Читать книгу Eine spanische Eröffnung - Harald Kiwull - Страница 6

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Antonio sprach mich nicht an, als ich am Abend mit grimmigem Gesicht seine Bar betrat und mich an die Theke stellte. Wortlos schob er mir einen Weißwein zu und wenig später auch ein Holzbrett mit einer Portion des exzellenten Schinkens „Ibérico de Bellota“, den er von der eingespannten Keule abgesäbelt hatte. In der Ecke an einem kleinen Tisch saß ein Paar, das sich leise unterhielt, sonst war die Bar leer.

Nach dem zweiten Wein blickte er mich fragend an, aber ich schüttelte nur mit dem Kopf und brummte vor mich hin.

Ich bin schon seit Jahren mit ihm befreundet. Schätze ihn sehr und liebe sein kleines, gemütliches Lokal an der Straßenecke mit den dunklen Holzfässern als Tische vor der Tür. Oft dieselben sympathischen Gäste, die ich zumeist schon lange kenne und die mich mögen. Angenehme, herzliche Menschen. Immer wieder interessante Begegnungen und ein großartiges Training der spanischen Sprache. Natürlich deutlich kurzweiliger als der Unterricht in der Schule.

Mit Antonio hatte ich hin und wieder persönliche Lebenserfahrungen ausgetauscht, ein bisschen spanisch-deutsche Vergleiche, und auch einiges von meinem Beruf erzählt. Das interessierte ihn ganz besonders, denn bei ihm war vor einiger Zeit eingebrochen und sein gesamtes Erspartes geraubt worden. Es war ziemlich rätselhaft, denn der Zugang erfolgte über ein extrem schmales Fenster, dessen Scheibe eingeschlagen worden war. Vermutlich hatten die Ganoven ein kleines Kind durch die Öffnung geschoben, das dann alles durchwühlt und tatsächlich sein Versteck gefunden hatte. Natürlich gab es von den Tätern keine Spur.

Es war besonders tragisch, weil es sehr viel Geld war. Er wollte am Ende des Jahres sein Lokal verkaufen und in den Ruhestand gehen. Der Ertrag und seine Ersparnisse sollten ihm das ermöglichen. Damit war es nun nichts. Er musste sein Lokal weiter führen – was mir allerdings sehr recht war, weil ich mich bei ihm so wohl fühlte. Er brauchte ein Jahr, um psychisch über den Schicksalsschlag hinwegzukommen. Aber jetzt war er wieder der Alte.

Natürlich fragte ich ihn damals, warum er so viel Geld zu Hause aufbewahrte, aber er antwortete ausweichend. Vermutlich war es das in Jahren angesammelte Schwarzgeld.

Die Ruheständler heißen übrigens in Spanien bedeutungsvoll: „Jubilados“. Was für ihn, dem nun wirklich nicht zum Jubeln zu Mute war, ganz besonders makaber klingen musste.

Nach einiger Zeit erzählte ich ihm, was mir passiert war. Und er versuchte, mit mir zu überlegen, was dahinter stecken könnte. Aber wir kamen zu keinem Ergebnis, und es war klar, dass er mir auch nicht weiterhelfen konnte. Ich beschrieb ihm die Männer, aber bei ihm in der Bar waren sie bisher nicht aufgetaucht.

Etwas später setzte ich mich an einen Tisch im Hintergrund, nachdem ich einige köstliche Tapas bei ihm bestellt hatte: Gambas al Ajillo, Albóndigas und Patatas Bravas. Außerdem stellte er eine Flasche Wein vom Ribera del Duero vor mich hin. Er wusste, dass das mein Lieblingswein war.

Das Lokal hatte sich gefüllt, an der Theke standen inzwischen in einer Gruppe zwei, drei Frauen und mehrere Männer, die sich ziemlich lärmend unterhielten. Einer von ihnen lachte immer wieder unerträglich laut. Was mich sonst nicht störte, ging mir heute ziemlich auf die Nerven. Ich grübelte weiter vor mich hin, natürlich ohne Erfolg. Aber allmählich kam ich etwas zur Ruhe und fing an zu überlegen, wie ich mich in Zukunft verhalten sollte und was ich unternehmen könnte. Das hilflose Opfer zu bleiben, gefiel mir natürlich gar nicht.

Einige Zeit danach blickte ich auf, als sich Paquita durch den Gästepulk schob und, nachdem sie von allen laut begrüßt worden war, strahlend an meinen Tisch trat. Hübsch anzusehen mit ihrem dicken, blonden Zopf, einem weiten, hellgrauen Pullover, einer engen, schwarzen Hose und hohen Stiefeln. Sie hat wirklich ein reizendes Lächeln, dachte ich und küsste sie rechts und links auf die Wangen. Sie setzte sich zu mir.

Sofort bemerkte sie, dass etwas nicht in Ordnung war. Und um ihren Fragen zuvorzukommen, erzählte ich ihr auch die ganze Geschichte. Ziemlich entsetzt hörte sie mir zu und legte mitfühlend die Hand auf meinen Arm. Als ich fertig war, schwieg sie einen Augenblick. Dann straffte sie sich, setzte sich kerzengrade auf und erklärte mir, dass es ausgeschlossen sei, dass ich weiter im Haus in der Sierra wohne. Natürlich würden die Kerle zurückkommen, denn sie hätten ja offensichtlich nicht erreicht, was sie wollten. In ihrem Haus in El Pinar, einer kleinen Ansiedlung über Alcossebre in den Bergen, gebe es unten eine kleine Wohnung, da könne ich den Rest meiner Zeit gut wohnen. Sie hatte das Haus, wie sie mir schon früher erzählte, von ihren vor zwei Jahren bei einem Autounfall verunglückten Eltern geerbt und war dahin umgezogen.

Eine Stunde später folgte ich ihr mit meinem geliebten alten roten Lancia die gewundene schmale Straße hinauf.

Im Haus in der Sierra hatte ich zuvor in aller Eile die Sachen zusammengepackt, immer mit dem ungemütlichen Gefühl, dass ich überraschenden Besuch bekommen könnte. Aber erfreulicherweise tauchte niemand auf. Die Eingangstür verschloss ich, nachdem ich aus alter Gewohnheit wieder ein Blatt in den Türspalt geklemmt hatte. Ich überlegte kurz, ob ich eventuellen Gästen eine vernichtende Botschaft auf dem Tisch hinterlassen sollte. Aber mir fiel nichts Originelles ein.

In El Pinar schwenkte Paquita ein kurzes Stück wieder den Berg hinunter und dann im Bogen durch ein offenes, hohes Eisentor vor ein großes, altes, weißes Haus, das kurz im Scheinwerferlicht auftauchte. Ich stoppte daneben.

Nachdem ich aus dem Auto ausgestiegen war, blieb ich abrupt stehen. Der Blick von hier oben war atemberaubend.

Es war sehr spät geworden. Der Wind hatte sich gelegt. Tief unter uns glänzten die nächtlichen Lichter des Ortes. Das dunkle Meer erstreckte sich endlos weit nach beiden Seiten und in die Ferne, verlor sich im Horizont. Der tiefstehende Mond zeichnete eine lange, silberne Spur über das Wasser. Links herüber schimmerte der weiße Leuchtturm von Alcossebre und in großer Distanz leuchteten die Lichter der Hafeneinfahrt von Peñíscola. Hinter uns ragten dunkle Bergketten empor. Es herrschte eine fast unwirkliche Stille. Und über uns ein unglaublicher Sternenhimmel, wie man ihn nur sehen kann, wenn es ringsumher ganz dunkel ist.

Auch Paquita hatte innegehalten. Sie wusste, wie dieser Anblick auf ihre Gäste wirkt. Sie ließ mir Zeit.

Es war schon weit nach Mitternacht, als ich mein Handy hervorkramte. Paquita hatte mir die Räume der kleinen Wohnung im Erdgeschoss gezeigt und war dann mit einer Kusshand in die obere Etage verschwunden.

Jan in Karlsruhe meldete sich sofort. Er gehört zu den Menschen, die erst bei Anbruch der Nacht richtig lebendig werden. Er ist ein guter, alter Freund von mir, verhinderter Jurist und seit Jahren Privatdetektiv. In der Vergangenheit war er mir oft eine große Hilfe gewesen.

„Ja hallo Maximilian, das ist aber eine große und noch dazu nächtliche Überraschung. Wie geht es dir in südlichen Gefilden?“, rief er äußerst munter und sehr laut ins Telefon.

Wieder einmal war diese ausgeprägte nächtliche Überaktivität für mich verblüffend. Ich fühle mich zwar auch am Abend wohler als am Morgen. Aber irgendwann ist dann auch Schluss. Nicht so bei Jan.

„Alles ganz wunderbar hier – bis heute.“

Ich zögerte: „Na ja, eigentlich schon bis vor ein paar Tagen.“

„Wieso? Was ist passiert?“

Zum dritten Mal erzählte ich meine Geschichte. Er hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen, offensichtlich ganz konzentriert. Das schätze ich auch an ihm, dass er zu den Menschen gehört, die zuhören können. Leider sind es ja eher wenige, die es schaffen, mal einige Zeit nicht an sich selbst zu denken.

„Maximilian, Maximilian“, stöhnte er, als ich fertig war. „Das darf doch wohl nicht wahr sein, dass du wieder in irgendwas verstrickt bist. Was um Himmels Willen hast du angestellt, dass wieder jemand hinter dir her ist?“

Es war ja tatsächlich so, dass mir in der Vergangenheit diese merkwürdigen und auch gefährlichen Dinge passiert waren. Noch gar nicht lange war es her, dass ich überfallen wurde und in große Gefahr geriet. Es war eine schwere Zeit gewesen. Aber schließlich hatte ich es, auch durch Zufall und Glück geschafft, die Probleme zu lösen. Und eigentlich war ich der Meinung, dass damit mein Kontingent an üblen Erlebnissen wirklich gedeckt sein sollte. Aber offenbar war das Schicksal, oder wer auch immer, anderer Meinung.

„Jan, du hast vollkommen recht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir das stinkt. Ich hatte es doch wirklich verdient, zur Ruhe zu kommen. Wird mir aber anscheinend nicht gegönnt.“

„Hast du keine Ahnung, was und wer dahinter stecken könnte?“ Er zögerte. „Vielleicht hängt es mit deinem Beruf zusammen! Aber ein Überfall in Spanien deswegen, ist doch wohl eher nicht vorstellbar? Hast du dort irgendwelche Feinde?“

In früheren Zeiten hatte Jan immer wieder kreative Ideen, wenn es darum ging, kriminelle Zusammenhänge zu erkennen. Aber ich merkte, dass er jetzt hilflos war.

Etwas lauter fügte er an: „Hoffentlich bist du aus deinem Haus aus- und in ein Hotel gezogen! Die Kerle haben sicher nicht aufgegeben!“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich antwortete: „Ja sicher. Ich schlafe jetzt bei Paquita, der Postbotin von Alcossebre.“

Am anderen Ende herrschte Schweigen. Meinem Freund hatte es die Sprache verschlagen.

Ich setzte noch hinzu: „Weißt du, sie donnert mit ihrem Motorrad, einer spanischen ‚Rieju‘, durch den Ort und fährt die Post aus. Das hat mir gut gefallen. Ziemlich sexy.“

Es kommt nicht oft vor, dass Jan um eine Antwort verlegen ist. Aber es kam weiterhin nichts von der anderen Seite. Also sprach ich weiter: „Die Maschine stammt übrigens aus dem katalanischen Figueras, du weißt, der Heimatstadt von Salvatore Dalí. Irgendwie alles ein bisschen speziell.“

Ich konnte ihn mir lebhaft vorstellen, wie er da in seinem bequemen Sessel saß und den Kopf schüttelte.

„Ich kann dich beruhigen“, sagte ich nach einer Weile. „Sie ist eine ganz reizende junge Frau und außerdem noch äußerst attraktiv. Ich habe sie kennengelernt, und wir haben uns angefreundet. Ich habe ihr von meinen Problemen erzählt. Sie bewohnt ein großes Haus auf dem Berg und hat mich unten einquartiert.“

„Gleich wirst du noch sagen, das alles dient nur dem Training der Sprache“, brachte er schließlich spöttisch heraus. „Aber jedenfalls bist du einigermaßen außerhalb der Reichweite der Typen.“

Er wurde wieder ernst. „Aber hast du mich deswegen zu dieser Zeit angerufen? Das ist doch eher nicht deine Kernzeit für Aktivitäten?“

Ich hatte nicht einschlafen können in der vergangenen Stunde. Offenbar war ich durch die Ereignisse des Nachmittags so aufgedreht, dass ich innerlich nicht zur Ruhe kam. Obwohl ich eigentlich fand, dass ich ein ganz entspannter Typ war. Aber das war wohl eine ziemliche Selbsttäuschung.

Jedenfalls war ich ins Grübeln gekommen und hatte einen vagen Plan entwickelt. Und für den brauchte ich Jans Hilfe.

„Meine Hilfe? Wie kann ich dir helfen? Ich bin hier in Karlsruhe und du in Spanien.“

Ich erzählte ihm, was ich vorhabe, und hatte wieder das Bild vor Augen, wie er seinen Kopf schüttelte.

Aber erstaunlicherweise und zu meiner Verblüffung schien er meine Idee gar nicht für so abwegig zu halten. „Maximilian, ich weiß aus der Vergangenheit, du bist einer solchen Situation gewachsen. Und es ist klar, dass du etwas unternehmen musst, aber auch, dass du dich damit einer großen Gefahr aussetzt. Ich habe den Eindruck, mit deinen Gegnern ist nicht zu spaßen. Also: Äußerste Vorsicht und exakte Planung. Aber ich weiß nicht, wie du das allein schaffen kannst. Es ist wirklich schade, dass ich nicht dabei bin und dir helfen kann.“

Er setzte hinzu: „Aber meinen Teil erledige ich gleich morgen früh. Du kannst dich auf mich verlassen. Halte mich auf dem Laufenden.“

Das Gespräch war eigentlich beendet, aber er zögerte. Ich merkte, er hatte noch etwas auf dem Herzen.

„Was ist? Du willst irgendwas sagen?“

„Ich weiß nicht, ob ich das ansprechen darf.“ Er ließ sich einen Augenblick Zeit. „Aber du hast mir im letzten Jahr von der tollen Begegnung mit deiner früheren Freundin Felicitas erzählt, nach vielen Jahren, von der schönen Zeit zusammen. Und du warst so glücklich. Sie wohnt doch auch in Spanien? Irgendwo dort oben in den Bergen?“

Ich lehnte mich nachdenklich zurück. Er hatte ja so recht. Felicitas, eine Jugendliebe aus Hamburger Studentenzeiten, die mysteriös über viele Jahre verschwunden und dann überraschend, inzwischen Richterin am Landgericht Berlin, wieder aufgetaucht war. Eine wunderbare gemeinsame Zeit hatte sich angeschlossen.

Nach dem Tod ihres spanischen Großvaters war sie zur Unterstützung ihrer Großmutter nach Spanien umgezogen und hatte sich zunächst einige Zeit beurlauben lassen. Aber dann war sie aus dem Richterdienst ausgeschieden und Teilhaberin einer Anwaltskanzlei in Valencia geworden.

„Du hast mich etwas traurig gemacht mit deiner Frage. Das Letzte, was ich von ihr gehört habe, kam aus Argentinien. Sie arbeitet dort für längere Zeit in einer Filiale ihrer Kanzlei.“ Ich schwieg einen Augenblick. „Wir telefonieren, und sie schreibt mir ab und zu. Aber ich habe sie wieder verloren.“

Jan versuchte mich noch mit einigen ziemlich kreativen Worten über verschiedene Eigenarten der Post aufzumuntern und verabschiedete sich.

Aber offenbar hatte mir die Umsetzung des ersten Schrittes meines Projektes und vor allem der Kontakt mit meinem lieben Freund Jan doch geholfen. Ich wurde innerlich immer lockerer und mir langsam auch wieder der vollkommenen Stille bewusst. Ich versuchte, mich ganz von der Erinnerung an den Nachmittag zu lösen.

Dieses großartige Land stärkte mich innerlich. Über Jahre hinweg war ich hier immer wieder dort zur Ruhe gekommen. Die unverkrampften, liebenswerten Menschen, die ich hier bei vielen Besuchen, oft auch ganz spontan, kennengelernt hatte, taten mir richtig gut. Und es war schön festzustellen, dass ich ihnen auch wichtig geworden war. Mit der Sprache, um die ich mich seit Jahren bemühte, kam ich ihnen nahe und begann ihre Gefühle für das Leben zu begreifen. Meine Welt war dadurch reicher geworden. Es waren keine Begegnungen im touristischen Vorübergehen, sondern Beziehungen, die in Jahren gewachsen waren. Ein wunderbares, beglückendes „zweites spanisches Leben“.

Und dazu noch in dieser für Spanien eher ungewöhnlichen Region. Einer weiten grünen Landschaft mit goldenen Orangen und Mandarinen an den Bäumen, mit den Artischockenfeldern, den blühenden Mandeln und einer Trüffelernte zweimal im Jahr. Ein Spanienkenner hatte mir einmal gesagt: Wenn du dich in Spanien längere Zeit aufhalten oder sogar niederlassen willst, dann musst du horchen, ob dort Vögel singen. Hier wurde ich regelmäßig durch den Gesang der Vögel geweckt.

Und nur eine Stunde entfernt in das Land hinein eine unglaublich wilde, urtümliche Berglandschaft mit so bizarren gewaltigen Felsformationen, dass man verstummt. Das Maestrazgo mit den uralten Orten Morella, Catí, San Mateo oder Ares del Maestrat, über tausend Meter hoch gelegen. Ein Paradies für den, der es erkennt.

Schon fast eingeschlafen merkte ich, wie mir diese Gedanken halfen und mich entspannten.

Kaffeeduft weckte mich. Auf der Terrasse vor meinen Räumen hantierte Paquita und deckte den Frühstückstisch unter einem Sonnenschirm. Ich sprang unter die Dusche und trat nach wenigen Minuten durch die große Glastür hinaus auf die mit Granitfliesen in unterschiedlichen Farben gepflasterte weite Fläche. Etwas seitlich befand sich ein Schwimmbecken und dahinter drei große Palmen.

Mir war gestern die Lage des Hauses nicht klar geworden. Der obere Teil, in dem Paquita wohnte, war etwas zurückgelagert. Weil das Gebäude terrassenartig in den schrägen Hang gebaut worden war, konnte man dort ebenerdig von der Seite hineingehen. Davor war ein weiträumiger Balkon mit einer umlaufenden Brüstung, über der unteren Wohnung, die ich bezogen hatte.

Eine Außentreppe führte nach oben und über diese brachte Paquita gerade ein großes Tablett mit Köstlichkeiten für das Frühstück. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Knoten hochgebunden, trug eine kurze, hellblaue Hose und ein weißes Top. Ihre langen, braunen Beine waren beeindruckend.

Sie strahlte mich an, stellte das Tablett auf den Tisch und wandte sich mir zu. Ich nahm ihre beiden Hände und blickte ihr in die Augen. „Ich danke dir, dass du den armen Verfolgten aufgenommen hast. Dr. Kimble auf der Flucht. Ich habe herrlich und entspannt geschlafen.“

Sie sah mich etwas verdutzt an, lächelte dann aber nur wortlos zurück und setzte sich.

Ich trat an die vordere Brüstung, legte die Hände auf die weiße, steinerne Balustrade, sog die Luft ein und genoss das Bild vor mir, die ebenso großartige Tagesversion des schon bei Nacht überwältigenden Eindrucks.

Es war fast windstill. Am Himmel war keine Wolke. Eine strahlende Sonne. Von der Höhe ein weiter Blick über das dunkelblaue, glitzernde Meer. Ganz in der Ferne zwei kleine Fischerboote, die in Richtung Süden zogen. Links unten wieder der in der Sonne glänzende weiße Leuchtturm. Und direkt tief unter uns der Sporthafen von Alcossebre mit dem Gewimmel von Booten.

Ich drehte mich um zu ihr: „Du lebst hier an einem wunderbaren Ort.“ Ich zögerte kurz: „Aber vor allem muss ich dir sagen, dass du wirklich toll aussiehst!“

Mit ihrem „Das sagt Vincent auch immer!“, brachte sie mich auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Allerdings“, setzte sie fort und köpfte ihr Ei auf, „Vincent ist gerade mal so groß wie ich, und“, sie zwinkerte mir mit dem rechten Auge zu, „und ich mag eigentlich nur große Männer.“

Ich merkte, dass ich etwas unruhig wurde.

Es war wirklich ein ganz besonderes Frühstück dort oben auf dem Berg über dem Meer.

Als wir uns zufrieden zurücklehnten, schloss Paquita die Augen, streckte ihre langen Beine von sich und begann zu schnurren wie eine Katze. Offenbar fühlte sie sich mit mir auch ganz gut.

Es war mir nicht so ganz geheuer, aber jetzt musste ich sie in meine Wirklichkeit zurückholen.

Ich erzählte ihr von meinem nächtlichen Gespräch mit Jan und was ich vorhabe, behielt aber einiges davon lieber für mich. Sie hörte aufmerksam zu.

„Aber ich muss wissen, wer die Kerle sind“, ich zögerte etwas, „und dafür brauche ich deine Hilfe.“

„Du kannst sicher sein, dass ich dich nicht in Gefahr bringen möchte. Die Typen sind gefährlich. Und wir kennen uns erst kurze Zeit. Wenn dir das Ganze etwas unheimlich ist, wenn du nicht magst, bitte sag es mir ehrlich. Ich möchte nicht, dass du irgendwas machst, was du eigentlich nicht möchtest.“

Sie blickte mir ernst in die Augen. „Ich helfe dir. Du kennst mich noch nicht genau. Du musst wissen, ich habe Abenteurerblut in meinen Adern.“ Sie lachte. „Meine Mutter war ein ziemlich wilder Vogel und mein Vater hatte auch einiges drauf.“ Einen Augenblick wurde sie nachdenklich und sah traurig vor sich hin. „Sie hätten dir gefallen. Und ich glaube, du ihnen auch.“

Sie nahm meine Hand.

„Also, was soll ich für dich tun?“

Ich blickte sie nachdenklich an.

„Es muss vorher noch einiges geklärt werden, auch dabei brauche ich dich und ohne dich würde es wahrscheinlich nicht gelingen. Es ist alles noch etwas theoretisch, aber ich habe beschlossen, ich muss die Sache angehen. Ich bin nicht das dumme Schäfchen, das geschlachtet wird.“

Ich erklärte ihr genau, was sie für mich tun könnte.

Eine Stunde später donnerte sie auf ihrem Motorrad mit den riesigen Satteltaschen den Berg hinunter.

Nachdenklich blieb ich zurück und erhielt kurze Zeit später einen Anruf von Jan, der mich ziemlich aufmunterte. Er war schon in der Nacht direkt nach unserem Gespräch mit Erfolg tätig geworden.

Ich setzte mich ganz nach vorne direkt neben die weiße Brüstung unter einen Sonnenschirm mit dem Blick hinunter auf die herrliche Kulisse. Nachdem ich mir nach einer kleinen Besinnungspause meine juristische Tasche geholt hatte, nahm ich ein Aktenbündel mit diesen prägnanten roten Einbänden, die den strafrechtlichen Inhalt anzeigen, heraus. Ich öffnete seufzend das erste Heft und löste etwas die Aktenschnur. Gegenüber meiner sehr sachlichen Büroatmosphäre im Landgericht Karlsruhe eine eigentlich eher schon unwirkliche Situation in dieser romantischen Umgebung.

Und als fast irreale Steigerung dazu noch die sogenannte „Badische Aktenordnung“. Ein unglaubliches Überbleibsel aus dem 18. Jahrhundert in der Justiz. Das Zusammenhalten der Seiten mit einem kleinen Schnürchen links oben, das durch zwei winzige Löcher in allen Blättern samt den Aktendeckeln durchgefädelt und dahinter mit dem „Badischen Aktenknoten“ zuverlässig zusammengebunden wird.

Die erforderlichen speziellen Locher und auch die Aktenstecher, mit denen man die Seiten durch Einführen in die kleinen Löcher exakt übereinander anordnet, damit das Schnürchen durchgeschoben werden kann, wurden übrigens – letztere sehr nachvollziehbar unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen – über Jahre im Gefängnis in Mannheim hergestellt.

Durch die Lockerung der Schleife ist es möglich, unkomplizierter und freier mit den verschiedenen Seiten zu arbeiten als mit einem Schnellhefter. Eine äußerst bequeme und praktische Methode für den Kenner des Systems, ein absolutes Gräuel für den, der es nicht kennt.

Eine einmal von mir auf entsprechende Anforderung an das Landgericht Hamburg übersandte, überaus sorgfältig badisch gebundene, besonders dicke Akte wurde mir in einem großen Karton zurückgesandt. Darin ein vollkommen ungeordnetes Paket von einzelnen Seiten und ein wütendes Schreiben, ich möge die Seiten gefälligst wieder selbst auffädeln. Was ich dann auch tat.

Den Hamburger Kollegen, bei dem sich wahrscheinlich in Unkenntnis des „Badischen Aktenknotens“ die Seiten auf dem Fußboden seines Büros verteilt hatten, in einer Antwort vom Vorteil unseres Systems zu überzeugen, erschien mir bei aller Weltoffenheit der norddeutschen Menschen eher aussichtslos.

Aktenordnung hin oder her, jedenfalls war es ja nun eigentlich meine Absicht auf der Anreise gewesen, mich mit dem Prozess zu beschäftigen. Aber Spaß machte es mir nicht gerade. Und ich hatte mich auf ein äußerst übles, sehr schwieriges und langwieriges Verfahren vorzubereiten.

Eine spanische Eröffnung

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