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Aufbruch

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Fünf Mal in der Woche klingelt mein Wecker. Er klingelt früh. Jedes Mal erschrecke ich mich. Und gleichzeitig, wirklich gleichzeitig, verlässt ein Wort meinen Mund, ohne dass ich die geringste Chance hätte, es zu verhindern. Möglicherweise gibt es von allen existierenden Wörtern in meinem Kopf keins, das in exakterer Symmetrie meine Gefühlswelt dieses Augenblicks widerspiegeln kann. Es ist ein kleines, schwaches und versteckt hinter einem gequälten, kaum hörbaren Stöhnen hervor blutendes Wort, mit dem ich resigniert gegen meine Unfreiheit rebelliere und ein müdes Scheiße murmele, so schlampig artikuliert allerdings, dass es einem Zuhörenden schwer fallen würde, dieses Wort als das zu identifizieren, das ich nur auf diese ohnmächtige Art zuzulassen mir angewöhnt habe, sodass mir damit der Vorwurf einer Rebellion von keinem bewiesen werden kann. Keine Spur von Aggressivität ist im Klang dieses Wortes zu dieser Tageszeit und in dieser Situation zu finden. Mein System wäre zum Transport solcher Gefühle auch noch gar nicht in der Lage. Zu diesem Zeitpunkt bedeutet das Wort nichts weiter als die erschreckte und erschreckende Einsicht in die Tatsache, dass ich noch lebe, aber keinen eigenen Willen von erwähnenswerter Handlungskraft habe.

Dieser kurze Moment der Wahrheit ist mir nicht gerade ein willkommener Gast und auch nur deshalb zu ertragen, weil er so flüchtig ist. Er stellt lediglich eine unliebsame Begleiterscheinung dar in diesem Prozess, der das Ziel verfolgt, mich gewaltsam zurück zu treiben aus der Weite meiner Träume in den Käfig der Realität. Somit könnte ich die Wahrheit auch eine Schwachstelle im System nennen, die noch von der Evolution beseitigt werden muss, um die lästige Störung des alltäglichen Glücks durch sie in einer schöneren Zukunft dereinst zu vermeiden.

Ich vermute, dass dieser ärgerliche und unangenehme Moment durch eine blitzschnelle chemische Reaktion hervorgerufen wird, ausgelöst durch dieses Klingeln, das ja in Wirklichkeit gar kein Klingeln mehr ist. Nur das Wort blieb erhalten. Das, was man immer noch Klingeln nennt, hat sich irgendwann gewandelt in ein scharfes, körperlichen Schmerz erzeugendes Piepen, das ich nicht ausstehen kann.

Mit Musik habe ich natürlich auch schon versucht, die Chemie zu überlisten und die natürliche Reaktion in seichtem Wohlgefallen aufzulösen, so wie viele. Aber das konnte ich noch weniger aushalten. Ich empfinde es als einen Missbrauch von Musik, mich ihrer in dieser Absicht zu bedienen. Dass sie mich aus meinen Träumen reißen soll, ist doch eine Perversion. Eine derartige Anwendung sollte ganz allgemein zu einem Straftatbestand erklärt werden. Ich möchte, dass Musik mich zum Träumen bringt. Wenn ein stimmgewaltiger Feldwebel mich aus dem Bett schrie, könnte ich das viel leichter akzeptieren, weil dieser Ton besser zu dem passte, was dann folgt, als wenn die Muse mich küsste, und ich mich ihr nicht hingeben könnte. Musik morgens ist somit auch keine Lösung. Wir würden uns gegenseitig hassen. Ich habe praktisch keine Wahl.

Also es piept, ich erschrecke, dadurch wird ein Neutron aus meinem stabilen Zustand, genannt „Süßer Traum“, heraus geschossen und verbindet sich mit dem frei umher fliegenden Schrecken des Weckerpiepens zu einem neuen stabilen Zustand, genannt „Morgendepression.“

Ich höre nun, während ich es sage, dieses kleine, zweisilbige Wort, und sogleich überfällt mich ein abgrundtiefes Mitleid mit ihm, weil es mir so unschuldig und hilflos erscheint. Es kommt aus meinem Mund heraus wie ein aus der Seligkeit des Ungeborenseins von einer brutalen Plötzlichkeit heraus geworfenes Wesen, das sich duckt unter den unerbittlichen Schlägen dieser Domina und hofft, mit einer Geste der Unterwürfigkeit entkommen zu können. Eine erbärmliche Scheiße ist das.

Nun bleibt mir nichts anderes mehr übrig. Ich tue ich mir Zwang an. Immer tue ich das an dieser Stelle. Ich vergewaltige mich. Bei sich selbst ist das offenbar erlaubt, wahrscheinlich eher noch erwünscht. Gegen meinen Willen, diesen armseligen Alibi-Willen, dem, wie zur höhnischen Erhöhung seiner Qual, seine Machtlosigkeit auf diese Art schmerzlich vorgeführt wird, stehe ich auf. Ich habe verloren. Immer verliere ich. Jeder neue Tag beginnt mit einer Niederlage. Der Gegner, gegen den ich verliere, ist sichtbar und unsichtbar, wenn ich ihn packen will. Er spielt mit mir. Ich bin die Maus, und er ist die Katze. Ich kann ihn gar nicht packen.

Ich finde mich wieder stehend auf den Beinen. Es ist immer dasselbe. Ich fange an, meine Klamotten zu suchen. Das Programm läuft ab, bis ich alles gefunden habe. Ich ziehe mich an. Socken, Unterhose, Hose, T-Shirt, Pullover. Ich bin ein einziger Automatismus. Ich gehe zum Kühlschrank. Ich setze mich an den Küchentisch. Ich esse einen Joghurt, den ich mit Honig vermische. Ich esse eine Banane, einen Apfel, eine Orange. Dabei sehe ich aus dem Fenster. Pünktlich führt die Nachbarschaft ihre Hunde Gassi. Immer dieselben Wege. Linke Straßenseite, rechte Straßenseite. Die Leute und Tiere bewegen sich fein säuberlich getrennt auf ihren fest einprogrammierten Seiten zu ihren fest einprogrammierten Zeiten. Die einen gehen schnell, die anderen langsam. Die Schüler trödeln. Die Welt ist in Ordnung. Man kennt sich, man grüßt sich, man will sich nicht kennen, man will sich nicht grüßen.

Die Arbeiter des Betriebs von gegenüber treffen allmählich ein. Sie parken ihre Autos am Straßenrand, als ob sie einer geheimen Regieanweisung folgten. Jeder scheint auf einen Parkplatz festgelegt zu sein als erste Wahl. Jeder sucht an der Stelle nach seinem Platz, an dem er schon immer, gestern und vorgestern und vorvorgestern, seinen Duft hinterlassen hat. Obwohl es eine freie Straße ist, auf der jeder Beliebige parken kann, werden Ansprüche erhoben auf Unbesitzbares. Tief im Inneren eines jeden tobt ein titanischer Kampf um richtig und falsch, Recht und Gerechtigkeit. Immer. Und gerade morgens in der Frühe, wenn die ersten Niederlagen schon erlitten sind, tobt er besonders schlimm.

Ich spüre die Wellen des Unmuts, des Ärgers, manchmal sogar der Wut, die von unten zu mir herauf schwappen und mich fast bis zu den Knien umspülen, der ich am Küchentisch sitze und meine Morgendepression absolviere, wenn ein Fremdling den beanspruchten Parkplatz bereits besetzt hat, so wie heute. Der gesamte bequeme, von Denken und Fühlen befreite Automatismus dieses Betriebsangehörigen ist dann augenblicklich von einer akuten Störung betroffen. Mit dem Interesse des Unbeteiligten verfolge ich das Geschehen aus der sicheren Distanz meines Olymps.

Anpassungsleistungen mit stark erhöhtem Energieaufwand setzen nun dort unten ein. Es dauert eine kleine Schreckenszeit, bis der gerade eingetroffener Parkplatzsucher, aufgescheucht aus seiner Erwartung der ewigen Normalität, sich beruhigt hat und merkbar unzufrieden und enttäuscht für dieses Mal einen falschen Parkplatz akzeptiert. Wahrscheinlich war es nicht seine erste Niederlage heute morgen, und ich war ihr Zeuge. Die Welt ist nicht in Ordnung.

Natürlich haben auch seine schon vorher eingetroffenen Kollegen sein unfreiwilliges, erzwungenes Manöver mitverfolgt. Doch Mitgefühl und Trost ist nicht von ihnen zu erwarten. Ich beobachte es vom Küchenfenster aus, während ich vor mich hin kaue. Vor dem Eingang des Bürogebäudes stehen die Kollegen in ihrer Firmenkluft im Kreis und reden. In der linken Hand der Kaffeebecher, in der rechten die Zigarette. Schadenfroh grinsend nehmen sie ihn auf in ihren Kreis, den Loser, den schon um diese Tageszeit schwer Gebeutelten. Alle wissen Bescheid. Ihr Trost, den sie ihm spenden, ist allenfalls spöttisch. Und einer feixt sogar ganz offen und gefühllos, angelockt wie eine Hyäne von dem Geruch frischen Blutes. Der so Geärgerte bewahrt jedoch seine Beherrschung und tut so, als merke er nichts davon, dass die Kollegen fröhlich ihre Finger in die noch offene Wunde drücken, droht ihnen aber im Geheimen mit Rache, diese süße Medizin der Verlierer, die helfen soll, den Schmerz zu betäuben. Bald sehe ich ihn mit einem Kaffeebecher in der linken Hand und mit einer Zigarette in der rechten. Die Welt ist wieder in Ordnung gezwungen. Natürlich wäre es noch besser, wenn er auch den richtigen Parkplatz hätte. So aber werden die Wellen dieses morgendlichen Bebens die Konzentration auf seinen Arbeitsablauf sicher bis weit in den späten Vormittag hinein beeinträchtigen.

Ich verstehe ihn. Ich spüle mein benutztes Geschirr und stelle es auf das Abtropfblech neben dem Becken. Ich stelle es auf in immer derselben Anordnung. Meine Welt ist in Ordnung. Ich spüre das Aufbegehren meiner Müdigkeit gegen diese Meinung, und wieder sage ich Scheiße. Wie immer an dieser Stelle. Es fällt mir auf heute morgen. Es fällt mir unangenehm auf. Warum fällt es mir überhaupt auf? Ich will gar nicht, dass es mir auffällt. Ich will meine Ruhe. Vielleicht hat mich eine Krankheit befallen, und ein Virus, der meine Schaltkreise zerstören will, greift mich an. Wenn er über mich siegt, bleibt mir nichts anderes übrig, als selber zu schalten und auf Handsteuerung umzustellen. Es wäre eine Premiere, der Ausgang ungewiss. Ich bekomme Angst. Ich befürchte, dass es keinen Schutz mehr für mich gibt, wenn alle Kreise zerstört sind. Jeder wird es mir ansehen. Ich werde ein Geächteter sein. Jeder hat dann das Recht, mich zu töten. Ich werde vogelfrei sein. Ich muss etwas dagegen unternehmen. Ich muss meine Immunkräfte stärken. Ich muss meine Kreise geschlossen halten. Ich muss sie abwehren, diese Angreifer, diese gleichsam Außerirdischen aus den unendlichen Weiten meines Körpers. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Aufgeregt suche ich nach meinen Waffen. Doch muss ich schließlich zugeben, dass ich keine habe. Ich muss sie erst noch selbst herstellen.

Der letzte Bissen ist geschluckt, mein Magen zufriedengestellt. Ich gehe zum Briefkasten und hole die Morgenzeitung. Ich begebe mich zur Toilette. Ich lese. Es sind dieselben Schlagzeilen und Berichte wie gestern, vorgestern und vorvorgestern. Das hört sich beruhigend an. Trotzdem geht es mir nicht besser angesichts meiner Befürchtungen. Ich denke über diesen Sachverhalt nach. Egal, was ich denke, egal wie klug ich rechne, immer komme ich auf dasselbe Resultat. Ich weiß, dass es falsch ist. Nein, das stimmt nicht. Ich muss mich korrigieren. Es ist etwas anderes als wissen, etwas, das dem Wissen erst seine Basis gibt. Es ist der Boden unter dem Meeresboden, der mich zweifeln lässt. Es ist ein diffuser, unkonkreter Zweifel. Es ist der Urzweifel, der Zwillingsbruder meines lange schon verschollenen Urvertrauens, der sich meldet. Mein Misstrauen wächst. Es sagt mir, ich soll nicht glauben, was ich glauben soll. Ich glaube nicht, dass das Resultat richtig ist.

„Das Resultat ist richtig, das Resultat ist richtig, das Resultat ist richtig“ hämmert sogleich die Antwort auf diese Unbotmäßigkeit wie ein Ohrwurm in meinem Kopf dagegen an.

Immer derselbe Satz. Ich sehe auf die Uhr. Ich muss los. Ich gehe nicht. Augenblicklich stellt der Ohrwurm seine Arbeit ein.

Ein Siegesgeheul wie nach einer gewonnenen Schlacht erfüllt die Küche. Ich tanze dazu einen wilden Tanz. Auch die Nachbarn scheinen davon begeistert zu sein. Ich höre, dass auch sie tanzen und laut dazu singen. Doch vielleicht irre ich mich auch, und sie versuchen nur, ihre Kreise geschlossen zu halten und die Angriffe ihrer Außerirdischen abzuwehren.

Ich beende meine Aktion und ziehe mich wieder aus. Komplett. Ich werfe alles auf einen Haufen und sehe, dass es Sklavenkleider sind. Langsam und neugierig betrachte ich diese vor mir aus dem Boden gewachsene Skulptur aus Kleidung wie das Dokument einer soeben untergegangenen Kultur. Es überrascht mich, wie ich jenseits aller rührseligen Emotionen dies als Tatsache zur Kenntnis nehmen kann, als hätte ich mich ihrer zusammen mit den Kleidern entledigt. Ich weiß, dass ich nie wieder Sklavenkleider tragen kann. Und ich weiß, dass ich es auch nicht brauche. Es ist nämlich ganz leicht, es nicht zu tun. Ich wundere mich darüber, dass ich es nicht schon früher bemerkt habe. Ich drehe einfach alle Kleidungsstücke auf links und ziehe sie wieder an. Jetzt sind es keine Sklavenkleider mehr.

Der Ausflug

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