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Woher wissen wir das Alles?

Auf den Schultern von Riesen

Gaßner: Es sollte einer jener wenigen, denkwürdigen Tage werden, an denen ein Weltbild zu Fall kommt. Ironischerweise war es ein ehemaliger Preisboxer, der den entscheidenden k.o.-Schlag versetzte.

Edwin Hubble hatte über Jahre hinweg eine besondere Klasse der Riesensterne beobachtet, die sogenannten Cepheiden. Sie verändern ihre enorme Helligkeit streng periodisch – typischerweise innerhalb von wenigen Tagen –, wodurch Hubble sie über Millionen von Lichtjahren hinweg bis ins Innere unserer Nachbargalaxien aufspüren konnte. Mit Hilfe der zugrunde liegenden Theorie dieser veränderlichen Leuchtkraft gelang es ihm, Entfernung und Geschwindigkeit dieser Objekte in einem Diagramm zusammenzutragen.


1.4 Edwin Powell Hubble (1898 - 1953)

Lesch: Langsam, langsam! Warum hat Hubble sehr leuchtstarke Objekte ausgewählt? Weil die über weite Entfernungen beobachtbar sind. Die Cepheiden sind sehr hell und weisen zusätzlich eine weitere äußerst nützliche Eigenschaft auf: Ihre Leuchtkraft lässt sich theoretisch berechnen.

Gaßner: Und die passende Theorie verdanken wir Henrietta Leavitt.

Lesch: Ja! Endlich taucht auch mal eine Frau auf. Übrigens, die Bibel war in dieser Hinsicht schneller.

Gaßner: Dort liest sich die Schöpfungsgeschichte „Urknall, Weltall und das Leben“ auch deutlich kompakter, verglichen mit dem, was wir hier erzählen. Aber nicht ablenken, Harald, jetzt wird es spannend!

Henrietta Leavitt war eine wirklich tragische Figur. Krankheitsbedingt verschlechterte sich ihr Gehörsinn bereits in jungen Jahren so sehr, dass sie ihr Berufsziel – Konzertpianistin – aufgeben musste. Während ihres Musikstudiums hatte sie im Nebenfach Astronomie belegt, weil es ideal in ihren Wochenplan gepasst hatte. Mit zunehmender Behinderung machte sie aus ihrer Not eine Tugend und verdiente ihren Lebensunterhalt am Observatorium in Harvard mit der Auswertung von Photoplatten. Ihre Akribie und Konzentrationsfähigkeit waren legendär und 1912 – tausende ausgewerteter Photoplatten später – erkannte sie eine Beziehung zwischen der Periodizität, mit der Cepheiden strahlen, und ihrer absoluten Leuchtkraft. Benannt sind sie übrigens nach Delta-Cephei im Sternbild Cepheus, dem ersten beobachteten veränderlichen Riesenstern.


1.5 Henrietta Swan Leavitt (1868 - 1921)

Lesch: Hubble wusste also, wie stark diese Sterne dort strahlen, wo sie sich befinden. Das hat er verglichen mit der Strahlung, die bei uns ankommt. Aus diesem Verhältnis konnte er die Entfernung bestimmen.

Gaßner: Das Prinzip kennt jeder vom Lagerfeuer. Je weiter man vom Feuer weggeht, umso weniger Wärmestrahlung trifft auf den Körper. Näher am Feuer wird es einem wärmer.

Lesch: In doppelter Entfernung bekomme ich nur noch 1/4 der Strahlung ab. In dreifacher Entfernung 1/9. Die Intensität fällt mit dem Quadrat des Abstands. Daraus lässt sich die Entfernung berechnen


1.6 Die scheinbare Leuchtkraft nimmt mit dem Quadrat der Entfernung ab. Dargestellt an vier identischen Kerzen in unterschiedlichem Abstand.


1.7 Der Intensitätsverlauf einer Lichtquelle. Misst man beispielsweise in einem Abstand r die Anzahl der Photonen, die pro Sekunde auf eine Leinwand der Größe A fallen, so ist für dieselbe Anzahl im doppelten Abstand die vierfache und in dreifachem Abstand die neunfache Fläche nötig.

Gaßner: Vorausgesetzt wir wissen, wie stark die Strahlung direkt am Lagerfeuer beziehungsweise unmittelbar an der Sternenoberfläche ist. Henrietta Leavitt gelang der Durchbruch. Mit der Berechnung der Cepheiden-Leuchtkraft standen standardisierte Leuchtfeuer in bis zu zehn Millionen Lichtjahren Entfernung zur Verfügung. Bevor sie ihre Theorie entwickelt hatte, waren Entfernungsmessungen auf hundert Lichtjahre begrenzt. Damals war man sich nicht einmal sicher, ob die Magellanschen Wolken oder die Andromeda-Galaxie zur Milchstraße zählen oder nicht.

Lesch: Leavitt hatte eigens ein neues Messverfahren entwickelt, das leider nicht nach ihr benannt wurde, sondern die Bezeichnung Harvard-Standard erhielt. Frauen hatten Anfang des letzten Jahrhunderts noch einen sehr schweren Stand in der Wissenschaft.

Gaßner: Erst Jahre später wollte das Nobelpreis-Komitee ihre bahnbrechenden Leistungen würdigen; am Ende hatte sie mehr als 2.400 veränderliche Sterne entdeckt und vier Supernovae beobachtet. Allerdings war Henrietta Leavitt bereits vier Jahre vor ihrer geplanten Nominierung im Alter von 53 Jahren an Krebs verstorben und posthum wird die Auszeichnung bekanntlich nicht verliehen. Wie gesagt, sie war in jeder Hinsicht eine wahrlich tragische Figur. Angesichts der strahlenden Entdecker in der Naturwissenschaft vergisst man nur zu leicht die vielen Einzelschicksale im Hintergrund.

Lesch: Apropos strahlender Entdecker – damit wären wir wieder bei Edwin Hubble. Der hat zusätzlich zur Entfernung auch die Fluchtgeschwindigkeit der Objekte bestimmt. Dafür müssen wir einen Blick in die Waschküche der Spektralanalyse werfen. Die Atome der verschiedenen chemischen Elemente geben Strahlung in ganz gewissen Portionen ab, die durch die Energieniveaus in der Elektronenhülle genau definiert sind. Diese Spektrallinien sind gewissermaßen ihr Fingerabdruck, der sich für jede Atomsorte im irdischen Labor messen lässt.


1.8 Die Emissionslinien von Wasserstoff und Helium als charakteristische Fingerabdrücke.


1.9 Dargestellt ist ein Atom vor und nach dem Übergang eines Elektrons von einer (der dritten) auf eine andere (die zweite) Bahn um den Atomkern.

Elektronen auf höheren Bahnen besitzen mehr Energie, entsprechend wird die Differenz beim Übergang in Form eines Photons (Emissionslinie) freigesetzt. Dabei entspricht jede Wellenlänge einer bestimmten Energie. Kurze Wellenlänge bedeutet hohe Energie, große Wellenlänge bedeutet niedrige Energie.

Den umgekehrten Vorgang, bei dem Atome aus einem vorgegebenen Spektrum Energie entnehmen, um sie in ihrer inneren Struktur zu verteilen, nennt man Absorption. Dabei wird beispielsweise ein Elektron auf eine höhere Bahn ausgelenkt. Die entsprechende Energie fehlt anschließend im Ausgangsspektrum. Diese charakteristischen schwarzen Linien nennt man Absorptionslinien.Emissions- und Absorptionslinien werden unter dem Oberbegriff „Spektrallinien“ zusammengefasst.

Gaßner: Die Wellenlängen der Spektrallinien weit entfernter Objekte sind gegenüber unseren Laborwerten aber verschoben. Daraus leiten wir eine sogenannte Fluchtgeschwindigkeit her, wobei wir noch sehen werden, dass man hier mit dem Begriff „Geschwindigkeit“ sehr vorsichtig umgehen muss.


1.10 Oben ist das Spektrum unserer Sonne dargestellt, unten die Spektrallinien des eine Milliarde Lichtjahre entfernten Superhaufens BAS11. Die Linien weit entfernter Objekte sind gegenüber den Referenzlinien aus den irdischen Labors verschoben.


1.11 Für eine ruhende Strahlungsquelle (links) erhält man eine Kugelwelle um den Mittelpunkt, wobei jeweils der Abstand zwischen zwei konzentrischen Kugelschalen die Wellenlänge des abgestrahlten Lichts kennzeichnet.

Bewegt man die Strahlungsquelle kontinuierlich nach rechts, erhält man das rechte Bild. In Bewegungsrichtung sind die Wellenlängen verkürzt (blauverschoben), entgegengesetzt sind sie gedehnt (rotverschoben).

Lesch: Wenn ein Kranken- oder Polizeiwagen mit Sirene an uns vorbeifährt, hören wir diesen sogenannten Dopplereffekt. Die Frequenz beziehungsweise die Tonhöhe des Signals ist erhöht, bis das Fahrzeug auf gleicher Höhe mit uns ist. Entfernt es sich von uns, fällt sie sprunghaft auf ein tieferes Niveau ab. Der Österreicher Christian Doppler hat das bereits 1842 vorausgesagt. Natürlich wusste er damals noch nichts von Martinshörnern auf Autos.


1.12 Die Relativbewegung einer Lichtquelle (Stern) bewirkt eine Rotverschiebung, wenn sich die Quelle vom Beobachter entfernt und eine Blauverschiebung bei Annäherung.

Gaßner: Aber wieder zurück zu Edwin Hubble. Mit Hilfe der theoretischen Leuchtkraft der Cepheiden, der zugrundeliegenden Theorie und der Verschiebung der Spektrallinien konnte er nun Punkt für Punkt Entfernung und Fluchtgeschwindigkeit der beobachteten Objekte in einem Diagramm zusammentragen. Anhand ähnlicher Beobachtungen hatte Georges Lemaître bereits 1927 erkannt, dass sich weit entfernte Objekte tendenziell von uns wegbewegen. Damit hatte er dem etablierten Weltbild eines ewig statischen Universums bereits einen empfindlichen Wirkungstreffer verpasst. Edwin Hubble legte nun ein Lineal an und zeichnete durch seine Messpunkte eine Gerade in sein Diagramm – einen linearen Zusammenhang zwischen Entfernung und Fluchtgeschwindigkeit. Gewissermaßen ein kurzer Strich für einen Menschen, aber eine lange, zukunftsweisende Linie für die Naturwissenschaft!

Lesch

Das hast du schön gesagt! Wie viele Punkte hatte Hubble denn in diesem Diagramm?

Gaßner: So drei Dutzend würde ich mal sagen und die waren ziemlich unregelmäßig verteilt.


1.13 Das Hubble-Diagramm: Horizontal ist die Entfernung der Objekte aufgetragen; vertikal die Fluchtgeschwindigkeit (korrigiert um die Eigenbewegung unseres Sonnensystems).

Schwarze Punkte: Objekte, die individuell gemessen wurden.

Kreise: Nebel, deren Objekte nicht individuell aufgelöst werden konnten.

Kreuz: mittlere Geschwindigkeit von 22 Nebeln, deren Abstände nicht einzeln ermittelt werden konnten.

Die gestrichelte Linie ergibt sich unter Berücksichtigung der Kreise. Die durchgezogene Linie approximiert die schwarzen Punkte. Die Steigungen beider Geraden sind aus heutiger Sicht falsch. Die grundlegende Idee einer Geraden war jedoch bahnbrechend.

Lesch: Ein starkes Stück. Hubble hatte den Mut, durch eine Wolke von Punkten einfach mal einen Strich zu ziehen und dann zu sagen: „So!“ Ein mutiger Mann, Preisboxer eben.

Gaßner: Vielleicht sollten wir für die nächste Datenauswertung die Klitschkos einladen. Boxer sind halt in der Astronomie klar im Vorteil: Sie können auch tagsüber mal Sternchen sehen.

Lesch: Wie so oft auch in der Wissenschaft: Man muss einfach mal was wagen.

Gaßner: Ein anderer namhafter Preisboxer – Mohammed Ali – hat in jungen Jahren einmal gesagt: „Ich weiß nicht immer genau, wovon ich rede, aber ich weiß, dass ich recht habe.“ Dieses Selbstvertrauen war wohl auch Edwin Hubble nicht fremd.

Lesch: An dieser Stelle hat Hubble auf alle Fälle Physikgeschichte geschrieben. Er hat dieses Wahnsinns-Diagramm – das später nach ihm benannte Hubble-Diagramm – aufgestellt, das den Zusammenhang zwischen Entfernung und Fluchtgeschwindigkeit verdeutlicht.

Gaßner: Die Daten belegten, dass sich Objekte, die man von der Erde aus in beliebigen Richtungen betrachtet, umso schneller von uns wegbewegen, je weiter sie entfernt sind. Dies entzieht der Theorie eines statischen Universums die Grundlage und verdrängt sie durch eine Theorie des expandierenden Universums. Die immerwährende Evolution in der Naturwissenschaft hatte ein weiteres namhaftes Opfer gefordert.

Lesch: Ähnlich den biologischen Organismen, die sich in einem Lebensraum behaupten oder verdrängt werden, so unterliegen auch naturwissenschaftliche Theorien diesem Evolutionsprinzip. Der natürliche Feind der Theorie ist hierbei allerdings nicht eine andere Theorie, sondern das Experiment.


1.14 Albert Einstein (1879 - 1955)

Gaßner: Bereits Jahre vor Hubbles Entdeckung hatte Albert Einstein die Allgemeine Relativitätstheorie entwickelt. Deren Gleichungen beinhalten zwangsläufig ein expandierendes Universum. Nur mit größter Mühe – mit Hilfe eines mathematischen Kunstgriffes in Form einer Kosmologischen Konstante – war die Theorie mit einem statischen Universum vereinbar.

Lesch: Er hatte einfach eine Konstante mit der Dimension inverse Fläche addiert, und zwar so raffiniert, dass wieder alles passte.

Gaßner: Aber selbst ein Schwergewicht wie die Allgemeine Relativitätstheorie musste sich ohne entsprechende experimentelle Unterstützung dem Dogma eines statischen Universums beugen, während es keine geringere Theorie als die Newtonsche Mechanik vergleichsweise mühelos vom Podest stürzte.

Lesch: Also nochmal: Einstein war vor Hubble. Die Allgemeine Relativitätstheorie wurde 1915 veröffentlicht. Erst 14 Jahre später legte Hubble seine wichtigen Beobachtungen vor. Die Theorie schwebte also die ganze Zeit im luftleeren Raum.

Gaßner: Nicht ganz, einige ihrer Vorhersagen waren durch Beobachtungen schon bestätigt worden: die gravitative Beugung des Lichts und die Stärke der Periheldrehung des Merkurs.

Lesch: Langsam, langsam. Das ist jetzt vielleicht etwas viel Material auf einmal. Zunächst hat die Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein schlicht und ergreifend vorhergesagt, dass, wenn Licht sich an schweren Massen vorbei bewegt – was soll Licht sonst schon machen, Licht muss sich immer bewegen, Licht ist wie ein Hai, das geht gar nicht anders –, dann werden seine Wege gekrümmt. Das nennt man „gravitative Beugung“. Dieser Effekt hat die Allgemeine Relativitätstheorie so berühmt gemacht.


1.15 Die gravitative Beugung des Lichts: Die Allgemeine Relativitätstheorie sagt voraus, dass nicht nur Masse, sondern gemäß E = m c2 auch Energie gravitativ wirkt. Somit wird – im Gegensatz zur Newtonschen Theorie – auch Licht von massereichen Objekten abgelenkt. Das Bild soll die Krümmung des Raumes durch ein massives Objekt geometrisch (zweidimensional) veranschaulichen. Die Photonen wählen den schnellsten Weg. In einer gekrümmten Raumzeit ist dies nicht mehr eine Gerade, sondern eine gekrümmte Linie.

Gaßner: Und bei der Periheldrehung des Merkurs handelt es sich um die Wechselwirkung des Planeten mit dem Gravitationsfeld der Sonne. Dieses „Eiern“ um den Brennpunkt, ausgelöst durch Störungen der Planeten Venus und Erde, kannte man schon vor Einstein, allerdings gab es zwischen den Messdaten und der theoretischen Berechnung Abweichung von 43 Bogensekunden pro hundert Jahre. Die Allgemeine Relativitätstheorie konnte diese Bahnveränderung auf die Raumkrümmung durch die Anwesenheit der Sonne zurückführen.


1.16 Die Periheldrehung des Merkurs

Lesch: Aber der wirkliche Hammer war natürlich die gravitative Beugung des Lichts. Josef, ich will jetzt hier nicht abschweifen, aber kannst du dir vorstellen, wie das damals gewesen sein muss, als der Arthur Eddington von seiner Afrika-Expedition mit den Daten der Sonnenfinsternis zurückgekommen ist und sie dann in der Royal Society vorgestellt hat. Eddington betritt also die Bühne. Über ihm der Gipskopf von Isaac Newton. Was nun? Es ist ein Drama. Das erlauchte Publikum in London wartet gespannt. Es geht für Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie um Kopf und Kragen. Sie hat die klare Vorhersage getroffen, dass Licht an schweren Massen so sehr gebeugt wird, dass die scheinbaren Positionen von den tatsächlichen Positionen der Lichtquellen, also der Sterne, abweichen. Für eine Beobachtung dieses feinen Effekts muss jedoch die alles dominierende Leuchtkraft der Sonne abgedeckt sein – daher die Sonnenfinsternis. Und die Natur hat glücklicherweise mitgespielt. Einen Tusch, bitte! Sir Arthur Eddington hatte genau die Daten mitgebracht, die die Theorie bestätigten. Heureka!


1.17 Arthur Stanley Eddington (1882 - 1944)

Gaßner: Heutzutage lässt sich die Wechselwirkung von elektromagnetischen Wellen in Gravitationsfeldern sehr genau vermessen. Mittlerweile sind wir nicht mehr auf günstige Konstellationen aus Sonnenfinsternis und Hintergrundsternen angewiesen, sondern platzieren selber geeignete Messgeräte hinter der Sonne. Mit Hilfe der Cassini Sonde konnte auf diese Weise der sogenannte Shapiro-Effekt (Irwin Ira Shapiro) nachgewiesen werden, wonach elektromagnetische Signale beim Durchlaufen von Gravitationsfeldern gemäß Allgemeiner Relativitätstheorie eine Verzögerung erfahren. Der theoretische Effekt konnte mit einer Genauigkeit von 0,001 Prozent bestätigt werden.

Lesch: Die Allgemeine Relativitätstheorie hatte auch vor hundert Jahren schon vieles erklärt, aber als dann der Hubble mit seinen Beobachtungsdaten kam, gelang ihr der Durchbruch.

Gaßner: Die Art und Weise, mit der die Allgemeine Relativitätstheorie die Newtonsche Mechanik verdrängte, ist übrigens kennzeichnend für eine sanfte Form der Evolution in der modernen Naturwissenschaft. Je besser eine etablierte Theorie durch experimentelle Daten gestützt wird, desto schwieriger wird es, sie in Bausch und Bogen zu verwerfen. Sie findet sich entsprechend aufgenommen wieder und behält als Grenzfall – im Beispiel der Newtonschen Mechanik für kleine und mittlere Massen und Geschwindigkeiten deutlich unterhalb der Lichtgeschwindigkeit – ihre Gültigkeit. In der Autobranche entspräche dies eher einem Facelifting denn einem Modellwechsel.

Lesch: Klar, die Allgemeine Relativitätstheorie hat sozusagen die Newtonsche Mechanik in sich aufgesogen.

Gaßner: Eben! Bei der Rekonstruktion eines Autounfalls muss nicht gleich die Allgemeine Relativitätstheorie ran. Da reicht nach wie vor die ganz normale Newtonsche Mechanik.

Lesch: Obwohl ich es spannend fände, zu sehen, wie so ein Unfall etwas gründlicher untersucht würde. Das Gravitationsfeld der Erde ist ja nicht an jeder Stelle gleich. Auch die Autos üben eine Gravitation aus – schwach, aber immerhin. Das wäre eine beliebig komplizierte Berechnung, an deren Ende sich vermutlich die Schuldfrage gar nicht eindeutig klären ließe.

Gaßner: Jetzt sollten wir aber wieder zurück auf unsere Spur finden – das Stichwort war Facelifting anstelle von Modellwechsel.

Lesch: Ja, ja. Wir haben es also mit einer Theorieentwicklung zu tun, die, abgesehen von Kopernikus, der die Erde ganz aus dem Zentrum des Weltbildes herausgenommen und dafür die Sonne reingestellt hat, abgesehen von dieser kopernikanischen Revolution eher über Reformen als über Revolutionen vonstattengeht.

Gaßner: Ein heliozentrisches Weltbild gab es übrigens bereits 1800 Jahre vor Kopernikus. Aristarch von Samos hatte es entwickelt, basierend auf Überlegungen von Heraklit und Philolaos. Beobachtet man über Monate den nächtlichen Lauf des Mars vor dem Fixsternhimmel, so scheint er regelrechte Schleifenbewegungen zu vollziehen. Dieses Umkehren und Zurückfliegen, die sogenannte retrograde Bahn des Mars, hatte sie stutzig werden lassen.


1.18 Im Mittelpunkt links steht die Sonne, umkreist von der blauen Erde und dem roten Mars. Betrachtet man von der Erde aus an sieben charakteristischen Punkten die Projektion des Mars auf den Fixsternhimmel, so ergibt sich eine Schlingerbewegung, die sogenannte retrograde Marsbahn.

Lesch: Dann kam Ptolemäus mit seiner Epizykeltheorie und setzte die Erde wieder in den Mittelpunkt. Wie man sieht, gibt es zu jedem beliebig komplizierten physikalischen Problem eine ganz einfache und zugleich völlig falsche Erklärung. Die Epizykeltheorie war noch nicht mal einfach.

Gaßner: Die Naturwissenschaften durchlaufen einen stetigen Anpassungsprozess, in dem sich kleine Mutationen der Theorien als erfolgreicher durchsetzen. Nur von Zeit zu Zeit ereignet sich Spektakuläres, ausgelöst durch schlagartig drastisch veränderte „Lebensbedingungen“. Einen solchen „Meteoriteneinschlag“ stellten die Beobachtungsdaten von Edwin Hubble dar. Damals starben ganze Spezies an Theorien aus. An ihre Stelle trat ein neues Weltmodell – das expandierende Universum – das, wiederum mit entsprechenden Anpassungen, bis zum heutigen Tag zahllose Bestätigungen erfuhr.

Lesch: Die wichtigste und weitreichendste Bestätigung war die Entdeckung der Kosmischen Hintergrundstrahlung. Wenn das Universum in seiner Geburtsphase tatsächlich sehr heiß war, dann musste diese Strahlung auch heute noch nachweisbar sein. Die amerikanischen Physiker Ralph Alpher und Robert Hermann hatten diese Überlegung bereits 1948 angestellt und sogar angegeben, dass die Strahlung aufgrund ihrer extremen Rotverschiebung mittlerweile im Mikrowellenbereich läge, bei einer Temperatur von etwa fünf Kelvin.

Gaßner: Auch der russisch-amerikanische Kernphysiker George Gamov hatte mehrere Arbeiten zu diesem Thema verfasst. Diesen Prognosen wurde allerdings kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die eigentliche Entdeckung war purer Zufall. An den Bell Laboratories in New Jersey waren zwei junge Ingenieure mit der Eichung einer 15 Meter großen Hornantenne zu Gange, die Radiosignale aus der Milchstraße untersuchen sollte. Arno Penzias und Robert Wilson kämpften mit einem rätselhaften Rauschen im Mikrowellenbereich bei 7,35 Zentimeter Wellenlänge, das isotrop, also von allen Seiten gleichermaßen registriert wurde. Nachdem sie ein Jahr lang alle potentiellen Fehlerquellen ausgeschlossen und in ihrer Verzweiflung sogar den Taubenkot aus der Hornantenne entfernt hatten, suchten sie Rat bei der nahen Universität Princeton. Dort erkannte man schnell, dass es sich um die Kosmische Hintergrundstrahlung handelte.

Lesch: Ironie des Schicksals. In Princeton hatte im Frühjahr 1964 ein Forscherteam um Robert Dicke bereits seinerseits eine Antenne gebaut, um gezielt nach der Hintergrundstrahlung zu suchen. Penzias und Wilson waren ihm haarscharf – und fast muss man sagen versehentlich – zuvorgekommen und haben 1978 den Nobelpreis abgeräumt.

Gaßner: Höchstbrisant auch deshalb, weil Robert Wilson ein enger Freund von Fred Hoyle war, die beiden hatten sogar gemeinsam studiert. Nun sollte ausgerechnet sein größter Triumpf die Modelle eines statischen Universums, die Hoyle so leidenschaftlich vertrat, vom Tisch wischen. Eigentlich ist die Kosmische Hintergrundstrahlung ganz einfach nachzuweisen. Zieht man den Antennenstecker vom Fernseher, dann ist ihr Anteil am rauschenden Bild über ein Prozent. Man erkennt sie daran, dass sie keinerlei Abhängigkeit von der Position irgendeines Objekts am Himmel zeigt, wie beispielsweise der Sonne oder der Milchstraße. Ein derart gleichmäßiges und isotrop eintreffendes Signal stammt offensichtlich nicht aus unserer Galaxie.


1.19 Arno Penzias (rechts) und Robert Wilson (links) vor der 15 Meter großen Hornantenne in New Jersey.

Lesch: In den Folgejahren entwickelte sich ein regelrechter Wettlauf, wer als erster kleinste Abweichungen in der Isotropie der Strahlung nachweisen konnte. Irgendwelche kleinste Abweichungen musste es doch gegeben haben, aus denen später Sterne und Galaxien heranwachsen konnten.

Gaßner: Die ersten Messgeräte wurden mit Ballonen in große Höhen gebracht, um den Einfluss der Erdatmosphäre zu reduzieren. Später wurden eigens Satelliten in die Umlaufbahn geschossen, die tatsächlich Abweichungen in der Temperatur der Kosmischen Hintergrundstrahlung von 5 · 10-5 Kelvin messen konnten. Das Licht aus diesen Richtungen war geringfügig stärker rotverschoben. Diesen zusätzlichen Energieverlust hatten die Photonen beim Verlassen des Gravitationsfeldes einer winzig kleinen Verdichtung erlitten. Eine Schwankung in der Temperatur der Kosmischen Hintergrundstahlung war also gleichbedeutend mit einer Dichteschwankung im frühen Universum. Die Saatkörner der Galaxien waren gefunden. Beim Thema „Strukturbildung“ werden wir genauer auf diesen Zusammenhang eingehen.

Lesch: Für derartige Präzisionsmessungen mussten die Aufnahmen natürlich um jede potentielle Störquelle bereinigt werden, d. h. alle bekannten Quellen für Mikrowellenstrahlung wurden ermittelt und abgezogen. Selbst unsere Bahnbewegung um die Sonne und deren Rotation in der Milchstraße wurden herausgerechnet, weil sie ebenfalls zu Rot- und Blauverschiebungen des Spektrums führen.

Gaßner: Das Ergebnis hat eine neue Ära der Kosmologie eingeläutet: die Präzisionskosmologie. Stephen Hawking hat die Messung der Temperaturabweichungen in der Hintergrundstrahlung in einem Interview mit der London Times als „größte Entdeckung des Jahrhunderts, wenn nicht sogar aller Zeiten“ tituliert. Entsprechend war auch dafür ein Nobelpreis fällig: 2006 an George Smoot und John Mather.

Lesch: Einschneidende Entdeckungen dieser Art sind allerdings in letzter Zeit eher rar geworden. Je weiter sich die Gegenstände der modernen Forschung von unserer anschaulichen makroskopischen Welt entfernen, umso schwerer fällt es uns, entsprechende Experimente zu entwickeln, d. h. geeignete Fragen an die Natur zur Überprüfung der Theorien zu stellen.

Gaßner: Denk nur an den verzweifelten Versuch, in einem 27 km langen unterirdischen Ring aus supraleitenden Magneten, die konstant nahe dem absoluten Temperatur-Nullpunkt gehalten werden müssen, die Winzigkeiten zweier Protonen wohldefiniert zur Kollision zu bringen. Ihre Energie beträgt dabei jeweils 7 TeV (Tera-Elektronenvolt), oder etwas anschaulicher: Pro Sekunde machen sie 11.000-mal die Runde. Das entspricht 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, d. h. wir liegen nur noch 10 km/h darunter.

Lesch: Du sprichst vom Large Hadron Collider (LHC), dem gewaltigen Aufbäumen der Experimentalphysiker, die notwendigen Energien bereitzustellen, um noch einmal einen Vorhang zur Seite zu schieben und einen Blick auf das Reich des Allerkleinsten zu erhaschen. Noch einmal will man einen Schritt näher an den Urknall heranrücken.


1.20 Der 27 km lange, unterirdische Large Hadron Collider (LHC) in der Schweiz und Frankreich.

Gaßner: Wir haben in den Gewächshäusern der theoretischen Physik unter künstlichen Bedingungen eine Vielzahl exotischer Pflanzen herangezogen. Nur gelingt es uns nicht mehr, sie vor die Tür zu stellen und unter natürlichen Bedingungen zu erproben. Der naturwissenschaftliche Evolutionsmechanismus ist an dieser Stelle ins Stocken geraten und unser Gewächshaus droht aus allen Nähten zu platzen.

Lesch: Nach 13,8 Milliarden Jahren Entwicklungsgeschichte können wir aber auf eine Sache getrost vertrauen: Die Evolution wird einen Weg finden, so wie sie es schon immer getan hat.

Gaßner: Es wird wirklich immer schwieriger, neue Theorien zu etablieren. Wie du gesagt hast – sie müssen die aktuellen Beobachtungsdaten ebenso beinhalten wie die, die wir schon vorher erklären konnten. Das ist in etwa so wie Mikado spielen. Du willst etwas an diesem Gebilde verändern, aber es darf sich möglichst wenig bewegen. Das ist genau das Dilemma.


1.21: Isaac Newton (1643 - 1727)

Lesch: Es gibt diesen wunderbaren Satz: „Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen.“

Gaßner: Isaac Newton.

Lesch: Die Wissenschaft selbst wird ja immer umfangreicher. Praktisch an jedem Tag, an dem immer mehr Menschen Wissenschaft betreiben, kommen auch immer mehr Informationen zusammen.

In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass es jede Menge – wie soll man sagen – engagierte „Privatmenschen“ gibt, die also nicht in Forschungsinstitutionen arbeiten. Die meinen, sie könnten mit einem ganz neuen Ansatz ganz andere Vorstellungen über das Universum entwickeln. Ich erlebe immer wieder, dass so ein „epochaler Weltentwurf“ an eine Universitätssternwarte geschickt wird, in 10-Punkt-Schrift ohne Absatz, Punkt und Komma. Da wird erst mal grundsätzlich aufgeräumt, mit diesen ganzen Missverständnissen über die Quantenmechanik, über die Allgemeine Relativitätstheorie. Daran sieht man natürlich auch das Problem. Es wird immer schwieriger für jemanden, der neu auf dieses Feld trifft, überhaupt zu überblicken, was es schon alles an Information gibt. Ich vergleiche das gerne – ich weiß gar nicht, wie der Film heißt, in dem Sean Connery und Catherine Zeta Jones einen Einbruch in ein Museum planen. Dazu muss sie für einen akrobatischen Körpereinsatz trainiert werden.

Gaßner: „Verlockende Falle“ heißt der Film.

Lesch: Seit wann gehst du denn ins Kino? Sie, die Catherine, muss also tausende von Lichtschranken überwinden, ein unglaublicher Tanz! Das gilt auch für die Astrophysik: Früher gab es praktisch nur eine Lichtschranke oder gar keine. Heute gibt es so viele Lichtschranken, dass man sich unglaublich verbiegen muss, um Theorien zu entwickeln, die alle möglichen Bedingungen gleichzeitig erfüllen. Ganz schwierig.

Gaßner: Lieber Harald, darf ich dich an dieser Stelle wieder einfangen, bevor wir völlig abschweifen? „Urknall, Weltall und das Leben“ ist die Marschroute.

Lesch: Ja, du hast natürlich recht – nur, das musste doch mal gesagt werden.

Also los: Der Urknall.

Urknall, Weltall und das Leben

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