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Zoo

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Es ist dunkel um mich herum. Ich versuche, heraus zu finden, wo ich bin. Wenn ich es richtig erkenne, befinde ich mich in einem Saal. Ich sitze auf einem gepolsterten Stuhl und starre gegen eine Wand. Ganz allmählich, wohl um mich nicht zu sehr zu erschrecken, geht das Licht wieder an. Ein milder, milchiger Schein entflieht den altmodischen, nach oben geöffneten Wandleuchten. Ein schwerer Vorhang beginnt, sich zu schließen, und jetzt sehe ich, dass es eine Leinwand war, gegen die ich gestarrt habe. Ich bin wohl in einem Kino und werde Zeuge einer Beendigungszeremonie. Sanft, aber mit entschiedener Kompromisslosigkeit, wird mir so mitgeteilt, dass der Traum, ein Traum, an den ich mich aber nicht im geringsten erinnern kann, aus ist. Natürlich bin ich enttäuscht. Ich spüre die angenehme Bequemlichkeit des Kinosessels. Ich möchte gar nicht aufstehen. Ich möchte sitzen bleiben und auf den nächsten Traum warten. Eigentlich will ich nie mehr aufstehen. Ich warte lange. Nichts geschieht, und mir wird klar, dass mein Warten vergeblich ist. Der Vorhang wird sich erst dann wieder öffnen, wenn die Kasse geklingelt hat.

Ich lebte bisher in dem Glauben, dass Träume frei sind. Doch auch Träume müssen bezahlt werden. Der Preis ist bis zur zweiten Stelle hinter dem Komma genau berechnet. Mindestens. Er könnte sogar noch tiefer ausgerechnet sein. Ich denke eine kurze Sekunde daran, Beweise für diese Annahme ausfindig zu machen und weiß im gleichen Moment, dass sie gar keinen Wert für mich hätten, dass sie mich langweilen würden, vielleicht sogar zu Tode. Beweise sind nur etwas für die Träger von Sklavenkleidern. Mit Beweisen ist mir schon seit längerer Zeit jeglicher Spaß abhanden gekommen. Sie erschlagen mich. Millionen von Beweisen erheben dauernd und drängend Anspruch darauf, von mir beachtet zu werden. Sie lieben es, wenn sich gierige Augen an ihnen ergötzen. Beweise sind ihrem Wesen nach Exhibitionisten. Ehrlich gesagt, ich kann sie wegen ihrer Aufdringlichkeit überhaupt nicht leiden. Ich entscheide mich dafür, alle Beweise in die Weiten Sibiriens zu verbannen und mich auf keinen von ihnen und ihr Blendwerk einzulassen.

Ich blicke mich um. Verwundert stelle ich fest, dass ich allein hier sitze. War ich die ganze Zeit allein? Es muss wohl so sein, denn es gibt nur einen Sessel in diesem Saal, und auf dem sitze ich. Ich konzentriere mich noch einmal auf den Film in meinem Traum, den ich bis vor einigen Augenblicken hier gesehen habe. Doch ich muss einsehen, dass es mir nicht gelingt, mich zu erinnern, weder an den Titel des Films noch an seine Handlung. Meine Augen werden schmal, und ich verziehe mein Gesicht zu einer Miene voller tiefgründiger Verdächtigungen, die mich erinnert an den düsteren Detektiv Philip Marlowe, der wie kein anderer sonst mit dieser Meisterhaftigkeit unheilsschwanger verdächtigen konnte, die ich mir irgendwann, ich weiß nicht mehr wann, in einem Film von ihm abgeschaut hatte, weil es mich beeindruckte, wie er aus seinen ins Gesicht geschriebenen Zweifeln Macht entstehen lassen konnte. Ich bemerke, dass dieser Gesichtsaudruck, obwohl es nur eine Imitation seines Gesichtsausdrucks ist, Einfluss auf mich nimmt. Langsam beginne ich, daran zu zweifeln, ob ich mich wirklich in einem Kino befinde. Ich werde unruhig und will plötzlich nicht mehr sitzen bleiben.

Ich stehe auf, um den Raum zu verlassen, trete durch eine geöffnete, große Flügeltür auf einen langen, in ein unscharfes, dämmriges Licht getauchten Gang und folge den Pfeilen zum Ausgang. Auf meinem Weg sehe ich, dass der Gang, sowohl links als auch rechts, gesäumt ist von ebensolchen Flügeltüren, durch die ich in immer neue Kinosäle blicke, während ich voran schreite und dabei langsamer und langsamer werde, als würde ein Gegenwind meine Kleider aufblähen und mich so bremsen. Ich ändere meine Richtung. Neugierig betrete ich einen dieser Säle. Er gleicht meinem, den ich eben verlassen habe, bis ins Detail. Es gibt nur einen Zuschauer. Er sitzt auf dem einzigen sich im Saal befindlichen Sessel und obwohl kein Film läuft, bleibt er sitzen, als gehöre er zum Inventar. Nun betrete ich Saal um Saal und sehe überall das gleiche Bild. Jeder hat seinen eigenen Saal. Ihr Blick geht nach vorn. Keiner wendet ihn. Was mich irritiert, ist. dass es so aussieht, als sei es immer dieselbe Person. Wieder zweifle ich mit dieser bewährten Miene. Oder sind es doch immer wieder andere und voneinander isolierte Personen? Oder sehe ich mich vielleicht nur immer wieder selbst in meinen in mir hausenden, voneinander isolierten Existenzen?

Eine mir materiell fast greifbar erscheinende, aber nicht lokalisierbare Unruhe verursacht einen Schweißausbruch bei mir. Während ich mich wieder Richtung Ausgang bewege, freundlich unterstützt von dem sich überraschend gewandelten Gegenwind in einen sanften Rückenwind, rechne ich das Kinokonzept hektisch nach allen Seiten hin durch. Egal wie, es macht alles keinen Sinn. Das Resultat ist falsch. Es ist dieses Erlebnis der Distanzierung und Isolierung der vielen Körper voneinander, die mich mit einer Traurigkeit beschwert und das Resultat angreift, eine Traurigkeit, die mich mit ihrem lähmenden Gift bewegungsunfähig machen will. Ich muss raus. Ich haste Richtung Feuerleiter. Es handelt sich um einen Notfall. Da sehe ich den Ausgang.

Ein freundlich lächelnder, riesiger Affe erwartet mich, um mich zu verabschieden. Er trägt Affenkleider. Ich störe mich nicht daran. Seine Augen blinken in kräftigen, bunten Farben, als sie mich erfassen. Ungelenk beginnt sein Mund, sich auf und ab zu bewegen. Er spricht zu mir. Ich höre. Eine fast menschliche Stimme, eine viel zu menschliche für dieses Wesen, ertönt aus seinem Mund. Sie zwingt mich in einen spontan notwendig gewordenen Spagat. Sie stellt die Dehnbarkeit und Spreizfähigkeit meiner Toleranz auf eine harte Probe. Was soll ich glauben, Mensch oder Tier? Ich merke, dass dies nur eine sehr vordergründige Frage ist. Dahinter versteckt liegt die eigentliche Front. Leben oder Nicht-Leben heißt es da, wo der Graben verläuft.

Ich sehe diesen drei Meter großen Affen, wie er sich bewegt, höre, was er spricht. Ich zweifle nicht daran, dass das, was er spricht, Sprache ist. Ich empfinde ein Aufbegehren in mir dagegen wachsen, ihn nicht als ein Lebewesen zu bezeichnen. Besteht nicht eine Verwandtschaft zwischen einfachem und hoch entwickeltem Leben? Erzeugt die Mechanik, die Leben imitiert, nicht trotzdem genau dadurch, durch diesen Vorgang, auch schon Leben, eine nicht gerade filigrane Form, sondern eine rohe, rumpelnde, unbeholfene, die aber doch Leben ist? Wenn ich sehe, wie ich darauf reagiere, weiß ich, dass ich es ganz selbstverständlich als Leben akzeptiere und mit ihm kommuniziere. Und doch fühle ich mich gedrängt, mehr schon gezwungen von einer in mir wirkenden Präsenz, die sich hinter dem Namen Verstand verborgen hält, dieses als künstlich zu diskriminieren, um ihm den Status als Leben und seinen verschiedenen Formen den als Lebewesen zu verweigern. Ich soll meine Macht über diese Wesen behaupten als Sklave über Sklaven, als Erniedrigter sie noch erniedrigen, damit die Welt in Ordnung bleibt. Ich klopfe dem Affen beruhigend auf den Oberschenkel. Er muss sich nicht verstellen. Ich trage keine Sklavenkleider. Er bemerkt es sogleich. Er ist klug.

„Der Traum ist aus. Viel Glück.“ Das sind die Worte, mit denen mich der große Affe verabschiedet, und ich weiß nicht, in wessen Auftrag er sie spricht oder ob sie vielleicht seine eigenen Worte sind. Dann lacht er wie jemand, den ich kenne.

Ich passiere das Tor und drehe mich noch einmal um. Jetzt entdecke ich meinen Irrtum. Ich war nicht in einem Kino. Ich war in einem Zoo. Er ist berühmt für sein modernes Konzept. Seine Fortschrittlichkeit wird gelobt. Ich habe über ihn in der Zeitung gelesen. Sein Wahlspruch lautet, wie ich mich erinnern kann, und wie ich auch vom Banner über dem Eingang entnehmen kann: „Jedem sein eigener Käfig.“

Bin ich hierher gekommen, weil ich meinen eigenen Käfig wollte, weil ich meiner Freiheit entfliehen wollte? Ließ ich mich täuschen von dem Gerede über die Sicherheit, die eine Zelle bietet? Oder kam ich gar nicht freiwillig? Habe ich vielleicht einen versteckten Spielpartner, der mich necken will?

„Willkommen! Süß und ehrenvoll ist es, für den Fortschritt zu sterben“, höre ich die Worte aus dem Mund des anderen großen Affen, der die Besucher am Eingang begrüßt.

Bereitwillg zahlen sie den Preis an der Kasse.

Langsam gehe ich hinunter in die Hocke, setze mich auf den Rand eines Bordsteins, um das Geschehen von unten aus zu beobachten. Der Andrang ist groß. Ununterbrochen höre ich die Kasse klingeln. Auf dem Boden entdecke ich eine weggeworfene, noch brennende, Zigarette. Ich nehme sie und rauche. Ich bin ein Nichtraucher, der raucht. Ich muss mich tarnen.

Was ich sehe aus meinem öffentlichen Versteck, sagt mir, dass ich eine ganz falsche Vorstellung von dem habe, was ein Sklave ist. So wie es aussieht, ist die Sklavenkarriere eine sehr begehrte und beliebte Daseinsform. Sie ist eine richtige Erfolgsgeschichte. Alle hier machen den Eindruck, als seien sie stolz, Sklaven zu sein. Sie sind von unübertrefflicher Aktivität und Geschäftigkeit. Ihre schiere Masse gibt ihnen Macht. Längst haben sie die Herrschaft übernommen.

Gegen sie bin ich ein Auslaufmodell und ohne Sklavenkleider auch noch gut sichtbar. Ich kann mit ihnen nicht mithalten. Ich bin einfach in allem zu langsam, um Sklave sein zu können. Geboren, um zu langsam zu sein. Ich will diesen üblen, nun echsenartig in mir hoch kriechenden Verdacht abschütteln, der mich zu degradieren versucht zu einem Teilnehmer in einem Spiel mit nicht verlassbaren, vorgegebenen Bahnen, bei dem das falsche Resultat schon feststeht. Ich rebelliere. Wenn ich schon zu langsam bin, so will ich auch zu stolz sein, um mit gezinkten Karten zu spielen. Ich verweigere das Spiel. Ich wende mich ab, erhebe mich, gehe einige Schritte, betrete eine kleine Grünanlage.

Mein Blick findet Halt an einem älteren, schon knorrig gewordenen Baum. Ich bleibe stehen und werde Zeuge einer Bewegung, die von ihm ausgeht. Ich sehe zu, wie ein großes Blatt, braun und herbsttrocken, sich endlich traut, seinen lebenslangen Griff zu lösen. Es schaukelt und tanzt seinen Weg nach unten in sein es schon erwartendes neues zu Hause. Mit seinem letzten, so lange aufgesparten, jugendlichen Übermut küsst es den dürren Zweig eines Busches noch im Vorüberflug und schenkt ihm zum Dank für die ihm so zärtlich erwiderte Liebkosung noch einen gauklerischen Salto vorwärts. Ich stehe und sehe, wie der Zweig erzitternd errötet, erschüttert von einem unmerklichen Nachbeben aus großer Tiefe.

Der Ausflug

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