder mal nass geworden, was ich Mutti dann am nächsten Morgen unter heftigen Tränen beichtete. Das brachte mir zwar keine Schelte schon gar keine Strafe ein, aber ich selbst war so fürchterlich unglücklich darüber, dass ich ein Versprechen nicht eingehalten hatte, wenn ich auch eigentlich nichts dazu konnte.
Fast grotesk mochte es anmuten, dass ab dem 20. Februar 1944 Blinker an Autos oder anderen Motorfahrzeugen im Straßenverkehr keine Pflicht mehr waren, weil die deutsche Industrie kriegsbedingt solche Teile nicht mehr herstellen konnte.
Unter dem Begriff „Big Week“ begann am 20. Februar 1944 eine Bomberoffensive der alliierten Luftwaffe, die außer gegen Hamburg, Leipzig und Posen auch gegen Braunschweig gerichtet war, so dass ebenfalls in unserem sicheren Evakuierungsquartier die Nächte nicht mehr so ruhig waren, wie bisher genossen.
So kam es, dass wir allmählich uns mit dem Gedanken vertraut machen mussten, die Stadt Braunschweig wieder zu verlassen, was nach den Osterzeugnissen, die Ursel noch abwarten musste, zum endgültigen Abschied von dieser Stadt führte.
Vati war nicht untätig geblieben während dieser Zeit und hatte bei seiner Mutter sich dafür eingesetzt, dass seine Familie doch vorübergehend bis zum Ende des Krieges bei ihr in ihrem Hause wohnen dürfe. Er hatte auch schon, kaum dass diese Genehmigung erteilt war, zwei Zimmer provisorisch eingerichtet, in die wir dann einziehen mochten.
Das großelterliche Haus in der Bismarckstraße 18 in Bad Godesberg gehörte zu den alten hochherrschaftlichen Großbauten mit besonders hohen Wänden und Decken und ebensolchen Fenstern.
Zum Haus gelangte man durch einen gepflegten Vorgarten, der mit einer niedrigen, leicht rissigen, grauen Mauer und darin eingelassenem schmiedeeisernen schwarz gestrichenen Zaun vom Gehweg abgeteilt war.
Die gediegene naturholzbelassene Eingangstür, erreichte man über eine hellgraue Granittreppe aus fünf Stufen, die zunächst auf einen etwa zwei mal zwei Meter großen Podest führten, dessen Boden ebenso mit hellgrauem Granit belegt war. Podest und Treppe waren überdacht und wetterfest eingerahmt.
Von dieser Treppe aus links hineinkommend wölbte sich hinter der Eingangstüre ein enorm großer, weiträumiger, sehr hoher Flur, dessen Boden mit roten Florentiner Fliesen bedeckt war. Eine riesige Holztreppe führte rechts neben der Eingangstüre in das erste Stockwerk, das uns Kindern zu betreten strengstens verboten war. Denn dort oben wohnte Frau Stephans, eine ältere Dame, die ständig Ruhe haben musste und eben deshalb auf gar keinen Fall von uns Kindern gestört werden durfte.
Unser Reich befand sich links von der Eingangstüre in dem Erkerzimmer, das zur Straße hinausschaute in den Vorgarten. Der Erker des Zimmers buchtete sich als Halbrund aus an der kürzeren der Tür gegenüberliegenden Seite und erhellte den ganzen Raum durch insgesamt vier sehr hohe Fenster, die oben mit einem Rundbogen abschlossen.
Zu meiner großen Freude thronte an der langen Wand links vom Eingang mein über alles geliebtes Büffet, das mir sofort wieder das heimatliche Gefühl der Verbundenheit vermittelte, das ich so lange während der Wohnzeiten in Behelfsquartieren vermisst hatte.
Vati hatte alle Möbel, die man zum täglichen Leben und zur Gemütlichkeit benötigte, in dieses eine Zimmer hineinstellen lassen , so dass links neben der Tür eine kleine Küche mit weiß emailliertem Herd mit einer hellen Stahlkochfläche, einem Küchenschrank aus Kiefernholz und ein Regal Raum bot für die Zubereitung von Speisen und gleichzeitig auch für die Heizung des Raumes, obwohl unter zweien der vier Fenster auch Zentralheizungskörper den Raum zu wärmen versprachen.
Vor dem Büffet lud das alte Plüschsofa zum Liegen oder Sitzen ein, ebenso der geliebte Ohrensessel und zwei weitere kleinere Plüschsessel, die sich wie alle Sitzmöbel um den großen Nussbaumtisch gruppierten.
Obwohl der Raum dadurch schon fast an gemütlicher Überfüllung litt, gab es aber noch Platz für die Einrichtung eines Kinderzimmers, bestehend aus dem kleinen Kinderstuhl-Tisch, der für Ursel zu klein geworden nun ausschließlich zu meiner Verfügung stand, und einem Stuhl mit einem weiteren kleinen Tisch, an dem Ursel ihre Schularbeiten erledigen konnte. Unter dem Kinderstuhl-Tisch durfte ich meine Spielsachen aufbewahren, die eigentlich fast nur aus zwei abgelegten Puppen meiner Schwester bestanden, aus fünf kleinen Puppenstuben, einigen kleinen Holzfiguren, die wohl früher einmal zu einer Weihnachtskrippe gehört hatten, sowie einer Hexe und den Märchenfiguren Hänsel und Gretel.
Die drei letzteren waren etwa fingerlang, die Hexe etwas größer als die beiden anderen aus hartem Material gefertigten Püppchen. Die Hexe stützte sich auf einen Stock und trug ein Kopftuch mit extrem kleinem blau-weißem Karomuster.
Ursels Spielzeug, Puppenwagen und einige Puppen lagerten im Nebenraum, in dem auch das Schlafzimmer untergebracht war. Es war noch mehr mit Möbeln vollgestopft, die nicht in den Keller konnten und auch keinen Platz mehr in unserem Wohnraum hatten.
Alle Räume waren etwa drei Meter hoch, so dass trotz der Enge im Winter ein enormer Heizbedarf notwendig wurde.
Die beiden uns zur Verfügung stehenden Zimmer lagen nebeneinander, hatten aber keine Verbindungstüre, so dass man nur über den Flur von einem ins andere Zimmer gelangen konnte.
Der Flur strahlte mit seinen fast zwei Meter hoch gefliesten grünen Wänden eine gewisse Würde aus, die man zum Beispiel sonst nur in einer Kathedrale empfindet, so dass wir in diesem Flur uns recht leise verhielten, auch wenn nicht wegen der alten Dame von oben sowieso ein Ruhegebot ausgesprochen worden wäre. Die grünen Fliesen an den Wänden rings herum glänzten immer, auch dann, wenn kaum Licht zu sehen war. Oben hatten diese Fliesen eine Verzierung wie eine Bordüre.
Auf der linken Seite unterbrach eine große, weiß lackierte Doppelschiebetüre die vornehme Kachelung. In den Schiebetüren sorgten zwei messingfarbene Metalleinlassungen dafür, dass man die Türen aufziehen oder auch zuziehen konnte, eine der beiden Mulden war mit einem Schloss versehen, für das nur Oma einen Schlüssel hatte, denn nur sie wollte die Kontrolle darüber behalten, wer den Doppelraum hinter dieser Tür zu betreten die Erlaubnis bekam.
Wenn wir Kinder wirklich einmal in diese „heiligen Hallen“ eindringen durften, dann ausschließlich zu dem Zweck, die Glastür rechts an der kurzen Wand zu durchqueren, um auf die steile Eisentreppe zu gelangen, die in den Garten führte. Das Zimmer beeindruckte mit einem sehr großen Doppelbett, einem riesigen Kleiderschrank, Waschkommode, zwei Nachtkonsolen aus besonders dunklem, glänzenden Nussbaumholz. Die Betten waren abgedeckt mit einer Brokatdecke, am oberen Ende mit einem weißen Spitzendeckchen verziert.
Eine Schiebetür verwehrte uns regelmäßig den Blick nach links in den zweiten Raum des Doppelzimmers.
Das eigentliche Leben von Oma und Tante Erna fand fast ausschließlich in der großen Küche statt, deren Fußboden mit einem schwarz-weißen Schachbrettmuster gekachelt war, die Wände weiß gefliest. Von den Wänden selbst blickte nur wenig in den Raum durch, da ringsherum Küchenschränke aus Kiefernholz den Raum beherrschten. Gleich rechts neben der Tür stand ein gusseiserner Herd, neben dem in einem Korbsessel fast immer Oma saß.
Auf der rechten Wand in der Ecke vor der Fensterseite gab es ein weißes viereckiges Porzellanwaschbecken. Die Mitte des Zimmers nahm ein Kiefernküchentisch ein, um den insgesamt sechs Kiefernstühle zum Sitzen einluden.
Obwohl mir gestattet war, Oma in dieser Küche ständig zu besuchen, machte ich von meinem Besuchsrecht sehr wenig Gebrauch, weil mir die kalte Atmosphäre dieses Zimmers nicht behagte.
Oma selbst war für einen kleinen Jungen auch nicht allzu unterhaltsam, sie wirkte schon immer ausgesprochen alt und gebrechlich. Sie hatte lange weiße Haare, die ihr bis zum Po reichten. Allerdings trug sie das Haar grundsätzlich geflochten zu einem Dutt gesteckt, so dass sie typisch so aussah wie die Omas in den bebilderten Kinder- oder Märchenbüchern. Sie war außerordentlich faltig und wackelte ständig mit dem Kopf hin und her, immer von links nach rechts, von links nach rechts.
Sooft ich Mutti fragte, warum denn Oma immer mit dem Kopf wackelte, erhielt ich zur Antwort, dass das eine Alterserscheinung wäre, für die Oma nichts könne.
Diese Antwort stellte meinen Wissensdurst nie zufrieden, weshalb ich immer wieder mal nachfragte, weil Mutti ja häufig ihre unvollkommenen Antworten damit begründete, dass ich noch zu klein wäre, um das genau zu verstehen. Vielleicht war ich gerade zum Zeitpunkt der erneuten Frage dann nicht mehr zu klein dazu.
Oma war auch nicht eine ausgesprochene Schmuse-Oma, zu der ich gerne ging, um wie bei Muti auf dem Schoß zu sitzen. Mutti sagte auch von ihr immer, sie wäre besonders herb.
Natürlich kam es vor, dass auch Oma mir etwas aus einem Märchenbuch vorlas, aber ich musste dann artig vor ihr auf einem Stuhl sitzen oder vor ihr auf dem Boden, wenn mir das lieber war. Beides fand ich recht ungemütlich, weil ich es doch gewohnt war, beim Vorlesen auf dem weichen Sofa zu sitzen, im Bettchen zu liegen oder im weichen Sessel.
Das Sitzen auf dem Fußboden war besonders unangenehm, weil dieser nicht nur ausgesprochen hart war, sondern auch entsetzlich kalt. Deshalb beschränkte ich Vorleseminuten bei Oma auch gerne auf ein Mindestmaß. Überhaupt war bei Oma eine ganze Menge verboten für kleine Kinder. So durfte ich niemals allein in ihren Garten, obwohl ich gerade den besonders schön fand.
Der Garten konnte erreicht werden über die eiserne Treppe durch den Raum, den wir nicht betreten durften oder durch eine schmiedeeiserne Tür, die rechts neben dem Eingangsbereich den Zugang zum Garen ständig dadurch verwehrte, weil sie immer abgeschlossen blieb. Nur Oma hatte auch dafür den Schlüssel in einem Geheimfach in ihrem großen geheimen Zimmer in Verwahrung.
Das Tor öffnete sich nur, wenn Oma oder Tante Erna die Rasenflächen hinter dem Haus gemäht hatten und das geschnittene Gras hinausbringen mussten oder gejätetes Unkraut oder abgeschnittene Äste von den Apfel- oder Birnbäumen, die im Garten für reiche Ernte sorgten.
Fein geschwungene mit weißen Kieselsteinen bedeckte Wege führten in Kurven rund um die sauber angelegten Beete. Zwei der großen Beetflächen enthielten Gras und wurden grundsätzlich als Bleichen bezeichnet. In ihren Mitten standen je zwei Birnbäume bzw. Apfelbäume. Links im Garten blühten im Frühling Erdbeerpflanzen, die im Sommer reichlich süße Früchte trugen.
Das Beet schloss sich unmittelbar an die linke Begrenzungsmauer an, die den Blick auf den Nachbargarten verwehrte. Vom Weg abgeteilt war dieses Beet mit hochkant gestellten Bruchsteinen, die verhinderten, dass eventuell Kieselsteine ins Beet geweht wurden oder Erdbeeren auf den Kies fielen.
Die beiden Bleichen waren oval und durften auf keinen Fall betreten werden, geschweige denn zum Spielen benutzt. Nur die Erwachsenen durften darauf und auch nur zum Ernten von Früchten, zum Mähen oder zum Auslegen der Wäsche.
Deshalb gab es vom Haus aus auch noch einen dritten Zugang in den Garten, nämlich von der Waschküche aus, deren Tür unmittelbar in den Garten hineinführte.
Wann jedoch große Wäsche gewaschen wurde, wurde in einem Plan genau festgelegt. Dann hatte natürlich auch Mutti freien Zugang zum Garten, und auch wir Kinder durften in ihrer Begleitung hinein. Aber wir mussten streng auf den Wegen bleiben, durften auch nichts abpflücken und fast nichts anfassen.
Die beiden Hauptwege rechts und links neben den Bleichen führten außen auf der rechten Seite an einem mit Johannis- und Stachelbeeren bepflanzten Beet vorbei zum Eingang bzw. Ausgang zum Vorgarten. Kurz vor dem Tor gab es einen üppigen Fliederbusch. Auch hinter diesem Beet versperrte eine Mauer den Blick zum Nachbargarten.
Zwischen den beiden Hauptwegen gab es noch einen geraden Verbindungsweg, der die Wiesen in zwei Bleichen aufteilte.
Beide Hauptwege aber endeten in einer kreisförmigen Kurve vor einem achteckigen Pavillon, in dem ringsherum auf Bänken für mindestens zwölf Personen Platz war. Dieser Pavillon sah mit seiner weiß gestrichenen Fassade und dem dunklen Dach anheimelnd und gemütlich aus, war aber auch für uns grundsätzlich tabu. Nur Mutti hätte ausnahmsweise dort feiern dürfen, wenn es denn in dieser Zeit großer Not etwas zu feiern gegeben hätte.
So durfte ich diesen besonders schönen Garten nur aus der Ferne lieben oder seine Wirkung genießen, wenn garantiert jemand zur Aufsicht dabei war, und somit sicher gestellt war, dass ich nicht absichtlich oder versehentlich irgend eine Pflanze berührte, die zu berühren mir absolut verboten war.
Mir war nie in den Sinn gekommen, über solche Verbote nachzudenken oder mich dagegen aufzulehnen, denn es genügte mir vollauf, dass ich von Mutti geliebt und akzeptiert wurde. Zwar hätte ich wirklich gerne häufiger in diesem Garten gespielt oder mich auch nur so ganz still dort aufgehalten, aber wenn es nicht erlaubt oder möglich war, legte ich keinerlei Ehrgeiz an den Tag, in diesem Fall meinen Willen zu bekommen.