Читать книгу Der Ausflug - Harald Hartmann - Страница 7

Verabschiedung

Оглавление

Seit das Handy ausgeschaltet ist, kann ich besser gehen. Obwohl es seit meinem Erlebnis auf der Bank am Rande des Marktes wohl schon so gewesen ist, fällt es mir erst jetzt auf. Ich bin leichter. Ich hatte gerüchteweise von diesem Effekt gehört, aber es nicht geglaubt. Allerdings bin ich auch nie das Wagnis dieses Experiments eingegangen, um mich darüber zu vergewissern.

Meine Schritte lenken mich zum Japanmuseum. Ich kann nichts dagegen tun. Mir kommt der Gedanke, dass ich schon wieder etwas bemerkt habe, was ich gar nicht bemerken sollte. Ich muss wirklich vorsichtig sein. Solange ich das geheim halten kann vor den geschlossenen Kreisen, ist alles gut. Dann droht keine Gefahr. Ich beschließe, die Leichtigkeit meines Schrittes zu verbergen und gehe mit verstelltem Gang.

Ich mag dieses Teehaus dort. Der Weg zu ihm ist einigermaßen verwinkelt, er dauert seine Zeit, und dann bin ich schon überrascht, wie unvermittelt ich da bin, sitzend an einem kleinen Holztisch mit Blick in den japanischen Garten. Gibt es vielleicht Zeitsprünge? Zum Glück falle ich auf diese Frage nicht herein. Ich merke gleich, dass es eine dieser Fragen ist, auf die es keine Antwort gibt.

Ich bestelle einen grünen Tee. Ich sehe die Kirschbäume in prächtigster Blüte. Das Blau des Himmels hinter den rosa Blüten wirkt in seiner Schärfe wie eine schallende Ohrfeige. Ich bin sofort hellwach. Ich weiß, mehr Japan geht nicht. Da kann etwas nicht stimmen. Perfektion macht mich immer misstrauisch und in Farbe besonders. Wie konnte ich von diesem perfekten Moment wissen? Sehr oft komme ich nicht hierher. Ich hatte keine Hinweise auf dieses gerade stattfindende Ereignis. Es sieht so aus, als habe ich schon wieder etwas getan, was nicht meine Idee gewesen ist. Ich muss handeln.

Ich höre auf zu rechnen. Weiter auf dem Stuhl sitzend erlebe ich, was die Vögel treiben. Ich schaue. Ich trinke Tee. Geöffnet liegt vor mir der Raum. Ich beginne zu schwingen wie die tiefe Saite einer Gitarre, wenn sie von einem Finger sanft gezupft wird. Ist das der Ritt auf der Freiheit? Oder nur die freche Gaukelei eines Trugbilds?

Ich weiß es nicht, weil ich den Unterschied von Bild und Trugbild nicht mehr erkennen kann. Die Kopien sind perfekter denn je. Die Wissenschaft hat dafür gesorgt. Ich bin ratlos. Ich vermute, dass ich nicht der Einzige bin. Die Rätsel werden immer größer. Ich erinnere mich, dass man mir die Lösung aller Rätsel versprochen hat. Heute morgen habe ich endgültig aufgehört, darauf zu warten. Da setzte der so lange angehaltene Atem wieder ein. Es wurde höchste Zeit.

Ich beginne wieder zu rechnen. Ich will zahlen. Als die Kellnerin meine zerrissene Hose entdeckt, steckt sie ihre Geldbörse wieder ein und erklärt, ich sei eingeladen gewesen. Forschend sehe ich sie an. Ich glaube, sie ist die Mutter des Jungen auf dem Rollbrett.

„Danke für die Einladung“, sage ich.

„Viel Glück auf deinem Weg“, antwortet sie.

Jeder sollte bei jedem jederzeit eingeladen sein, denke ich.

Natürlich muss ich jetzt erst einmal mein Handy loswerden. Ich spüre, dass es selbst in ausgeschaltetem Zustand meine Schritte noch schwer und meine Gedanken langsam macht. Mein Gespür für Beschwerungen hat sich sehr verfeinert. Die Skala hat sich verschoben. Ich bin jetzt dazu in der Lage, einzelne Atome wiegen zu können. Solange das keiner merkt, bin ich nicht in Gefahr. Ich muss unauffällig sein. Wenn man keine Sklavenkleider trägt, ist das gar nicht so leicht. Ich denke an den Jungen auf dem Rollbrett. Der hat es auch geschafft.

Ich betrete einen Laden für Modellbau. Er führt Modelle aller Art. Häuser, Autos, Flugzeuge, Schiffe. Die Modelle stehen den Originalen in nichts nach, außer in ihrer Größe. Würde man sich selbst verkleinern um das Hundertfache, dann würde man vor ihnen stehen und sie nicht mehr von den Wirklichen unterscheiden können. Ich lasse mir die Auswahl der Boote zeigen. Der Verkäufer ist sehr freundlich. Schließlich entscheide ich mich für ein ferngesteuertes Segelboot, fertig zusammen gebaut und segelbereit. Der Verkäufer bestärkt mich in meiner Entscheidung. Er übergibt mir das Paket mit einer leichten Verbeugung.

„Es ist ein Geschenk des Hauses“, sagt er.

Ich sehe, dass er meine zerrissene Hose betrachtet und meine auf links gewendete Kleidung bemerkt. Ich bedanke mich für seine Großzügigkeit.

„Viel Glück auf deinem Weg“, sagt er noch.

Ich verlasse den Laden. Mein Weg führt mich zum großen Fluss.

Trotz des Pakets ist mein Schritt leicht. Die Vorfreude auf die Verabschiedung lässt mich das Gewicht vergessen. Je näher ich dem Fluss komme, umso kurzbeiniger scheinen die Leute zu werden. Im Moment befinde ich mich bereits im Bereich einer extremen Kurzbeinigkeit. Die Beziehung zwischen Flussnähe und Kurzbeinigkeit ist mir niemals vorher aufgefallen. Ich glaube, dass mir soeben schon wieder etwas aufgefallen ist, das mir gar nicht auffallen sollte. Allmählich bekomme ich Erfahrung mit solchen Situationen. Das Wichtigste ist auf jeden Fall, Ruhe zu bewahren. Ich muss meine Entdeckung für mich behalten. Ich darf kein Spielverderber sein. Jede Äußerung würde Wellen schlagen, und die könnten auch mir gefährlich werden. Bei hohen Wellen besteht sogar die Gefahr, dass ich ertrinke. Ich achte daher auf eine extreme Stomlinienförmigkeit meiner Bewegungen.

Am Strand befreie ich meine Füße aus der Dunkelhaft und ziehe die Schuhe und Socken aus. Ich öffne das Paket und stelle das Segelboot auf den Sand. Es hat ein großes Segel und einen Elektromotor. Ich nehme das Handy und lege es auf das Boot. Es sieht mich herzerweichend mit dem traurigsten Hundeblick an. Doch wer keine Sklavenkleider trägt, ist vor solchen Gefahren geschützt. Ich weiß, dass die Zeit gekommen ist, mich von ihm zu trennen. Jeder muss jetzt seinen eigenen Weg gehen. Vorsichtig setze ich das Boot auf das sanft bewegte Wasser. Ich schalte die Fernbedienung ein und lenke es bis in die Mitte des großen Flusses, da wo die Strömung weiß, wohin sie will. Ab hier überlasse ich es mit seiner Ladung seinem Schicksal und schalte die Fernbedienung aus.

„Viel Glück“, sage ich noch zum Schluss, als ich es schon nicht mehr sehe.

Ich schlafe eine kleine Stunde im warmen Sand. Als ich aufwache, friere ich in der Sonne. Ich kann es also noch. Ich muss keine Angst haben zu schmelzen.

Ich wende dem Fluss meinen Rücken zu und sehe die große Stadt. Eine starke Strömung zieht mich weg vom Fluss, weg vom Wasser und hin zu ihr, hin zur Festung, zum scheinbar Festen. Es ist eine unsichtbare Strömung, so wie Elektrizität unsichtbar ist. Strömende unsichtbare Materie, die eine enorme Schwerkraft entwickelt. Vielleicht ist es sogar reine Elektrizität, die ich spüre und die in eine Resonanzschwingung mit meiner eigenen, in mir fließenden Elektrizität gerät. Ich frage mich, wo wohl die Ursache dieses mächtigen Stroms liegt, der noch intensiver strömend zu werden scheint, je näher ich der Stadt komme. Gibt es ein Zentrum, so etwas wie ein Schwarzes Loch, das alles in sich hinein saugt, unentrinnbar? Dieser Gedanke macht mir, wie ich mit einem langsam einsetzenden, schmaläugigen Erstaunen bemerke, aber überhaupt keine Angst. Stattdessen spüre ich die Anwesenheit eines Vertrauen zu dem, was mich erwartet, Vertrauen zum Großen Strom. Es ist ein ganz und gar unbegründetes Vertrauen, wie ich es einst in Kindertagen gehabt habe, ohne Grund, schwebend, unbeschwert von allem ihm später aufgeladenen Gepäck. Es erzeugt ein Gefühl, von dem ich mich schon vor langer Zeit entwöhnt habe. Wenn ich mich frage warum eigentlich, und ich tue das erstaunlich regelmäßig, dann sage ich ebenso regelmäßig zu mir, dass ich das vergessen hätte. Natürlich ist das nicht wahr, eine Notlüge vielleicht, weil ich nicht Schlafendes in mir aufwecken möchte, obwohl ich doch weiß, dass ich es eines Tages tun muss. Heute ist der Tag.

Mit einer cäsarischen Handbewegung zeige ich an, dass mein gekidnapptes Vertrauen ab sofort aus der Gewalt der Gründe befreit ist. Es ist nun wieder ungebunden. Ich lasse mich von ihm führen. Und schon kommt es zu den Begegnungen mit alten Bekannten, die ich immer lieber vermeiden wollte, als ich noch Sklavenkleider trug. Über die unausdenkbarsten Umwege verschaffen sie sich nun Zugang zu meinen Privaträumen. Ich erwehre mich ihrer nicht. Ich heiße sie willkommen. Das Tor ist geöffnet. Das Tor bleibt geöffnet.

Der stetige, kräftige Strom tut mir gut wie eine Massage des Rückens. Plötzlich hört die Strömung auf. Ich befinde mich in einem Becken, in dem die Elektrizität strömungsfrei steht wie Wasser in einem Teich. Ob ich dieses Gebiet als Zentrum bezeichnen kann, gar noch als dieses vermutete Schwarze Loch, erscheint mir fraglich. Es ist voll hier, es wimmelt vor Leuten. Alle treiben in diesem Kraftfeld. Alle sind geschäftig. Ich spüre den unwiderstehlichen Reiz einer gleichzeitigen Nähe und Distanz zu ihnen. Alle halten ihre Kreise geschlossen, während sich die Körper fast berühren in der Enge. Ich bin mir sicher, dass hier der Ort ist, an dem ich am stärksten spüre, dass ich sie alle brauche und sie ebenso alle hasse. Ich grüße jeden. Keiner grüßt zurück. Zufrieden sehe ich, dass es allen genau so geht wie mir. Wir kommen zusammen trotz gegenseitiger Abstoßung bei gleichzeitiger Anziehung. Ich vermute, dass Elektrizität noch eine andere Ladung aufweist, eine bisher unbekannte, die den Ausschlag in diese eine Richtung gibt. Vielleicht ist es so etwas wie eine biologische Komponente, ein elektrischer Fingerabdruck zum Erkennen der eigenen Art innerhalb der stabil dahin fließenden Sinusschwingungen.

Überall beobachte ich solche Kraftfelder, jetzt, wo ich meine Aufmerksamkeit dafür geschärft habe. In diesem hier finden sich nur Menschen ein. Aber in anderen Kraftfeldern, da drängen sich andere Lebewesen in großer Zahl auf engem Raum wie Vögel oder Elefanten oder Zebras oder Krokodile oder Ameisen oder Grashalme. Die Elektrizität der Lebewesen muss also auch mit diesen Informationen geladen sein, damit sie zusammen finden. Plus Minus, Mensch. Plus Minus, Löwe. Plus Minus, Delfin. Plus Minus, Pinguin. Plus Minus, Biene. Plus Minus, Wiesenschaumkraut.

Ich gehe dahin, wo Menschen sind, weil meine Ladung mich dahin zieht. Wenn ich das verhindern will, und ich spüre immer öfter eine unvermittelt aufwallende Lust, nicht mitzumachen, geht es nur mit großer Anstrengung. Woraus speist sich dieser Wille, gegen Anziehungskräfte zu rebellieren? In mir muss ein noch unentdeckter Kontinent existieren. Entsteht aus den unerforschten Kräften dieses Gebiets heraus vielleicht eine Urform dessen, was wir Freiheit nennen? Ist das bewusste und geplante Verlassen der Sicherheit, die ein geschlossener Kreis bietet, ein Akt der Freiheit, eine Öffnung, die zu einem willensbestimmten Individuum führt?

Immer wieder begegnen mir diese Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Ich weiß ihren Wert zu schätzen. Sie sind die Störer und Verhinderer der Perfektion. Sie retten mich vor einem Stillstand, einem absoluten Endzustand. Sie lassen mich am Leben, weil mir noch so viele Antworten fehlen, weil sie mich suchen lassen. Sie sind meine Unterhaltung, mein Entertainment. Noch sehne ich mich nicht nach dem Tod.

Mit einem Mal bemerke ich, dass ich Gedanken lesen kann. Ich bin ganz aufgeregt und lese, lese, lese. Doch weicht die Aufregung langsam einem enttäuschten Staunen. Was ich sehe, ist, dass Gedanken nur aus Rechnen bestehen. Obwohl sie denken sagen, führen alle pausenlos Rechnungen aus. Es ist immer dieselbe Rechnung. Und jedes Mal ist das Resultat falsch. Ich weiß es, weil ich den Boden unter dem Meeresboden berührt habe. Doch die Rechnenden behaupten voller Überzeugung, es sei richtig. Was soll ich bloß tun? Da sehe ich meinen Doppelgänger. Er ist vielleicht der Einzige, der mich verstehen kann. Er könnte meine Rettung sein. Ich spreche ihn an, doch er erkennt mich nicht. Er geht einfach weiter mit einem verständnislosem Blick. Nicht einmal er kann mich also verstehen.

Langsam wird mir die Dimension meines Ausflugs klar. Ich muss unterwegs etwas verloren haben. Wahrscheinlich ist es mein elektrischer Fingerabdruck, mit dem ich mich bisher als Dazugehöriger ausweisen konnte und über den mich die Wächter der Stadt identifizieren konnten. Der Riss in meiner Hose ist möglicherweise der Grund für den Verlust. Er ist das Leck, durch den diese Information, dieser essentielle Bestandteil meiner Identität entweichen konnte. Jetzt bin ich ein Illegaler. Meine elektronische Fessel hat sich verflüchtigt, diese Begrenzung meines Daseins auf erlaubte Funktionen.

Plötzlich kann ich im Ultraschallbereich hören und ultraviolettes Licht sehen. Ich habe meine Kreise nicht geschlossen gehalten und nicht alles verloren, wie mir von mir selbst dauernd angedroht worden war. Ich tat gut daran, mir zu misstrauen und tue jetzt gut daran, mir zu vertrauen. Meine Möglichkeiten haben sich ins Fantastische hinein erweitert. Ich bin nun dazu in der Lage, jede Gestalt anzunehmen. Aber nicht, weil ich wirklich zu diesem oder jenem werde, sondern weil ich die Illusion einer Gestalt ausstrahlen kann. Weil ich ein Baum sein will, werde ich als Baum erkannt, weil ich eine Eule sein will, werde ich als Eule erkannt. Meine Fesselung an eine einzige Form ist aufgehoben. Ich fühle mich wie ein Spion, der nicht entdeckt werden kann. Ich tanze mit der schwerelosen Leichtigkeit einer Marionette.

„Kannst du nicht aufpassen?“ raunzt mich eine Stimme an.

Sie gehört einer Frau, die mich leicht verärgert ansieht. Ich habe sie soeben im Sprung gestreift.

„Bitte entschuldige meine Unaufmerksamkeit,“ sage ich. „ Möchtest du mit mir tanzen?“

Erstaunt sieht sie mich an.

„Bist du nicht Fred Astaire?“ fragt sie mit großen Augen.

Die Illusion ist mir wohl gut gelungen.

„Ich bin sein Enkel“, antworte ich.

„In Ordnung“, sagt sie. „Ich will mit dir tanzen.“

Ich mag es, dass sie mich duzt. Es scheint mir, dass sie träumen will. Soeben hat sie ihr verstecktes Wildes wiedergefunden. Es freut mich sehr, dass sie für ein schnelles Abenteuer bereit ist, ihre Sicherheit spontan aufzugeben. Sie geht das Risiko ein, das es bedeutet, zwischen die Welten zu geraten. Ich verbeuge mich förmlich. Sie reicht mir die Hand.

Dann tanzen wir. Ich sehe, dass sie die Zeit vergisst. Wir tanzen auf dem Dach eines dahin brausenden Zuges. Sie flüstert mir ins Ohr, dass ihr meine aufgerissene Hose und meine auf links gewendete Kleidung gefällt. Ich wusste längst, dass sie die Insignien der Freiheit erkannt hatte.

Im nächsten Bahnhof erwachen wir aus unserem gemeinsamen Tanz und verlassen mit einem eleganten Sprung den Zug. Ich weiß, dass sie sich genau an ihren Traum erinnern kann. Ich, der unentdeckbare Spion, sehe, dass sie ihren Kopf schüttelt und lacht. Sie ist unsicher, ob es wirklich nur ein Traum war. Der Boden unter ihren Füßen fühlt sich in diesem Augenblick auf merkwürdige Art instabil an. Sie muss jetzt streng darauf achten, ihre Kreise geschlossen zu halten, wenn sie da bleiben will, wo sie ist. Sie tut es. Sie geht zur Arbeit.

Die Kassiererin an der Supermarktkasse nennt mir die Summe für meine drei Artikel. Ich sehe sie an. Sie erkennt mich nicht. Sie hat es tatsächlich geschafft. Sie hat ihre Kreise wieder schließen können.

„Ich bin der Enkel von Fred Astaire“, sage ich mit einem Blick, der ebenso verschmitzt wie geschwisterlich vertraut ist. Ich muss es tun. Ich muss in sie eindringen und nachforschen, ob irgendetwas übrig bleibt aus der anderen Welt. Ich will es wissen.

Ihr scheuer Blick nur für den tausendstel Teil einer Sekunde, ich habe ihn gesehen. Sie erlebt derweil in ihrem Inneren das geheimnisumwitterte, nicht fassbare, lautlos huschende Déjà Vu, während ihre Augen auf meine zerrissene Hose gerichtet sind. Sie schließt die Kasse. Diese Bewegung geschieht so fließend, so selbstverständlich, so notwendig und doch auch gleichermaßen überraschend ungeplant und, obwohl im Ablauf ihrer Tätigkeit an dieser Stelle gar nicht vorgesehen, absolut passend. Nichts anderes als das war in diesem Moment zu tun. Kasse zu.

„Viel Glück auf deinem Weg“, sagt sie. Ihre Stimme ist dabei so unverstellt, dass sie in mir ein sofortiges Schmelzen auslöst. Ich spüre eine angenehme Machtlosigkeit.

Ich bedanke mich für ihre guten Wünsche. Auf dem Boden vor meinen Füßen zeigt sich ein kleiner See aus Wasser. Sofort erinnere ich mich daran, dass es für mich lebenswichtig ist, in der Sonne zu frieren.Von Zeit zu Zeit lässt es sich nicht vermeiden, dass ich Angriffe auf meinen Schmelzpunkt abwehren muss. Ich verlasse das Geschäft, ein Baguette unter dem Arm, in der einen Hand einen Camembert und in der anderen eine Flasche Rotwein. Draußen scheint die Sonne. Erleichtert spüre ich, dass ich friere.

Ich versuche es noch einmal so wie früher mit der Freiheit und Ungebundenheit, versuche anzuknüpfen an dieses verschollene Gefühl, das sich immer einstellte, wenn ich meinen Rucksack abnahm, müde und verschwitzt, mich unter einen Baum auf den Boden setzte, Brot und Käse aß und dazu Rotwein aus der Flasche trank.

Ich sitze unter einem Baum. Ich esse mit den Händen und trinke aus der Flasche. Ist es dieselbe Freiheit, der ich damals begegnete? Ist Freiheit wiederholbar? Kann Freiheit altern?

Ich schließe die Augen, weil mich mein Mahl in einen grenzenlos stillen Raum entführt. Ich sehe, dass ich nicht allein bin hier. Das verschollene Gefühl erwartet mich schon und umarmt mich leidenschaftlich. Freiheit ist die stärkste Form der Gefangenschaft.

Ich öffne die Augen, weil ich neben mir ein Geräusch höre. Ein Mann hat sich zu meiner Linken nieder gelassen. Seine Kleidung ist auf links gewendet und an verschiedenen Stellen zerrissen. Er muss über mehr als nur einen Zaun gesprungen sein. Er nickt mir freundlich zu, als seien wir alte Freunde. Ich mache eine einladende Handbewegung. Wir teilen das Brot, den Käse und den Rotwein. Nach dem letzten Schluck aus der Flasche wischt er sich mit dem Handrücken über den Mund und stellt sie auf den Boden. Er greift in die Innentasche seiner Jacke und zieht zwei kleine Fotos heraus.

„Das war ich früher“, sagt er und hält mir die Fotos hin, damit ich sie mir ansehe. „Auf dem einen bin ich zwölf, auf dem anderen zweiundzwanzig.“

Ich betrachte die Fotos eingehend. Zwölf, zweiundzwanzig und jetzt. Ich blicke auf. Mein Spiegelbild lacht wissend und nimmt die Fotos wieder an sich. Der Mann verabschiedet sich von mir.

„Hier trennen sich unsere Wege“, sagt er. „Jeder muss in eine andere Richtung.“

Ich sehe ihm nach. Das Gewicht des Rucksacks drückt auf seine Schultern. Ich spüre eine Traurigkeit. Warum nur meine ich, traurig sein zu müssen?

„Halt!“ rufe ich. „Bleib stehen!“

Er dreht sich um und sieht mich fragend an.

„Warum sollten wir uns trennen?“ frage ich ihn. „Wir gehören doch zusammen.“

„Diese Gewissheit ist der Grund für jedes Sklaventum“, sagt er. „Ich suche nach der Welt ohne Gleichgewicht.“

Damit wendet er sich wieder seinem Weg zu. Er geht, ohne sich noch einmal umzudrehen. .

„Nein!“ drängt es mich zu schreien und hinter ihm her zu laufen. Ich lasse mich aber nicht mehr drängen. Dann ist er verschwunden.

Der Ausflug

Подняться наверх